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Ashley Carrington

Jessica

Die Liebe endet nie

Roman

hockebooks

22

Die Viehauktionen fanden im Westen von Parramatta auf Mulgrave Fields statt, dort, wo die Postkutschenstrecke, von Osten aus Sydney kommend, die Siedlung in nordwestliche Richtung verließ und sich über Toongabbee durch den Busch nach Windsor wand, während eine zweite staubige Landstraße scharf nach Süden abbog und in die südlichen Bezirke der Kolonie führte.

Ein großes freies Feld war an diesem Wegekreuz in zahlreiche und verschieden große Viehgehege unterteilt. Auf der Ostseite bot ein lang gestreckter, primitiv gebauter Unterstand bei Regen oder zu starker Sonne mehreren Dutzend Pferden und Einspännern Schutz. Zum Auktionsgelände gehörten noch das etwas zurückversetzte, recht ansehnliche Haus des Auktionators Jonathan Mulgrave, zwei große Wasserspeicher, eine Scheune mit angeschlossener Hufschmiede und die Taverne Dooley’s, die der Schwager des Auktionators betrieb. Die Taverne war nur an Auktionstagen geöffnet. Mit Ausnahme des Hochsommers, wo niemand auch nur im Traum daran dachte, von den entlegenen Farmen Vieh in großer Stückzahl nach Parramatta oder sonst wohin zu treiben und der Viehmarkt fast völlig zum Erliegen kam, hielt Mulgrave jeden Monat eine dreitägige Auktion ab. In der Taverne flossen dann Branntwein, Rum und Madeira nur so in Strömen. Es hieß, Terence Dooley könnte von den Einnahmen aus diesen rund zwanzig Auktionstagen im Jahr bedeutend besser leben als jeder Tavernenwirt unten am Hafen, der seine Schenke tagtäglich geöffnet hielt.

An Auktionstagen herrschte auf Mulgrave Fields stets ein reges und buntes Treiben. Die Versteigerungen lockten nicht allein Farmer und Viehhändler an, sondern es fand sich auch jedes Mal eine große Zahl Zuschauer jeden Alters ein, die sich das Spektakel einfach nicht entgehen lassen wollten, sowie Männer, die Arbeit suchten, und Frauen, die das Interesse der Männer zu erregen hofften. Unter Letzteren überwog die Zahl derer, die keine Verbindung fürs Leben suchten, sondern sich mit einer hastigen Vereinigung von ein paar Minuten zufriedengaben, sofern nur das Entgelt stimmte.

Mitchell hatte für das bunte Treiben zwischen dem Gebäudekomplex und den Viehgehegen kein Auge. Er nahm die herumtollenden Kinder, die aufgeputzten Freudenmädchen und die lärmenden Viehtreiber gar nicht wahr, sondern konzentrierte sich ganz auf die Prüfung der eingepferchten Tiere und die anstehende Auktion.

Er nahm nicht zum ersten Mal an einer Versteigerung auf Mulgrave Fields teil und wusste deshalb sehr genau, worauf er zu achten hatte. Während der Auktion blieb einem keine Zeit, das Potenzial einer Herde genau einzuschätzen. Das musste man schon gemacht haben, bevor das erste Gebot ausgerufen wurde und Jonathan Mulgrave in seinen enorm schnellen Auktionssingsang einfiel, dem nur Eingeweihte folgen konnten. Es gab genügend betrügerische Farmer und Viehhändler, die kranke und alte Tiere mit üblen Tricks loszuwerden versuchten. Deshalb war Mitchell, wie viele andere erfahrene Farmer auch, schon am frühen Morgen in Begleitung von Timmy und Dennis, einem seiner neuen Männer, von Gatter zu Gatter gegangen und hatte sich die Pferde, Ochsen, Ziegen und Schafe, die an diesem Tag zum Verkauf standen, kritisch angesehen. Hier und da hatte er sich sogar in die bewachten Viehgehege begeben, um bei Schafen die Qualität der Wolle, den Zustand der Hufe und die Klarheit der Augen zu prüfen. Pferde und Ochsen, an denen er interessiert war, unterzog er einer nicht weniger sorgfältigen Kontrolle.

»Was halten Sie von ihnen, Dennis?«, fragte Mitchell, als sie eine Gruppe von fünf Pferden begutachteten, die ein Farmer aus Campbelltown anbot.

Dennis Coy, ein Schrank von einem Mann, nagte an seiner Unterlippe. Er wusste sehr wohl, dass ihn sein neuer Arbeitgeber testen wollte, was er von Pferden verstand. Und er ließ sich Zeit mit seinem Urteil. Er sah sich jedes Tier in Ruhe an, schaute ihm ins Maul, betastete die Beine und achtete darauf, wie es sich benahm.

»Sie sind reichlich mager auf den Rippen, ihr Fell ist stumpf, und sie haben schon lange keinen Hufschmied mehr zu Gesicht bekommen, der etwas von seinem Handwerk versteht«, sagte er schließlich auf seine bedächtige Art, von der Mitchell schon beim Kennenlernen eingenommen war. »Aber bis auf den Grauen, der eine hässlich eiternde Wunde an der rechten Hinterhand hat, haben sie nichts, was gutes Futter nicht in Ordnung bringen könnte. Bei guter Pflege sind sie in einer Woche nicht wiederzuerkennen.«

»Auch der Graue?«

Dennis nickte. »Zehn Tage Schonung und dreimal täglich ein neuer Verband mit Eukalyptussalbe, und Sie werden Ihre Freude an dem Tier haben.«

Timmy grinste anerkennend, und Mitchell lächelte. »Der Ansicht bin ich auch, Dennis. Ich denke, ich werde nachher mitbieten.«

»Die Pferde hier werden weit unter Preis weggehen«, prophezeite Dennis.

»Ja, wenn wir Glück haben. Und jetzt lassen Sie uns zu den Hammeln und Einjährigen hinübergehen. Ich habe meiner Frau versprochen, mit einer ansehnlichen Herde nach Burringi zurückzukehren.«

Als die Auktion dann um neun begann, hatte Mitchell, wie auch am Vortag, seine Wahl schon längst getroffen und im Geiste festgelegt, wie hoch er bei den einzelnen Herden gehen wollte.

Jonathan Mulgrave, ein großer Mann in einem schwarzen Gehrock mit blitzenden Messingknöpfen und einem glänzenden Zylinder auf dem Kopf, fuhr von Gatter zu Gatter, gefolgt von der Menge der Bieter und der Schaulustigen, und übertönte mit seiner kräftigen und doch sehr melodischen Stimme mühelos den Lärm, der die Menge von allen Seiten umgab. Da war das Stimmengewirr in den eigenen Reihen der Bieter und Verkäufer, das Kommen und Gehen von Reitern und Wagen, das Geschrei spielender Kinder und die fröhlichen Zurufe von Bekannten und Freunden, die sich hier überraschenderweise trafen, das Blöken von vielen Hundert Schafen, das missmutige Meckern von Ziegen, das nervöse Schnauben der Pferde, die Flüche einiger betrunkener Viehtreiber und die Anfeuerungsrufe der Zuschauer einer Prügelei vor der Taverne, das Randalieren zweier Ochsen, die ein Gatter zu zerlegen versuchten, und das Kläffen von Hunden. Und über all dem vielstimmigen Lärm stand Jonathan Mulgrave, sowohl im übertragenen Sinne des Wortes als auch buchstäblich, stand er doch auf einer erhöhten Plattform mit einem kleinen Pult, die auf den offenen Wagen eines Einspänners montiert war. Sein halbwüchsiger Sohn führte, auf sein Zeichen hin, das Pferd am Zügel von Gatter zu Gatter. Wenn der Wallach sich dann ins Geschirr legte und der Wagen anruckte, wankte Jonathan Mulgrave jedes Mal gefährlich auf seiner erhöhten Plattform wie ein Rohr im Wind. Doch bisher hatte noch keiner die Wette, dass Mulgrave diesmal stürzen werde, gewonnen.

Mitchell beteiligte sich an diesem Morgen bei acht Versteigerungen. Fünfmal erhielt er den Zuschlag, womit sein Viehbestand um dreihundertachtzig Schafe, ein Dutzend Ziegen, fünf Milchkühe und zehn Ochsen wuchs. Einmal glaubte er, in der Menge das Gesicht von Ian McIntosh gesehen zu haben. Doch er hatte keine Zeit, sich dessen zu vergewissern. Denn schon im nächsten Moment begann Mulgrave mit der Versteigerung der fünf Pferde, für die er sich interessierte, und er musste seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf den Auktionator und die Mitbieter richten.

»Fünfzig sind geboten, Gentlemen! … Höre ich fünfundfünfzig? … Noch haben Sie die Gelegenheit, fünf prächtige Tiere zu einem wahren Spottpreis zu erstehen! … Allein der Braune und die Apfelstute sind ihre dreißig Pfund wert! … Wer ruft mir also fünfundfünfzig zu? … Gentlemen, schauen Sie genau hin! … Mister Ryan? … Nein, Sie steigen aus? … Und Mister McLellan? … Nein, Sie gehen auch nicht weiter? … Gentlemen, fünfzig sind geboten … Fünfzig zum ersten … Fünfzig zum zweiten … und fünfzig zuuuuuum …« Er machte eine Pause, um den Zuruf eines höheren Gebotes noch im letzten Moment zu ermöglichen, doch dieser Zuruf kam nicht. Und so rief er, begleitet vom Krachen des aufs Pultbrett heruntersausenden Auktionshammers: »… dritten! … Verkauft an Mister Hamilton. Meinen Glückwunsch!«

Mitchell nickte lächelnd zurück, und damit war die Auktion für ihn beendet. Gewöhnlich musste bei solchen Versteigerungen sofort nach Zuschlag bar gezahlt werden. Doch Leuten wie ihm, deren Zahlungsfähigkeit und -moral außer Frage standen, räumte Jonathan Mulgrave Kredit ein. Sie brauchten erst nach der Auktion zu zahlen.

»Das war es für heute«, sagte Mitchell zu Timmy und Dennis, während sie die Menge zum nächsten Viehgehege davonziehen ließen. »Ich glaube, wir haben uns einen Drink verdient. Hätte nie gedacht, dass ich bei den Pferden den Zuschlag schon bei fünfzig Pfund erhalten und dem sauertöpfischen Morsley die siebzig Einjährigen vor der Nase wegschnappen würde.«

Timmy verzog das von Wind und Wetter gegerbte Gesicht zu einem schadenfrohen Grinsen. »Das kommt davon, wenn man vor so ’ner Auktion nicht früh genug zum Pinkeln geht. Schätze, er wünscht sich, er hätte besser in die Hose gepisst, als sich die Einjährigen entgehen zu lassen.«

Dennis und Mitchell stimmten in das Gelächter ein, und sie gingen über den staubigen Platz zu Dooley’s hinüber. Es war ein schöner klarer Wintertag.

Mitchell war zufrieden, nicht nur mit diesem Tag, sondern mit dem ganzen Verlauf seiner Reise, auch wenn sie nicht ohne gefährliche Momente gewesen war. Nach ihrem Aufbruch von Burringi bei strömendem Regen hatten Timmy und er dem Händler zwei Tage lang Gesellschaft geleistet. Dann war Bishop nach Nordwesten abgebogen, um zur Farm der Larkins zu kommen, während sie weiter nach Nordosten geritten waren. Die Wildnis dehnte sich jeden Tag aufs Neue von Horizont zu Horizont. Die Weite und Leere des Landes schreckten jedoch weder ihn noch Timmy, sie gaben ihnen vielmehr die Kraft, den Strapazen zu trotzen. Schließlich errichteten sie, fünf Meilen vor Sydney, ihr letztes Nachtlager im Busch.

Am nächsten Morgen geschah das Unglück, das beinahe alle Pläne zunichte- und Sarah zur Witwe gemacht hätte. Es war ein kühler Tag, Morgentau überzog Gras und Sträucher, und der Sonne fehlte die Kraft, die Erde zu erwärmen und die Nebelschleier aufzulösen, die in Senken und über dem nahen Bachlauf hingen.

Er sah nicht die Schlange, die nachts die Nähe der vom Feuer erhitzten Steine gesucht hatte, mit denen Timmy am Abend zuvor einen Ring um ihr Lagerfeuer gebaut hatte.

Als er nach einem Stock griff, um damit die Glut zu schüren, schoss der Kopf hervor. Die Zähne der Viper gruben sich in seinen rechten Unterarm und verspritzten ihr Gift in Sekundenschnelle in sein Fleisch. Der Schmerz war nicht groß, nicht mehr als ein Dornenstich, doch mit diesem Stich streckte der Tod seine knochige Hand nach ihm aus.

Mit der Linken riss er das Reptil von seinem Arm und zertrümmerte dessen Schädel am nächsten Feldstein. Der Leib der Viper zuckte noch, als er schon sein Messer in der Hand hielt und die Klinge zum Kreuzschnitt über der Bisswunde ansetzte. Das Blut schoss aus der klaffenden Wunde, die er aussaugte, während er zum nächsten Ledergurt griff und sich damit den Unterarm am Ellbogen abband. Seiner Geistesgegenwärtigkeit verdankte er vermutlich sein Leben.

Er schaffte es noch mit eigener Kraft nach Sydney. Doch sein Arm war schon auf den doppelten Umfang angeschwollen, und Schüttelfrost setzte ein, als er vor dem Haus von Doktor Samuel White aus dem Sattel kippte.

Das Gift zwang ihn drei Wochen lang aufs Krankenbett, und in der ersten Woche sah es mehr als einmal so aus, als würde die Viper über ihren eigenen Tod hinaus den Sieg davontragen und der Sargmacher zwei Straßen weiter Arbeit bekommen. Sein Arm war unförmig angeschwollen und hatte mehr Ähnlichkeit mit dem aufgedunsenen Bauch einer toten Ratte als mit einem menschlichen Gliedmaß.

Doktor White wollte den Arm amputieren, doch trotz seines schweren Fiebers, das ihn immer wieder ins Delirium warf, begriff Mitchell, welches Schicksal ihm drohte.

»Nein, niemals!«, schrie er und schlug um sich. »Wenn Sie mir den Arm abnehmen, bringen Sie mich besser gleich um! Denn wenn ich das überlebe, werde ich Sie dafür töten! … Weg mit der Säge von meinem Arm! … Lassen Sie mich sterben, aber machen Sie mich nicht zum Krüppel! …Timmy, jag ihm eine Kugel in den Schädel, wenn er es dennoch versucht!«

Doktor White überließ die Entscheidung der Natur, und zu seiner großen Verwunderung waren der Überlebenswille und die Kondition seines Patienten stärker als das Gift, das seinen Körper bis an die Grenze des Todes ausgelaugt hatte.

Am Ende der ersten Woche war die erbitterte Schlacht zugunsten des Lebens entschieden, doch es dauerte noch fast zwei Wochen, bis er sich wieder erholt hatte und kräftig genug fühlte, um sich der Dinge anzunehmen, deretwegen er die lange Reise angetreten hatte.

In Sydney kaufte Mitchell den Großteil der Vorräte ein, die auf seiner Liste standen, sowie zwei stabile Fuhrwerke von einem Wagenbauer, der für die Qualität seiner Arbeit in ganz New South Wales bekannt war. Beim Kauf der vier Zugochsen lernte er Dennis Coy kennen, der als Stallknecht arbeitete. Sie kamen ins Gespräch, Mitchell erzählte ihm von Burringi und den Eden Plains, und als Dennis sich interessiert zeigte, machte Mitchell ihm ein Angebot, das dieser nach einem Tag Bedenkzeit annahm. Er begleitete sie schon, als sie nach Parramatta aufbrachen, wo die Zahl der Viehtreiber und Farmarbeiter, die Arbeit suchten oder sich verändern wollten, wegen seiner Nähe zum Farmland bedeutend größer war als in Sydney.

Zuerst einmal bemühte er sich um eine Hebamme für Sarah, denn das war ihm von allem das Wichtigste. Seine Bemühungen, Miss Hubbard zu einer Reise nach Burringi zu bewegen, blieben leider erfolglos. Sie besaß jedoch die Freundlichkeit, bei Dorothy Reynolds, von der sie als Hebamme eine gute Meinung hatte, ein gutes Wort für ihn und Sarah einzulegen.

»Sie könnte meine Tochter sein, doch sie versteht sich schon jetzt vorzüglich darauf, auch in kritischen Situationen die Ruhe zu bewahren und das Richtige zu tun«, lobte sie Dorothy Reynolds. »Und wenn mich nicht alles täuscht, müsste die Unzufriedenheit ihres Mannes mit seiner derzeitigen Anstellung für Sie nur von Vorteil sein.«

So war es auch. Mitchell bot Dorothy, siebenundzwanzig Jahre alt, von ansprechendem Äußeren und bescheidenem Wesen, eine Anstellung an, die den Beruf der Hebamme mit dem einer Zofe und eines Kindermädchens kombinierte, denn nach einem ersten langen Gespräch war er sicher, dass sie sich gut mit Sarah verstehen würde. Und ihrem Mann Colin, der als Gehilfe im Sägewerk arbeitete, stellte er frei, bei ihm als Schreiner und Zimmermann zu arbeiten oder sich für eine andere Tätigkeit zu entscheiden. Auf einer Farm wie Burringi, die sich noch im Aufbau befand, war die Auswahl groß. Und natürlich zahlte er gut. Colin war sofort Feuer und Flamme, denn im Sägewerk gab es für ihn kein Weiterkommen mehr. Seine Frau ließ sich alles, wie es ihrem Wesen entsprach, in Ruhe durch den Kopf gehen – und kam dann glücklicherweise zum selben Ergebnis wie ihr Mann, nämlich dass es ein zu verlockendes Angebot war, als dass sie es ausschlagen konnten.

Noch acht weitere Männer ließen sich anwerben, von denen drei verheiratet waren. Für ihre Auswahl nahm sich Mitchell viel Zeit, denn dort draußen im Busch konnte eine einzige Person, die nicht ins Team passte, viel Unheil anrichten.

Nachdem er seine Rekrutierung abgeschlossen hatte, hatte er sein Augenmerk auf das Vieh gerichtet, das er erwerben und nach Burringi treiben wollte. Und an diesem Tag hatte er endlich seine letzten Käufe getätigt.

Ja, er hatte allen Grund, mit dem, was er in den letzten beiden Monaten durchgestanden und erreicht hatte, zufrieden zu sein. Sarah würde Augen machen und aus dem Häuschen sein, wenn sie sah, was er alles mitbrachte – an Vieh, Waren und tatkräftigen Menschen. Auf Burringi würde im wahrsten Sinne des Wortes ein geschäftiges Leben und Treiben einkehren. Statt nur sechs Personen würde die Farm schlagartig das Zuhause von insgesamt zwanzig Männern, Frauen und Kindern sein, ja einundzwanzig, wenn erst ihr zweites Kind geboren war …

Mitchell lächelte in Gedanken, während er mit Timmy und Dennis auf Dooley’s zusteuerte. Eine kleine Feier auf den Abschluss seiner Geschäfte war ganz angebracht. Und in spätestens zehn Tagen, wenn sie die Pferde und das Vieh mit reichlich Futter und Ruhe für den anstrengenden Trieb nach Süden aufgepäppelt hatten, konnten sie gen Burringi aufbrechen.

Die langen Holzbänke vor der Taverne waren schon alle besetzt. »Sehen wir, ob drinnen noch was frei ist«, sagte Mitchell und betrat die Schenke, die im Grunde genommen nur ein langer Schuppen mit einem langen Tresen war, hinter dem auf einem schweren Bord eine Reihe von Fünf- und Zehngallonenfässern mit Rum, Branntwein, Madeira und Port standen.

»Da drüben sind Jud, Poodle und Wiseman!«, rief Timmy, der an einem Tisch links vom Eingang die drei Männer entdeckte, die von nun an zu ihrer Mannschaft gehörten.

Mitchell hatte diese drei Männer sowie Dennis und Timmy zu der Auktion mitgenommen, denn die ersteigerten Tiere mussten nachher zu ihrem Lager getrieben werden, das sie auf der anderen Seite der Siedlung direkt am Ufer des Parramatta aufgeschlagen hatten.

Mitchell wollte sich gerade nach links wenden, um mit Timmy und Dennis dort drüben am Tisch von Jud, Poodle und Wiseman Platz zu nehmen, als sein Blick auf die Gestalt eines Mannes fiel, der ganz allein an einem Tisch saß und ihm sofort vertraut vorkam, obwohl er dessen Gesicht nicht sehen konnte, da er mit hängendem Kopf in seinen Zinnbecher stierte.

»Bestellt schon mal. Ich komme gleich nach«, sagte Mitchell zu Timmy, drückte ihm einige Geldstücke in die Hand und ging auf den Tisch zu, dessen primitive Platte aus einer dicken, unbearbeiteten Baumscheibe bestand.

Als er näher kam und der Mann den Becher an die Lippen führte, wusste Mitchell, dass er sich vorhin nicht getäuscht hatte.

»Ian!«, rief er hocherfreut. »Wenn das nicht ein verrückter Zufall ist! Also waren Sie es doch, den ich da vorhin in der Menge zu erkennen geglaubt habe. Wie schön, Sie nach so langer Zeit mal wiederzusehen.«

Ian hob langsam den Kopf, kniff die leicht glasigen Augen zusammen, die verrieten, dass er nicht vor seinem ersten Becher Port oder Branntwein saß, und musterte ihn einen Moment lang stumm, als wüsste er nicht, wo er ihn zuordnen sollte. »Schau an, der edle Mitchell Hamilton gibt uns die Ehre«, sagte er dann spöttisch und mit schwerer Zunge.

Mitchell stutzte, entschied dann aber, Ians Begrüßung als Scherz aufzufassen. Er zog sich einen der klobigen dreibeinigen Hocker heran. »Wie geht es Ihnen, Ian? Und was macht Seven Hills ?«, fragte er gut gelaunt.

»Scheren Sie sich zum Teufel«, murmelte Ian und trank.

Mitchell runzelte die Stirn, und sein Lächeln verlor ein wenig von seiner Natürlichkeit. »Na, Sie scheinen mir heute ja in einer heiklen Stimmung zu sein.«

»Was Sie nicht sagen«, knurrte Ian.

»Ich hatte eigentlich vor, Sie zu einem Kap-Brandy einzuladen, aber das war wohl doch kein so guter Gedanke.«

»Haben Sie nicht verstanden? Sie sollen sich zum Teufel scheren!«, blaffte Ian ihn an.

Mitchell machte ein bestürztes Gesicht, als er begriff, dass es dem Iren damit tatsächlich ernst war. Sie hatten sich früher doch so hervorragend verstanden. Was war jetzt bloß in ihn gefahren? »Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu belästigen, Ian. Doch ich wusste nicht, dass Sie mir irgendetwas nachtragen, von dem ich nicht …«

»Nachtragen?«, fuhr Ian ihm grimmig ins Wort und fixierte ihn mit blutunterlaufenen Augen. »Das ist wohl kaum das richtige Wort für das, was Sie angerichtet haben.«

»Was soll ich denn angerichtet haben?«, fragte Mitchell verständnislos.

»Sie haben Jessica verraten!«, stieß Ian voller Verachtung hervor. »Jessica hat Sie geliebt und an Sie geglaubt und ihr Leben für Sie aufs Spiel gesetzt! Und was tun Sie, Sie gottverfluchter Narr? Sie vergelten es ihr, indem sie dieses junge Ding heiraten, nur weil es Ihnen die Zeit im Versteck auf Van Diemen’s Land ein wenig versüßt hat!«

Das Blut schoss Mitchell ins Gesicht. »Ich verbitte mir, dass Sie so abwertend von meiner Frau reden, einmal ganz abgesehen davon, dass Ihre Behauptungen nicht den Tatsachen entsprechen«, erwiderte er heftig. »Sarah hat mir die Zeit nicht auf die Art versüßt, die Sie unterstellen.«

»Mein Gott, Sie haben sie geschwängert!«, hielt Ian ihm zornig vor. »Und kommen Sie mir jetzt nicht wieder damit, dass Sie nicht zurechnungsfähig waren, als das geschah, denn das glaube ich Ihnen nicht. Aber Sie waren zurechnungsfähig, als Sie das Mädchen geheiratet haben.«

»Ich musste es tun!«, verteidigte sich Mitchell. »Ich musste zu dem stehen, was ich getan hatte!«

»Ja, ich weiß, Sie sind ein Ehrenmann und immer darauf bedacht, den Anstand zu wahren! Und es hat Sie nicht gekümmert, dass Sie Ihrer Ehre und Ihrem Gewissen, das Sie nicht befleckt wissen wollten, Jessicas Liebe geopfert haben!«, warf Ian ihm erregt vor. »So haben Sie alles kaputt gemacht. Wenn Sie Jessica geheiratet hätten, hätte ich damit leben können, so wie ich auch damit gelebt habe, dass sie die Frau von Steve und somit für mich unantastbar wie auch unerreichbar war.«

Fassungslos hörte Mitchell ihm zu.

»Aber Sie haben sich gegen Jessica entschieden und mir damit Hoffnung gemacht, dass eines Tages doch noch möglich sein könnte, was ich bis dahin nicht zu träumen gewagt hatte«, brach es aus Ian hervor. »Doch die bittere Enttäuschung, die Sie ihr zugefügt haben, hat sie verändert. Nie wäre sie sonst nach England gereist.«

»Jessica war in England?«

»Ja, fast zwei Jahre war sie fort, um einer irrsinnigen Rachsucht zu frönen, was ihr früher nie in den Sinn gekommen wäre! Sie hat Seven Hills und ihre Kinder im Stich gelassen, und sie hat auch nichts darum gegeben, was ich ihr gesagt habe. Sie ist so anders geworden, und Sie tragen daran die Schuld, denn mit Ihrem Verrat an ihr haben Sie unser aller Leben aus der Bahn gebracht«, warf er ihm vor. »Wenn Sie nicht so ein gottverdammter Narr gewesen wären, wäre all das nicht passiert, und dann hätte ich mich auch nicht gezwungen gesehen, Seven Hills zu verlassen und noch einmal von vorn anzufangen, ohne zu wissen, wofür eigentlich.«

Schock und Ungläubigkeit zeichneten sich auf Mitchells Gesicht ab. Es war ihm unvorstellbar, dass Ian nicht mehr Verwalter von Seven Hills sein sollte, das doch auch sein Lebenswerk war. »Sie sind weggegangen? Das kann doch nicht sein!«

»Ich musste fort, weil ich sonst vor die Hunde gegangen wäre. Aber was verstehen Sie schon davon!« Blanke Wut funkelte in seinen Augen.

Mitchell war bestürzt. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. »Mein Gott, Sie lieben Jessica! … Sie haben sie immer geliebt, nicht wahr?«, flüsterte er, von Schuld und Mitgefühl bewegt. »Jetzt verstehe ich alles.«

»Nichts verstehen Sie!«, zischte Ian – und schlug unvermittelt mit der Faust zu. Dabei fegte er Zinnbecher und Steinkrug mit dem Arm vom Tisch.

Der Schlag traf Mitchell mitten ins Gesicht und schleuderte ihn vom Hocker. Hart stürzte er auf den Bretterboden und kämpfte gegen die Benommenheit an. Ein stechender Schmerz pulsierte durch seine linke Gesichtshälfte.

Das Stimmengewirr im Dooley’s verstummte, und alle Augenpaare richteten sich auf Mitchell und Ian, der sich erhoben hatte und wankend vor Mitchell stand.

Dessen Männer sprangen nun vom Tisch auf und stürmten durch den Raum, um die Partei von ihrem Boss zu ergreifen und Ian ihre Fäuste spüren zu lassen. Doch Mitchell, der sich halb aufgerichtet hatte, hob abwehrend den Arm und hielt sie mit den Worten zurück: »Lasst ihn in Ruhe! Keiner fasst ihn an. Es ist nichts passiert.«

Timmy und die anderen zögerten. Ihren Gesichtern war anzusehen, dass ihrer Meinung nach sehr wohl etwas passiert war, das nach einer passenden Antwort verlangte.

»Wer sich mit ihm anlegt, ist gefeuert!«, warnte Mitchell, und seine linke Gesichtshälfte schmerzte bei jeder Bewegung.

Timmy zuckte mit den Schultern. »Okay, Sie sind der Boss, und Sie müssen es ja wissen. Aber wenn Sie es sich doch noch anders überlegen sollten, geben Sie uns Bescheid. Dann stutzen wir den Kerl so zusammen, dass er unter ’ner Fußmatte noch Seil springen kann«, sagte er, warf Ian einen drohenden Blick zu und zog sich mit Dennis und den anderen zurück.

Die Schlägerei, auf die so manch einer gehofft hatte, fiel aus, und damit waren Mitchell und Ian nicht mehr Mittelpunkt des Interesses. Der normale Tavernenlärm setzte wieder ein.

Schwankend hielt sich Ian aufrecht. Verächtlich blickte er auf Mitchell hinunter. »Sie hätten alles haben können, Jessica, Seven Hills, das Glück auf Erden. Doch wofür ich meinen rechten Arm gegeben hätte, haben Sie leichtfertig verspielt und einem falschen Ehrgefühl geopfert. Sie sind ein gottverdammter Narr, Mitchell Hamilton!« Mit diesen Worten wandte er sich um und stakste aus der Taverne.

Am nächsten Morgen kam Ian in den Gasthof Settler’s Crown, um sich zu entschuldigen. Er sah fürchterlich aus. Der ausgewachsene Kater einer durchzechten Nacht stand ihm ins Gesicht geschrieben. Unter den rot angelaufenen Augen hingen dunkle Ringe.

Er entschuldigte sich für sein unbeherrschtes Auftreten vom Vortag und ganz besonders für den Faustschlag. »Ich hatte zu viel getrunken, was keine Entschuldigung ist, sondern nur eine Erklärung. Ich bedaure, die Beherrschung verloren und Sie geschlagen zu haben.«

»Schon vergessen«, versicherte Mitchell und log damit. »Ich habe immer große Achtung vor Ihnen und Ihrer Arbeit gehabt, und an dieser Meinung wird auch der gestrige Ausrutscher nichts ändern.«

Ian sah ihn mit verkniffener Miene an. »Gut, denn auch an meiner Meinung über Sie wird sich nichts ändern, Mitchell. Sie sind ohne Zweifel ein wahrer Gentleman, aber ebenso auch der größte gottverdammte Narr, der mir je begegnet ist!« Und grußlos ließ er ihn stehen.

Aufgewühlt sah Mitchell Ian nach, der sich im Hof auf sein Pferd schwang und davonritt. Die hässliche Szene am gestrigen Tag und der kurze Wortwechsel gerade eben waren nicht ohne Wirkung auf ihn. Sie hatten in ihm ein bewegtes Kapitel seiner Vergangenheit wieder ins Bewusstsein zurückgeholt, als er von Sarahs Existenz noch nichts geahnt hatte und er der unerschütterlichen Überzeugung gewesen war, dass es nie eine andere Person geben würde, die sein Denken und sein Verlangen auch nur annähernd so beherrschen konnte wie sie – wie Jessica.

Er blickte hinaus in den Morgen, ohne jedoch die dahinsegelnden Wattebauschwolken und die kreisenden Vogelschwärme am Himmel bewusst wahrzunehmen. Er sah die sieben Hügel von Seven Hills und Jessica. Und was er an diesem Tag auch versuchte, er wurde ihr Gesicht nicht los.

23

Die Dämmerung warf schon ihre langen Schatten über das Land, als Jessica von ihrem Besuch bei ihrer Freundin Lydia auf New Hope zurückkehrte und am Ufer des Hawkesbury die Bronzeglocke anschlug. Während sie darauf wartete, dass Sean Keaton und Pete Cowley den Hügel herunterkamen und die Lady Jane, den alten Fährkahn, flottmachten, dachte sie über den Sonntagnachmittag nach, den sie mit Lydia und Thomas Marvin verbracht hatte. Es waren sehr schöne Stunden gewesen, und wann immer sie mit ihnen zusammen war, freute sie sich über ihr stilles Glück, das zu einem gut Teil auch in ihrer Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit begründet lag. Ihnen genügte es, eine kleine Farm zu bewirtschaften, die gerade genug abwarf, um das Überleben zu sichern. Nur alle paar Jahre geschah es, dass sie einen Überschuss erwirtschafteten, der sie befähigte, sich einen seit Langem gehegten Wunsch zu erfüllen.

Jessica seufzte und bedauerte, dass ihr diese Bescheidenheit nicht gegeben war. Zwar beneidete sie Lydia und Thomas um ihre fröhliche Zufriedenheit und Ausgeglichenheit, doch sie konnte gegen ihre eigene Natur einfach nicht an. Wann immer sie auf New Hope war, spürte sie das heftige Verlangen, die Farm einmal gründlich auf Vordermann zu bringen. Sie begriff einfach nicht, dass Lydia und Thomas dieser großen Herausforderung, die eine Farm nun einmal darstellte, nicht Herr wurden. Nicht, dass sie die Arbeit gescheut hätten! Ganz und gar nicht. Sie plagten sich redlich und gaben ihr Bestes, doch irgendwie fehlte es ihnen an Ehrgeiz, ja auch an der Vision, was New Hope einmal sein könnte.

Der flache Rumpf des Fährkahns schob sich knirschend über den Ufersand, und Sean Keaton sprang mit einem Tau an Land, um die Lady Jane zu sichern.

Jessica nickte ihm freundlich zu, führte Princess auf das Boot und hing weiter ihren Gedanken nach, während die beiden Männer sich in die Taue legten und den Fährkahn mithilfe ihrer Muskelkraft über den Fluss brachten.

Warum nur war es für ihr Leben und ihre Zufriedenheit so wichtig, dass eine große Herausforderung auf die andere folgte? Warum nur konnte sie nie mit dem zufrieden sein, was sie erreicht hatte? Seven Hills war das Zentrum ihres Lebens, und doch hatte sie sich nicht darauf beschränkt, sondern sich in geschäftliche Unternehmungen gestürzt, von denen sie anfangs nicht den Schimmer einer Ahnung gehabt hatte. Was hatte dieser unbändige Drang in ihr, stets zu neuen Ufern der Herausforderung aufzubrechen, bloß zu bedeuten? Weshalb fand sie keine Ruhe und glaubte, ihre Tüchtigkeit ständig aufs Neue beweisen zu müssen? Gewiss, sie hatte eine Vision, in der Brading in Australien der allseits bekannte Name einer mächtigen Familiendynastie war, deren Imperium Seven Hills, eine Kette exklusiver Läden und eine Schifffahrtslinie mit einer stolzen Flotte umfasste. Aber war sie deshalb glücklicher als Thomas und Lydia? Nein, das war sie ganz sicher nicht …

Mit einem Rums landete der Fährkahn am anderen Ufer.

Princess schnaubte nervös bei dem Ruck, der durch das Boot ging, und Jessica aus ihren Gedanken holte.

»Ist ja schon gut, Princess«, sagte Jessica und klopfte ihr beruhigend auf den Hals. »Gleich hast du wieder festen Boden unter den Hufen.« Sie rief den beiden Männern, die den Fährkahn vertäuten, einen Dank zu und führte die Stute an Land.

Gemächlich ritt sie den Hügelhang hinauf. Das neue Farmhaus wuchs mit jedem Tag. Die Außenmauern aus massivem Sandstein ragten mittlerweile schon über Manneshöhe auf und ließen die beeindruckenden Maße dieses Hauses allmählich erahnen. Seven Hills würde nicht nur für sich in Anspruch nehmen können, das erste massive Steinhaus am Hawkesbury zu besitzen, sondern zudem auch noch das erste Steinhaus mit einem voll ausgebauten Obergeschoss.

Jessica lenkte Princess an der niedrigen Hecke vorbei, die sich zwischen dem Trampelpfad und der Rückfront des ehemaligen Verwalterhauses erstreckte. Ihre Aufmerksamkeit galt jedoch so ausschließlich ihrem neuen Farmhaus, dass sie den Mann überhaupt nicht bemerkte, der im Schatten der Veranda gesessen und sich bei ihrem Nähern aus dem Korbsessel erhoben hatte.

»Jessica.«

Sie fuhr unter der Stimme wie unter einem heftigen, unerwarteten Schlag zusammen und riss den Kopf herum. Fassungslosigkeit und Verwirrung sprachen aus ihren Zügen, als sie ihn dort stehen sah, keine fünf Schritte von ihr entfernt. »Mitchell?«, stieß sie hervor, als fürchtete sie, unter einer Sinnestäuschung zu leiden.

Er lächelte. »Vielleicht hätte ich dir meinen Besuch besser vorher ankündigen sollen. Aber ich wusste bis heute Morgen selbst nicht, dass ich den Wunsch haben würde, dich wiederzusehen.«

Jessica sprang aus dem Sattel und überließ Princess sich selbst. Mit einer unsicheren Geste fuhr sie sich über das Haar und zupfte dann an ihrer karierten Baumwollbluse. Sie wünschte plötzlich, sie hätte sich Mitchell in etwas attraktiverer Kleidung präsentieren können. Die verrücktesten Gedanken schossen ihr durch den Kopf, und ihre Gefühle gerieten in einen Aufruhr, dessen Zielrichtung nicht zu erkennen war. Erinnerungen an eine wunschlos glückliche Zeit der Liebe und Leidenschaft, aber auch an eine Zeit unsäglichen Schmerzes wurden wach und riefen eine merkwürdige Erregung in ihr hervor.

»Wir haben uns Jahre nicht mehr gesehen«, sagte Jessica und blieb mit einem Lächeln vor ihm stehen, das den ganzen Widerstreit ihrer Gefühle widerspiegelte.

Er nickte. »Ja, über zwei Jahre.«

Sie sahen sich einen Augenblick schweigend an, während die Sonne in den westlichen Tälern der Blue Mountains versank und ihren letzten violetten Lichtschein an den Himmel warf.

Jessicas Herz schlug plötzlich wie verrückt. War es möglich, dass sich das Rad der Zeit noch einmal zurückdrehen ließ? »Ich freue mich, dass du mich besuchst.«

Sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht. »Ich hatte einfach das Gefühl, kommen zu müssen«, erwiderte er leise.

Sie ergriff seine Hand und wollte etwas sagen, doch in dem Moment schepperte in der Küche ein Topf, woraufhin die herrische Stimme von Lisa Reed zu ihnen drang, die ihr Küchenmädchen ausschimpfte.

Jessica ließ seine Hand los, als hätte sie jemand bei etwas Verbotenem ertappt. Irgendwie fühlte sie sich verlegen, und sie sagte das Nächstbeste, was ihr in den Sinn kam. »Bist du schon lange hier?«

»Nur ein paar Stunden.«

»Tut mir leid, dass du so lange auf mich warten musstest.«

»Das macht nichts. Ich hatte mehr als genug Ablenkung. Edward und Victoria haben mir Löcher in den Bauch gefragt. Ich hätte sie kaum wiedererkannt, so sehr sind sie gewachsen. Es sind ganz reizende Kinder. Du kannst stolz auf sie sein, besonders auf Edward. Er ist schon ein richtiger junger Mann.«

Sie lächelte. »Ja, das ist er.« Wieder entstand für einen Augenblick ein befangenes Schweigen, das Jessica mit den Worten brach: »Keaton und Cowley haben mir nichts von dir gesagt, als wir über den Fluss setzten.«

»Ich hatte sie darum gebeten, Jessica. Es sollte eine Überraschung sein.«

»Die ist dir wahrhaftig gelungen, Mitchell«, versicherte sie und war immer noch völlig durcheinander. »Hat Talbot dich schon über die Baustelle geführt?«

»Nein. Er meinte, dass du es sicher selbst tun willst.«

»Richtig. Möchtest du denn, dass ich dir das neue Farmhaus zeige?«

»Ja, gern.«

Dass die Dunkelheit hereinbrach und sie nicht mehr viel sehen konnten, kümmerte keinen von ihnen. Es ging ihnen auch gar nicht um das Haus, und das wussten sie beide. Diese Führung über die Baustelle diente vielmehr dem Zweck, der beidseitigen Beklommenheit entgegenzuwirken und ihnen durch eine äußere Ablenkung Gelegenheit zu geben, sich über ihre Empfindungen klar zu werden.

Als sie durch einen steinernen Rundbogen auf die rückwärtige Veranda gelangten, die dem Fluss zugewandt war, erlosch am Horizont der letzte Lichtschein. Die Nacht umhüllte sie, und Jessica war, als würden Vergangenheit und Gegenwart eins werden. Ein merkwürdig erregendes Gefühl bemächtigte sich ihrer, und der Gedanke, dass es vielleicht doch möglich war, den Zauberbann vergangener Jahre mit neuer Kraft zu erfüllen, durchzuckte sie wie ein elektrischer Stromschlag. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen, und für einen Moment war vergessen, was hinter ihr lag – England, das Kind, das sie dort gelassen, und alles andere, das ihr Glück lange davor zerstört hatte.

»Warum bist du gekommen, Mitchell?«, fragte sie leise und versuchte die Dunkelheit zu durchdringen, um in seinem Gesicht zu lesen.

Er ließ sich mit seiner Antwort Zeit. »Ich weiß es nicht, Jessica«, sagte er schließlich. »Vermutlich bin ich gekommen, um herauszufinden, warum ich den Drang hatte, dich aufzusuchen.«

Deutlich hörte sie die Verwirrung aus seiner leicht bebenden Stimme heraus, und ebenso deutlich spürte sie seinen Blick auf ihrem Gesicht.

»Mitchell …«

»Ja, Jessica.«

»Wir haben uns einmal geliebt.« Ihre Stimme war nur noch ein Hauch. »Du warst die große Liebe meines Lebens.«

»Und du die meine.«

Jessica legte ihre Arme um seinen Nacken und zog seinen Kopf zu sich herunter. Er widersetzte sich nicht, und seine Lippen öffneten sich leicht, als sie ihn küsste.

Sie schloss die Augen, und sie wartete darauf, dass es so sein würde wie früher, nämlich dass ihr Körper unter der Berührung seiner Lippen mit aufloderndem Verlangen reagieren würde. Doch dieses erregende Kribbeln und diese lustvollen Schauer, die ihr durch und durch gegangen waren und die sie bis in die Brustspitzen gespürt hatte, blieben aus. Der Zauber der Liebe, diese ganz besondere Alchemie zwischen zwei Menschen, funktionierte nicht mehr. Was immer einmal Seele und Körper bei so einem Kuss verbunden und zu leidenschaftlichen Vereinigungen geführt hatte, es existierte nicht mehr.

Ernüchtert und irgendwie doch auch benommen, brach sie den Kuss ab und gab ihn frei. »Entschuldige«, flüsterte sie. »Ich hätte es wissen müssen. Die Zeit lässt sich nicht mehr zurückdrehen.«

Seine Hand strich über ihre Wange, und es war keine Geste der Zärtlichkeit, sondern mehr so etwas wie ein stummer brüderlicher Trost. »Ich glaube, du hast es gewusst, so wie auch ich es gewusst habe. Doch wir waren uns all die Zeit nicht völlig sicher, und jetzt weiß ich auch, weshalb ich kommen musste.«

Sie hörte, wie er erleichtert durchatmete, und verstand, was dieser Besuch zu bedeuten hatte. »Du wolltest endlich sicher sein, dass du mich nicht mehr liebst und dass ich dich nicht mehr in Versuchung bringen kann, nicht einmal in Gedanken, nicht wahr?«

»Ich habe all die Jahre immer wieder von dir geträumt, und diese Träume haben mich tagsüber gequält und mit Schuld erfüllt«, gestand er.

»Weil du Sarah liebst, wie du einmal mich geliebt hast«, sagte Jessica und wunderte sich, wie ruhig sie das aussprechen konnte. Die Erkenntnis, dass von dem Feuer der Liebe für ihn, das einmal in ihr gebrannt hatte, nicht einmal mehr ein Fünkchen Glut zurückgeblieben war, war nicht mit Bitterkeit und Schmerz verbunden. Sie hatte es wie Mitchell längst gewusst, ohne bisher jedoch die endgültige Bestätigung erhalten zu haben.

»Anders.«

»Sicher, keine Liebe gleicht der anderen. Du wirst nun nicht mehr von mir träumen.«

»Ich nehme es an.«

»Ich wünsche es dir von Herzen, Mitchell. Und es war gut, dass du gekommen bist«, sagte sie und fügte mit einem leisen, leicht wehmütigen Auflachen hinzu: »Jetzt werde ich nicht mehr den Wunsch haben, dich zu küssen und zu sehen, was dabei mit uns passiert. Jetzt wissen wir es beide.«

»Ja«, pflichtete er ihr bei. »Ich hoffe, du verzeihst mir, dass es so gekommen ist.«

»Ich habe einmal geglaubt, dir niemals verzeihen zu können, dass du Sarah geheiratet und mir so viel Schmerz zugefügt hast«, gestand sie nachdenklich. »Aber auch das gehört unwiederbringlich der Vergangenheit an. Wie können wir auch einander für Gefühle verantwortlich machen? Nein, du brauchst mein Verzeihen nicht, weil es längst nichts mehr zu verzeihen gibt. Wir hatten unsere Zeit. Sie hatte auf der Tradewind ihren Beginn und irgendwann auf Van Diemen’s Land ihr Ende. Danach hatte dein Leben mit meinem Leben nichts mehr gemein, bis auf die Erinnerung. Aber auch die wird immer mehr verblassen, und ich denke, das hat die Natur mit Bedacht so eingerichtet.«

Mitchell nickte, und damit war alles gesagt. Er war froh. »Ich habe Ian in Parramatta getroffen. Er erzählte mir, dass du in England gewesen bist.«

»Es ließ sich nicht vermeiden.«

Er zögerte, ob er fortfahren sollte, denn ihre knappe und sehr reserviert klingende Antwort ermunterte ihn nicht gerade dazu. Doch er setzte sich darüber hinweg. »Ich konnte es erst nicht glauben, als ich erfuhr, dass er nicht mehr auf Seven Hills ist.«

»Ich habe ihn nicht entlassen, Mitchell. Es war sein ureigener Wille. Ian hat sich eine eigene Farm gekauft. Er will sich etwas Eigenes aufbauen!« Ihre Sätze kamen kurz und knapp und abweisend.

»Ich glaube nicht, dass das der Grund war.«

»Ich wüsste nicht, weshalb du dir darüber Gedanken machen solltest!«

»Vermutlich hätte ich das auch nicht getan, wenn er mir nicht gesagt hätte, dass er dich seit jeher geliebt und es deshalb nicht länger auf Seven Hills ertragen hat.«

Sie schwieg.

»Er liebt dich wirklich, Jessica.«

Jessica hatte einen Kloß im Hals. »Ich weiß, aber er und ich …« Sie brach ab und gab ihrer Stimme wieder einen festen Klang. »Mit uns beiden wird es niemals etwas werden, weil es da etwas gibt, was ich ihm nie erklären kann, und mir genau das zu verzeihen, schafft er nicht. Und weil dem so ist, wird diese Sache immer einen tiefen, unüberwindlichen Graben zwischen uns ziehen.«

»Jessica …«

»Nein, kein Wort mehr, Mitchell«, unterbrach sie ihn ruhig, aber bestimmt. »Spar dir alle weiteren gut gemeinten Worte und frag auch nicht, was es ist, denn ich werde es dir niemals sagen. Glaube mir einfach, dass ich weiß, wovon ich spreche.«

Er seufzte resignierend. »Wie du meinst.«

»Lass uns ins Haus zurückgehen«, forderte Jessica ihn auf.

»Lisa, Talbot und die Kinder werden schon auf uns warten, und du musst uns von Burringi und den Eden Plains erzählen.«

Jessica hakte sich bei ihm ein, und wie zwei gute Freunde gingen sie über den Hof auf den gelben Lichtschein zu, der aus dem Verwalterhaus zu ihnen in die Nacht drang. Sie wussten instinktiv, dass sie, sollte der Zufall es nicht anders wollen, sich nie wiedersehen würden, und sie empfand darüber kein Bedauern.

24

Zärtlich teilten seine Hände die Flut ihrer Haare, als sie sich über seinen Schoß kniete und sich langsam zu ihm hinabbeugte.

»Du bist wunderschön«, flüsterte Kenneth. »Ich könnte dich immer so ansehen.«

Lavinia lächelte. »Nur ansehen?«, neckte sie ihn und ging tiefer in die Hocke, sodass ihr weiches Fleisch über seine harte Männlichkeit rieb.

Er stöhnte bei der Berührung auf und presste seinen Unterleib zwischen ihre gespreizten Beine. »Ich könnte dich verschlingen«, keuchte er.

Lavinia lachte leise und sinnlich. Sie spürte, wie die intime Berührung sie noch feuchter werden ließ. »Warten wir es ab, wer wen verschlingt, mein tapferer Recke«, sagte sie und verstärkte die Bewegung ihres Beckens.

Er küsste sie auf die Augen und dann auf den Mund. Sie sog seine Zunge zwischen ihre Lippen, während seine gesunde Hand über ihren nackten Leib strich, über den der warme Schein des Kaminfeuers tanzte. Als sie sich wenig später etwas aufrichtete, küsste er ihre Brüste. Zunge und Lippen spielten mit ihren Brustwarzen, die sich unter seinen Liebkosungen verhärteten.

Schauer der Lust gingen in Wellen durch ihren Körper. Und plötzlich formte sich ein irrwitziger Gedanke in ihr. Ob es mit Henry Ash …

Sie führte den Gedanken nicht einmal zu Ende. Er war nicht mehr als das kurze Aufglimmen eines Glühwürmchens in dunkler Nacht. Nur für einen Sekundenbruchteil verirrte sich der Gedanke an Henry Ash in ihr Bewusstsein. Er war sofort wieder ausgelöscht, erstickt unter dem Ansturm der Leidenschaft, in die sie stürzte, als Kenneth nun in sie drang und sie mit ihm verschmolz.

Der Gedanke an Henry Ash kehrte in dieser Nacht nicht zurück. Doch die Saat war in ihr gelegt. Als Kenneth kurz vor Morgengrauen ihr Haus verließ, nachdem er sie halb im Schlaf noch einmal geliebt hatte, schlich sich Henry Ash über ihre Träume in ihre Gedanken zurück.

Lavinia fühlte sich irgendwie irritiert, als Abigail ihr wie üblich den Morgentee ans Bett brachte und sie aus diesem Traum erwachte, dessen Bilder jedoch sofort verblassten. Was ihr von diesem Traum blieb, war nur ein unbestimmtes Gefühl an etwas Diffuses, das sie beunruhigte, ohne dass sie wusste, was es war.

Später beim Frühstück, als sie ihre Einkaufsliste durchging, kam ihr Henry Ash bewusst in den Sinn. Seit seinem ersten Besuch vor gut zwei Monaten, als er von Toongabbee nach Sydney zurückgekehrt war, hatten sich ihre Wege mehr als ein Dutzend Mal gekreuzt.

Dass er sie damals aufgesucht hatte, hatte Lavinia mehr gefreut, als ihr an jenem Tag bewusst gewesen war. Mit Henry Ash verband sie eine Zeit, in der ihr Leben noch in geregelten Bahnen verlaufen und sie die allseits respektierte Ehefrau von Captain Whittaker gewesen war – und nicht die hörige Geliebte seines Mörders, wie ihr neuerdings sogar Straßenjungen ungeniert nachriefen.

Henry Ashs Besuch hatte die schmerzliche Erinnerung in ihr wachgerufen, welch ein gesichertes und kurzweiliges Leben sie doch einst geführt hatte. Es war ein Leben mit glanzvollen Bällen gewesen, mit harmlosen und doch aufregenden Flirts, mit Picknicks und Besuchen von Veranstaltungen, mit Anproben bei der Schneiderin und mit Verabredungen zum Tee. Damals hatte sie sich auch nicht mit einem einzigen Mädchen als Personal bescheiden müssen. Sie hatte neben Abigail drei weitere Bedienstete gehabt und natürlich ihre eigene Kutsche.

Ach, es war so vieles anders gewesen. Nie wäre ihr damals der Gedanke gekommen, dass sie eines gar nicht so fernen Tages kein Geld mehr für Ausgaben haben würde, die nicht unbedingt nötig waren. Und erst recht hätte sie sich niemals träumen lassen, einmal gezwungen zu sein, das eigene Haus aus Geldnot verkaufen und nun Mietzins zahlen zu müssen. All das, was früher ihr Leben als ehrbare Ehefrau ausgemacht hatte, hatte Henry Ash wieder in ihr Bewusstsein zurückgerufen. Und es wog umso schwerer, als er der einzige Gentleman war, der sie auf der Straße nicht schnitt oder ihr mit wissend-lüsternem Blick begegnete.

Seit seinem ersten Besuch hatte sie ihn immer wieder in der Stadt getroffen, und nie hatte er es unterlassen, sie mit Respekt und ebenso großer Freundlichkeit zu begrüßen. Er war der Einzige, der noch vor ihr den Hut zog. Ja, er beließ es nicht nur bei dem Gruß, sondern er unterhielt sich auch mit ihr. Und wie oft hatte er sie schon vom Markt zurück nach Hause begleitet und darauf bestanden, ihr den Einkaufskorb zu tragen. Zweimal hatte er sie in seiner Kutsche mitgenommen, als sie sich sonntags auf den langen Weg zur Kirche gemacht hatte. Am Besuch des Gottesdienstes hielt sie fest, auch wenn die anderen Kirchgänger sie vor und im Gotteshaus noch mehr schnitten und sie ihr Dasein als von der Gesellschaft Ausgestoßene noch deutlicher spüren ließen als sonst schon.

Deshalb hatte sie das Anerbieten von Henry Ash, sie in seinem Wagen mitzunehmen, erst auch abgelehnt und auf sein Beharren hin mit hochrotem Kopf gesagt: »Ihre Freundlichkeit ehrt Sie, Mister Ash. Aber ich gehe doch besser zu Fuß, damit Ihnen Ihre Freundlichkeit nicht zum Nachteil gereicht.«

»Wieso das?«

Ihre Röte war noch tiefer geworden. »Ich weiß nicht, wie gut Sie über die … Veränderungen unterrichtet sind, die mich zur Witwe und zum Paria der Gesellschaft gemacht haben«, hatte sie mit gesenktem Blick geantwortet. »Auf jeden Fall bin ich nicht mehr die Art von Frau, mit der sich ein Gentleman wie Sie unbeschadet in der Öffentlichkeit sehen lassen kann.«

Herrn