cover
Haupttitel

Die Autorin

Ella Maillart (1903  1997) wuchs in Genf auf und war in vielerlei Hinsicht eine Wegbereiterin. Die hervorragende Sportlerin vertrat 1924 die Schweiz an den Olympischen Spielen in Paris im Einhandsegeln. Von 1930 bis ins hohe Alter unternahm sie zahlreiche Reisen, u. a. in die Sowjetunion, nach Afghanistan, China, Tibet, Indien und Nepal.

 

Sie schrieb, fotografierte und hielt Vorträge über ihre Expeditionen. Mit ihren Werken Verbotene Reise und Turkestan Solo erlangte sie internationale Anerkennung als Asienkennerin, Reiseschriftstellerin und Fotografin.

 

Inhalt

1. Die Idee

2. Der Start

3. Italien

4. Jugoslawien

5. Sofia

6. Istanbul

7. Das Schwarze Meer

8. Das Pontische Gebirge

9. Bajazet

10. Aserbeidschan

11. Strassen

12. Nikpeh

13. Sultanieh

14. Teheran

15. Gumbad-i-Kabus

16. Chorassan

17. Meschhed

18. Abbas Abad

19. Die Grenze

20. Herat

21. Bala-Murghab

22. Schirbichan

23. Turkestan

24. Pol-i-Khumri

25. Do-Au

26. Bamian

27. Bend-i-Emir

28. Begram

29. Kabul

30. Mandu

Widmung

Nachwort von Brigitta Kaufmann

Anhang

»Du suchst eine ›neue Welt‹. Ich kenne eine, die stets neu ist, weil sie ewig ist. O ihr Abenteurer, ihr Eroberer Amerikas, mein Abenteuer ist schwieriger und heroischer als all die euren. Ich muß durch tausend Leiden gehen, schlimmer als die euren, ich muß einen langen Tod erdulden, ehe der körperliche kommt, ehe ich jene Welt erobern werde, die ewig jung ist. Wagt es, mir zu folgen, und ihr werdet sehen.«

 

Heilige Theresia von Jesu (1515  1582)

 

 

»… die Seelenärzte haben jene Wahrheit erkannt: man lindert Leiden, indem man dem Denken kundtut, was im Herzen liegt. Ich glaube, daß dies ein Teil des kosmischen Vorganges ist, der den Bedürfnissen der Seele dient, für die das Universum geschaffen wurde, eines Vorganges, durch den wir uns klarer erkennen können und den Tiefen in uns und der Wahrheit des Seins nähergebracht werden. Jeder Schritt, so schmerzhaft er auch sein mag, durch den wir eine tiefere Selbsterkenntnis gewinnen, bringt eine Weisheit mit sich, die ein Ausgleich für unseren Kummer ist, und deren Erwachen, wie ich wahrhaft glaube, die Vergebung unserer Sünden bedeutet.«

 

Æ (Vorwort zu Mors et Vita)

1

DIE IDEE

»Hoffentlich ist es morgen wärmer, wenn ich dich zum Bahnhof bringe, sonst kann’s passieren, daß der Wagen zusammenkracht, denn diese Kälte wird er nicht mehr aushalten.« Christina sagte das ganz beiläufig, ich hörte es kaum, denn ich war mit meinen Gedanken noch immer in Prag: sie hatte gerade die Seele jener Stadt beschrieben, das Leben ihrer tschechischen Freunde, deren völlige Verzweiflung und Hilflosigkeit, da Hitler erbarmungslos, unaufhaltsam näherrückte.

Wir blickten aus dem kleinen Fenster ihres Bauernhauses im Engadin. Es war tiefster Winter. Wolken verhüllten die gegenüberliegenden Hänge des Fextales, wo wir am Morgen zwischen schimmernden rotbraunen Lärchen Ski gelaufen waren. Ein niederer, düsterer Himmel drückte auf das Tal – schattenlos lag es da, tot. Trotz der hohen Gebirgslage sah das Land flach aus und weit, denn das Haus stand am Ufer eines Sees, der jetzt unter einer dicken Schneeschicht fest zugefroren war. Nur diese trostlose, weite Fläche lag zwischen uns und dem Horizont im Süden, wo der Malojapaß nach Italien führt.

Christina hatte wohl hinzugefügt: »Der Wagen ist ausgeleiert, Vater hat mir aber einen Ford versprochen.« Ich hörte nur den letzten Namen, und dadurch kam alles.

Dieses eine Wort genügte – herumflatternde Gedanken vereinten sich zu richtiger Folge, vage Wünsche kristallisierten sich zu einem festen Plan. Wie ein langgezogenes Echo hörte ich eine Stimme sagen, die die meine zu sein schien:

»Einen Ford! Das ist der Wagen, mit dem man die neue Hasarejdschatstraße in Afghanistan hinauffahren sollte! Auch Persien sollte man im eigenen Wagen durchqueren. Vor zwei Jahren bin ich in Lastautos von Indien nach der Türkei gerattert – diese Reise werde ich wohl nie vergessen, mit all dem Staub und Dreck, den vielen Pannen, der Inbrunst der Pilger, dem Übernachten im Freien neben der Straße oder in überfüllten Karawansereien, den Polizeikontrollen in jedem Dorf und – das schlimmste – dem Zwang, bei den Camions zu bleiben, statt nach Belieben umherziehen zu können.«

Ein diffuses Licht in den Wolken über dem Malojapaß schien den Weg zu weisen: nach einem Abstieg von fünfzehnhundert Metern in die Wärme der Lombardei würde er sich durch den Balkan winden und uns zum Bosporus führen, dem Tor zur Unendlichkeit Asiens – mein Geist befand sich bereits in Persien.

»Im Osten des Kaspischen Meeres werden wir zum alten Turm Gumbad-i-Kabus fahren und unter den persischen Turkmenen campieren; möglicherweise haben die noch ihre alten Sitten und Bräuche bewahrt, die ich bei ihren von den Sowjets modernisierten Stammesbrüdern vergebens gesucht habe. Wir werden die goldene Kuppel des Grabmales von Imam Reza sehen – eine kompakte, glatte, kostbare Schale, die zum Himmel ragt. Dann kommen wir zu den riesigen Buddhas im klaren Bamiantal und zu den unwahrscheinlich blauen Seen des Bend-i-Emir. Danach geht es weiter die Nordseite des Hindukusch hinunter, das Tal des mächtigen Oxus hinauf, wo wir in den Bergen verschwinden werden, bevor uns ein Verbot aus Kabul daran hindern kann. Dort leben in einer Gegend, in der ich mich glücklich fühle, die Menschen, die ich studieren möchte: Bergbewohner, die nicht durch künstliche Bedürfnisse versklavt sind, freie Menschen ohne den Zwang, ihre tägliche Produktion zu steigern. Läßt man uns nicht nach Kafiristan, können wir durch Indien fahren, die Burmastraße nehmen und bei den Lolos in Osttibet bleiben. Wenn ich neues Material über diese Stämme gesammelt habe, werde ich endlich in die Gemeinschaft der Ethnologen aufgenommen werden. Dann wird alles gut sein: Ich werde einer wissenschaftlichen Organisation angehören, es wird mein Beruf sein, in der Welt umherzuziehen, ich werde nicht mehr Bücher schreiben müssen, um mir mein Leben zu verdienen.« Eine Macht, die unter meinen Worten schlummerte, hatte einen Plan geboren, der bereits so reif war, daß er sich von selbst aufdrängte; es war wie das Zauberkunststück des Mangobaums.

Schließlich kam Christina zu Wort: »Als ich in Teheran war, hatte ich mir immer gewünscht, weiter nach dem Osten zu kommen, wo die Menschen ihre alte traditionelle Lebensweise noch nicht aufgegeben haben.«

Ihre Stimme brachte mich in die Gegenwart zurück. Prüfend blickte ich sie an; obwohl sie sich von einer monatelangen, höchst anstrengenden Kur noch nicht ganz erholt hatte, war der Ausdruck ihrer Augen gesund und entschlossen. Um diese neue Strömung mit den erstbesten Steinen, deren ich habhaft werden konnte, einzudämmen, sagte ich: »Christina, ich hab ja Unsinn geredet! Bevor du nicht zehn Kilo zugenommen hast, ist gar nicht daran zu denken, solche Strapazen durchzumachen. Außerdem, wer würde uns finanzieren? Und der Krieg wird sowieso bald losgehen … Und wenn nicht, muß ich wohl eine Vortragstournee durch die Staaten machen.« Mein Hauptargument brachte ich gar nicht vor: angenommen, sie wäre bald wieder hergestellt, wie lange könnten wir es miteinander aushalten?

Obwohl sie wahrscheinlich meine Gedanken erriet, erwiderte sie nichts – nichts! Ihre zarte Hand hielt eine Zigarette, die Haut spannte sich dünn wie Seidenpapier über den gelben Knöcheln. Sie saß auf der Bank – die Brust eingefallen, ihr knabenhafter Körper lehnte sich an den großen Ofen in der Zimmerecke, die Knie hielt sie umklammert. Ohne die Spannung, die von ihr ausging, wäre es in diesem Bauernhaus (die rötliche Maserung der Zimmertäfelung aus Arvenholz mit den mandelförmigen Astmasern wirkte wie Moiréseide) sehr geruhsam gewesen, während draußen der Sturm heulte. Tisch und Wände fühlten sich, fuhr man mit der Handfläche darüber, glatt und wohltuend an.

Obwohl scheinbar gelassen, war Christina mit Unruhe geladen. Äußerlich ruhig wie gewöhnlich, war ihr farbloses Gesicht ein Symbol, das ich zu deuten suchte: es spiegelte nichts vor, es war ein ›einfaches‹ Gesicht, es war offen, ungekünstelt, nicht von sich selbst eingenommen. Unter der Fülle des kurzgeschnittenen Haares schien der Kopf zu groß zu sein, zu schwer mit Gedanken befrachtet für ihren so gebrechlichen Hals. Die Stirn war nicht hoch, aber fesselnd durch ihre Breite, ihre Entschlossenheit – zuweilen fast Starrköpfigkeit.

Ich wußte, daß sich hinter dieser Stirn oft Gedanken zu einem hohen Flug aufschwingen konnten, sowie sie eine Besessenheit überwunden hatten, die mir noch nicht ganz klar war. Die weit auseinanderstehenden Augen zeigten unter Brauen, die viel dunkler als ihr Haar waren, wechselnde Schattierungen von dunkelblauem Grau. Diese Augen gehörten zu einer Seele, die Schönheit liebte und oft vor einer unharmonischen Welt zurückschreckte; sie konnten strahlen vor Begeisterung, vor Liebe, sie konnten einen anlächeln, aber lachen sah ich sie nie. Wenn man die Nase genau betrachtete, stellte man fest, daß sie fleischiger war, als man zuerst annahm; sie deutete darauf hin, daß Christinas Konstitution vielleicht doch nicht so schwach war, wie sie zu sein schien. Um den bleichen, unregelmäßig geschnittenen Mund lag Melancholie – die Lippen inhalierten mit stummer Gier Rauch. (Ihre Zähne nahmen stets eine dunklere Färbung an, wenn ihre Vitalität nachließ, hatte sie mir erzählt.) Das kleine Kinn wirkte besonders jugendlich und erinnerte an ein versonnenes Kind, das Schutz sucht. Ihre Hände glichen denen eines geduldigen Künstlers, der mit seinem Meißel eine klare Linie zu ziehen versteht. Ich habe gesehen, wie sie nacheinander sieben Bogen in die Schreibmaschine spannte, bevor ein bestimmter Satz die Vollkommenheit erlangt hatte, die allein sie befriedigen konnte. Schreiben war der Gottesdienst ihres Lebens, er beherrschte sie ganz und gar.

Ihr ernster Ausdruck gehörte zu ihrem Streben nach Einhaltung der Formen. Mit einem unordentlichen Gesicht wie dem meinen würde sie sich nie gezeigt haben. Auf diesen merkwürdigen, gespannten Ernst war es hauptsächlich zurückzuführen, daß sie von einem gemeinsamen Freund der ›gefallene Engel‹ genannt wurde. Die Anmut ihres zarten Körpers, die blassen Schläfen, die die Nachdenklichkeit ihres Gesichtes betonten, wirkte ungemein stark auf jene, die von der tragischen Größe der Androgynie angezogen werden. Um meine Furcht zu zerstreuen, erwiderte sie schließlich energisch: »Kini – ich muß fort von hier! Ich bin erledigt, wenn ich in unserem Land bleibe, wo ich keine Hilfe mehr finde, wo ich zu viele Fehler begangen habe, und wo die Vergangenheit zu schwer auf mir lastet … Ich hatte daran gedacht, nach Lappland zu gehen, aber viel lieber möchte ich mit dir nach Afghanistan fahren. Weißt du … ich habe noch nicht gelernt, allein zu leben! Bei deinen ethnologischen Forschungen im Gebirge brauche ich dich ja nicht zu begleiten. Du bist ja mit den Hackins befreundet, und vielleicht könnte ich ihnen bei ihren Ausgrabungen behilflich sein. Du weißt ja, daß ich schon mit Archäologen in Syrien und in Persien zusammengearbeitet habe.«

Nach kurzer Pause fuhr sie fort: »Du machst dir Sorge wegen meiner Gesundheit, und ich gebe zu, daß ich noch schwach bin. Aber du kennst meine Konstitution nicht. Du brauchst nur die Ärzte zu fragen; denen ist es ein Rätsel, daß ich mich immer wieder erhole. Ich verspreche dir, jetzt jeden Tag Ski zu laufen statt so viel zu rauchen; dann bekomme ich mehr Appetit, esse mehr und nehme zu. Und was das Geld anbelangt, so müssen unsere Verleger einspringen. Ich bin gerade mit meinem letzten Buch fertig geworden und kann einen Vorschuß auf eine Geschichte über Afghanistan bekommen. Auch das Geographical Magazine wird uns helfen.« Mit noch verhaltenerer Stimme fügte sie hinzu: »Ich bin jetzt dreißig. Es ist die letzte Chance, mich in die Hand zu bekommen. Diese Reise wird keine himmelhochjauchzende Eskapade werden, als wären wir noch zwanzig – das ist unmöglich, da die europäische Krise von Tag zu Tag zunimmt. Diese Reise muß uns endgültig auf die Beine bringen; wir können uns gegenseitig dazu verhelfen, vernünftige, verantwortungsbewußte Menschen zu werden. Mein blindes Herumtappen im Leben ist unerträglich geworden. Was ist der Grund, der Sinn dieses Chaos, das Menschen und ganze Völker vernichtet? Und ich muß doch etwas mit meinem Leben anfangen können, es muß doch etwas geben, wofür ich froh leben oder sterben möchte! Kini … wie lebst du?«

»Also hör mal. Wir wollen praktisch sein. Wir haben schon lange ausgemacht, daß wir uns erst selbst besser kennenlernen müssen, bevor wir etwas anderes wissen können. Wir haben auch festgestellt, daß das Chaos um uns mit dem Chaos in uns im Zusammenhang steht. Aber vor allem mußt du kräftiger werden, darfst nicht mehr deiner Gesundheit auf Gnade und Ungnade ausgeliefert sein. Bist du gewillt, in den nächsten Monaten deine wunderbare Energie dazu zu verwenden, einen neuen Körper für deine wiederhergestellten Nerven zu schaffen? Wirst du aufhören, dir den Kopf über Probleme zu zerbrechen, die du doch noch nicht lösen kannst? Sag nicht einfach ›Ja‹, um mich zu beruhigen, sondern mache dir klar, was du dir selbst schuldig bist. Du hast zum Beispiel oft gesagt, du würdest mit deinen ganzen Kräften gegen Hitler kämpfen, wenn der Krieg ausbricht; aber wie willst du das tun, wenn du nur ein Schatten bist?«

Ich sprach so kategorisch wie möglich, aber ich wußte, welche Qual sich hinter Christinas einfachen Worten verbarg. Und tief im Innern, wo das Leben geheimnisvoll und ruhig dahinfließt, sprach ich ein stilles Gebet: »Hätte ich doch nur die Möglichkeit, dir zu helfen, ungeduldige Christina, die du so gequält wirst von der Unvollkommenheit der menschlichen Natur, so bedrückt von der Falschheit des Lebens, von der Parodie der Liebe um uns herum. Möge es mir, wenn wir zusammen reisen, vergönnt sein, dich nicht zu enttäuschen, mögen meine Schultern so stark sein, daß du dich auf sie stützen kannst. Ich werde mit dir auf der weiten Erde auf denselben Straßen wandern, auf denen ich schon gewandert bin – in meinem Innern habe ich schon längst begonnen, mir Fragen zu stellen, die den deinen gleichen; möge das Geringe, das ich habe erkennen können, dir helfen, das zu finden, was jeder von uns allein finden muß!«

2

DER START

Wenn unsere Gedanken nach den großen Wasserscheiden Asiens schwebten, so war Silvaplana im Engadin das Sprungbrett gewesen. Der wirkliche Startplatz aber war der felsige Simplonpaß, von dem aus wir holterdipolter die Gebirgsstraße hinunter und durch die dunkle Schlucht nach Italien fuhren.

Schneefetzen, die in dem milden Wind unsichtbar tauten, betupften die grauen Berghänge. Kein Verkehr, kein Lärm störte uns auf dieser Straße, die noch immer von schmutzigen gefrorenen Schneemauern eingefaßt war. Tausend Meter unter uns bahnte sich wahrscheinlich gerade ein Zug seinen Weg durch den fast zwanzig Kilometer langen Tunnel – wir waren hier oben glücklicher, zwischen der Ebene und dem Hochgebirge, zwischen Süd- und Mitteleuropa, zwischen dem Zauber lateinischer Herzlichkeit und der Schwere germanischer Zurückhaltung, und wir bewunderten diese natürliche Grenze, die keine Politik ändern kann.

Hier wollen wir einen Moment verweilen, bevor wir zum letztenmal zur Schweiz blicken, wir wollen uns ins Gedächtnis zurückrufen, was wir damals, im Jahre 1939, hinter uns gelassen hatten. Unsere Abschiedstour hatte uns nach Paris, London und Berlin geführt, diesen Stadtungeheuern, die betrieb- und lärmerfüllt wie stets waren. Sie bildeten den Hintergrund unserer Welt, einer Welt, die wir dem Untergang geweiht wußten. Bis ›es‹ geschah, mußten wir unseren Weg verfolgen, weil wir ihn für weniger nichtig hielten als jede andere Betätigung.

Paris – vom Konsulat zum Verleger, von der Schneiderin zum Museum, von der Bank zum Ratschläge erteilenden Journalisten, vom Autohändler zur Redaktion, vom Anthropologen zum Kameramann, vom Arzt zur Bibliothek rasend, fand ich mich eines Tages auf den Champs Elysées. Die Blüten der Kastanien schienen in der Morgenluft zu funkeln, der Himmel war hellblau, heiter, klar. Ich bog in die Avenue Montaigne ein, um in mein stilvolles Zimmer im Haus meiner Freunde am Seineufer zu gehen. Ich war glücklich, doch trotz des schönen Augenblicks schnürte sich mir die Kehle zu. Tränen flossen meine Wangen hinunter, unaufhaltsam; tief bewegt, halb geblendet, mußte ich mich auf eine Bank setzen, um mich wieder zu sammeln.

Ganz langsam formte sich dieses übermächtige, unpersönliche Gefühl zum Gedanken – ich litt um Paris. Es kam mir vor, als würden Körper und Geist der Stadt gemartert, verstümmelt, in Stücke gerissen, und als sei ich eine Masse von Mitleid geworden, groß genug, um die ganze geistreiche Kapitale, die ich so gut kannte, einzuhüllen. Was konnte ich angesichts dieses Elends anderes tun als weinen – weinen mit einer Intensität, über die ich selbst staunte.

Nach einer Weile begannen sich normalere Gedanken zu formen; ›es‹ war noch nicht geschehen, und selbst wenn es geschehen sollte, würde es vielleicht nicht ganz so entsetzlich werden … Jetzt wußte ich nur, daß ich von Paris Abschied nahm. Ich mußte mit Inbrunst daran denken, denn ich fühlte, daß ich die Stadt nie wieder so sehen würde, wie sie jetzt war.

Dieses erschütternde Gefühl war durch nichts zu erklären. Noch am letzten Abend hatte mich Blaise Cendrars eingeladen, den Sommer in den Ardennen zu verbringen – er behauptete, es würde keinen Krieg geben. Da er so viel Zeit in der Redaktion des Paris Soir verbrachte und besser Bescheid wissen mußte als gewöhnliche Sterbliche, hatte mich das aufgerichtet. Der charmante, aber schwankende Robert, der im Begriff war, in aller Ruhe ein Bourgeois zu werden, gab vor, er mache sich keine Sorgen um die Zukunft. Hackin war gerade vom Musée Guimet fortgegangen und nach Afghanistan aufgebrochen, als sei das Leben in Europa ganz normal. Wir hatten ausgemacht, ihn im Juli in Begram zu treffen, wo er Ausgrabungen vornehmen wollte, und er hatte sich bereit erklärt, Christina bei sich arbeiten zu lassen.

Mein Freund, Professor Rivet, wurde in gewissen Häusern nicht mehr empfangen, weil er aktiver Sozialist war – ein kleines Zeichen dafür, daß eine böse Kluft breiter wurde, daß die Weltanschauungen nun auch im persönlichen Verkehr eine Rolle spielten. Politische Flüchtlinge waren ausgewiesen worden, Jeans Linkszeitung war verboten, einige seiner Freunde hatte man verhaftet. »Der Faschismus wird lange Zeit herrschen«, erklärte er. Und beim Abschied verkündete er: »Diesmal, das versichere ich Ihnen, steht der Krieg vor der Tür!« Aber das hatte er auch vor Hitlers Einmarsch in Wien gesagt. Was Paul Valéry und Lucien Fabre anbelangte, war ich überzeugt, daß sie sich nicht aus der Fassung bringen ließen, was auch immer geschehen möge. Fabre schien mein unbestimmtes Suchen zu verstehen. »Die rationale Erklärung der Welt führt zu nichts«, sagte er. »Wir bedecken sie mit einem Netzwerk von Meridianen und Breitengraden, aber die umfassen nicht alles und erklären nichts. Gehen Sie und schauen Sie sich noch mehr vom Orient an, da er Sie so sehr anzieht. Vielleicht gibt es in Indien, wo so viele an ein geistiges Leben glauben, ein für Offenbarungen günstiges Klima.«

In London herrschte eine ganz andere Atmosphäre – viel einmütiger, viel frischer als bei meinem letzten Aufenthalt. Es sah aus, als hätten die Engländer die Gewohnheit angenommen, zum Frühstück einen Löwen zu verzehren. Aber ich mußte daran denken, wie im September 1938 sowohl Hilary St. George Saunders als auch Denison Ross den Kopf verloren hatten, als es schien, England könnte bombardiert werden. In der Wut und Verzweiflung ihrer Überraschung hatten sie damals nach dem Leben von sechzig Millionen Deutschen geschrien. Jetzt gestand jeder der beiden ein, daß er, überrumpelt, damals in einem schlimmen Zustand gewesen sei, daß aber nun er und sein Land bereit seien, wieder auf Leben und Tod zu kämpfen.

Steve King-Hall hatte einen klaren Blick für die Geschehnisse, und mir gefiel seine einleuchtende Darlegung, daß moderne Kriege Sintfluten darstellten, die aber eine dauerhafte Regelung der Weltordnung lediglich verzögern könnten. Die Probleme mancher Leute könnten einfacher werden, wenn sie wüßten, daß sie für ihr Land kämpfen müssen, aber die Leiden, die ein Krieg mit sich bringt, wären nutzlos, wenn die Überlebenden nicht wüßten, wofür sie leben.

Frere-Reeves fand Zeit, einmal mit mir im Savoy zu lunchen, obwohl er im Arbeitsministerium beschäftigt war und auch weiterhin bei meinem Verleger arbeitete. Er hat sich eine große Überlegenheit erworben und ist weise geworden – schwatzen oder Witze reißen gehören der Vergangenheit an. Er ging so weit zu behaupten, daß die Krise Europas durch geistige Probleme bedingt sei.

Die Royal Geographical Society hatte aufgehört, erhaben und majestätisch zu sein; in geschäftiger Atmosphäre wurden kostbare Bücher und Dokumente verpackt, um auf dem Land in Sicherheit gebracht zu werden. Als ich die Landkarten für unsere Reise aussuchte, traf ich Eric Shipton und Campbell Secord, die am nächsten Tag nach dem Karakorum aufbrachen. Falls die Afghanen meine Reisepläne vereitelten, sollte ich zu Shipton in sein abgelegenes Tal gehen, dort bei den Schimschalis überwintern und deren Frauen studieren, während er sich mit den Männern beschäftigte. (Zur Zeit unseres geplanten Treffens ereignete sich lediglich, daß ihre Expedition infolge des Krieges zurückkehrte; aber einer von Shiptons Kameraden verkleidete sich und gab sich für mich aus, und ›meine‹ Ankunft wurde in Gilgit gespielt; der dortige politische Agent ließ sich auch für eine Weile täuschen.)

Während der Londoner Tage wohnte ich bei Irene, die Christina im Jahre 1935 in Teheran kennengelernt hatte. Sie hielt es für unklug, eine solche Reisegefährtin mitzunehmen – sie prophezeite, daß wir niemals nach Kabul kommen würden, nicht einmal nach Persien. Ich versicherte ihr, daß sie sich irre, und versuchte sie zu überzeugen, daß ich den ›gefallenen Engel‹ besser kenne als sie. Tief im Innern hatte ich ein unerschütterliches Vertrauen zu Christina und war sicher, daß ich mein doppeltes Ziel – Kabul, und ihr zu helfen – erreichen würde.

Als ich aber mit Audrey in London herumschwirrte – auf der Suche nach einem Schlafsack, der mich warmhalten sollte, wenn ich in Pamir im Schnee nächtigen müßte –, erkannte ich, was für ein Vergnügen es ist, in witziger, von Lebensfreude übersprudelnder Begleitung herumzuziehen. Und ich war nicht mehr so fest überzeugt, daß unsere Unternehmung ein Erfolg werden würde.

Von London flog ich nach Deutschland, um Dr. Herrlich zu sprechen, dessen Buch über Kafiristan (jetzt Nuristan genannt) gerade erschienen war. Die afghanische Regierung hatte seiner Expedition eine Eskorte von einundzwanzig Soldaten aufgezwungen – sie wollte unbedingt verhindern, daß ein Deutscher ein Eingeborenenhaus betrete. Die Soldaten sollten dafür sorgen, daß nichts passierte, was der Welt zeigen könnte, daß der ›Fortschritt‹ noch nicht die höchstgelegenen und verlorensten Täler erreicht hatte. Aber jedesmal, wenn ein Paß zu überschreiten war, gingen die Deutschen als gute Bergsteiger los, ließen die Soldaten hinter sich und gewannen so eine halbe Stunde, in der sie die Kafiren zu studieren vermochten! Jene blondhaarigen Menschen verehrten noch immer den Gott Imra und seine Gemahlin Nurmelli. Einer der Einweihungsriten bestand darin, dem Kriegsgott Gisch eine Ziege zu opfern. Jünglinge und Mädchen tanzen Arm in Arm um das Feuer und singen im Chor. Die Frauen kommen im ›Nurmellihaus‹ nieder, wo sie zwanzig Tage bleiben. Ehe das Abbild eines toten Mannes errichtet worden ist, darf der Hohepriester das Haus des Verstorbenen nicht betreten. In Kafiristan sind auch die Hähne heilige Tiere, die Männer melken die Kühe, und die Leute benutzen Schemel – außer den weit entfernt wohnenden Chinesen sind sie die einzigen Asiaten, die nicht auf dem Fußboden sitzen.

Ich erfuhr, daß Dr. Herrlich die Erlaubnis zur Erforschung Kafiristans zu einer Zeit erhalten hatte, als die afghanische Regierung von Deutschland zu günstigen Bedingungen Maschinen zu erhalten suchte. Da mir solche Tauschmöglichkeiten fehlten, waren meine Aussichten gering, in jenen Tälern behördlich zugelassen zu werden. Dennoch kaufte ich als trotzige Geste Greifzirkel, um die Schädel jener Bergmenschen zu messen!

Die hölzernen Kunstgegenstände, die die Expedition zurückgebracht hatte, fand ich bezaubernd und hochinteressant – Helden zu Pferd, die auf den Friedhöfen die dicken Särge aus Zedernholz bewachen, geschnitzte Figuren mit starren Gesichtern unter spitzen Helmen; Näpfe mit geometrischen Mustern, die an die Südseekunst erinnern.

Auf der Rückfahrt nach Genf machte ich in Zürich halt, wo Christina die Unterstützung eines Museums zugesagt erhalten hatte.

Ich besuchte C. G. Jung in der (sehr törichten) Hoffnung, von ihm Aufschluß über die Mentalität der sogenannten Primitiven zu erhalten. Ich gab ihm eines meiner Bücher – er betrachtete es und fragte: »Warum reisen Sie eigentlich?« Als Antwort kam mir sofort auf die Lippen: »Um Menschen zu begegnen, die friedlich zu leben verstehen.« Aber der große Mann sah mich mißtrauisch an. Machte ich den Eindruck einer ruhelosen Verrückten, die geheilt werden möchte?

Mir wurde ganz schwindlig von dem Wissen, das er an den Tag legte: er analysierte die geheimen Hintergründe dessen, was er den ›Geist des alten weisen Mannes‹ nannte, und beschrieb das Überbewußte, das er systematisch durchforschen wollte. Ich fragte, ob solche Forschungen nicht gefährlich seien. Jahre später, als ich in Indien Yogis kennenlernte, erinnerte ich mich an seine Antwort und den Blick seiner durchdringenden kleinen Augen: »Ja, es ist gefährlich. Aber der, der Wissen erlangen will, muß mit der Möglichkeit rechnen, verrückt zu werden.«

Gebadet im Licht, das der See widerstrahlte, war Zürich in festlicher Stimmung; eine wogende Menschenmenge war begeistert von der klug aufgebauten Schweizer Landesausstellung, die am Vorabend eines neuen Weltkrieges die Eidgenossen daran erinnerte, wofür die Schweiz eintrat, und die jede Fiber ihrer verschiedenen Charaktere zum Schwingen brachte. Blitzartig erinnerte ich mich, daß während der Fête de Juin, dem Festspiel, das 1914 in Genf stattfand, eine ähnliche Atmosphäre geherrscht hatte. Ich sah im Geiste das riesige Freilichttheater, dessen große Bühne als natürlichen Hintergrund den Genfer See hatte; der Chor besang das Leben freier Menschen; besonders herzbewegend wirkte die Szene, in der riesige Barken zur Bühne fuhren, angefüllt mit Schweizer Soldaten in historischen Uniformen, die Genf von Napoleon befreien sollten.

Hatte es vielleicht eine Bedeutung, daß zwei großartige Schaustellungen den Geist der Schweizer vor den beiden Welttragödien anfeuerten? Weshalb, zu welchem Zweck sollte die Schweiz zweimal verschont bleiben? Aber hat das Leben überhaupt einen Zweck? Und wenn ja, wie können wir es wissen? Jeder Gedankengang brachte mich zur gleichen Frage zurück, die ich 1918 zum erstenmal stellte, als ich sah, wieviele Menschenleben irrsinnigerweise verschwendet wurden.

In Genf sagte ich Freunden: »Ich fahre morgen nach Kabul«, so ruhig, als hätte ich gesagt: »Ich gehe nach Paris.« Bedeutete das, daß ich mich von nun an im Orient zu Hause fühlen würde? Ich war auch ganz ruhig, als ich meine Mutter auf dem Flur vor dem Lift zum Abschied küßte, und sie mich noch einmal fragte: »Hast du auch nichts vergessen?«

Aus der Höhe unseres vierten Stockes sah unser Roadster, der auf der dunklen Straße zwischen zwei weißen Felswänden moderner Mietshäuser bewegungslos dastand, klein, kompakt und leistungsfähig aus: vorn an der Motorhaube schmal, hinten breit – er war das Schiff, das uns in weitgespanntem Bogen während vieler Monate Europa und Asien erschließen sollte.

Wir waren unterwegs – wir rollten auf den seidenglatt asphaltierten Straßen, die ich so gut kannte, fuhren über den Pont du Mont-Blanc, folgten den Quais, wo rote Tulpen auf ihren Beeten in der blauen Brise des Sees tanzten.

Es war der 6. Juni 1939.

Obwohl wir ganz und gar auf ein ungeduldig ersehntes Ziel eingestellt waren, fuhren wir langsam von zu Hause fort. Wir sehnten uns nach der öden Weite der persischen Wüste und den scharfen Winden des Hindukusch, und doch waren unsere Augen empfindsam für das ›Pays Romand‹. Wie sehr rührte mich dieses Land, das so abwechslungsreich ist, ein Land, in dem es keine Übertreibung gibt, in dem die Felsenberge so stolz sind, die Gletscher, die von vorüberziehenden Wolken geliebkost werden, so strahlend, wo das hohe Gras mit Gänseblümchen duftet, wo das Wasser so klar, das flüsternde Blätterwerk der Gärten und Parks so dicht ist, die Giebel der alten grauen Häuser so klassisch wirken. Wie unglaubhaft wird einem all das vorkommen, wenn man in den monotonen Ebenen Persiens daran denkt! Eidechsengleiche Städtchen unter den braunen Schuppen ihrer Dachziegel, Gasthöfe, deren beschattete Tische hinter Mauern stehen, die von durchsichtigen kleinen Wellen bespült werden, Terrassen mit goldenen Weinbergen, die die Sonne anbeten! Das ganze Ufer, ein Amphitheater, das den Alpen gegenüber, der flüssigen Arena des Genfer Sees entlang emporsteigt – welcher Überfluß, welche Vollkommenheit, welche Ruhe atmete es aus, als gäbe es unter dem Himmel Deutschlands keine wahnsinnigen Menschen!

Aber wie eine gesättigte Katze, die mit geschlossenen Augen scheinbar in Wonne vergeht, war das Land dennoch auf der Hut; seine zerklüfteten Berge verbargen Wagen, seine Antennen standen bereit, das geringste Omen aufzufangen.

Leb wohl, du sauberes Land, leb wohl, du gewaltiges Rhonetal mit den zitternden Pappeln, wo jeder herunterstürzende Gebirgsbach, an dem wir vorüberkommen, an Orte voller Schönheit erinnert – Arolla, Zermatt, Saas-Fee! Ich drückte mich an einem Wasserfall unter dem Vorwand herum, Probeaufnahmen mit der Kinokamera zu machen, mochte aber nur den Zauber brechen, den die vielen Meilen der glitzernden Straße unter unseren singenden Rädern hervorriefen. Ich wollte deine Erde noch einmal berühren!

3

ITALIEN

Das erste Nachtlager war angenehm.

Als wir aus unseren Schlafsäcken krabbelten, glitzerte unser blaugraues Zelt unter dem diamantenen Puder des Taues. Zart wie gelber Satin zitterten neue Blätter, begierig darauf, von der jungen Sonne bemerkt zu werden. Sogar das Wasser unseres Flüßchens war neu, schneegeboren in den Bergen über Domodossola.

Weder ein Carabiniere noch der Besitzer des Ackers hatten uns festgenommen – wie uns das ein aufgeblasener Jüngling, der sich vor völlig schwarzgekleideten Bauernfrauen wichtig machte, gestern abend prophezeit hatte. Schüchtern hatten sie zugesehen, wie wir unseren Primuskocher anzündeten. Das köstliche Aroma unseres Nescafés rief die Bemerkung hervor, daß es in ihrem Land keinen Kaffee gebe – Kaffee, das Lieblingsgetränk Italiens! Aus seiner Faltenschürze zog ein Mädchen eine Handvoll gerösteten Weizen hervor: »Das ist unser Ersatz dafür!«

Zu Mittag aßen wir am Gardasee. Meine Gedanken wanderten über das Wasser zur ›Villa delle Rupi‹, wohin mich Cecil Lewis für den Sommer eingeladen hatte. Ich zog einen Vergleich zwischen der unsicheren Unternehmung, zu der wir uns aufgemacht hatten, und der friedlichen Arbeit, die ich während einiger Monate an jenem idyllischen Fleck hätte vollbringen können. Liebte ich vielleicht Schwierigkeiten?

Ich fahre nicht gerne Auto, und Autostraßen hasse ich – Autofahren stumpft mich zu einem Automaten ab, der nur noch auf das Surren des Motors zu lauschen vermag. Wir mußten bereits in der Nähe Mailands sein, doch von unserer Billardstraße aus konnten wir nichts sehen, nicht einmal die Felder. Wir begegneten nur wenigen Autos, alles deutsche; die Frauen darin trugen Kopftücher um ihre dicken, von zu viel Wind geröteten Gesichter.

Wir machten an einer Tankstelle halt, die ich wiedererkannte. Zwei Jahre zuvor waren wir aus der Türkei nachts hierhergekommen, wir hatten kein Benzin mehr und kein Geld; wegen der verrückten Devisenvorschriften war es uns nicht möglich gewesen, Lire zu kriegen. Bedrückt fragte ich mich: »Welcher Engel wird uns helfen?« Gegen Mitternacht gab es kaum Verkehr. Als daher ein anderer Wagen vor der Pumpe hielt, wandte ich mich kühn an den Besitzer und machte den Vorschlag, ihm das Geld von Genf aus zu schicken. Er traute uns und kaufte uns Benzin. Als er mir seine Visitenkarte gab, sah ich, daß sein Vorname Angelo war!

Christina saß die meiste Zeit am Volant; entweder litt ihr geübter ›Straßensinn‹ unter meiner Ungeschicklichkeit, oder sie traute mir nicht, solange der Motor unseres neuen Ford noch nicht eingefahren war. Da der Wagen zu ihrem Pflichtenbereich gehörte, erhob ich keine Einwände.

Wir mußten halten, um eine lange Prozession vorüberziehen zu lassen: die Männer in Schwarz, die kleinen Erstkommunikantinnen in Weiß, die Geistlichkeit in leuchtendem Rot, die heiligen Statuen vergoldet auf ihren tragbaren Podesten, dahinter schüchterne Frauen; zertretene Blumen lagen sterbend auf der Straße. Das Bild kam mir sehr orientalisch vor mit diesen müden Menschen, die wie im Traum dahinwandelten; es erinnerte mich an ähnliche Zeremonien, die ich in Indien und in China gesehen hatte.

* * *

Die Zufahrt zum bezaubernden Triest war noch immer entstellt durch riesige Inschriften DUCE, die jeder Mauer an der Küstenstraße aufgepinselt waren.

Wir aßen Eis am Quai, wo braune Fischernetze am Ufer der grünen Adria hingen. Jene beflaggte Piazza wird mir stets in Verbindung mit Worten Christinas in Erinnerung bleiben. In Triest hatte sie sich seinerzeit nach dem Nahen Osten eingeschifft, wo sie Francis heiraten sollte. »Ich hatte das Gefühl, als führe ich in ein Gefängnis. Ich weiß nicht warum«, sagte sie mit verlorener Stimme, »aber ich war zu schwach, meine Freiheit zu retten, als es noch möglich war.« Ich konnte mir vorstellen, wie schwierig es für diese beiden Menschen gewesen sein muß, ein Paar zu werden. Solange man allein ist, unverheiratet, spielt es keine Rolle, ob man sehr ichbezogen ist, aber in einer Ehe ist es fast unausbleiblich, daß der eine für den andern leben muß. Christina lebte nur für ihre Schriftstellerei. Während Francis gelernt hatte, einen Kompromiß zwischen seinem Privatleben und seinem Diplomatendasein zu schließen, vermochte Christina niemals auch nur den Versuch zu solch einer Kraftanstrengung zu unternehmen: sie wußte, daß Gesandtschaften nur Schaukästen des Lebens sind, nur für den Moment angenehm. Francis hatte ihr daher versichert, daß sie ihre Gewohnheiten überhaupt nicht zu ändern brauche.

Sie hatten einander in Teheran kennengelernt, wo er Sekretär bei der Gesandtschaft war und sie mit Archäologen in Ray in der Nähe der Hauptstadt arbeitete. Sie waren gern zusammen, und ihre Diskussionen dauerten oft bis spät in die Nacht. Die Leute begannen zu klatschen; die Frau des Gesandten, bei der Christina wohnte, wenn sie in der Stadt war, riet ihr: entweder Ehe oder Zurückhaltung. Es schien verrückt, ihre Freundschaft aufzugeben, die erstgenannte Lösung schien die einfachere zu sein, obwohl beide entschlossen waren, in jeder Hinsicht weiterhin so unabhängig zu leben wie bisher.

Nach ihrer Heirat war Francis Geschäftsträger geworden – als die Gattin von Nummer eins mußte sie nun bei Empfängen erscheinen. Ungeschickt, mit ungeheurer Anstrengung, versuchte sie – oder glaubte ihr Äußerstes zu versuchen – mit diesem verhaßten neuen Leben fertig zu werden. Sie gab ihre Arbeit auf – wenn der Koch grobe Böcke schießt, verliert das Land, das man vertritt, für lange Zeit an Ansehen! Sie glaubte, daß Francis ihr zunehmendes Elend nicht bemerke, daß er kein Mitgefühl, keine Ermutigung, kein Verständnis zeige, während sie in ihrem Schaukasten keuchte.

Das Leben schleppte sich in einer Atmosphäre latenter Krisen hin. Ein Ausweg wäre vielleicht gewesen, über sich selbst zu lachen, aber diejenigen, die mit großer Intensität leben, sind mit dem Leben so stark beschäftigt, daß sie keine Muße für das Heilmittel des Humors besitzen. Sie lehnte sich auf, erlitt einen Nervenzusammenbruch. Wie sie mir erzählte, hatte sie durch ihre Heirat mit Francis vor allem bezweckt, sich von ihrer Mutter freizumachen. Ich stelle mir vor, daß dieser schlummernde Antagonismus zum Teil auf die Liebe zurückzuführen ist, die Christina in ihrer Kindheit für die großartige Reiterin, ihre Mutter, empfand. Mit den Jahren war dieses Gefühl komplizierter geworden, und es schien, daß weder Mutter noch Tochter sich je an einen anderen Zustand gewöhnen könnten.

»Mutter prophezeite mir eine Katastrophe, wenn ich heiratete, und so kam es auch. Es gab keinen Ausweg, denn Francis’ Familie ist streng katholisch. Es war sehr dumm von mir, immer das Gegenteil von dem zu tun, was meine Mutter mir riet – der Mensch, der mich am besten kennt. Ich hatte keine Hoffnung, mich von ihr frei zu machen, keine Hoffnung, jemals einfach ich selbst zu sein.«

Von da an machte Christina von neuem eine jener Höllen durch, die sie sich selbst zu bereiten pflegte. Einige Andeutungen darüber genügten mir, um zu wissen, daß Hunger und Armut weniger schlimm sind als Gemütskrankheit. Eine schlimme Wunde am Bein und eine quälende Freundschaft mit einem schönen türkischen Mädchen steigerten noch ihre Verzweiflung. Aber eines Tages hatte sie genug und benutzte eine Gelegenheit, den Ärzten und Drogen davonzulaufen – sie ging zu Marjorie in deren Sommercamp hoch oben an den Abhängen des Demawend, wo Pferde frei herumlaufen dürfen, wo der Gebirgsbach kristallklar einherhüpft und wo die Luft strahlt wie die Schneefelder, auf denen sie geboren wird. Die Stille dort flüsterte ihrem gekränkten Stolz zu, daß noch nicht alles verloren sei, daß sie aber, wenn sie wieder leben wollte, sich allein durchkämpfen müßte.

Drei Jahre später machte sie sich endlich frei von ihrem Teheraner Alpdruck, indem sie ein langes Gedicht in Prosa schrieb. Ich hatte sie während ihrer Rekonvaleszenz in Neuchâtel besucht, wo sie eine Beute ihrer Inspirationen und vor den Ärzten verheimlichter Zigaretten und Kaffees war. Dieses schöne, fieberhafte Gedicht erschöpfte sie zwar, flößte ihr aber neues Leben ein. »Man schüttet seine Krankheit in Bücher – wiederholt und stellt die Gefühle dar, um ihrer Herr zu werden«, hatte D. H. Lawrence geschrieben. Das traf auch auf Christina zu.

Jetzt, da sie den Dämon Vergangenheit ausgetrieben hatte und sich wieder jungfräulich fühlte, war sie bereit, von neuem eine Beute des Lebens zu werden. Aber konnte sie nicht ein weniger heftiges Tempo einschlagen? Gab es eine schwache Möglichkeit, daß mein normales Wesen ein wenig ansteckend auf sie wirken könnte?

* * *

Bevor wir Triest verließen, kauften wir uns Hüte – für den Fall einer Panne in der sengenden Wüste. Als wir aus einem Warenhaus mit den neuesten Fünfzig-Rappen-Produkten auf den Köpfen herauskamen, sagte ich, diese Hüte könnten uns sogar dienlich sein, wenn wir zu einer Gartenparty gehen müßten! Aber Christina lächelte nicht darüber – sie hatte den kleinen flachen Wagenschlüssel verloren, unser Ford war plötzlich ebenso unzugänglich geworden wie der Lancia, der neben ihm parkte. Wir blieben ruhig trotz diesem Schlag, dem ersten, den wir gemeinsam erhielten. Mit klopfenden Herzen verfolgten wir behutsam unsere Schritte zurück … wir hatten das Glück, in dem großen Laden unseren Schlüssel auf dem Boden liegend zu finden.

Dann ließen wir leichten Sinnes den Wagen die große Straße hinaufbrausen, die den steinigen Karst bezwingt, eine trübselige graue Ebene, in der Bienenwaben gleich unzählige Höhlen klaffen.

Frühling und eine lange Straße, die offen vor einem liegt, die Freiheit, Tausende von Meilen einherzufahren, nach Belieben zu campieren oder zu essen, nach Laune haltzumachen oder die Route zu ändern – wie herrlich! Nur an eigenem Bord in See zu stechen wäre ein noch größeres Erlebnis, denn das Meer bietet die ganze Unendlichkeit – keine Straßen, die den Kiel zwingen, vorgeschriebenen Bahnen zu folgen. Oder durch die Luft zu fliegen, ein neues Element zu bezwingen, eine Gabe, die bisher nur den Vögeln gewährt war.

Und doch beschlich mich zum erstenmal ein Gefühl, das sich bald zur Gewißheit verdichtete: Das Reisen hatte nicht mehr denselben Zauber für mich wie früher. Seltsamerweise erschien mir die Welt nun weniger real als das, was unser Innenleben gestaltet. Die Besessenheit, die für meine Gefährtin eine solche Qual bedeutete, war dermaßen erbarmungslos, daß sie auf jeden meiner Gedanken abfärbte. So stark vermögen Stimmungswechsel unser Verhältnis zur Umgebung und den Menschen, mit denen wir zusammentreffen, zu beeinflussen.

4

JUGOSLAWIEN

Wir hatten noch nicht lange die Grenze Jugoslawiens überschritten, als uns ein wütender Regen, der die üppig grünen Hügel peitschte, zwang, in einem Dorf am Ufer der geschwollenen Save zu übernachten. Der Metzger Medven vermietete Zimmer an Reisende. Trotz seines slawischen Namens bezeichnete er sich als Deutschen, der die Kultur Österreichs vermißte, wo er gelebt hatte, bis ihn der Anschluß zwang, in sein Geburtsland zurückzukehren. Seine Frau erzählte uns, daß im alten Kaiserreich die jungen Burschen von ihrem Militärdienst im Norden in Herren verwandelt zurückkamen. »Aber heute«, erklärte sie, »schicken die Jugoslawen sie genauso blöd wie vorher zurück. Sie sind noch nicht einmal imstande, aus ihrer Armut hochzukommen.«

Am nächsten Tag sah man auf dem schönen Marktplatz des fröhlichen Zagreb keine Zeichen von Armut. Mit Körben auf den Köpfen und umfangreichen Röcken um ihre wippenden Hüften gingen gesunde Bauernmädchen in bunten Blusen einher. Der ganze Platz war ein Farbenmeer von riesigen Schirmen. In ihrem Schatten häuften sich Berge von saftigen schwarzen Kirschen, roten Erdbeeren, schneeweißen Spitzen, Leder mit Blumenmustern bestickt, und Gemüse, wie wir es monatelang nicht mehr zu Gesicht bekommen sollten.

Wir hörten, daß Hochwasser die Straßen weiter im Süden fortgeschwemmt hatten. In Klostar kam uns dann der Gedanke, einen Spaten zu kaufen, und im selben Laden erwarben wir auch blaue Emailtassen; die meine sollte mir jahrelang treue Dienste leisten, ich koche noch heute meinen Tee darin. Ich erinnere mich noch, wie unscheinbar sie in jenem dunklen alten Laden hing – der letzte Gegenstand, den ich im Frieden in Europa kaufte.

Auf der Straße grüßten uns die Leute oft mit dem Nazigruß. Ein Schulmeister hob mit großer Energie seinen Arm, und seine schnatternde Kinderschar folgte dem Beispiel. Hielt man uns für Deutsche? Oder wenn nicht, wollte man uns gleichwohl schmeicheln? Konnte das bedeuten, daß heutzutage nur noch Deutsche die Straßen benutzten? Oder kam es daher, daß wir noch immer in jenem Teil der Welt waren, in dem die Kaiserin Maria Theresia deutsche Kolonisten angesiedelt hatte? Es gab im ganzen Land nur eine halbe Million Deutsche unter dreizehn Millionen Jugoslawen. Am Abend, als wir in der Nähe von Vukovar am Ufer der Donau campierten, war es wieder ein Deutscher, der mit uns sprach, ein kräftiger, blonder Fährmann. Der Strom war eine gleitende Masse grauen Wassers, ein großartiger breiter Fördergürtel, der Frachtschiffe zu einem fernen Meerhafen führte.

In jedem Land, durch das wir kamen, sahen wir, wie die deutsche Zange zupackte – unterstützt durch ein geschicktes Tauschsystem. Deutschland kaufte die meisten Produkte jener Länder zu einem guten Preis und lieferte dafür zu hohen Ansätzen Maschinen, während inzwischen die Konkurrenten aus anderen Ländern ausgeschaltet worden waren.

Sowie wir in die jugoslawische Ebene kamen, fühlten wir, daß wir uns dem Osten näherten, wo die Erde nicht so eng begrenzt ist wie in Westeuropa. Weite Felder, der ferne Horizont, die dreispurige Straße – in der Mitte die Autostraße, zu beiden Seiten je ein von Karren ausgefahrener staubiger Weg. Die Männer tragen weite Blusen, die Frauen gebauschte Unterröcke, Knaben reiten auf ungesattelten kleinen Pferden, die mongolischen Ponys gleichen, Mädchen arbeiten barfüßig in den Feldern, die Männer tun nichts. Lange Stangen schweben über den Ziehbrunnen, ihre Silhouetten heben sich vom Himmel ab. Würdevolle weiße Kühe mit leierförmigen Hörnern erinnern mich an ihre heiligen Schwestern in Indien.

Vor den Schmieden in russisch aussehenden Dörfern stehen die Pferde, die beschlagen werden sollen; sie sind mit ihren Bauchgurten an einer horizontalen Stange festgebunden – aufgehängt –, genau wie in Turkestan. Jeder Bauernhof hat seinen eigenen Backofen, einen kleinen Lehmtunnel, wie ein muslimisches Grab geformt. Die kyrillischen Inschriften über den Ladentüren erinnern ebenfalls an Rußland, und auch das Doppelkreuz auf den orthodoxen Kirchen. Viele Männer tragen den roten Fez oder eine schwarze Astrachanmütze, und ihre gestickten Westen sind Vettern der afghanischen.

Wir kamen an einer Braut vorbei, die mit Bändern und Blumen geschmückt war, und mir schien, die geometrischen Muster ihrer Schürze glichen dem gestickten Brustlatz, mit denen die Kleider der Brahuifrauen in Belutschistan verziert sind; beide Muster lassen eine starke, fröhliche Vitalität erkennen. Die gleiche Kühnheit und Symmetrie weisen oft die von Nomaden angefertigten Teppiche auf. Diese Muster ›sprechen‹ so direkt zu mir, daß ich das Gefühl habe, sie seien mir längst vertraut.

In Belgrad, wo wir vor einem Restaurant Kaffee tranken, waren die Straßen von Menschen überfüllt, die geduldig auf eine Prozession warteten. Ungekämmte, zerlumpte Jungen mit glänzenden Augen und flink wie Eichhörnchen schlüpften unter den Ellbogen der Erwachsenen durch; russische Bisprisorni wären nicht anders gewesen. Später, als Hunderte von Karren Belgrad verließen, hätte es eine Wanderung der alten Kasaken aus Alma Ata sein können. (Als ich vor zwei Jahren aus Zentralasien hierherkam, fiel mir etwas anderes auf: Kinos, Zeitungen, Trambahnschienen, Straßenpflaster, Telefondrähte.)

In der Dämmerung hielten wir neben einem Zigeunerlager, wo Rauchschwaden über den Karren schwebten. Die Zigeuner umdrängten uns; ihre scharfgeschnittenen Gesichter und kühnen Augen machten gar keinen europäischen Eindruck. Gleich baten sie um Zigaretten: Zigeuner sind die einzigen Menschen, die ich kenne, die mit Würde betteln können; Zigeuner blicken drein, als dächten sie: Ob du mir welche gibst oder nicht, ist mir ganz egal.

Ich fragte mich, warum sie mich immer anziehen – sogar in Turkestan, wo man ja nicht behaupten kann, daß sie einen an ferne Länder erinnern würden. Kommt es daher, daß sie das Symbol dessen sind, was ich zu sein versuche? – unbelastet von Besitz, überall zu Hause, unerhört lebendig, ohne Herren über sich, durch keine Nationalität gebunden. (Ich bezweifle, daß russische und deutsche Zigeuner in den Armeen jener Länder gegeneinander kämpfen würden – wenn sie es täten, wären sie degeneriert.) Die Franzosen nennen sie Bohémiens oder Romanichels, die Ungarn Tschiganis, sie selbst aber nennen sich einfach Romani – ›Menschen‹.

Wir sollten ihnen später als Dschatts in Afghanistan begegnen, als Luris weiter im Süden. In den Geschichtsbüchern steht, daß im fünften Jahrhundert der Sassanidenkönig Bahram Gor die Weißen Hunnen an der Grenze Indiens angriff; dafür erhielt er vom Herrscher Indiens die Provinzen Sind und Makran, und als er nach Persien zurückkehrte, brachte er zwölftausend Luris mit sich, die seinem Volk Musik und Tanz vorführen sollten. Zu Beginn des achten Jahrhunderts wurden Dschatts vom Indus nach dem Tigris gebracht, wo sie sich als Straßenräuber zu einer öffentlichen Gefahr auswuchsen; schließlich wurden sie vom Kalifen Ojayf über die türkische Grenze verjagt, nachdem man sie in Bagdad in ihren Trachten auf Booten ausgestellt hatte, wo sie ihre Instrumente spielten. Durch sie ist der Büffel im Nahen Osten und in Südeuropa eingeführt worden, und bis zum heutigen Tag haben sich in ihrer Sprache Hinduwörter erhalten.

* * *

An diesem Abend konnte man unser Lager ›Zum frischen Heu‹ nennen: um uns duftete alles nach reifem Gras, hoch über uns raschelten die Blätter im Wind. Hinter uns befand sich vor einer Mauer eine Quelle, in der wir badeten, sowie uns die Dunkelheit einhüllte; vor uns, umrahmt von stattlichen Bäumen, breitete sich auf einem Abhang eine Wiese aus – Christina schien aufzuleben.