Inhalt

Aufruf an die Leserinnen und Leser dieses Buches: Bereichern Sie unser Lebensgeschichten-Archiv!

An der Universität Wien besteht seit den 1980er-Jahren die »Doku Lebensgeschichten«, eine Dokumentationsstelle für schriftliche Lebensaufzeichnungen aller Art.

Wir sammeln unter anderem Erinnerungen, Autobiografien, Tagebücher, Familiengeschichten als historische und kulturwissenschaftliche Dokumente.

Wenn Menschen ihre persönlichen Erlebnisse oder Erinnerungen schriftlich festgehalten haben, um sie z. B. an ihre Enkelkinder weiterzugeben, erbitten wir eine Kopie davon.

Wenn Sie Lebenserinnerungen, Kriegstagebücher oder ähnliche Aufzeichnungen von Vorfahren besitzen – auch handschriftliche Texte, die Sie selbst vielleicht gar nicht mehr lesen können –, würden wir gerne Einblick nehmen oder mehr darüber erfahren.

Wenn Sie immer schon gern Ihre Lebensgeschichte aufschreiben wollten, möchten wir Sie gern dazu ermuntern, Ihr Vorhaben zu verwirklichen und können Sie fallweise auch dabei beraten.

Eingesandte Texte werden von uns fotokopiert bzw. digitalisiert. Originaltexte werden verlässlich retourniert.

Geschichte aus Lebensgeschichten

Unsere Textsammlung umfasst mittlerweile Lebensaufzeichnungen von mehr als 4 000 Personen aus allen Bevölkerungsschichten und bietet in ihrer Gesamtheit ein facettenreiches Bild der österreichischen Geschichte, Gesellschaft und Alltagskultur in den letzten drei Jahrhunderten.

Wissenschaftler/innen unterschiedlicher Fachrichtungen nutzen die Materialien für Lehre und Forschung, Studierende für Abschlussarbeiten, Lehrer/innen setzen sie im Schulunterricht ein; Fachleute aus dem Bildungs- oder Medienbereich zeigen immer wieder Interesse an alltags- oder zeitgeschichtlichen Themen, und in unserer Buchreihe werden laufend ausgewählte Texte veröffentlicht.

Wir freuen uns über jeden Kontakt zu schreib- und erinnerungsfreudigen Menschen!

Unsere Kontaktadresse:

Institut für Wirtschafts- u. Sozialgeschichte, Universität Wien

Doku Lebensgeschichten (Mag. Günter Müller)

Universitätsring 1, 1010 Wien

Tel. +43(0)1/4277-41306

lebensgeschichten@univie.ac.at

http://lebensgeschichten.univie.ac.at

http://MenschenschreibenGeschichte.at

Irgendjemand wird es einmal lesen …

Vor mir liegen viele Hefte in Schulschriftformat. Es sind Aufzeichnungen. Ich habe sie durchgeblättert und viele Stellen nochmals gelesen, und hieraus entstand der Entschluss, dieses Geschriebene in ein Ganzes zusammenzufassen.

Irgendjemand wird es einmal lesenvielleicht ein bisschen Freude damit haben und vielleicht auch ein wenig Nutzen daraus ziehenUm große Dinge wird es nicht gehen, und große Worte werden nicht gemacht werden. Da alles Geschriebene auf Wirklichkeit und wahrem Erlebtsein beruht, wird es weder dramatisch noch spannend sein. Es ist die Lebensgeschichte eines einfachen Menschenkindes.

Das Mädchen Lina, dessen Geschichte ich erzähle, ist aus seiner Bergheimat Pinzgau in die Welt gewandert.

Lina machte sich auf den Weg mit einem Herzen voll großer Hoffnungen und den Kopf voll hochfliegender Gedanken. Das Schicksal dieses Pinzgauer Mädchens ist hier umschrieben, so wie sie es selbst festhielt in ihren Aufzeichnungen, die sie Tagebücher benannte.

Weil Lina auf einem wunderschönen Fleckchen der Erde geboren wurde, wo eine wilde Bergschönheit ihre Seele wach und bereit machte für manche tieferen Aspekte des Lebens, fanden diese Dinge immer einen fruchtbaren Boden in ihrer Seele.

Der Firnenglanz ihrer Bergheimat, das Rauschen der wilden Bergwasser, die blühende Pracht der Alpenblumen, die wundersame Klarheit der Bergseen und das Donnern der Wasserfällediese Dinge zusammen haben ihre Seele geformt.

Sie trug in ihrem Herzen die Bergheimat mit in die Welt hinaus und ist in heimlichem Sehnen nie davon losgekommen.

Die Gewohnheit Linas, über Erlebtes Aufzeichnungen zu machen, kam nicht von ungefähr. Schon Linas Großmutter hatte in alten Kalendern vieles vermerkt von den Begebenheiten ihrer Zeit. Nicht nur Ereignisse standen in diesen alten Kalendern vermerkt, neben Berichten über Geburten, Begräbnisse, Wetterschlag, Hochzeiten, Feuersbrünste und Viehtod fand man auch Volkslieder aufgeschrieben, fröhliche und traurige, aber die Schnaderhüpferln waren in der Mehrzahl.

Linas Mutter hatte diese Gewohnheit fortgesetzt, sie schrieb schon beinahe eine Dorfchronik, und nebenher liefen Rezepte über Metbereitung, Honigkuchen, Obsteinkochen und vieles mehr. Sie benützte dafür schon richtige Aufschreibhefte.

Mit viel Interesse durchstöberte Lina diese Kalender und Hefte. Sie lernte die Lieder und Verse aus Großmutters Kalendern auswendig und setzte im Übrigen schon sehr früh diese Tradition der Mütter fort. Nur sah ihre Sache schon wieder anders aus.

Ihre Aufschreibungen waren schon förmliche Geschichten, und die Verse hatte sie selber erdacht. Vieles stand da über die Schule und vieles über die Buben, ihre ewigen Widersacher, mit denen sie einen unermüdlichen Krieg führte.

Am allermeisten aber stand über ihre Hunde und Katzen drin, weil sie Tiere sehr liebte. Die Hunde hielt der Vater für die Jagd und Mutter die Katzen für die Mäuse, aber manches Mal gab es bei Lina zu Hause mehr Katzen als Mäuse. Es gab auch andere Tiere in Linas Umgebung, doch die Hunde und die Katzen waren ihrem Herzen am nächsten.

Lina schrieb ihre Lebensberichte mit einer Fürsorglichkeit und einer Wahrheitsliebe, die bewundernswert war. Sie schrieb alles hinein, was so ein Kinderherz bewegte, und ein toter Hund war schon ein ganzes Drama.

Neben der rauen Wirklichkeit ihres Kinderalltages träumte sie ihre heimlichen Träume. Ihre Gedanken nahmen einen hohen Flug. Sie gingen aus nach Glück, Reichtum, Ehre und Ansehen. Solches las sie in Büchern und wollte alles einmal erreichen. Aber aus dem Märchenland der Wunschträume weg kam sie auf den harten Boden der Wirklichkeit zu stehen.

Sie hat sich mit aller Zähigkeit, die ihr eigen war, dem Leben gestellt. Jahr um Jahr hat sie ihr Tagebuch geschrieben. Aus den kindlichen Anfängen wurden eine ernste Sache und eine Lebensnotwendigkeit. In den späteren Jahren stand auf mancher Blattseite etwas von Kampf und Sorge, und auf mancher stand ein Kreuz. Diese waren dann in großem Herzeleid geschrieben, weil ein Liebes starb. Sie waren in Herzeleid geschrieben, weil Lina ein treuer Mensch war.

Denkt man zurück in die früheste Kindheit, dann ist es erstaunlich, wie weit das Erinnern oft reicht. Wohl fehlt es am Zusammenhang, aber einzelne Ereignisse haben des Kindes Seele so stark beeindruckt, dass sie im Gedächtnis haften blieben. Und nicht nur das – sie haben das spätere Leben beeinflusst, während andere Dinge im Dunkel blieben, welches über diesen ersten Mensch­leinsjahren liegt.

Ich habe einen Zeitmesser dafür, was vor meinem sechsten Lebensjahre lag und was nach diesem Meilenstein meines Lebens noch kam. Denn vor meinem sechsten Lebensjahr wohnten meine Eltern die meisten Monate des Jahres in den Bergen. Mein Vater war Jäger, und sein Dienst war in den Bergen, in den Wäldern – dort, wo es wild und schön war. Mit meinem sechsten Lebensjahre begann die Schulpflicht, und aus der wundersamen Romantik der Bergwelt kam ich in das Dorf und in die Wirklichkeit.

Ich schlage jetzt die Tagebuchblätter aus Linas Leben auf, an einer Stelle, wo ihre eigene Hand Ordnung in dem kunterbunten Durcheinander ihrer Aufzeichnungen gemacht hat. Ich lasse das Pinzgauer Mädel selber erzählen, von ihrer Heimat, ihren Bergen, ihren Leuten und ihrem Viehzeug.

Der Lichtpunkt meiner Kindertage

Aus all diesen Jahren leuchtet die Weihnachtszeit weit in das Spätere hinüber. Sie ist der Lichtpunkt meiner Kindertage. Nicht jede Weihnachtszeit war der Vater bei uns. Wenn er seinen Dienst in den Bergen hatte, dann ging in dem Jahr das Christkind an unserer Türe vorbei. Da half kein Vertrösten auf das nächste Jahr, denn was bedeutete uns die Zukunft, wenn die Gegenwart ohne Glück war?

Ich war nicht das einzige Kind meiner Eltern, wir waren unserer viele, und so weinten viele Augen um so eine einsame Weihnachtszeit ohne Vater. Unser gemeinsamer Jammer zermürbte meine Mutter mehr, als sie zugeben wollte, denn sie panzerte sich immer mit Härte uns gegenüber. Sie ersetzte das Christkind dann durch Sankt Nikolaus, der weniger umständlich war – uns aber konnte er das strahlende Christkind nicht ersetzen.

War aber Vater um die Weihnachtszeit zu Hause, dann war es ein wunderbares Erleben. Die Zeit war dann reich gesegnet und voll von herrlichen Geheimnissen. Wir schrieben Wunschbriefe an das Christkind und legten sie auf das Fensterbrett.

Vater aber schrieb heimlich Briefe und steckte dieselben in den Briefkasten. Diese Briefe gingen dann nach Graz und Salzburg und enthielten Bestellungen für neue Mäntel, Glasschmuck und Zuckerzeug – ja sogar Schokolade, denn die gab es doch das ganze Jahr nicht für uns Geschwister, diese Dinge sendete uns einmal im Jahr nur der Himmel. Und gerade diese Einmaligkeit machte alles so reich und kostbar. Unsere Kinderherzen liefen auf Hochtouren, und wir übertrafen einander an Bravheit und Folgsamkeit.

Vater hatte Geheimnisse mit dem Postmann und mit jedem Krämer im Dorfe. Denn die vergoldeten Nüsse, die Feigenkränze und Bockshörndln stammten aus dem Dorfladen – nur wussten wir es nicht. Auch die weihnachtlichen Äpfel mit ihrem eignen Duft und die Kastanien lieferte das Dorf. Vater schlich durchs Hintertürl aus und ein und war nicht weniger aufgeregt als wir. Wir labten unsere Seele an Düften, denn in der Küche buk Mutter das Weihnachtsbrot und den Weihnachtskuchen. Auch wir erhielten einige Backingredienzien und waren voll Eifer und überall voll Teig, aber unsere Herzen sangen »Alleluja«.

Ab und zu schlichen wir an die Kellerfenster, um zu riechen, ob das Christkind schon im Hause sei. Und wenn dann ein Duft von Tannenholz herausströmte, dann … dann machten unsere Herzen Freudenhupfer, und die Ohren unserer Mutter konnten unser Glück nicht fassen.

Vater kriegte um diese Zeit immer einen Reinlichkeitstrieb – er säuberte den Keller von Spinnweben und Sonstigem, damit das Christkind ja an nichts Anstoß nähme. Er war immer mit einem Besen unterwegs, um diese Sache glaubhaft zu machen, und wir zweifelten nicht im Geringsten daran. Es konnte Vater auch niemand diese Arbeit abnehmen, denn er war mit dem Christkind auf Du und Du – aus den Wäldern her, wo er ihm doch die Christbäume aussuchte.

Ach, wie stolz waren wir deswegen und prahlten ein wenig damit vor den Dorfkindern. Auch vertraute uns Mutter an, dass Vater sogar helfen durfte, wenn das Christkind es sehr eilig hatte. Und manches Mal fanden wir eine goldene Nuss, die das Christkind verloren hatte. Das war dann ein Wunder an Aussehen und Geschmack!

Und wenn der große Abend da war, dann hielt uns Mutter in der Küche, denn die Stube war für das Christkind. Vater führte uns in den Park des Schlosses, welches wir bewohnten, und der Himmel war eigen in einer solchen Nacht. Wohl sahen wir nie etwas, aber wir hatten gute Ohren und hörten umso mehr.

Mutter musste noch rasch dazukommen, um auch an dem Ohrenschmaus teilzuhaben. Denn es rauschte in den Lüften … das war Christkindlrauschen! Tagsüber hörte man dieses Rauschen nie, obwohl der Wildbach auch da, hinter unserem Dorf, sein Leben hatte. Aber in der Heiligen Nacht tat er gute Dienste für unsere gläubigen Herzen.

Unserem Vater fiel jeden Weihnachtsabend eine gute Ausrede ein: Er musste gerade im spannendsten Moment noch rasch einen Sprung in das Dorf machen. Wohl war er böse auf sich selber, und Mutter brummte mit ihm, denn gleich konnte das Christkind da sein, aber der Sprung musste gemacht werden – und vielleicht kam das Christkind ja auch gar nicht so schnell! Er schlich dann mit unserem Nachbarn, dem Schuster, auf Filzpantoffeln in den Keller, um den großen Weihnachtsbaum in die Stube zu bringen. Was mögen sie wohl für Mühe gehabt haben, um den großen, geschmückten Baum ohne Schaden zu befördern.

Mutter sang in der Zwischenzeit mit uns zusammen ein Weihnachtslied nach dem andern. Wir erhoben mächtig unsere Stimmen, denn sie sollten bis zum Himmel dringen, und so überschrien wir alle Geräusche.

Kam Vater dann aus dem Dorf zurück, hub das Singen erst recht an. Der Schuster zündete inzwischen noch einige Kerzen an und bimmelte dann mit einer Glocke. Immer war es Vater, der uns voranging in die Stube voller Weihe und Duft. Der Lichterglanz, der Baum in seiner eignen Pracht und die weihnachtlichen Gerüche machten uns ganz still. Etwas sank in unsere Herzen und blieb dort verankert viele, viele Jahre lang.

Dasselbe Gefühl aus den Kindertagen kam Jahr für Jahr um die Weihnachtszeit in mein Herz. Vater hat uns damit unendlich viel geschenkt, und als ich die Erkenntnis dafür hatte und es ihm danken wollte, da stand ein »Zu spät« über meinem guten Willen.

Ein richtiges Tagebuch

Ungefähr um mein vierzehntes Lebensjahr herum begann ich, ein richtiges Tagebuch zu schreiben. Das Lesen von allem für mich Erreichbaren und meine übervolle Phantasie drängten mich förmlich dazu. Meine Godn hatte mir zum Namenstag einen Gulden geschenkt. Von diesem Gulden durfte ich zehn Kreuzer für mich behalten, und dafür kaufte ich mir ein Schreibheft und einen Bleistift. Nun konnte es losgehen mit dem Schreiben meiner Lebensgeschichte. Mir schien es eine Masse Erlebtes zu sein, was ich meinem Tagebuch anzuvertrauen hatte. Und meine Kinder und Enkel würden es einmal lesen, denn ich hatte ja auch aus Großmutters Erinnerungen reichen Stoff geschöpft.

Meine Kinder sollten einmal staunen über ihre Mutter, und die Enkel erst recht. Ich wollte mich – so bald als nur möglich – verheiraten, denn die Leute sagten, dass das Heiraten wohl bald abgeschafft werden würde. Die guten Sitten verdarben, und so auch die Menschen. Also wollte ich mich beeilen, solange das Heiraten noch guter Brauch war.

Mein Vater hatte drei Freunde, die bei uns tägliche Gäste und noch unbeweibt waren. Einen davon hatte ich für mich reserviert, den Peter. Seine weißen Zähne, sein lockiges, schwarzes Haar und seine fröhliche Art hatten es mir angetan. Als Peter dann heiratete, war ich wohl etwas betrübt, verlegte aber meine Absichten auf den Hansl. Der Hansl war nicht schön, aber schön singen konnte er.

Es fand sich auch für den Hansl eine Witwe, und mir verblieb nur noch der Niklas. Ganz ohne Vorzüge war auch der Niklas nicht, er konnte Mundharmonika spielen und Schuhplatteln. Aber auch er kam unter den Pantoffel, nur viel zu spät, sagte mein Vater. Alle Freunde meines Vaters kamen zu spät in die Ehe und in geordnete Verhältnisse, das war ihr Untergang. Peter hat Haus und Hof vertan und sich aufgehängt. Hans fand sein Ende in einem Wildbach, denn dort hinein hatte ihn einer seiner vielen Räusche befördert. Niklas wurde von Wilderern erschossen.

Wenn man nach mehr als vierzig Jahren etwas liest, das man als Kind geschrieben hat, wo die Gedanken noch ungeordnet zu Papier kamen und die Ausdrucksweise nicht gewählt war, so ist man doch erstaunt, wie gut ein Kind bereits beobachten kann.

Vieles aus meinen späteren Tagebüchern habe ich nach Ablauf von mehreren Jahren wieder umgeschrieben. Über einen größeren Zeitabstand besehen, verlieren viele Dinge ihre Wichtigkeit. Auch die Gedanken, die einen allzu hohen Flug genommen haben, und die Phantasie, die mit mir durchgegangen ist, habe ich später noch gebändigt. An den Tagebuchblättern meiner Kindheit aber habe ich nichts verändert. Mag die Sprache des Dorfes auch etwas derb sein, das muss verziehen werden, dafür ist sie echt und wahr.

Ich war fromm erzogen worden, und so überschrieb ich alle meine Tagebücher mit den Worten »Mit Gott«. So hielt ich es auch noch in späteren Jahren, denn immer bleibt der Mensch irgendwie seiner frühesten Jugend verhaftet.

So schlage ich die Blattseiten meiner Kindheit in der naturbelassenen Sprache von dazumal vor euch auf:

»Mit Gott!«

Heute, an meinem Namenstag, beginne ich mit dem Schreiben meiner Lebensgeschichte. Bald werde ich vierzehn Jahre alt, und dann fängt ein neues Leben an. Ich freue mich schon sehr darauf. Ich werde jetzt alles aufschreiben, was ich erlebe, und auch das, was ich schon erlebt habe, und das ist sehr viel. Meine Mutter hat auch viel erlebt, aber die schreibt es selber auf.

Ich habe eine Unmenge Tanten und Onkel, auch eine Großmutter und einen Großvater, die gehören aber nicht zusammen. Die Großmutter gehört zu meiner Mutter und der Großvater zum Vater. Ich habe auch vier Brüder und zwei Schwestern. Ich bin die Älteste, aber meine Schwester Gretl und mein Bruder Gottlieb sind älter als ich. Die sind meine Halbgeschwister. Die sind auch gar nicht bei uns zu Hause. Gottlieb ist bei seinem Vater auf dem Hof.

Dort sollte meine Mutter einmal Bäuerin werden, aber es ist nichts daraus geworden. Sie hat sich meinen Vater genommen – was mir auch viel lieber ist. Gretl hat schon geheiratet, den Örg. Das ist ein Bauer, kein reicher, aber ein sehr schöner Mann. Ein Bruder von mir ist schon gestorben. Er war erst drei Monate alt und liegt auf dem Friedhof in der rechten Ecke.

Mein Bruder Oskar ist ein Jahr jünger als ich und fürchtet die Schweine mehr als die Mutter. Aber ich helfe ihm immer, wenn er sich vor den Schweinen fürchtet. Ich helfe ihm auch, wenn ihn die Buben nicht in Ruhe lassen. Sie wollen immer mit meinem Bruder raufen, aber weil mein Bruder sich fürchtet, mit den Buben zu raufen, raufe ich mit ihnen. Ich fürchte die Buben wohl auch ein bisschen – nicht gar viel, aber halt doch a bisserl. Das brauchen sie aber nicht zu wissen, das steht nur da, damit ich nicht lüge.

Die Dienstleute vom Bauernhof, wo mein Bruder Gottlieb ist, haben meiner Mutter erzählt, dass es Gottlieb gar nicht gut geht. Seine Stiefmutter haut ihn sehr viel und immer auf den Kopf, und jetzt stottert er schon. Mutter hat dem Bauern Post geschickt, dass er kommen soll. Er ist gekommen, und Mutter war sehr böse auf ihn. Sie hat noch viel geweint, wie er wieder weg war, und ich half ihr beim Weinen. Ich helfe meiner Mutter immer weinen, wenn es was zu weinen gibt, und es gibt sehr oft etwas zum Weinen.

Als Mädel sollte ich mich besonders schämen …

Mit dem Dechant stehe ich in der Schule gar nicht gut. Er hat mich wegen einer Rauferei mit den Buben schulbleiben lassen, das habe ich ihm sehr übel genommen, und meine Mutter auch. Gekommen ist das so: Ich habe die Buben einmal mit dem Bergstecken von meinem Vater arg verdroschen, weil sie meinen Bruder immer zum Weinen bringen. Dafür haben sie mich einmal abgepasst. Meine Freundin Marie war bei mir, die ist gleich davongelaufen. Aber mich haben sie auf der Brücke vom Dorfbach erwischt.

»Schmeißt sie in den Bach!«, hat einer geschrien. Es war der Zechner-Hansl, der so schrie, aber er hat seinen Lohn dafür gehabt, denn er ist selber in den Bach gefallen, und das kam so:

Wie der Hansl so schrie, bin ich auf ihn zu und hab mich an ihn gehängt. Was die Buben auch an mir herumrissen, ich habe nicht ausgelassen. Wohl war ich nirgends mehr ganz, meine Zöpf’ haben sie mir fast ausgerissen, und es hat damisch wehgetan, aber ich habe mich in das Gwandl vom Hansl so verbissen, dass sie uns nicht auseinanderkriegten. Wohl hat mich der Hansl mit seinen Haxen getreten, ich aber habe fest zurückgetreten, und weil er bloßfüßig war und ich Schuh’ anhatte, war mein Treten viel ausgiebiger.

Schließlich aber, weil es nicht anders zu machen war, haben die Buben uns beide zusammen über die Brücke in den Bach geworfen. Der Hansl kam zuunterst zu liegen und ich obenauf. Ich bin gleich aus dem Wasser heraus und davongerannt – immer am Bach hinunter, bis ich auf der Landstraße war. Da habe ich dann den Heimweg angetreten. Ich habe viele Vaterunser gebetet, damit meine Mutter nicht zu sehr schimpft wegen meiner zerrissenen und nassen Kleider. Das Beten hat aber rein gar nichts geholfen.

Zuerst habe ich ein paar tüchtige Watschen gekriegt, dann habe ich trockenes Zeug erhalten, und dann konnte ich erst erzählen, wie es zugegangen war. Da hat meine Mutter erst einen richtigen Zorn gekriegt, aber dieses Mal nicht auf mich, Gott sei Dank, sondern auf die Buben, worüber ich sehr froh war.

Den Hansl haben seine Freunde wieder aus dem Bach herausgefischt, aber er hat sich nicht mehr gerührt. »Der ist hin«, haben die Buben gemeint und sind vor lauter Angst davongelaufen. Der Hansl ist dann schon gefunden worden, und im Spital ist er auch wieder zu sich gekommen. Es war bloß eine Gehirnverschüttung, sonst nichts. Aber ich bin doch sehr froh, dass es nicht mein Schädel war, der auf dem Stein aufschlug. Mutter meinte: »Du hast wohl einen Schutzengel bei dir gehabt, dass du so gut davongekommen bist bei dieser blöden Rauferei.«

Aber in der Schule kam ich dann nicht so gut davon. Der Lehrer und der Dechant hatten uns schiach in der Reißen wegen unserer Zank- und Raufsucht. Sie sagten, ich als Mädel sollte mich ganz besonders schämen, für mich wäre es eine große Schande, mit Buben zu raufen. Aber die Buben haben ja mit mir gerauft! Was hätte ich denn tun sollen? Der Dechant aber wollte das nicht einsehen, er ließ mich schulbleiben, und ich musste hundertmal schreiben »Selig sind die Friedfertigen …«. Vor lauter Kummer und Zorn habe ich vergessen, was ich zu schreiben hatte, und ich schrieb »Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich«, was ja noch viel länger war. Obendrein hat sich der Dechant sehr gewundert.

Mutter sagte: »Dem Dechant seine Sympathie liegt natürlich auf der Speckseite«, denn der Vater vom Hansl ist ein reicher Bauer und kann dem Herrn Dechant einige Male im Jahr gut aufwarten.

Wir haben in meiner Klasse in der Religionsstunde immer den Dechant. Der Kooperator wäre uns lieber, denn der Dechant schlägt gleich, wenn ihm etwas nicht passt. Mutter sagt, er verwirklicht damit nur seine christliche Nächstenliebe.

Mein Vater musste in die Schule kommen. Da haben ihm der Lehrer und der Dechant gesagt, sie sollten mich etwas lernen lassen, wenn ich in Kürze aus der Schule käme, es wäre schade um meinen guten Kopf. Mutter hat es der Tant’ nach Bruck geschrieben. Die Tant’ ist mit dem Onkel gekommen, und dann haben sie zusammen beraten, was ich lernen soll.

Mich haben sie auch gefragt, was ich werden möchte. Weil ich aber am liebsten unter die Zigeuner gehen wollte, war die Tant’ sehr böse. Sie sagte, das käme vom vielen Bücherlesen, wo all der Unsinn drinsteht, mit dem so ein Kindskopf vollsteckt.

Es war dann alles zu teuer, was ihnen eingefallen ist. Es fiel ihnen auch nicht gar viel ein. Die Tant’ meinte zum Schluss, ich könnte Kochen lernen, das könnte ich immer gut gebrauchen, und eine tüchtige Köchin findet schon ihren Weg. Mich freut dieser Beschluss aber gar nicht, denn ich möchte gerne reich und berühmt werden, und eine berühmte und reiche Köchin gibt es doch sicherlich nicht. Aber ich denke, dass ich wohl nicht viel dreinreden darf und abwarten muss, was mit mir geschieht.

Es wimmelt von Teufeln, Geistern und Räubern

Meine Schwester Franzi ist fünf Jahre jünger als ich. Wie sie noch kleiner war, hat sie mich oft sehr geärgert. Ich musste immer mit ihr spielen, ob ich mochte oder nicht. Und immer das, was sie wollte. Sie wollte immer nur »Vater und Mutter« spielen. Stets musste ich der Vater sein, was ich gar nicht gern wollte. Was hatte ich dabei zu tun? Nur dasitzen, Pfeife rauchen und Zeitung lesen. Unserem Waldi, dem Dackelhund, hat Franzi ein Tuch um den Kopf gebunden und eines um den Bauch, das war dann unser Kind. Aber ich durfte es nie schaukeln und auch nie trockenlegen, das hat alles sie gemacht, weil sie die Mutter war.

In einem Blechtopf hat sie Kieselsteine gerührt, das war unsere Kost. Es hat schrecklich gescheppert. Dazu hat sie gesungen, damit der Waldi das Scheppern nicht hören sollte. Ich musste auch singen, aber ganz tief aus meinem Bauch heraus, weil ich ja der Vater war. Mutter schimpfte, weil wir so einen grauslichen Krawall machten.

Mit einem Löffel hat Franzi dem Waldi dann die Steine eingegeben. Der Waldi hat seinen Kopf weggedreht, damit sie nicht sehen soll, dass er die gute Kost ausspuckte, und Franzi tat so, als ob sie nichts davon sähe. So haben sie einander betrogen. Manches Mal, wenn Waldi in der Wiege lag, durfte ich ihm eine Geschichte erzählen, weil unser Vater uns auch oft Geschichten erzählt.

Mutter mag die Geschichten vom Vater nicht gerne, weil es immer so zugeht in seinen Geschichten. Da wimmelt es von Teufeln, Geistern und Räubern. Und die Geschichte vom armen Schneider, dem seine Neider Fuchsleber in den Wein gemischt haben, als er mit der Prinzessin im Bett lag, diese Geschichte mag die Mutter gar nicht. Sie findet sie nicht anständig. Vater sagt: »Dann erzähl du ihnen Geschichten, wenn du es besser verstehst!« Aber uns sind die Geschichten vom Vater lieber, da passiert immer viel mehr.

Manches Mal kommt die Großmutter zu uns auf Besuch. Sie ist schon alt und wohnt auf einem Berg droben. Großmutter weiß auch viel zu erzählen, aber ihre Geschichten sind wahr, und alles ist schon vor langer Zeit geschehen.

Einmal war meine Großmutter sehr schön. Wie sie sechzig Jahre alt war, wollte ein reicher Bauer ihre jüngste Tochter heiraten. Die Tochter war siebzehn Jahre alt und der Bauer schon beinahe siebzig. Der Dechant meinte, der Bauer sollte sich die Mutter nehmen, sie passe besser zu ihm. Der Bauer aber hat die Junge wollen und hat sie dann auch gekriegt. So ist er jetzt mein Göd, und sie ist meine Godn. Eigentlich ist der Göd schon tot, und die Godn hat vier Kinder. Heiraten will sie nicht mehr, und Großmutter wird bei ihr wohnen.

Der Großvater, den ich noch habe, kann auch viel erzählen, aber Vater sagt: Großvater lügt wie gedruckt. Dann lacht meine Mutter und räuspert sich und schaut Vater so lustig an, dass auch er lachen muss. Großvater aber wird böse. Er will alles erlebt haben im Schloss, in dem wir wohnen. Alles – er hat mit dem Teufel gerauft und war den Schlossgeistern oft hart auf den Fersen. Überall im Schloss ist es umgegangen, in den Türmen, in den Kellern und in den Gängen vor den Türen. Wir Geschwister mussten bei diesen Erzählungen des Großvaters immer auf unseren Füßen sitzen, damit uns kein Geist hineinzwicken konnte.

Tagsüber aber spielten wir mit den Dorfkindern in den Schlosskellern »Geister«. Ich war stets der Geist und stieg auf blo-ßen Füßen herum, vollständig in ein Leintuch eingedreht. Einmal kam meine Mutter in den Keller. Da habe ich mich Leintuch wachelnd hinter ihr hergeschlichen, aber es bekam mir sehr schlecht: Mutter hat den Geist nach Noten verdroschen. Ich wollte kein Geist mehr sein.

Wir haben uns dann aufs Räuberspielen verlegt. Natürlich war ich der Hauptmann. Ich hieß »Die schwarze Hand«. Bei den armen Leuten war ich recht beliebt, aber nicht bei den reichen. Die Reichen fürchteten mich, so war es mit meinen Räubern verabredet. Meine Räuber bestanden aus meinen Geschwistern und einigen Dorfkindern. Weil wir ja in ein fremdes Haus nicht räubern gehen konnten, mussten wir bei meiner Mutter einbrechen und in ihrem Hause unser Zeichen auf alle Türen machen. Das Zeichen war eine schwarze Hand, die wir im Ofen schön angerußt hatten. Ich sah recht schneidig aus und hatte Vaters Hirschfänger umgehängt. Das Glanzstück war ein richtiges Gewehr, zwar ungeladen – geladene Gewehre gab es in unserem Hause nicht –, aber es war uns auch verboten, mit den ungeladenen zu spielen.

Mutter war beim Nachbarn, bei dem es bald eine Hochzeit geben sollte, so hatten wir das Haus für uns allein. Zuerst haben meine Räuber ihre schwarzen Hände auf allen Türen abgedrückt, und es sind der Zeichen zu viele geworden … Ich fand das schon sehr bedenklich. Beim Ausrauben der Kästen haben sie auch nicht aufgepasst. Sie wollten alles zu echt machen, und so ist eine richtige Sauwirtschaft daraus geworden.

Wir haben dann auch noch die schöne Tochter entführt, das war der Dackelhund. Den haben wir in einen Sack getan. Jetzt war der Dackelhund meine schöne Räuberbraut, die ich dann noch heiraten wollte. Damit sie mir bis dahin im Sack nicht erstickt, haben wir bei einem Zipfel eine Wursthaut hingehalten. Die schöne Braut sollte die Schnauze herausstecken, was sie dann auch getan hat. Das war eine recht lustige Sache mit der Dackelhundbraut.

Dann sind wir hinter das Haus auf den Misthaufen, das war meine Burg. Ich wollte eine Ansprache an meine Räuber halten, mit meiner Braut neben mir, die wir inzwischen wieder aus dem Sack gelassen hatten. Aber sie war zur Vorsicht, damit sie mir nicht durchbrennen konnte, mit einem Spagatschnürl angebunden. Ich hielt eine zündende Ansprache, und als ich damit fertig war, schrien meine Räuber aus Leibeskräften: »Es lebe der Hauptmann!«

Aber ich hätte beinahe nicht mehr lange gelebt, so hat mich meine Mutter verdroschen, als sie heimkam. Meine Räuber sind davongelaufen, nur meine Braut hat schrecklich gewinselt, als ich Schläge kriegte. Ich musste dann noch alle Türen abwaschen und ohne Essen zu Bett gehen. War ich froh, dass ich nichts wissen wollte vom Hausanzünden, was meine Räuber auch noch so gerne getan hätten …

Mutter nähte mir einmal ein paar Patschen für das Haus. Weil aber meine Schuhe kaputt waren, musste ich mit diesen Patschen auch zur Schule gehen. Das verursachte mir sehr viel Kummer, denn sie waren Mutter misslungen. Sie hatte ja auch keine besondere Übung in diesen Dingen. Und gerade an dem Tage musste ich vor die Klasse kommen tafelrechnen. Ich wollte um keinen Preis, dass der Lehrer sah, wie meine Füße zugetakelt waren. So ging ich tief vornübergebeugt, sodass mein Kittel auf meine Füße hing, und beim Zurückgehen bog ich mich nach hinten. Die Kinder lachten darüber, und der Lehrer wurde böse. Er sagte, die Schule wäre kein Kasperltheater, ich solle keine Faxen machen. Am nächsten Tag habe ich so arg über Bauchweh geklagt, dass Mutter mir schließlich doch glaubte, und ich durfte zu Hause bleiben.

Die schöne Milchgeiß vom Stefflbauern

Oft hatte Mutter kein Geld, und wenn es so war, dann war es fast immer Vaters Schuld. Denn er verjubelte es gerne mit seinen Freunden. Das waren der Peter, der Niklas und der Hansl.

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Peter ist ein großer Bauer und hat ein eigenes Jagdgebiet. Hansl hat ein Sägewerk und eine Landwirtschaft und geht mit Peter auf die Jagd. Niklas hat eine Mühle und einen Viehhandel. Sie sind alle drei immer recht lustig. Das würde uns schon gefallen, wenn sie zu ihrer Lustigkeit nicht immer auch meinen Vater brauchen würden. Sie sagen: »Ohne den Michl hat nichts einen Schwung«, und so holen sie Vater oft auch noch in der Nacht von zu Hause weg. Mutter schimpft dann wohl, aber sie sagen: »Lass die Alte brummen, sie hört schon wieder auf.« Vater hat es immer wieder bereut, wenn das viele Geld weg war und Mutter so großen Kummer deswegen hatte – und ich mit ihr, denn wir haben immer zusammen geweint, wenn Vater mit seinen Freunden fröhliche Tage gemacht hat.

Einmal aber weinte Mutter nicht, als wieder so eine Sache war. Sie hat sogar so viel gelacht, dass ihre Halskette davon gesprungen ist und wir überall die Krallen zusammensuchen mussten.

Vater hatte mit seinen Freunden Geburtstag gefeiert. Es war der Geburtstag von Jakob, dem Schuster im Dorf, der auch manches Mal mittat. Sie feierten eine Nacht und noch ein Stückerl vom Tag, und dann wollten sie sich ein bisserl auslüften. Peter wusste in seinem Jagdgebiet einen schönen Gamsbock, den wollten sie schießen. Wie es zuging, hat später keiner mehr richtig gewusst – aber sie haben die schöne Milchgeiß vom Stefflbauern erwischt.

Das Vieh hat vor dem Sterben noch ein bisserl gemeckert, und dieses Meckern hat sie nüchtern gemacht. Die glücklichen Jäger gelobten sich gegenseitig, über die Sache zu schweigen. Dem Stefflbauern haben sie für die Geiß ein schönes Stückerl Geld zahlen müssen, weil es eine besonders gute Milchgeiß war – und außerdem haben sie dem Bauern fürs Maulhalten noch was draufgeben müssen, denn sie wollten nicht, dass diese Schande unter die Leut’ käme.

Mutter sagte zum Vater: »Das ist wohl einer deiner größten Böcke, die du im Leben geschossen hast!«

Aber damit war es noch nicht aus, denn in der Sonntagszeitung stand dann ein Gedicht, über das meine Mutter so viel lachte, dass ihr ihre Halskette sprang.

Es gingen einst ins Stubachtal

fünf große Jäger vor dem Herrn:

Peter, Niklas, Hansl, Michl,

der Herrgott mag sie alle gern.

Als fünftes Rad an Dianens Wagen

Mussten s’ noch den Jakob haben.

Es war die allerschönste Pirsch,

sie jagten auf den roten Hirsch.

Ein Gämsbock kam herbeigeschlichen,

die Jäger sind nicht ausgewichen.

Weil’s der Bock nicht anders wollte,

er sein Leben lassen sollte.

Doch wie der Schuss ist losgeknallt,

ein herzzerreißend »Mäh« erschallt.

Zweifel sich in die Herzen schlich,

als eine Milchgeiß »Mäh« schreiend

zur Strecke lief.

Die Jäger taten sehr sich kränken,

die Schande war nicht auszudenken.

Sie schlichen fort sich aus dem Wald,

nachdem sie Schmerzensgeld gezahlt.

Sie haben es sich zugeschworen,

dass niemand käm es zu den Ohren.

Jeder hat das Maul gehalten –

dass hier es steht, ist Schicksalswalten …

All dieses Durcheinander im Schloss droben

Ich muss auch noch über meinen Onkel Heinrich schreiben. Das ist der Mann von meiner Tante Nanni. Sie ist eine Schwester meiner Mutter. Eigentlich hätte Tant’ Nanni den Peter heiraten sollen. Aber er war ihr ein zu großer Lump. »Der kommt noch auf den Hund«, hat sie immer gesagt – und er ist auch auf den Hund gekommen. Die Tant’ aber hat sich den Onkel Heinrich genommen, welcher ein Gärtner und Schlosskastellan ist. Weil die Tante und der Onkel ohne Kinder sind, haben sie mich ein bisschen als ihr Kind angenommen. So bin ich oft zu ihnen nach Bruck gefahren. Ich habe mich immer sehr auf das Hinfahren gefreut, aber auf das Heimfahren auch.

Einmal kränkten sie mich zu Hause sehr, ich wollte fort und nie wiederkommen. Recht weit weg sollte es sein, damit sie viel um mich zu weinen hätten. Ganz nach Amerika hätte ich wollen – aber weil mir das Geld fehlte und auch der Verstand dazu, so wollte ich wenigstens nach Bruck zur Tante fahren. Weil die aber auch einen ganzen Gulden weit weg wohnte und mir der Gulden fehlte, so habe ich viel nachgedacht. Mir fällt immer etwas ein, wenn ich scharf nachdenke.

Ich nahm meinen Regenschirm, den mir die Tant’ einmal geschenkt hatte, bin damit zur Flatscherwirtin und bat sie recht schön, mir dafür einen Gulden zu geben. Wohl hat mir das Herz dabei geklopft, und beinahe hätte ich vor lauter Aufregung geweint. Die Flatscherwirtin gab mir den Gulden, aber so ganz glücklich war ich damit nicht. Und doch musste ich auf meinem Weg jetzt weiter – zuerst einmal zum Bahnhof und dann mit dem Zug nach Bruck –, und alles ohne Abschied von zu Hause, ohne Kreuz, das mir die Mutter immer machte, wenn ich sie auf einige Zeit verließ. Mein Scheiden war ein recht einsames, ich musste alle Tränen allein weinen.

Auf dem Weg zum Bahnhof begegnete ich meiner Schwester Gretl, die mit dem schönen Örg verheiratet ist. Sie trug einen Zegger am Arm und kam zu uns auf Besuch. Im Zegger war sicher etwas Gutes drin, und davon kriegte ich jetzt nichts, weil ich mein Heim ja verlassen hatte. Gretl frug mich aus – wohin ich wolle und noch vieles mehr –, und unter Tränen habe ich ihr alles erzählt. Sie sagte, in ihrem Zegger hätte sie Krapfen, die sollte ich mir nicht entgehen lassen, und der Örg käme auch nach. Ich sollte lieber morgen fahren. So bin ich halt wieder mit Gretl heimgegangen – und »morgen«, da bin ich auch nicht gefahren. Ich gab meiner Mutter den Gulden und nahm ihre Ermahnungen ohne Gegenrede hin. Dafür löste sie mir den Regenschirm wieder aus.

Bei meiner Tante gibt es einen großen Garten und darin viele Ribiselstauden, Stachelbeeren und Erdbeeren. Viel Bauchweh hab ich ausgestanden wegen dieser Sträucher.

Die Tant’ hat immer ein Schwein gefüttert, und wenn im Sommer im Schloss die hohen Herrschaften anwesend waren, dann hat die Tante zwei Schweine gefüttert. Wegen so einem Schwein hatte ich einmal eine furchtbare Aufregung.

Tant’ Nanni hat bei den Schweindln ausgemistet, ich musste sie waschen und bürsten und mit trocknem Stroh abreiben. Dann ließen wir sie noch ein bisserl in der Sonne heraußen, weil ihnen das so getaugt hat. Eines aber ist uns ausgebrochen und hat schnurgerade den Weg zum Schloss genommen.

»Lina, g’schwind, fang den Fack ein, damit er nicht in das Schloss kommt!«, schrie die Tant’. Mir wurde himmelangst, der Fack war schon auf dem breiten Auffahrtsweg zum Schloss, und im Schloss waren so viele vornehme Leute. Unser Thronfolgerpaar war dort und seine Kinder. Aus Spanien waren die Infantinnen da, Prinzen, Prinzessinnen und ihre noch viel vornehmere Dienerschaft: Haushofmeister, Kammerfrauen, Leibjäger, Küchenchefs, Zofen, Köchinnen, Kutscher. Aus England haben s’ Missen mitgebracht, aus Frankreich »Madmosselen«, oder wie die heißen. Der Onkel sagt immer »Teufelszeug«, weil sie ihn manches Mal ganz verrückt machen. Die Missen reden so viel, und er versteht sie nicht. Die Madmosselen reden noch mehr, und er versteht sie noch weniger.

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All dieses Durcheinander war im Schloss droben, und dahin spazierte jetzt unser Schweindl. Spaziert ist es eigentlich nicht – es ist ganz tüchtig gelaufen, und ich hinter ihm drein. Sein Schwänzel hatte es vor lauter Eifer ganz eingeringelt, und seine Ohren haben ihm nur so um den Kopf gescheppert, so ist es gelaufen. Es war viel schneller als ich, denn es hatte vier Haxen zum Rennen und ich nur zwei.

»Wuz, Wuz, Wuzei!«, habe ich gerufen, denn so heißen bei uns alle Schweindln. Es hat aber nicht auf mich gehört. Wahre Hupfer hat es gemacht und immer näher zum großen Schlosstor hin.

Jetzt hilft nur noch das Beten, habe ich gedacht: »Lieber Gott, hilf mir außa aus dera Sach …«, habe ich gebetet. »Gib, dass das große Einfahrtstor zu ist und dass der Fack nicht hineinkann. Gott, steh mir in meiner Not bei und verzeih mir alle meine Sünden, amen!«

Aber der liebe Gott hat mich nicht erhört – das große Einfahrtstor war offen, beide Flügel sogar –, und der Fack ist mitten unter die hohen Herrschaften geraten, es war furchtbar!

Gerade war es Mittags- und Essenszeit, die Herrschaften saßen auf den Terrassen im Schlosshof, um zu speisen. Diener gingen mit Speisen und Stößen von Tellern herum – mir war zum Sterben …

Die Damen sind auf die Stühle gestiegen, Kinder haben geschrien, gelacht wurde auch. Diener kamen mit Besen und Stöcken, der Schlosshund riss an seiner Kette und machte einen furchtbaren Lärm. Walter, der Küchenchef, kam und hatte ein großes Messer bei sich. O Gott, jetzt bringt er es auf der Stell’ um, dachte ich, und es ist noch gar nicht fett genug, es soll ja noch bis zum Herbst gefüttert werden …

Ich war in tausend Nöten und Ängsten. Aber auf einmal hatte der Leibjäger des Fürsten das Schwein bei einem hinteren Haxen, gleich war auch ein Strick zur Hand. Wohl hat der Fack gezappelt und mächtig gequietscht, aber aus konnte er nicht mehr. Mir haben sie dann den Strick in die Hand gedrückt und ein Besenstangel dazu, und gesagt haben sie: »So, und jetzt zieh ab mit deinem Damenschreck!« Das habe ich dann auch getan. Es war aber eine recht traurige Heimkehr, weil ich wusste, was auf mich wartete, und die Tant’ hat dann auch tüchtig mit mir geschimpft.

Wegen so einem Facken hatte ich voriges Jahr noch einmal einen großen Kummer. Nanni-Tant’ ist zu ihrer Schwester gefahren, die meine Godn ist. Sie blieb zwei Tage weg, und ich musste für den Onkel und für den Facken kochen. Das war mir wohl eine heimliche Sorge, denn ich hatte noch nie für einen Facken gekocht.

Es ist dann auch nicht gut gegangen – als die Tant’ heimkam, war der Fack krank. Dem Onkel hat nichts gefehlt. Das war jetzt ein großer Verdruss. Die Tant’ hat geweint und war sehr böse auf mich. Ich habe dann nachts noch viel mehr geweint, mein Kopfkissen hat geklebt vor lauter Tränen. Ich habe die vierzehn Nothelfer angerufen, damit sie fürbitten möchten für den Facken. Schließlich ist er dann auch wieder gesund geworden.

Ein Genie darf man nicht verkümmern lassen

Jeden Sonntag geht meine Tant’ zur Kirche. Der Onkel hat aber nicht viel Freude am Kirchengehen, er möchte sonntags viel lieber a wengerl länger schlafen. Das gibt dann immer Krawall mit der Tant’.

Und wie die Tant’ einmal in die Frühmesse ging, sollte ihr der Onkel nachkommen. Ich sollte inzwischen Kaffee machen und dann in die Acht-Uhr-Messe gehen. Aber kaum war die Tant’ fort, hörte ich das Bett krachen – der Onkel hatte sich also wieder niedergelegt. Draußen goss es in Strömen, und kalt war es auch. Es war schon fast der Augenblick da, dass die Tant’ wieder heimkommen sollte, da hörte ich die Treppe krachen. Ich schaute zur Küchentüre hinaus und erschrak nicht wenig … Die Mutter vom Onkel war im Narrenhaus, weil sie spinnert geworden ist auf ihre alten Tag’ – und die Tant’ sagt immer, der Onkel rappelt auch schon … Da kam er wirklich die Treppe herunter, in seinem Nachthemd und einen Regenmantel darüber, der zu kurz war. In einer Hand ein Paar Schuh’ und in der anderen einen Regenschirm. »Mein Gott, jetzt hat’s ihn auch schon«, dachte ich erschrocken, »und die Tant’ ist nicht da, was mach ich nur?«

Ich beobachtete ihn heimlich und sah, wie er sich bei der hinteren Haustür hinausbeugte. Sein Nachthemd hing einen halben Meter unter dem grünen Lodenmantel heraus. Er stellte die Schuhe hin, spannte den Schirm darüber, sodass sie inwendig nicht nass werden konnten. Dann ging er wieder nach oben. Nach einiger Zeit kam er zurück, holte Schuh’ und Schirm wieder herein und stellte alles im Vorhaus zum Trocknen hin. Mir ging ein Licht auf!

Der Onkel merkte, dass ich was gemerkt hatte, und drohte mir mit der Faust, während er sich wieder die Treppe hinaufschlängelte. Ich verstand seinen Deuter mit der Faust. Er bedeutete, dass ich zu schweigen hätte. Das Bett krachte wieder, und alsbald kam auch die Tant’ heim. Dann ist es über den Onkel losgegangen: dass er die Kirche geschwänzt hätte, dass er ein unchristlicher Mensch wäre und für mich kein gutes Beispiel abgäbe – sehr vieles wusste die Tant’ zu sagen …

Und als der Onkel dann dazwischen auch was anbringen konnte, frug er sie, was sie von ihm denn noch wolle? Hätte sie denn nicht im Hausgang seine waschelnassen Schuhe gesehen und den Regenschirm? Nur ein bisserl früher sei er heimgegangen, weil ihn der Frost so beutelte. Ob sie nicht ein Schnapsl für ihn hätte, damit er es etwas wärmer hätte, vielleicht wäre ein Schnupfen im Anzug …? Und der arme Onkel kriegte sein Schnapsl, einen heißen Kaffee und ein Trumm Gugelhupf.

Wohl habe ich der Tant’ nix sagen dürfen, aber ich habe eine Karte gezeichnet, wo auf der linken Seite ein Bett hinkam, in dem einer drin lag. Darüber stand das Auge Gottes, und darunter schrieb ich: »Lieb’ Heinerl, schlafe sanft und brav, der Herr, der gibt’s den Seinen im Schlaf.« Rechts hatte ich einen Altar gezeichnet, vor dem eine Frau kniete, und darunter stand: »Derweil Nannerl im Kircherl kniet, Heinerl im Schlaf sich wiegt.« In der Mitte stand ein Paar Schuh’, darüber ein Regenschirm, und als Regentropfen waren lauter kleine Fragezeichen hingezeichnet. Diese Karte adressierte ich an meinen Onkel und tat sie in den Briefkasten.

Wohl hat mich gleich wieder die Reue angepackt – aber aus dem Briefkasten konnte ich sie nicht mehr herauskriegen.

Wir saßen gerade beim Knödelessen, als der Briefträger beim Küchenfenster die Karte hereinreichte, und es war ausgerechnet die Tant’, die sie ihm abnahm. Ich kriegte gleich Farbe im Gesicht und Herzklopfen, und überall ist mir warm geworden. Die Tant’ hat lange die Karte angeschaut, auch mich hat sie angeschaut, und ohne ein Wort zu sagen, hat sie dieselbe dem Onkel neben den Knödelteller gelegt.