Über Peter Bichsel

PETER BICHSEL, geboren 1935 in Luzern, wuchs als Sohn eines Handwerkers auf. Am Lehrerseminar in Solothurn ließ er sich zum Primarlehrer ausbilden. 1964 wurde er mit seinen Kurzgeschichten Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen auf einen Schlag bekannt. Die Gruppe 47 nahm ihn begeistert auf und verlieh ihm 1965 ihren Literaturpreis. Von 1974 bis 1981 war er als persönlicher Berater für Bundesrat Willi Ritschard tätig. Bichsel lebt in Bellach bei Solothurn.

 

SIEGLINDE GEISEL, 1965 in Rüti im Kanton Zürich geboren, lebt als Kulturjournalistin in Berlin. Sie arbeitet u.a. für Deutschlandfunk Kultur, Republik, NZZ AM SONNTAG , WOZ, Süddeutsche Zeitung und ist Dozentin für Schreibwerkstätten (Freie Universität Berlin, Universität St. Gallen). 2016 hat sie das Online-Literaturmagazin tell (www.tell-review.de) gegründet. Buchveröffentlichungen: Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert (2008), Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille (2010).

Fußnoten

Abgedruckt in: Peter Bichsel – Texte, Daten, Bilder. Herausgegeben von Herbert Hoven. Hamburg 1991, S. 1723.

»Der Virus Reichtum«, abgedruckt in: Peter Bichsel, Des Schweizers Schweiz. Aufsätze. Frankfurt am Main 1997, S. 5578.

Von Sieglinde Geisel

Peter Bichsel war 29 Jahre alt, als er berühmt wurde. Im Jahr 1964 erschien in der Edition »Walter Drucke« das schmale Bändchen Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen, Marcel Reich-Ranicki schrieb eine hymnische Lobrede in der Zeit. Drei Jahre später folgte der Kurzroman Die Jahreszeiten, für den der Autor zuvor den Preis der Gruppe 47 erhalten hatte, und 1969 Kindergeschichten, bis heute sein erfolgreichstes Buch. Generationen von Schweizern sind mit der Geschichte ›Ein Tisch ist ein Tisch‹ aufgewachsen. Fünfzig Jahre lang hat Peter Bichsel Kolumnen und Geschichten geschrieben, jedoch nie einen längeren Roman. 2014 hörte er, kurz vor seinem 80. Geburtstag, mit dem Schreiben auf.

Die Gespräche, die diesem Band zugrunde liegen, wurden zwischen Februar und Juni 2018 in Peter Bichsels Arbeitszimmer in der Solothurner Altstadt geführt. Einmal trafen wir uns auch in seinem Haus in Bellach bei Solothurn. Der Taxifahrer konnte mit der Adresse, die ich ihm nannte, nichts anfangen, aber als wir vor dem Haus hielten und Peter Bichsel aus der Tür herauskam, meinte er: »Ah, zu Peter Bichsel wollen Sie – hätten Sie das doch gleich gesagt.«

Es geht in diesem Buch um Schreiben und Lesen, Politik und Religion, Schweiz und Heimat, Liebe und Tod. Peter Bichsel sieht keinen Widerspruch zwischen Literatur und

In seinen Prosawerken wie Die Jahreszeiten, Der Busant oder Cherubin Hammer und Cherubin Hammer ist er ein dezidierter Vertreter der literarischen Moderne: Vor unseren Augen erfindet und demontiert er seine Figuren, man kann dem Schriftsteller beim Erfinden zuschauen.

Mit seinen Kolumnen wiederum hat Peter Bichsel die Schweiz politisch begleitet. Er ist ein Linker, aber kein Revoluzzer. Ein treues Mitglied der SP, der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, aber kein Lifestyle-Linker, wie man sie von der »Toskana-Fraktion« in Deutschland kennt. Als Redenschreiber von Bundesrat Willi Ritschard hat er von 1974 bis 1981 die Politik aus nächster Nähe kennengelernt, eine Erfahrung der Resignation: »Ritschard hatte geglaubt, da werde jetzt endlich einmal richtig regiert. Doch es war ganz anders.«

Peter Bichsels politische Haltung besteht in der Skepsis gegenüber jeder Herrschaft, jeder Mehrheit. Er denkt nicht in Gegensätzen, sondern dreht die Spirale der Argumentation dialektisch weiter, ohne sich dabei in intellektuellen Spekulationen zu verlieren. »Das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen interessiert mich mehr als das Abenteuerliche. Mir scheint das Leben etwas sehr Ungewöhnliches.«

 

Peter Bichsel ist auf die denkbar freundlichste Weise radikal. Seine Geschichten sind Fabeln: Wir lachen über ihre Pointen und merken nicht, dass sie uns eine Moral vorführen, die wir eigentlich kennen, jedoch nicht in Worte fassen konnten. In dieser Subversivität liegt etwas Stillvergnügtes, Menschenfreundliches – auch dann noch, wenn er sich ärgert, beispielsweise über die Schweiz, die Totaldemokraten und die Profiteure.

Nehmen auch Sie sich Zeit beim Lesen dieses Buchs. Peter Bichsel verschwendet keine Zeit, er nimmt sie sich – und macht etwas daraus. »Aber ohne Nutzen!«, höre ich ihn schon sagen. Denn nirgends ist das Misstrauen des Skeptikers Bichsel größer, als wenn es um den Nutzen geht, das alles beherrschende Prinzip der Effizienz. Gott – an den er glaubt, obwohl er weiß, »dass es ihn nicht gibt« – werde die Menschen vor dem Jüngsten Gericht zur Rede stellen: »Ich habe ja nur da sein gemeint. Ich wollte, dass ihr da sein könnt!«

 

Ich habe die transkribierten Gespräche thematisch gebündelt, dabei manches umgestellt – und fast nichts weggelassen. Es gab keine Redundanzen, auch Wiederholungen hatten ihre Berechtigung. Wie im Leben kommt man beim Nachdenken immer wieder an den gleichen Punkt, man schraubt sich dabei unmerklich in die Höhe oder in die Tiefe, bis man erkennt, dass das eine wahr ist und das Gegenteil ebenfalls. Wir kehrten zu den gleichen Themen zurück, und doch war etwas anders. »Wir drehen uns im Kreis« meinte Peter Bichsel einmal und zitierte ein Gedicht von Christian Morgenstern.

Wer denn?

Ich gehe tausend Jahre

um einen kleinen Teich,

und jedes meiner Haare

bleibt sich im Wesen gleich,

 

das ist doch alles eins;

so mag uns Gott behuten

in dieser Welt des Scheins!

 

Sieglinde Geisel

Juli 2018

Sie haben sich 2014 mit einer letzten Kolumne in der Schweizer Familie von Ihren Lesern verabschiedet, nach fast vierzig Jahren als Kolumnist. Schreiben Sie wirklich nicht mehr?

Nur noch, was mir abverlangt wird. Vorworte, Nachworte.

Fehlt Ihnen das SchreibenSchreiben?

Ich war nie ein leidenschaftlicher Schreiber, obwohl es mir Spaß machte, wenn mir etwas gelang. Ich habe gespürt, dass ich Gefahr laufe, in so ein Altersgeleiere zu kommen, und das wollte ich vermeiden. Ich bin nicht mehr oft hier in meinem Arbeitszimmer in Solothurn. Ein teurer Luxus, aber ich brauche den Arbeitsweg von Bellach hierher. Es ist mein Heimatmuseum. Sie sitzen gerade unter der Pfeife von Max FrischFrisch, Max. Der würde sich ärgern, wenn er seine Pfeife an meiner Wand sähe!

Wie haben Sie mit dem Schreiben begonnen?

Im Lesebuch in der Schule gab es eine Geschichte von Johann Peter HebelHebel, Johann Peter. Ich habe das Buch von mir weggehalten, die Augen ein wenig zugekniffen und mir gesagt: Da könnte ja auch »Peter Bichsel« drunter stehen. Ich habe angefangen,

Worin bestand die Faszination?

H A U S, und das ist ein Haus. Es geht um die Begrifflichkeit, das Wort »Haus« beschreibt ja viel mehr als nur ein Haus. Ein zweijähriges Kind kennt das Wort Baum. Es lebt in Solothurn und fährt mit seinen Eltern nach Italien. Dort sieht es eine Palme und sagt »Baum«. In einem Café sieht es einen Tisch mit nur einem Bein und sagt »Tisch«. Zu Hause haben die Tische vier Beine, aber es weiß: Auch dieser Gegenstand mit nur einem Bein ist ein Tisch. Es hat diese Oberbegriffe verstanden, und jetzt eröffnet sich eine riesige Welt.

Im Übrigen bin ich das, was man einen LegasthenikerLegasthenie nennt.

Das hätte ich nicht erwartet!

Ich hatte das große Glück, dass diese Krankheit noch nicht erfunden war, als ich zur Schule ging, sonst wäre ich wohl kein Schriftsteller geworden. Ich hätte samstagnachmittags in die LegasthenikerLegasthenie-Schule gehen müssen, und diese LegasthenieLegasthenie-Frauen hätten mir das ausgetrieben. Laut Fachleuten sollen mehr als die Hälfte der Menschen LegasthenikerLegasthenie sein. Da frage ich mich, warum dann nicht alle LegasthenieLegasthenie-Unterricht bekommen. Man impft ja auch alle, obwohl sich nicht alle anstecken werden. Übrigens habe ich kaum Schriftsteller-Kolleginnen und -Kollegen

Warum war die LegasthenieLegasthenie eine Hilfe fürs Schreiben?

Ich las drei Bücher pro Woche, doch die Lehrer sagten: Er sollte mehr lesen! Und so durfte ich lesenLesen und musste nicht im Garten helfen.

Und hat es genützt?

Ja, aber nicht gegen die Rechtschreibfehler. Ich bin nun einmal in einem der wenigen Länder der Welt aufgewachsen, in dem die Rechtschreibung eine ungeheure Bedeutung hat. Ein englischer Gymnasiallehrer streicht keine Fehler an, der nimmt den Rotstift nicht zur Hand. Das habe ich auch in Amerika so erlebt. Da schreibt der Lehrer vielleicht unter den Aufsatz: »You have to improve your spelling.« Wenn bei uns bekannt wird, dass ein Arzt in einem Brief Bahnhof ohne h geschrieben hat, kann er seine Praxis schließen.

Was haben Sie in Ihrer Kindheit gelesen?

Sie lasen als Kind, ohne zu verstehen?

Leseförderung geht davon aus, dass Kinder lesenLesen, wenn sie den Text verstehen. Ich bin überzeugt, dass das ein Irrtum ist: Kinder lesen, weil sie nicht verstehen. Alle wirklichen LeserLeser sind buchstabensüchtige Menschen. Natürlich schadet es nicht, wenn der Inhalt spannend ist, aber darum geht es nicht. Jean PaulJean Paul gibt mir immer noch einen Hauch dieses Erlebnisses des Nicht-Verstehens. Man muss ihm zuhören, darf ihn nicht unterbrechen, nicht hinten in den Anmerkungen nachschauen. Nur zuhören. Einen guten Erzähler unterbricht man ja auch nicht.

Wir hatten zu Hause nur vier oder fünf Bücher, daher habe ich die ganze Nachbarschaft nach Zeitungen und Illustrierten abgeklappert. Ich bettelte um die alten Heftchen, um die Geschichten »Unter dem Strich« lesenLesen zu können. Das waren Fortsetzungsromane oder Geschichten, meistens schlecht geschrieben, aber es müssen auch gute darunter gewesen sein. Mich haben wohl die schlechten genauso geprägt wie die guten, für mich gab es diesen Unterschied gar nicht. Ich glaube, aus dieser Zeit stammt auch meine Leidenschaft für KolumnenKolumnen. Es war eigentlich der Versuch, Feuilletons zu schreiben, eine Literaturform zu retten, die es schon nicht mehr gab, als ich anfing, KolumnenKolumnen zu schreiben. Das ist das eine, was mich geprägt hat. Und das andere waren die vier, fünf Bücher, die ich mehrmals gelesen habe.

Vor allem Lexika, und dann natürlich die BibelBibel. Die TraubibelBibel meiner Eltern besitze ich heute noch. Ich habe sie zwei, drei Mal gelesenLesen, daher kam dann auch die Vorstellung der Heiligkeit dieser Buchstaben.

Kafka

Mit zwölf Jahren habe ich mir ein Buch von KafkaKafka, Franz gewünscht. Aber die Buchhändlerin sagte meiner Mutter, das sei noch nichts für mich, dafür sei ich noch zu klein. Ich habe KafkaKafka, Franz dann erst nach der KafkaKafka, Franz-Welle so richtig gelesen. Er ist einer der lustigsten Autoren, die es gibt. Nur die Germanisten begreifen das nicht. Seine Briefe sind unglaublich komisch. Ich hatte in Prag seine Nichte kennengelernt. Sie sagte, er sei der lustigste Onkel gewesen. Ihre Eltern hätten immer geschimpft, weil er alles durcheinanderbrachte mit seinem Schalk.

Für Sie war LesenLesen demnach etwas Religiöses?

Ich bin überzeugt davon, dass die Schrift religiösen Ursprungs ist. Es war das Erste, von dem die Leute das Gefühl hatten, man müsse es festhalten: »Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.« Oder: »Es steht geschrieben.« Ich hatte das Glück, in einer Sprache lesen zu lernen, die von der LutherLuther, Martin-Übersetzung geprägt war. LutherLuther, Martin hat mit unserer Schriftsprache das Neuhochdeutsche erfunden. Und ich wurde ein frommes Kind.

Wie hat sich Ihre Religiosität entwickelt?

Ich hatte in meiner Kindheit eine pietistischePietismus Phase, und die war für meine Entwicklung prägend. Ein Emanzipationsversuch, wie ich rückwirkend festgestellt habe. Ich hatte sehr liebe, gute Eltern, und ich war ein sehr liebes Kind. Ich hatte keine Möglichkeit, mit meinen Eltern zu streiten. Sie waren nicht besonders fromm und haben mich in dieser Sache auch nicht gefördert. Meine FrömmigkeitFrömmigkeit war allein meine Entscheidung.

Mein Emanzipationsmodell bestand darin, meine Anständigkeit zu übertreiben, bis es fast unanständig wurde. Es war nichts Anstößiges, niemand konnte etwas dagegen haben. Der PietismusPietismus war meine einzige Möglichkeit,

Das einzige Fach, in dem ich eine schlechte Note in »Betragen« hatte, war der ReligionsunterrichtReligion. Ich führte mich schrecklich auf, denn der Religionsunterricht – das waren ja die anderen! Mich faszinierte der Ernst des PietismusPietismus, das Bekenntnis: Hier bin ich, und das glaube ich. In der Geschichte vom Herrn Gigon im Milchmann verarbeite ich das.

Inwiefern hat Sie diese pietistische Phase für Ihr späteres Leben geprägt?

Der PietismusPietismusFrömmigkeitPietismus hat mich gelehrt, in Minderheiten leben zu können und zu wollen. Ich wäre damals nicht in pietistische Kreise geraten, wenn es nicht etwas Spezielles gewesen wäre. MehrheitenMehrheit sind etwas Entsetzliches. Ich habe immer gesagt: Wenn die SP auf 51 Prozent kommt, trete ich aus. Aus demselben Grund lese ich auch kaum mehr Robert WalserWalser, Robert. Ich hatte ihn mit siebzehn oder achtzehn entdeckt. Auf einem Markt in Solothurn kaufte ich bei einem Trödler zwei Bände. Ich erkundigte mich überall, aber niemand kannte diesen Autor damals – das war Anfang der fünfziger Jahre –, auch mein Deutschlehrer nicht. Es dauerte fünf oder sechs Jahre, bis ich endlich jemanden traf, der WalserWalser, Robert

Wann hat diese frühe FrömmigkeitFrömmigkeit geendet?

Als ich die Theologie entdeckte. Karl BarthBarth, Karl war mein Ausstieg aus der FrömmigkeitFrömmigkeitPietismusFrömmigkeit. In den Jahren von 1955 bis 1957 habe ich alles von Karl BarthBarth, Karl gelesen. Sein hölzerner Stil, der zugleich so brillant sein konnte – das hat mich auch literarisch geprägt. Heute bin ich kein Barthianer mehr. Mir war Dorothee SöllesSölle, Dorothee Vorstellung von Frömmigkeit wichtig geworden: »Christsein bedeutet das Recht, ein anderer zu werden.« Anders zu sein, das ist ein tapferer Entscheid. Mir ist der Ausstieg aus der FrömmigkeitFrömmigkeit also über die Theologie gelungen, über die Verwissenschaftlichung des GlaubensGlauben. Böse gesagt, war beides eine Art Schabernack: die Eintrittsemanzipation und die Austrittsemanzipation.

Es war Ihnen gar nicht ernst damit?

Es gibt auch ernsten Schabernack. Ich bin immer noch Mitglied der Kirche, denn ich bin ihr dankbar dafür, dass ich sie als Emanzipationsmaschine benutzen konnte. Vielleicht gibt es irgendwo jemanden, der diese Kirche auch so benutzen kann. Und dafür bezahle ich gerne meine Kirchensteuer.

Wer Dorothee SölleSölle, Dorothee nicht kennt, ist selbst schuld! Sie hielt einmal in Biel einen Vortrag, und in der anschließenden Diskussion hackten ein paar verkalkte Barthianer furchtbar auf ihr herum. Später gingen wir zusammen in eine BeizBeiz und setzten uns in eine Ecke. Wir blödelten ein bisschen miteinander – sehr zum Ärger der Leute, die mit der großen Dorothee SölleSölle, Dorothee diskutieren wollten. Sie freute sich, mich kennenzulernen, denn ihr Mann hatte ihr mein Milchmann-Buch zur Verlobung geschenkt. Sie hätte gern eine Professur in Deutschland gehabt, aber das hat man ihr verwehrt. Sie hat vor allem in Amerika gelehrt.

GlaubenGlauben Sie an etwas?

Mein Credo lautet: Ich weiß, dass es keinen Gott gibt, aber ich glaube an ihn. Es existiert für mich ein GottGott in dieser Welt, aber der stirbt mit mir. GottGott ist eine wunderbare menschliche Erfindung.

Warum glauben Sie an einen GottGott, den es nicht gibt?

Irgendwie brauche ich diesen GottGott. Ich ertrage die Vorstellung nicht, dass unser Leben nichts anderes sein soll als ein biologischer Zufall. Ich möchte, dass dieses Leben gemeint ist, das, was wir hier leben – Freude und Leid, unser Ärger und alles andere. Dazu brauche ich keinen Schöpfer, aber ich brauche die Vorstellung »GottGott«.

Weil sie ihn brauchten. Dass er erfunden ist, kann man schon an der Schöpfungsgeschichte sehen. Nur bigotte amerikanische Christen glauben eins zu eins daran. Dass es nicht sein kann, dass da einer saß und am ersten Tag die Erde vom Wasser schied und nach sechs Tagen sein Werk beendete – das konnte man damals schon wissen.

Die ReligionReligion gibt uns also Gewissheit, dass wir gemeint sind?

Nicht »wir«, nicht »ich«, sondern: dass dieses Leben gemeint ist.

Also eine Produktion von Sinn.

Das wäre eine Frage, die Sie hoffentlich nicht stellen: Was ist der Sinn des Lebens? Ich meine nicht Sinn. Ich meine nur, dass es gemeint ist.

Was heißt denn dieses »gemeint sein«?

Ich habe lange nach einem Begriff gesucht, und ich bleibe dabei. Nicht gewollt, sondern gemeint. Das genügt.

Gemeint von wem?

Die Instanz heißt »Es«. Es regnet – weiter mag ich da gar nicht eindringen. Gerade weil man dieses Es, weil man diese Instanz nicht benennen kann, war diese großartige Erfindung GottGott notwendig. Wenn mir jemand sagt: »Gott ist die Wahrheit«, dann sage ich: »Sicher, GottGott ist die Wahrheit. Aber Realität und Wahrheit sind nicht dasselbe.«

Der balinesische Hinduismus

Im Jahr 1977 war ich vierzehn Tage lang auf Bali, auf dem Rückweg nach einer Lesereise mit dem Goethe-Institut durch Australien. Ich hatte mich mit einem Hotelangestellten angefreundet, einem jungen Mann. Er fragte mich, ob es stimme, dass die Christen glauben, ihr GottGott sei auf die Erde gekommen. Ich antwortete: »Ja, Gottes Sohn war auf der Erde.« Da meinte er: »Die Europäer sind nicht fromm, nicht wahr?« Für ihn war klar: Dass GottGott auf der Erde war, kann nur Menschen einfallen, die nicht fromm sind. Ich fragte ihn, ob er denn glaube, dass es den Prinzen Rama gegeben habe, eine Figur aus den heiligen Büchern des Hinduismus. Vielleicht sei das ja nur erfunden und von jemandem aufgeschrieben worden. Er meinte, sicher habe es jemand aufgeschrieben, und vielleicht sei es auch erfunden. »Dann gibt es Rama also nicht?«, fragte ich ihn. »Was willst du wissen: ob die Geschichte real ist oder ob sie wahr ist?«

Die westliche Moderne hat sich durch die Säkularisierung von der Erfindung »GottGott« verabschiedet.

Wir brauchen die Erfindung immer noch, aber wir gestehen sie uns nicht mehr zu.

Eben das meine ich ja mit meinem GlaubenssatzGlauben: dass ich an einen GottGott glaube, den es nicht gibt.

Im Jahr 2004 hat Ihnen die Theologische Fakultät der Universität Basel die Ehrendoktorwürde verliehen.

Die habe ich nicht für meinen Bezug zum Religiösen bekommen, sondern für meine KolumnenKolumnen. Ich habe diesen Brief von der Universität Basel erst nach fünf, sechs Wochen beantwortet. Sie fürchteten schon, dass ich ablehnen würde, und darüber hatte ich auch nachgedacht. Ich konnte dann nicht ablehnen, auch wegen meines Faibles für Karl BarthBarth, Karl, das ich seit meiner Jugend gepflegt habe. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass es ein Doktor in der Theologie war und nicht der Germanistik oder Philosophie.

Warum?

Es hat etwas so schön Mittelalterliches: Doktor der Theologie. Das ist für mich etwas Faustisches.

Sie haben ja auch Predigten gehalten.

Dazu wird man überredet, und dann macht man’s halt. Das ist ein bisschen Mode geworden. Die Kirche tut in ihrer Verzweiflung alles, um die Kirchen zu füllen: Laienprediger, Jazzmusiker, Jongleure, was auch immer.

Sie hatten keine christliche Botschaft für die Gemeinde?

Hoffnung worauf?

Auf eine bessere Welt, eine friedlichere, gerechtere Welt. Die christliche Ideologie und die sozialistische Ideologie – und damit meine ich nicht die sozialdemokratischeSozialdemokratie, obwohl sie durchaus dazugehören könnte – sind mir wichtig. Auch die liberale Idee ist mir wichtig. LiberalismusLiberalismus und SozialismusSozialismus, das waren mal Brüder. Aber die Sozialisten haben ihre Väter schon längst über Bord geworfen – und die Liberalen noch mehr. Wo ist der freisinnige Politiker, der noch etwas weiß von den englischen liberalen Philosophen? Das Christentum hat, ebenso wie die anderen Religionen, das Pech, dass es seinen Gründer nicht über Bord werfen kann.

Warum Pech?

Weil ihnen der Gründer im Weg steht, wenn es darum geht, die Kirchen zu füllen, ein bisschen Macht zu haben. Und genau darin besteht für mich die Hoffnung. Ich verehre immer noch den jüdischen Philosophen Jesus von Nazareth, ich staune, auf was für soziale Ideen er vor über zweitausend Jahren gekommen ist. Die Hoffnung kann Jesus heißen, und sie kann genauso gut Buddha heißen oder Allah und sein Prophet Mohammed.

Sie reduzieren ReligionReligion ganz auf das Diesseitige, auf das soziale Projekt.

Sie sind in den sechziger Jahren sehr schnell im deutschen Literaturbetrieb angekommen. Wie hat das angefangen?

Jörg SteinerSteiner, Jörg hatte mich ermuntert, meine GeschichtenGeschichten an den Walter Verlag zu schicken. Der wurde damals von Otto F. WalterWalter, Otto F. geleitet. Ihm gefielen die Geschichten, doch er wusste nicht, wie man das Projekt finanzieren könnte. Ich übertrug ihm die Rechte, und so konnte er die Texte in Zeitungen veröffentlichen und damit den Druck finanzieren. Meine GeschichtenGeschichten waren dann die Initialzündung für die »Walter Drucke«, eine Reihe von Luxusbänden in kleinen Auflagen, mit nicht aufgeschnittenen Druckbögen.

Jörg SteinerSteiner, Jörg (19302013)