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Bernhard Welte
Die Würde des Menschen und die Religion

topos taschenbücher, Band 1067

Eine Produktion des Verlags Butzon & Bercker

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Verlagsgemeinschaft topos plus

Butzon & Bercker, Kevelaer

Don Bosco, München

Echter, Würzburg

Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern

Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der

Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8367-1067-1
E-Book (PDF): 978-3-8367-5075-2
E-Pub: ISBN 987-3-8367-6075-1

2017 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer

Inhalt

Vorwort

Methodische Vorbemerkungen

Was die Frühgeschichte lehren kann

Versuch über den gegenwärtigen Zustand von Religion und Gesellschaft

Stellung und Aufgabe der Religion heute im Hinblick auf eine menschenwürdige Gesellschaft

Bernhard Welte und die Zukunft von Religion und Gesellschaft (Holger Zaborowski)

Anmerkungen

Vorwort

In diesem Vorwort will ich kurz darüber berichten, wie ich auf die Idee dieses kleinen Buches gekommen bin und welches also sein Charakter ist.

Ich ging von der schon fast selbstverständlichen Beobachtung aus, dass die Stellung der Religion und insbesondere unseres Christentums im Ganzen unserer Gesellschaft und unserer Kultur in vieler Hinsicht problematisch und kritisch geworden ist. Ich fügte dieser Beobachtung einen Rückblick in die Jahrtausende der Geschichte hinzu. Denn der gegenwärtige Zustand von Religion und Gesellschaft wird umso merkwürdiger, je mehr man bedenkt, dass die Religion durch Jahrtausende unserer Geschichte hindurch eine Selbstverständlichkeit war und dass die geschichtlichen Gesellschaften und Kulturen infolgedessen auch weite Strecken hindurch geradezu identisch waren mit der Religion. Ich fand, man muss sich ernstlich fragen, woher dies kommt.

Dazu trat für mich das Problem der Menschenwürde oder des menschenwürdigen Zustandes unserer Gesellschaft. Dies ist ja in der Tat ein Problem geworden, das zweifellos mit dem zeitgeschichtlichen Stande unserer Kultur zusammenhängt. Sind wir auch stolz auf den hohen Stand unserer Zivilisation, so mehren sich doch auch die Stimmen, die besorgt darauf hinweisen, dass vieles an Menschenwürde verloren gegangen ist oder verloren zu gehen droht. Sieht man nun dieses Problem der menschenwürdigen Gesellschaft zusammen mit dem anderen, nämlich der Stellung der Religion in unserer Gesellschaft und Geschichte, dann entsteht ein ganzer zusammenhängender Fragenkomplex. Diesem Fragenkomplex habe ich jahrelang nachgedacht.

Ich habe mein Nachdenken genährt durch zahlreiche Beobachtungen, die ich im In- und Ausland seit Jahren sammelte. Ich habe mit den so gesammelten Beobachtungen meine fragenden und tastenden Gedanken über Religion und Menschenwürde, Gegenwart und Geschichte verbunden. Aus diesem Zusammenhang von Problemen, Beobachtungen und Gedanken stieg mir allmählich eine neue Idee auf. Sie wurde wachsend dichter und deutlicher. Sie gestaltete sich schließlich zu einer Theorie aus über den Zusammenhang von Menschenwürde und Religion, Gesellschaft, Kultur und Geschichte. Zur Ausarbeitung dieser Theorie habe ich dann eine Reihe von mir wichtig erscheinenden Untersuchungen herangezogen. Die wichtigsten davon sind in diesem Buch genannt.

Die Theorie, die mir so erwuchs, wage ich im Folgenden in einer knappen Skizze vorzulegen, nachdem ich sie zuerst auf den Hochschulwochen in Salzburg vom 5. bis 7. August 1976 in drei Vorträgen ausgesprochen habe. Aus der Theorie suche ich dann auch praktische Folgerungen abzuleiten für die Aufgabe des Christentums im Raume der heutigen Gesellschaft.

Die Theorie, die also im Folgenden ausgebreitet wird, hat zu wesentlichen Teilen den Charakter einer Hypothese. Dies will einerseits sagen, dass ich sie nicht als ein endgültig feststehendes Resultat der Forschung betrachte. Andererseits aber darf ich darauf hinweisen, dass diese hypothetische Theorie sich in allen mir bis jetzt bekannten Fällen bewährt hat und dass ich keinen Fall kenne, der sie widerlegte. Das aber ist nach Karl Popper das, was von einer Theorie verlangt werden muss. Die Theorie leistet aber noch mehr. Sie vermag vieles zu erklären, was im Raum des oben angedeuteten Problemkomplexes in Erscheinung trat und in Erscheinung tritt. Für vieles davon sehe ich keine andere Möglichkeit der Erklärung. Aus der Theorie ergeben sich auch Gesichtspunkte für die Aufgabe der Kirche in der heutigen Gesellschaft und Kultur. Ich bin davon überzeugt, dass wir solche Hypothesen in einem zugleich besonnenen und kühnen Denken wagen müssen, wenn wir einerseits die ganze Breite des anstehenden Problemkreises im Auge behalten und andererseits für das Verständnis dieses Problemkreises ordnende Gesichtspunkte gewinnen wollen und dazu Leitlinien für die mögliche Praxis der Bewältigung der Gegenwart.

Ich wünsche mir für die Theorie, die ich hier ausbreiten will, eine aufmerksame und kritische Diskussion.

Freiburg i. Br., den 22. Dezember 1976

Es soll im Folgenden über Religion und Gesellschaft nachgedacht werden. Darüber also, welche Stellung, welche Rolle, welche Aufgabe der Religion im Blick auf die Gesellschaft zukommt. Bei der Gesellschaft sei dabei besonders auf deren Menschenwürdigkeit geachtet. Die Menschenwürdigkeit der Gesellschaft wird wohl kaum jemand als etwas einfach Gegebenes auffassen. Sicher aber ist sie etwas, was uns immer aufgegeben ist. Wie verhält sich dann Religion zu dieser immer aufgegebenen Qualität der Gesellschaft?

Methodische Vorbemerkungen

Die Schwierigkeit unseres Themas im Ganzen liegt vor allem darin, dass sich kaum mit genügender Genauigkeit sagen lässt, was menschenwürdige Gesellschaft eigentlich ist und worin sie besteht.

Einst wagte man es, den Menschen zu definieren, also in einer Aussage zu fassen, was sein Wesen sei. Die klassischen Autoren des Mittelalters, etwa Thomas von Aquin, definierten den Menschen unter Rückgriff auf Aristoteles als animal rationale, d. h. als das vernunftbegabte oder vernünftige Lebewesen. Vernunft wäre demnach das, was das Wesen des Menschen ausmacht. Und so würde auch in der Vernunft die Würde des Menschen zu suchen sein. Was aber ist Vernunft? Es ist zweifellos richtig zu sagen, das menschenwürdige Leben sei das vernünftige Leben. Allein was ist das Vernünftige? Was ist es vor allem konkret in jenem umfassenden Horizont, den wir Gesellschaft nennen? Wo Spannungen und Auseinandersetzungen in der Gesellschaft entstehen, hält für gewöhnlich jede Partei ihre Sache für die vernünftige. Und dann wird im Namen der Vernunft gestritten und vielleicht sogar so, dass es nicht mehr menschenwürdig genannt werden kann. Daran aber sieht man, dass die bloße Bestimmung „vernünftig“ – so richtig sie sein mag – nicht genügt, um jenes Wesen und jene Würde des Menschen zu bestimmen, aus der wir ableiten könnten, was menschenwürdige Gesellschaft sei. Jean-Paul Sartre hat freilich vorgeschlagen, diesen alten, im Mittelalter lebendigen und auf die Antike zurückgehenden Bestimmungen oder Definitionen gegenüber überhaupt auf jede Definition, d. h. auf jede Wesensbestimmung des Menschen zu verzichten. Der Mensch zeichne sich vielmehr, so sagt der französische Denker, dadurch aus, dass er sich selbst je und immer wieder neu zu bestimmen habe durch den Gebrauch seiner Freiheit. Man kann also nie im Vorhinein sagen, was der Mensch ist und was er in seinem Wesen oder seiner wesentlichen Würde ist. Man kann immer nur im Nachhinein sagen, was der Mensch in seiner Freiheit aus sich gemacht hat.

Wie steht es aber mit der Menschenwürde, auf die ja Sartre gewiss auch nicht verzichten will? Sie bleibt der unbestimmten Freiheit überlassen. Aber ist es dann nicht wieder so, dass dort, wo Menschen mit Menschen in Konflikte kommen, da, wo sie einander zur Hölle werden, wie Sartre ausführte, sich wieder jeder auf seine Freiheit berufen kann? Dann wird, was man Menschenwürde zu nennen geneigt sein mag, gerade zerstört durch den Gebrauch der Freiheit. Also genügt auch diese ganz offene Bestimmung des Menschen nicht, um die Würde des Menschen begrifflich zu fassen. Vielleicht haben die alten Denker mit ihrer Definition einerseits und der neue Denker andererseits beide zwar etwas Richtiges gesehen; vielleicht gibt es wirklich beides im Menschen: das Dauernde seiner Vernünftigkeit, das ihn immer einfordert und das man im Begriff fassen und definieren kann, und auch das stets offene und bewegliche Element seiner Freiheit, das sich nicht in eine Definition fassen und festlegen lässt. Aber weder das eine noch das andere genügt, um wirklich klar zu machen, was man Menschenwürdigkeit nennen darf. Das Menschenwürdige, das, was den wesentlichen Bedürfnissen, Rechten und Ansprüchen der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Dasein entspricht, scheint uns immer mehr zu entgleiten, je mehr wir versuchen, mit den großen Denkern der Vergangenheit oder der Gegenwart ihm auf der Spur zu bleiben.

Wie schwierig es ist, das zu sagen, was menschenwürdig ist, darüber kann uns auch ein Blick auf die Geschichte der Menschen belehren. Im Blick auf diese Geschichte nämlich erfährt man, dass die Menschen in ihrem gesellschaftlich-geschichtlichen Dasein tatsächlich immer den ihrer würdigen Zustand dieses Daseins gesucht haben. Dies scheint sogar eine wirkliche Konstante zu sein im unbeständigen Lauf der menschlichen Geschichte. Immer haben die Menschen den ihrer würdigeren, den dem faktischen Zustand gegenüber idealeren Zustand ihrer Geschichte voraus entworfen und aus solchen Vorausentwürfen gelebt und gekämpft, gelitten und gerungen um das ihrer würdigere Dasein. Als leitende Idee jedenfalls erscheint demnach das Menschenwürdige als eine Wirklichkeit des geschichtlichen Lebens.

Die Geschichte belehrt uns in diesem Zusammenhang freilich dann weiter darüber, dass alle Entwürfe des menschenwürdigen Daseins, die entlang dieser Leitlinie entworfen wurden, sich bis jetzt als niemals vollständig erfüllte erwiesen haben. Das Ideal des menschenwürdigen Zustandes ist im ganzen Lauf der Geschichte immer das beständig Gesuchte, aber auch das niemals ganz Gefundene gewesen. Nicht nur im Denken also, auch in der Wirklichkeit der Geschichte erscheint die Menschenwürdigkeit zwar als eine Leitlinie, jedoch als eine solche, die sich niemals ganz einholen und einfangen lässt.

Darum fanden die Menschen an jedem, sei es auch noch so guten geschichtlichen Zustand immer wieder einen Mangel und strebten über diesen Mangel immer wieder hinaus nach dem Menschenwürdigeren. Weder die Pax Augustea in der Antike, noch das mittelalterliche heilige Imperium noch die Französische Revolution mit ihren Idealen brachte einen stabilen Zustand der Menschenwürdigkeit hervor, bei dem die Menschen auf die Dauer hätten stehen bleiben wollen. So wird man die ganze Geschichte der Menschen auffassen dürfen als einen titanischen Versuch, die Menschenwürdigkeit durch Handeln, Kämpfen und Leiden immer neu zu definieren, einen Versuch, der immer wieder über alles Erreichte hinaustreibt und jedes Confinium, jede geschichtliche Definition auch wieder zerreißt und zerbricht. Die Geschichte scheint uns also zu lehren, dass man nach der menschenwürdigeren Gesellschaft zwar immer fragen muss, dass man diese sich ständig erneuernde Frage aber niemals ganz und endgültig beantworten kann.

Diesem Befund entspricht das Prinzip der negativen Dialektik, wie es vor allem Adorno entworfen hat.1 Diesem Prinzip gemäß kann und muss man immer sagen, was nicht gut ist und nicht menschenwürdig am jeweiligen Zustand der menschlichen Gesellschaft, das Negative also, und dies als Antrieb zum verändernden Handeln. Aber man kann nicht positiv den idealen Zustand der menschlichen Gesellschaft definieren. Der Versuch dazu – so scheint es – ergäbe bestenfalls eine Tyrannei des Guten, die als Tyrannei auch wieder nicht menschenwürdig wäre.