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Biografie (m)einer Straße


Biografie (m)einer Straße

Grazer Wohnorte im Portrait
Entspricht der 2. durchgesehenen und verbesserten Auflage

von: Heinrich Klingenberg, Urania Steiermark

14,90 €

Verlag: Verlag Klingenberg
Format: PDF
Veröffentl.: 29.11.2023
ISBN/EAN: 9783903284241
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 160

Dieses eBook erhalten Sie ohne Kopierschutz.

Beschreibungen

Biografie (m)einer Straße ist ein mehrfach ausgezeichnetes intergenerationelles Mitmachprojekt der Urania Steiermark. Dreizehn ehrenamtlich tätige Teams erkundeten, erforschten und dokumentierten in den letzten zwei Jahren jeweils eine Grazer Straße (bzw. Platz oderGrätzel) gemeinsam mit den dort Wohnenden und entwickelten auch Zukunftsszenarien.

Dieses Buch beinhaltet Biografien von dreizehn Wohnorten in Graz, beschrieben von Bewohnerinnen und Bewohnern, die einen guten Teil ihres Lebens dort verbracht haben. Sie bieten historische Hintergründe, Interviews und Anekdotisches, Bezüge auf aktuelle Probleme und Initiativen wie auch bezeichnende Zeugnisse aus der Zeit der NS-Herrschaft.

Als Ergebnis liegt ein faszinierendes Panoptikum von dreizehn unterschiedlichen Beiträgenvor, die dennoch eines gemein haben: Sie sind Auseinandersetzungen mit der persönlichen Geschichte, der eigenen Wohnortumgebung und den dort lebenden Menschen aller Generationen.
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Wolfgang Moser und Hemma Wiesler

Biografie (m)einer Straße – Ein intergenerationelles Mitmachprojekt . . 9
Heinrich Klingenberg

Straßenbiografie als innovatives Modellprojekt . . . . . . . . . . . . . . 15
Elisabeth Hechl


Der Andritzer Hauptplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Brigitte Steingruber

Die Fontanestraße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Thomas Geisler und Gareth Dawkins

Die Friedrichgasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Robert Engele

Die Gartenstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Brigitte Dorfer und Irmela Kühnelt

Die Humboldtstraße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Claudia Beiser

Die Hüttenbrennergasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Herta Bacher

Die Kaiserfeldgasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Edgar Sterbenz

Das Schloss Messendorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
Sonja Mittischek

Die Moserhofgasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Heinrich Pfandl

Der Rehgrund in Graz-Kroisbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
Helmut Hönig

Die Theodor-Storm-Straße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Helge Glapa und Heinrich Klingenberg

Der Viktor-Geramb-Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Gunhild Leonhardt

Die Wastlergasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Ursula Sommerauer


Mit der Kamera durch die »Biografie (m)einer Straße« . . . . . . . . . 145
Solveig Haring

Topothek Graz: Unsere Stadt, unsere Geschichte, unsere Erinnerung . . 148
Antonia Nussmüller, Christina Rajković, Robert Tendl


Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Biografische Angaben zu den AutorInnen . . . . . . . . . . . . . . . . 152

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
»Das Mädchen ist vorbeigeflogen, ihre Röcke haben sich gebauscht!« Großmutter hat so viel erzählt, damals in meiner Kindheit in den 1960er-Jahren – »Ich könnte einen Roman schreiben«, sagte sie. Das Mädchen sprang in selbstmörderischer Absicht in den Hof, es war der April 1907 und Großmutter war damals acht Jahre alt. Sie erzählte auch von der Gräfin, die in einer schwarzen, verhangenen Kutsche vorbeifuhr. Es war die Gräfin Ferry, die an einem Augenleiden litt und daher das Tageslicht scheute.
Mit vier Jahren kam die Großmutter in die Wastlergasse ins Grazer Geidorfviertel, das war 1902. Sie sollte dort bis zu ihrem Tod im Jahr 2000 wohnen.
Die Wastlergasse war erst im Entstehen, als die Großmutter mit ihren Eltern und Geschwistern dort einzog. 1900 waren erst vier Häuser bewohnt, es waren die Häuser 3, 5, 6 und 7. Bald war die Wastlergasse komplett, sie besteht heute noch aus den elf Häusern, die damals innerhalb weniger Jahre von Investoren gebaut wurden. Aus den ehemaligen Gärten des Zschockschen Schlössls in der Körblergasse entstand das Geidorfviertel. Der Plan von Graz von Bruno Kopal aus dem Jahr 1843 zeigt einen weißen Fleck zwischen Grabenstraße und Körblergasse, wo sich jetzt dieses Viertel befindet. Schon Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gab es erste Bebauungspläne. Die Stadterweiterung wurde beschlossen. Josef Wastler entwarf 1875 den Zukunftsplan für Graz.
Schon zwei Monate nach dem Tod Wastlers im Jahr 1899 wurde die Gasse auf Antrag der Hausbesitzer nach ihm benannt.
»Da draußen wollt’s bauen?«, wurden meine Urgroßeltern in den 1890er Jahren erstaunt gefragt.
Ein neuer Stadtteil war im Entstehen, sogar mit guter Verkehrsanbindung. Ab 1899 gab es die »Elektrische«, zuvor existierte die Pferdebahn. Der ›2er‹ war der Anschluss zum Bahnhof und in die Stadt. 1971 wurde der 2er eingestellt, weil die Hauptverkehrsstraßen schienenfrei verlaufen sollten. Jetzt gibt es sogar Überlegungen, den Zweier wiederauferstehen zu lassen.
Die Ziegel für den Hausbau bekamen die Urgroßeltern zur Hochzeit geschenkt. Die Eltern der Braut Josefine waren die Realitäten- und Ziegeleibesitzer Kraxner aus St. Peter. Urgroßmutter Josefine lebte von 1872–1960.
1894 heiratete Josefine den Kaufmann Josef Schneider und 1898, im Geburtsjahr meiner Großmutter, kauften sie »da draußen« den Grund.
Als die Urgroßmutter und Erbauerin unseres Hauses starb, war ich eineinhalb Jahre alt. Kurz lebten wir sogar zusammen in einer Wohnung. Was später an sie erinnerte, war das »Uromizimmer«. Es wurde unser Kinderzimmer. Die Einrichtung blieb. In Uromas durchgelegenem Bett mit der dreiteiligen Rosshaarmatratze schlief meine Schwester. Am großen quadratischen Tisch machten wir unsere Hausaufgaben. Den verschnörkelten Schrank mit dem Spiegel stellten wir mitten in den Raum um das Zimmer zu teilen. Ich hatte ein Joka-Bett, das war die einzige Neuanschaffung. Angeschafft wurde überhaupt selten etwas. Die Kleidung für mich wurde zu groß gekauft und getragen, bis sie bei der jüngsten Schwester ein »Supermini« war. Auch beim Essen war man sparsam. Erdäpfel wurden eingelagert und Äpfel gab es auch immer, ein Relikt aus Notzeiten, von denen es im 20. Jahrhundert reichlich gab. Als Kinder hörten wir immer, wie gut es uns ginge, weil wir keinen Krieg miterlebt hätten…
Das Eckhaus Wastlergasse 2 ist nach wie vor im Besitz der Erbauerfamilie, es leben Nachkommen der vierten, fünften und sechsten Generation darin. Ich bin dort aufgewachsen. Eine Wohnung im Haus ist seit über hundert Jahren an ein und dieselbe Familie vermietet.
Die Wohnungen in unserem Haus waren mit WC, Fließwasser, Badezimmer mit kupfernem Badeofen, Gasherd und Gasbeleuchtung ausgestattet. In jedem Zimmer gab es einen Kachelofen, jede Wohnung hatte ein Dienstbotenzimmer.
Die Urgroßeltern betrieben an der Ecke zur Bergmanngasse das Geschäft Delikatessen Schneider. In diesen Räumlichkeiten ist seit 2015 der Grätzeltreff angesiedelt. In dreien der vier Eckhäuser befanden sich Geschäftslokale. In den 60er-Jahren gab es noch alle drei Lebensmittelgeschäfte in der Wastlergassse und zusätzlich eine kleine Wäscherei im Haus Nr.10.
Die Fassaden der Häuser bestehen bis heute unverändert. Kein einziger Bombentreffer war zu verzeichnen. Einzig am Haus Nr.4 ist die ursprüngliche Neo-Renaissance-Fassade irgendwann einer Renovierung zum Opfer gefallen.
Jetzt ist die Bergmanngasse eine Hauptverkehrsader und das hölzerne Eingangsgebäude des Margaretenbades, das seit 1928 die Gasse gekrönt hatte, ist durch einen überdimensionierten Betonklotz ersetzt. Die Gasse selbst schaut noch gleich aus wie damals, bis auf die vielen Autos, die dort parken.
Aber die Bewohner sind heute ganz andere… oder doch nicht? Die Fassaden sind in unterschiedlichen Stilrichtungen gestaltet: Späthistoristisch, Neo-Renaissance, Neo-Barock, Neoklassizistisch, Jugendstil, altdeutsch-gotisierend. Unser Haus, die Nr.2, wurde von Josef Bullmannd. J. im Jugendstil geplant. Gebaut wurde in Häuserblöcken. Bis auf die Fassaden sind die Häuser einander ähnlich. Das ist besonders hofseitig erkennbar. Im ganzen Geviert sind die gleichen Klopfbalkone zu sehen. Auch die Grundrisse der Wohnungen ähneln einander. Jede Wohnung hat ein Dienstbotenzimmer. In unserer Wohnung im 1. Stock, der Beletage, der Hausherrenwohnung, befindet sich in einem Zimmer noch immer die Glocke für das Dienstmädchen.
Großmutter erzählte gern von ihrer schönen Kindheit in »Friedenszeiten«, die Familie wurde von einer Köchin, einem Stubenmädchen, einem Kindermädchen und einem Wäschermädl betreut.
Investoren bauten dieses Viertel auf und suchten sich genau die passenden Mieter aus. Fabrikanten und Gutsbesitzer waren unter den Mietern. Höhere Beamte und pensionierte Offiziere, nicht unbedingt vermögend, aber reich an guten Manieren und Konventionen, aus allen Teilen der Monarchie siedelten sich hier an. Graz wurde zurecht ›Pensionopolis‹ genannt! Das Gemeinsame war der Lebensstil, der hier gepflegt wurde. Man hatte Personal und übte sich in kultiviertem Müßiggang. Während das Dienstmädchen und die Köchin werkten, promenierte man elegant gekleidet im nahegelegenen Stadtpark. Nachmittags traf man sich im Café Humboldt. Abends besuchte man eine der damals zahlreich angebotenen Theatervorstellungen. Das neue Opernhaus wurde 1899 eröffnet. Der Neubau der Universität brachte auch viele Studenten in die Wastlergasse, die als Untermieter, auch ›Zimmerherren‹ genannt, unterkamen.
– »Nette Damen in der Wastlergasse und was von ihnen blieb«, Ursula Sommerauer

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