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ROLAND ERNST

Der Vollstrecker

Johann Reichhart. Bayerns letzter Henker

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Originalausgabe März 2019

Allitera Verlag

Und wenn du lange in einen Abgrund blickst,
blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Friedrich Nietzsche

Inhalt

Nur am Rande der Geschichte?

Todesstrafe – die Lüsternheit des Boulevards

Onkels Stolz und Neffes Schweigen

Die eleganten Stars der Vollstreckung

Berühmte Opfer

Standpunkte eines Vollstreckers

Vorleben

Eine aussätzige Familie

Eine Schule fürs Leben

Verschüttet

Revolution

Vollstreckt

Pumuckl und Hakenkreuz

Sein erstes Mal

Eine Art Handwerk

Kurze Geschichte der Todesstrafe und ihrer Vollstrecker

Das Glück des Anderen

Mädchenglück und Frauenliebe

Jagd auf einen Außenseiter

Erregungen in den Niederlanden

Neue Verhältnisse mit alten Bekannten

Brudermörder oder unschuldig?

Rückkehr in ein anderes Land

Karl Alt – Pfarrer und Beobachter

Neue Konjunktur

Karl Valentins Witz

Stelldichein eines Hinrichtungsvoyeurs

Im Vollrausch

Ein Mann, der gerne hilft

Ein Unbekannter, einer von vielen

Hinrichtung einer Leiche?

Amboss-Gefühle oder Die Bestie von Aubing

Roemer und Reichhart

Die sieben Vollstrecker des »Dritten Reichs«

Ogorzow – Mann aus dem Dunkel

Eine neue Liebe, doch kein neues Leben

Die Geschäfte eines Akkordarbeiters

Dienst nach Vorschrift

Weiße Rose

Die vier Tage danach

Die Hampels

Dem Henker geweiht

Ende und Anfang

Wieder im Dienst

Die komplette Absicherung

Nichts als ein paar schöne Tage im Mai

Wie baut man einen guten Galgen?

Die lange Suche nach der Schuld

Selbstmord, Parfums und Hundezucht

Will Berthold oder die große Rechtfertigung

Die flüchtigen Schatten der Vergangenheit

Leben im toten Winkel

Unbegrenzte Fassungslosigkeit

Dank

Nur am Rande der Geschichte?

Sicher, Johann Reichhart (1893–1972) ist eine Nebenfigur in der deutschen Geschichte, aber die Geschichte besteht aus vielen, eher randständigen Biografien, die ihren Lauf mitbestimmen. Sie ist nicht allein das Produkt von Berühmtheiten. Ohne die vielen Namenlosen wäre sie unmöglich – jene, die in Revolutionen mitlaufen, Reformen mittragen oder aber aufgrund eines Berufs oder einer Berufung ein Rädchen in der Geschichte wurden. Dass Johann Reichhart Henker wurde, war kein unausweichlicher Unfall innerhalb seiner Biografie.

Aber war es Zufall, dass er mit seinem Handeln Teil der deutschen Geschichte wurde? Es war kein »Lojka-Effekt«, nach dem jeder zufällig die Weltgeschichte beeinflussen könnte. Benannt ist dieser Effekt nach Leopold Lojka (1886–1926), jenem Chauffeur des Automobils, in dem der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand (1863–1914) am 28. Juni 1914 in Sarajewo einem Attentat zum Opfer fiel und infolgedessen sich willkürlich und außerordentlich zielgerichtet der Erste Weltkrieg entwickelte. In dem Fall war es eben nichts weiter, als ein nichtgedrücktes Gaspedal: Der Wagen blieb für einen Moment stehen und gab dem Attentäter Gavrilo Princip (1894–1918) damit die Möglichkeit, aus unmittelbarer Nähe auf den Thronfolger zu zielen und ihn und seine Frau zu töten.

Johann Reichhart rutschte zwar – wie Leopold Lojka – als völlig Namenloser in das Getriebe der deutschen Geschichte, aber in seinem Fall war es weniger Zufall als vielmehr seine Position und sein Beruf. Es war kein Gaspedal, das er nicht drückte, sondern er zog bewusst einen Sperrhebel, der das Fallschwert auslöste. Damit richtete er unter anderem Menschen hin, die für eine andere Entwicklung Deutschlands und der Welt nötig gewesen wären. Dazu gehörten die Geschwister Hans und Sophie Scholl sowie andere Mitglieder der Weißen Rose, seine prominentesten Delinquenten. Sie gehörten sicher zu jenen Widerstandskämpfern gegen den Nationalsozialismus, die ein ähnliches Deutschland und Europa wollten, in dem wir heute leben.

Reichhart machte keine Weltgeschichte, aber er nahm an ihr teil – als Diener drei verschiedener Systeme, die jeweils das Vorgängersystem vernichteten. Die Weimarer Republik wurde durch das »Dritte Reich« und das »Dritte Reich« durch die alliierten Besatzungsmächte hinweggefegt. Aber eines hatten sie alle gemeinsam: Johann Reichhart war in allen Systemen Henker – eine kleine Vollzugsmacht für alle Mächte, gewissermaßen ein Saisonarbeiter der Vollstreckung.

Dabei begann Reichharts furchtbare, blutige, rächende und sühnende Hinrichtungstätigkeit nicht einmal im »Dritten Reich«, sondern bereits 1924, als Adolf Hitler noch – sehr luxuriös – mit einigen Gefolgsleuten seine Haftstrafe in Landsberg am Lech absaß. Dort diktierte er seinem Sekretär Rudolf Heß Mein Kampf, als Johann Reichhart mit gerade einmal 31 Jahren 1924 von seinem Onkel Franz Xaver Reichhart das Amt des sogenannten Nachrichters übernahm, wie dieser blutige Beruf offiziell hieß. Es war eben jenes Buch, in dem die rassistisch und menschenverachtend ausgeklügelte Ideologie radebrechend zusammengefasst wurde, die nicht einmal ganze zwei Jahrzehnte später Reichhart massenhaft Hinrichtungsaufträge und damit vor allem den langersehnten Wohlstand bescheren sollte.

Nebenbei führte Reichhart noch eine Bahnhofsgaststätte in Neubiberg bei München, die er aber bald aufgeben musste, weil er im betrunkenen Zustand oft damit prahlte, dass er so schnell wie kein anderer einen Menschen köpfen konnte.

Weil aber das vom bayerischen Justizministerium gestellte Salär von 150,- Reichsmark pro Tötungsakt nicht zum Leben reichte, war Reichhart auch mal Fuhrunternehmer oder Gemüsehändler oder radelte als Verlagsvertreter durch Oberbayern, um ein Erziehungspamphlet mit dem grotesken Titel Von Mädchenglück und Frauenliebe unter die Leute zu bringen. Geschrieben hatte es ein katholischer Priester mit dem vertrauenerweckenden Namen Alphons Maria Rathgeber (1888–1964), der neben seiner seelsorgerischen Tätigkeit verschiedene volkstümliche Schriften zu Glaube und Erziehung veröffentlichte. Sie trugen so verheißungsvolle Titel wie Beichte würdig! (1919) oder Du Mägdlein, höre (1924).

Auch nach dieser Episode blieb Johann Reichhart dem Menschen und seinem Wohlbefinden auf seine Weise treu: In den Niederlanden brachte er Selbstheilungsprozesse fördernde Hochfrequenzapparate unter die Leute, um seine Familie in München damit finanziell über die Runden bringen zu können. Denn noch waren im Deutschen Reich zu wenige Todesurteile zu vollstrecken, von denen man hätte hauptberuflich leben können. Bei Bedarf wurde Reichhart per Telegramm nach München beordert, um wieder eine Hinrichtung auszuführen. Mit seinen drei Gehilfen richtete er pro Jahr nur maximal vier zum Tod Verurteilte hin.

Todesstrafe - die Lüsternheit des Boulevards

Die gesetzlich vorgeschriebene Höchststrafe kam im Deutschen Reich nach 1871 nur bei Mord zur Anwendung. Nicht selten wurden Verurteilte begnadigt. Auch die SPD hatte in der Weimarer Republik nicht die Todesstrafe abgeschafft — auf ihrem Parteitag in Erfurt 1891, fast 30 Jahre zuvor, hatte sie noch deren Abschaffung gefordert. Die Todesstrafe war fester Bestandteil der deutschen Staats-und Werteordnung. In Bayern war sie in der Landesverfassung bis 1998 festgeschrieben, in Hessen sogar noch 20 Jahre länger. Dass niemand hingerichtet wurde, schreibt das Grundgesetz, das mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 in Kraft trat, im Artikel 102 vor: »Die Todesstrafe ist abgeschafft«. Nationales Recht erging damit vor Landesrecht.

In der DDR wurde die Todesstrafe erst 1987 abgeschafft. Dort hatte 1981 die letzte Hinrichtung durch Genickschuss stattgefunden. Noch viel später rang sich die katholische Kirche zur Abschaffung der Todesstrafe durch. Erst am 3. August 2018 beschrieb die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« unter der Überschrift Katholische Kirche rückt endgültig von der Todesstrafe ab den Wendepunkt innerhalb eines mehr als 20-jährigen Umdenkungsprozesses: »In einem revidierten Abschnitt des Katechismus, der am Donnerstag in Rom veröffentlicht wurde, heißt es, die Kirche lehre ›im Licht des Evangeliums, dass die Todesstrafe unzulässig ist, wenn sie gegen die Unantastbarkeit und Würde der Person verstößt.‹«

Papst Franziskus selbst hatte die Todesstrafe bereits 2015 geächtet. Verwunderlich ist, dass bis weit in die Mitte des 19. Jahrhunderts Vatikanstadt selbst noch Scharfrichter beschäftigte. Die letzte Exekution fand am 10. Dezember 1868 statt: Papst Pius IX. ließ einige Spione hinrichten, obwohl sogar der italienische König Vittorio Emanuele II. inständig um das Leben der zum Tod Verurteilten gebeten hatte.

In Frankreich wurde noch im 20. Jahrhundert öffentlich hingerichtet. In Deutschland fanden die letzten öffentlichen Hinrichtungen Mitte des 19. Jahrhundert statt. Sie waren für die Bevölkerung ein enormes Spektakel. Ein solches Volksfest beendete 1939 in Frankreich die öffentliche Exekution. Grund dafür war ein Massenauflauf in den frühen Morgenstunden des 17. Juni 1939 in Versailles. Hingerichtet wurde ein deutscher Serienmörder, der in Frankreich sechs Morde begangen hatte: Eugen Weidmann (1908–1939). Bereits am Vortag waren rund 10 000 Schaulustige in den Ort südlich von Paris gekommen. Die Gaststätten hatten die ganze Nacht geöffnet, damit eine angetrunkene, ausgelassene Gesellschaft um 4.32 Uhr zuschauen konnte, wie Weidmann geköpft wurde.

Übrigens war unter den Schaulustigen auch ein 17-jähriger Engländer, der mit einem Freund eigens aus Paris angereist war, um diesem blutigen Ereignis beizuwohnen. Später wurde er einer der berühmtesten Dracula- Darsteller. Sein Name: Christopher Lee. Von dieser Hinrichtung gibt es – trotz des damals erlassenen Film- und Fotografierverbots – einen Amateurfilm, den man heute noch im Internet sehen kann. Dieser Film inspirierte übrigens die Hinrichtungsszene im Spielfilm Mathilde – Eine große Liebe aus dem Jahr 2004.

Weidmann war ein schöner Mann gewesen, man könnte fast sagen: ein subversives Sexsymbol. Später wurde erzählt, dass anwesende Frauen Taschentücher in das Blut des Killers getaucht hätten. Diese Erzählungen wiederum benutzte der Filmregisseur Claude Chabrol 1960 in einer Szene für seinen Film Les bonnes femmes, der in Deutschland allen Ernstes unter dem Titel Die Unbefriedigten ins Kino kam.

Selbst der hochkultivierte Valéry Giscard d’Estaing, Frankreichs Präsident 1974 bis 1981, ließ noch 1988 in seinen Macht und Leben betitelten Memoiren so illustren Kapiteln wie Über die Gesundheit von Staatsmännern, Wie Entscheidungen getroffen werden und Frauen in der Politik in seinem 15 Seiten umfassenden Kapitel Die Todesstrafe den Leser wissen: »Die Todesstrafe kann jedoch erst vollstreckt werden, nachdem der Staatspräsident ein vom Anwalt des Verurteilten eingebrachtes Gnadengesuch abgelehnt hat.« Es lag also allein in Giscards Hand, ein Gnadengesuch zu bewilligen oder abzulehnen. Das erste Mal lehnte er es im Juli 1976 ab. Eigentlich wollte er zum Zeitpunkt der Vollstreckung in eine Kirche gehen, um für den Delinquenten zu beten. Um jedoch der Presse damit keinen Gefallen zu tun, blieb er im Élysée-Palast. »Um vier Uhr morgens war es noch dunkel. Kein Laut in den Straßen. Ich zog die Vorhänge zurück. In der Ferne sah ich städtische Straßenreinigungsfahrzeuge. In meinem schweren, noch schlaftrunkenen Kopf versuchte ich, die Abfolge der Ereignisse zu rekonstruieren: die Zelle, die Flure, den Hof. Plötzlich bemerkte ich, dass der Himmel grau geworden ist, ein Lichtstreifen erscheint über den Bäumen. Ich schaue auf den Wecker. Sechs Uhr. Bin ich wieder eingeschlafen? Die Hinrichtung muss bereits erfolgt sein. Ich bekreuzige mich.«

Bedenkt man das alles, verwundert es natürlich nicht, dass es gegen die Todesstrafe in der Weimarer Republik erst recht keinen nennenswerten Widerstand gab. Nachrichter waren zwar als dubiose, zwielichtige Persönlichkeiten verschrien, deren abenteuerliche Geschichten füllten aber gern die Boulevard-Zeitungen. Sie selbst sahen sich einer höheren Gerechtigkeit verpflichtet. Der Fantasie der Journalisten wurde jedoch umso stärker Nahrung gegeben, da Johann Reichhart – einziger Nachrichter in Bayern – in seinen Arbeitsverträgen immer eine Verschwiegenheitsklausel hatte und zeitweise vielleicht dadurch angestachelt, Reporter regelrecht Jagd auf ihn gemacht hatten. Über seine geheime Tätigkeit als Vollstrecker durfte er kein Sterbenswörtchen verlieren – aber genau das fachte umso mehr die Fantasie der schreibenden Zunft an.

Ihr musste sich Reichhart bis zu seinem Lebensende immer wieder stellen. So erzählte er 1958 beispielsweise dem unter dem Pseudonym Stefan Amberg schreibenden Autor Will Berthold (1924–2000) viele Episoden aus seinem Leben, die dieser dann im erstmals 1984 erschienen Tatsachenroman Vollstreckt. Johann Reichhart, der letzte deutsche Henker verarbeitete.

Er nutzte aber auch in Abständen von rund zwei Jahrzehnten dem Journalisten Erich Helmensdorfer (1920–2017) als Sprachrohr, wenn er sich zu seiner Tätigkeit äußerte. Ihm gestand er 1964 auch, dass er inzwischen ein Gegner der Todesstrafe geworden war: »Ich tät’s nie wieder.« Helmensdorfer selbst wurde später einer der ersten deutschen Fernsehshowmaster. Die Sendung von Reichharts Vertrauensmann hieß ironischerweise Alles oder nichts.

Onkels Stolz und Neffes Schweigen

Als 1904 Johann Reichharts Tante Anna mit 79 Jahren starb, trauerte der – nach der Todesanzeige vom 10. Juni 1904 – 26 Jahre jüngere Ehemann als der »untröstliche Gatte, Frz. Xav. Reichhart, kgl. Nachrichter«. Johann Reichharts Onkel Franz Xaver war stolz auf seinen Beruf als Nachrichter und nannte ihn in der Öffentlichkeit. Als Franz Xaver Reichhart 30 Jahre später starb, stand »in tiefster Trauer und im Namen aller Hinterbliebenen« Johann Reichharts Name ohne jede Berufsbezeichnung unter der Todesanzeige seines Onkels vom 13. Juli 1934.

Franz Xaver Reichhart war eine anerkannte, tiefgläubige, sehr beliebte Persönlichkeit gewesen. 1913 ließ er – nach zahlreichen vollzogenen Hinrichtungen – die Ölbergkapelle in der Nähe des oberpfälzischen Falkenstein errichten und er war mit den Eltern Karl Valentins befreundet. Valentins Vater, Johann Valentin Fey, war übrigens Fuhrunternehmer – ein Beruf, aus dem viele Gehilfen der Nachrichter rekrutiert wurden. Ob Valentins Vater selbst Franz Xaver Reichharts Gehilfe war, ist nicht bekannt. Bekannt ist allerdings, dass Jahrzehnte später ein Gehilfe Johann Reichharts seinen Friseursalon schräg gegenüber von Karl Valentins Kabarett »Ritterspelunke« im Färbergraben 33 in der Münchner Innenstadt hatte.

Die eleganten Stars der Vollstreckung

Dass die Nachrichter wie kaum eine andere Berufsgattung mit einem immerwährenden, hysterischen Sensationsblick betrachtet wurden, hatte einer von ihnen bewusst provoziert, um damit zusätzlich zu Geld zu kommen. Es war der Preuße Julius Krautz (1843–1921), der heute noch als einer der bekanntesten Scharfrichter in der deutschen Geschichte gilt. Krautz setzte den ästhetischen Maßstab, an dem sich seine Nachfolger in ganz Deutschland orientierten.

Bei der Vollstreckung trug er einen eleganten Frack, Zylinder und weiße Handschuhe. Eine Fotografie zeigt Johann Reichhart in jüngeren Jahren ebenfalls in dieser Garderobe. Das Bild wirkt beinahe wie eine UFA-Starpostkarte, denn Reichhart hält lässig seine Zigarette in der Hand ähnlich wie der Schauspieler Harry Piel (1892–1963), der große deutsche Actionstar der 192oer-Jahre.

Diese selbstbewusste Pose verwundert nicht. Reichhart war sich seiner Wirkung bewusst. Er fühlte sich als ausführender Teil der Justiz. Seine selbst gewählte Kleidung war eine Uniform der Eleganz und der Gegenwelt, vor allem aber war sie auch der sichtbare Ausdruck einer stolzen Bürgerlichkeit eines Mannes, der vermeintlich in den Diensten der Gerechtigkeit stand.

Gleichzeitig zeigt sie einen enormen Widerspruch auf: Obwohl durchaus fein gekleidet war, stand Johann Reichhart bei seiner Arbeit bisweilen knöcheltief im Blut. Trennte das Fallschwert den Kopf vom Rumpf des Delinquenten, schossen im gleichen Augenblick rund 1,5 Liter Blut ins Freie. In den Hinrichtungsräumlichkeiten stank es bestialisch.

Berühmte Opfer

Reichharts Name ist vor allem mit der Hinrichtung der Mitglieder der Weißen Rose verbunden und dadurch nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt geworden. In den 1950er-und 1960er-Jahren betonte er immer wieder, wie beeindruckend tapfer Sophie Scholl vor ihn getreten sei. Für Reichhart war sie fast eine Heldin – nicht wegen ihrer moralischen Haltung, sondern wegen ihrer Tapferkeit angesichts des Todes. Wie mutig sie vor die Fallschwertmaschine getreten sei, erzählte Reichhart immer wieder und brüstete sich bisweilen damit, die bekannte Widerstandskämpferin hingerichtet zu haben.

Aber diese prominenten Namen waren nur Fußnoten in der Geschichte dieses Henkers. Einen Tag nachdem die Geschwister Scholl in München hingerichtet wurden, war Reichhart bereits in Wien tätig und köpfte an einem Tag 20 Menschen. Das sind Namen, die heute keiner mehr kennt und damals keiner kannte.

Lange Zeit war ebenfalls nicht bekannt, dass Reichhart in Vertretung für Wilhelm Röttger das Ehepaar Otto und Elise Hampel köpfte, das Vorbild für Hans Falladas mehrfach verfilmten Roman Jeder stirbt für sich allein.

Mit dem Zusammenbruch des »Dritten Reichs« hörte Reichharts Tätigkeit nicht auf: Für die amerikanische Besatzungsarmee in Bayern hängte er noch über 150 Nationalsozialisten, darunter auch Personal aus dem Konzentrationslager Dachau – ausgerechnet in Landsberg am Lech, wo Hitler Mein Kampf geschrieben hatte und täglich vor den Mitgefangenen und dem Gefängnispersonal seine Reden hielt. Im Oktober 1946 unterstützte er den US-Henker John Woods beim Bau des Galgens, mit dem später die Nürnberger Kriegsverbrecher gehängt wurden. Es ist übrigens ein Gerücht, dass Woods bei der Reparatur eines elektrischen Stuhls ums Leben kam. In seiner Ausgabe vom 7. August 1950 meldete das »Time Magazin«, dass er auf der Pazifikinsel Eniwetok durch einen Stromschlag starb: Er wollte eine Beleuchtung reparieren.

Standpunkte eines Vollstreckers

Mit seinen weit mehr als 3150 Hinrichtungen war Johann Reichhart einer der »meistbeschäftigsten« Henker überhaupt. Ein Mann, der eigentlich Tanzlehrer werden wollte. Schuld oder Verantwortung hat Reichhart für das alles nie empfunden. Er selbst sah sich als Vollstrecker, der kein Urteil sprach, sondern es eben nur die Todesstrafe ausführte. Das war die moralische Legitimation des tiefgläubigen Katholiken.

Er selbst gab einmal zu Protokoll: »Ich möchte noch betonen, daß ich immer den größten Wert darauf gelegt hatte, daß die Vollstreckungen human und schnell durchgeführt werden. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß es eine höhere Macht gibt, vor der ich mich verantworten muß, ob ich meine Hinrichtungen richtig gemacht habe. Daß ich es richtig gemacht habe, können alle Gefängnisgeistlichen und die Aufseher bestätigen.«

An der Frage, ob Johann Reichhart schuldig in einem moralischen oder strafrechtlichen Sinne war, haben sich bereits seine Zeitgenossen abgearbeitet. Reichhart war die perfekte Projektionsfläche. Aber was war Johann Reichhart tatsächlich für ein Mensch? Der spätere Polizeihauptkommissar Johann Dachs erlebte ihn als 16-Jährigen 1944 aus nächster Nähe. Fast 50 Jahre später erinnert er sich: »Er war elegant gekleidet und wirkte auf mich sehr freundlich und höflich, ganz anders, als ich mir damals einen Scharfrichter vorgestellt hatte. Aber es war auch ein sehr eigenartiges Gefühl, einem Mann gegenüberzustehen, der zu diesem Zeitpunkt bereits Tausende von Hinrichtungen mit dem Fallbeil vollzogen hatte.« Dachs ist nicht der einzige, der sich an einen höflichen Mann erinnert. Auch das eigenartige Gefühl ist verständlich, ihm gegenüberzustehen, allerdings ist sehr unwahrscheinlich, dass Dachs wusste, ob Reichhart wirklich »Tausende von Hinrichtungen« ausgeführt hatte. Die Hinrichtungen und die genauen Zahlen waren streng geheim. Allenfalls Gerüchte mag es gegeben haben.

Es gibt einen Film, der Johann Reichhart zeigt, wie er im Mai 1946 in Landsberg hängte. Man sieht einen ernsthaften, streng und konzentriert wirkenden Mann im dunklen Anzug, mit Fliege und weiß gestärkten Hemd. Zugriff gibt es auf die Pressefotos, Aktenbestände, die sich einerseits vor allem um seine Entnazifizierung drehen und andererseits um eine Ermittlung wegen des Tatvorwurfs Mord Mitte der 1960er-Jahre.

Ein Tondokument ist nicht erhalten. Selbst in den Spielfilmszenen wie beispielsweise in Sophie Scholl – Die letzten Tage in denen er, dargestellt von dem großartigen Schauspieler Johannes Herrschmann, auftritt, ist er der große, asketisch wirkende Vollstrecker.

Das Familiengrab auf dem Münchner Ostfriedhof ist erhalten und wird gepflegt. Nicht selten besuchen es Touristen.

Sein Leben ist Vergangenheit – aber war er ein Täter oder ein Mitläufer, wie ihn jede Gesellschaft letzten Endes hat? War er eine Stütze der Gesellschaft oder ein Mann, der mit seiner namenlosen, unauffälligen Existenz das diabolische Grauen des »Dritten Reichs« erst ausmachte? War er ein gefühlloser Saisonarbeiter strafrechtlicher Durchsetzungsfähigkeit, der in jedem politischen System, das als Höchststrafe den Tod vorsieht, seinen im wahrsten Sinn des Wortes rechtmäßigen Platz hat?

Vorleben

Kein Leben ohne Herkunft. Keine Herkunft ohne die Bürde der Vergangenheit. Was Menschen prägt, stellte für Johann Reichhart zeitlebens eine biografische Falle dar: Er selbst schrieb es einerseits einer Art »Familienpflicht« zu, dass er Scharfrichter geworden war. Andererseits war er durch seine familiäre Prägung ein tiefgläubiger Katholik, der Hinrichtungen so human wie möglich ausgeführt wissen wollte und eigentlich aus innerer Überzeugung – anders als die Amtskirche – hätte er die Todesstrafe ablehnen müssen.

Sein Leben bis zu seiner ersten Hinrichtung im April 1924 hatte ein Vorleben, das beinahe typisch für einen Mann seiner Herkunft und seiner Zeit ist. Und doch unterschied es sich in einigen Punkten gravierend von anderen Lebensläufen seiner Zeit. Für ihn selbst erlöste es ihn scheinbar von jeglichem Schuldvorwurf.

Geboren wurde Johann Baptist Reichhart, so sein voller Name, am 29. April 1893 in dem winzigen Ort Wichenbach in der Oberpfalz, das heute zu Wörth an der Donau gehört. Der Gegend ist eine Idylle nicht absprechen, zu Reichharts Kinderzeiten war sie abgelegen.

Bis Regensburg sind es rund 25 Kilometer. Sowohl 1174 als auch 1189 soll sich Kaiser Friedrich Barbarossa zu Beginn des Dritten Kreuzzugs in Wörth aufgehalten haben. Über seine Herkunft gab Johann Reichhart 1965 – fast 20 Jahre nachdem er das letzte Mal hingerichtet hatte – knapp, aber fast entschuldigend zu Protokoll: »Seit ca. 300 Jahren stammen die Scharfrichter in Bayern aus meiner Familie. Der letzte Scharfrichter in Bayern vor mir war mein Onkel Franz Xaver Reichhard [sic!]. Dieser Onkel hat mich mehr oder weniger gezwungen, das Amt eines Scharfrichters zu übernehmen.« Wie so oft wird auch an dieser Stelle der Name Reichhart vom Protokollanten falsch geschrieben. Ob Reichert, Reichhardt oder eben wie an dieser Stelle Reichhard – nachträglich wurde sein Name nie korrigiert, und offenbar beließ – trotz des üblichen Gegenlesens – er selbst es bei der falschen Schreibweise. Beinahe so, so als habe er sich damit abgefunden, dass sein Leben ohnehin einer permanenten falschen Deutung unterworfen war.

Aber noch etwas fällt an dieser kurzen Selbstaussage sofort ins Auge: Johann Reichharts Leben als Henker war Folge einer familiären Verstrickung. Er glaubte Teil einer Tradition zu sein, der er nicht entrinnen kann und in der er sich noch gefangen sah, als er ein scheinbar ohne jede Gnade und Reue ausgestattetes Subjekt einer Vernehmung war. In der Tat gab es in Reichharts Familie noch einen weiteren berühmten Henker: Lorenz Schellerer (1785–1880), der in die Familie Reichhart eingeheiratet hatte. Er war es, der auf dem Münchner Heumarkt – dem heutigen Rindermarkt – die letzte Enthauptung mit dem Richtschwert durchführte. Allerdings musste er, wie die »Landshuter Zeitung« am 13. Mai 1854 vermeldete, »sieben Hiebe gegen den Delinquenten führen, bis sich dessen Kopf vom Rumpfe trennte«. Es war eine sogenannte Gattenmörderin, die der fast 70-jährige Henker zu enthaupten hatte. Obwohl durch eine schwarze Kapuze unfähig, den Henker zu sehen, wich sie mehrfach mit einer abrupten Bewegung des Oberkörpers seinen Schlägen aus, die dadurch ins Leere gingen. Schließlich wurde sie auf den Richtbock von Schellerers Gehilfen gepresst, wo er sie mit einem gekonnten Schlag schließlich enthauptete. Den abgeschlagenen Kopf hielt er der kreischenden, schon durch Schellerers Unfähigkeit aufgebrachte Menschenmenge entgegen. Danach kam in Bayern nur noch die Fallschwertmaschine zum Einsatz. Lorenz Schellerer starb nach 72 durchgeführten Hinrichtungen im Alter von 95 Jahren in einer Irrenanstalt.

Aber was bedeuten solche Geschichten und die Geschichte seiner Familie konkret für das zukünftige Leben Johann Reichharts? Wie prägte sie ihn?

Eine aussätzige Familie

Sein Vater, der bereits 1902 starb, als der kleine Johann nicht einmal zehn Jahre alt war, verdiente sein kärgliches Geld wohl als Kleinbauer und Abdecker, der dafür sorgte, Tierkadaver zu beseitigen. Beseitigung hieß vor allem in den sogenannten Wasenmeistereien oder Abdeckereien: Resteverwertung. Aus den nicht selten gerade im Sommer schnell stinkenden und faulenden Kadavern wurden Leim, Fette, Seifen, Salmiak, Bleichmittel und Knochenmehl gewonnen. Die Felle, sofern noch zu gebrauchen, wurden Gerbern überlassen. Damit hatten die Reichharts mehrere Jahrhunderte lang ihren Lebensunterhalt bestritten. Die Böden in den Wasenmeistereien waren so mit Giften und Erregern verseucht, dass von ihnen die Gefahr von Seuchen wie etwa dem Milzbrand ausging. Selbst heute sind die Böden dort häufig noch belastet, denn der Milzbranderreger kann mehrere Jahrhunderte überleben. Die Angst unter der Bevölkerung, sich mit Milzbrand und anderen Seuchen anzustecken, war groß.

Auch Johann Reichharts Vater Matthias stand mit seinem Leben noch im Wirkungskreis dieser Familientradition, wenn auch nur nebenerwerblich, denn im Hauptberuf war er Landwirt. Wer in eine Familie von Wasenmeistern hineingeboren worden war, konnte diese Banden eigentlich nicht mehr verlassen. Wasenmeisterfamilien heirateten untereinander, genau wie Scharfrichterfamilien, die oft mit Wasenmeisterfamilien verwandt und verschwägert waren. Viele Wasenmeister waren daneben auch als örtliche Scharfrichter tätig. Sie wohnten außerhalb des Dorfs in ihrer Abdeckerei, die darum zugleich Wohn- und Arbeitsplatz war. Man nannte diese Wohnhäuser auch Schindhütten oder Luderhäuser.

Die Mitglieder der Familie Reichhart waren aufgrund ihres Berufs als Abdecker und Scharfrichter seit dem 18. Jahrhundert »Aussätzige« der Dorfgemeinschaft, zu denen die Bauern der oberpfälzischen Umgebung zwangsläufig ein zwiespältiges Verhältnis haben mussten. Einerseits mieden sie die Wasenmeister und die immer abseits von den Dörfern in regelrechten Schlupfwinkeln liegenden Wasenmeistereien, die dadurch auch beste Versteckmöglichkeiten für steckbrieflich gesuchte Kriminelle boten. Bekanntestes Beispiel hierfür war der legendäre Johannes Bückler, der als sogenannter Schinderknecht Gehilfe eines Wasenmeisters gewesen ist und daher den Namen Schinderhannes erhalten hatte. Die Wasenmeister hatten einen »anrüchigen Beruf«, was bedeutete, dass sie nicht in Zünfte oder ins Militär eintreten durften und von Ehrenstellen ausgeschlossen waren.

Andererseits aber waren die Bauern per Gesetz dazu verpflichtet, den Wasenmeistereien sämtliche anfallenden Tierkadaver zu überlassen. Noch 1905 konnte man über den Abdecker in Meyers Konversationslexikon nachlesen: »[…] im Bereich eines Abdeckereiprivilegiums [muss] alles Vieh, bez. Fleisch, was vom menschlichen Genuß ausgeschlossen wird, dem A. überliefert werden.«

Dass Johann Reichhart diese Herkunft als Gradmesser für sein Leben empfinden musste, steht außer Frage. Er hat in späteren Vernehmungen immer wieder bisweilen entschuldigend auf seine Herkunft verwiesen. Inwieweit Johann Reichhart sich selbst als »Aussätzigen« empfunden hat, ist dagegen nur schwer auszumachen.

Aber noch etwas dürfte ins Gewicht fallen: Es ist zu vermuten, dass sich Franz Xaver Reichhart nach dem Tod seines Bruders Matthias um seinen jungen Neffen Johann kümmerte.

Der Scharfrichter-Onkel war wohlhabend und erlangte sogar eine gewisse Berühmtheit: Am 21. Februar 1902 – im Jahr als Johann Reichharts Vater starb – köpfte er als beamteter Scharfrichter morgens kurz nach 7 Uhr den berühmten, 27-jährigen Räuber Matthias Kneißl. Der schwer zu fassende Kriminelle war fast ein Jahr zuvor, im März 1901, von 60 Polizisten in die Enge getrieben worden und hatte sich in einem Gehöft in Geisenhofen bei Aufkirchen verschanzt. Kneißl wurde mit einem Schuss in den Unterleib lebensgefährlich verletzt. Man pflegte ihn gesund, damit ihm, der längst ein Volksheld war, der Prozess gemacht werden konnte. Im November 1901 musste sich Matthias Kneißl im Augsburger Schwurgericht dem Prozess stellen.

Angeklagt wurde er wegen zweifachen Mords, versuchten Totschlags sowie räuberischer Erpressung und schweren Raubs. Er wurde zum Tod verurteilt. Als ihm an einem Montag mitgeteilt wurde, dass am folgenden Freitag seine Hinrichtung durch Enthauptung stattfinden sollte, entgegnete er – so will es die Legende – mit dem seither berühmt-berüchtigtem Satz: »De Woch fangt scho guat o.«

Eine Schule fürs Leben

Johann Reichhart besuchte acht Jahre lang die Volks-und Feiertagsschule in Wörth an der Donau. Die Institution der Volksschule des Königreichs Bayern machte ihrem Namen im 19. Jahrhundert alle zweifelhafte Ehre. Was man dort lernte, taugte dazu, aus einem Menschen einen echten, tapferen und vor allem kaum zu verführenden Untertanen zu machen. Der enorme Wert, der auf Disziplin, Ordnung und Pflichterfüllung gelegt wurde, prägte den ganzen Unterrichtsstil. Verstieß man dagegen, war unaufmerksam, gab falsche Antworten oder zeigte anderweitig schlechte Leistungen, wurde dieses Verhalten durch Schläge mit dem Rohrstock bestraft. Lehrer konnten ihrem Sadismus einen ungezügelten Lauf lassen. Blutergüsse und offene Wunden waren bei Volksschülern durch Schläge mit dem Rohrstock nicht gerade eine Seltenheit. Angst vor den Lehrern und sklavischer Respekt ihnen gegenüber waren die täglichen Begleiter der Schülerinnen und Schüler. Selbst in der Bank saß man stramm wie ein kleiner, übereifriger Soldat oder ein treues, gehorsames Dienstmädchen: Die Füße mussten geschlossen nebeneinanderstehen, die Hände lagen auf der Tischfläche. Der Blick sollte immer geradeaus zur Tafel gehen. Wenn man aufgerufen wurde, stand man auf.

Der für bayerische Volksschulen geltende Lehrplan sah für Johann Reichhart und seine Mitschüler eine klare moralische Ausrichtung innerhalb der jeweiligen Unterrichtseinheiten vor: Nach Deutsche Sprache gehörte Religion zum am meisten unterrichteten Fach. In der ersten Klasse waren es fünf Wochenstunden, ab der vierten sogar sechs. Zum Unterrichtsfach Deutsche Sprache gehörte nicht nur Rechtschreibung, sondern auch Schönschreiben. Allerdings ist ein ordentliches Missverhältnis auffällig: Während man in der fünften Klasse beispielsweise zwei Stunden in der Woche im Schönschreiben gedrillt wurde, stand der gleiche Zeitaufwand jeweils den Bereichen Rechtschreibung, Aufsatz und Lesen zur Verfügung. Die äußere Form und der Drill waren in der Volksschule offenbar wichtiger als der Inhalt. Selbst Religion war kein Fach mit dem Ziel moralischer Reflexion im Sinne der Theologie – es war im Grunde nichts anderes als stumpfe Bibelkunde und das hieß: Volkserziehung und Stärkung des Glaubens und nicht des Meinens.

In der Tat ist es bemerkenswert, dass Johann Reichhart bis ins Alter eine ausgesprochen schöne, fast – denkt man beispielsweise an seine lesbare, geschwungene Unterschrift – kalligrafisch anmutende Handschrift besaß. Wenn die Handschrift der zu Papier gebrachte Ausdruck der Psyche ist, muss Johann Reichhart eine energische, durchsetzungsstarke Persönlichkeit gewesen sein. Auch sagte er ein Leben lang von sich, dass er ein frommer Mensch sei: Sein Tun hinterfragte er aus freien Stücken nie, eine Distanz zu seinem eigenen Wesen oder seiner Rolle hatte er bestenfalls in wenigen Momenten. Meistens war er sich seiner Sache sicher.

Nach dem Abschluss der Schule musste Johann ein Handwerk erlernen – und er brach mit einem Teil der Familientradition und wurde nicht Wasenmeister. Dem Fleisch und dem Tod blieb er trotzdem treu: »Ich habe eine Metzger- und Kochlehre durchgemacht und legte im Metzgerfach die Meisterprüfung ab. Längere Zeit habe ich als Koch in großen Hotels gearbeitet.« Welche Hotels das waren, ist nicht bekannt. Sicher ist,dass er tatsächlich seine oberpfälzische Heimat verließ und auf Wanderschaft ging, denn im Sommer 1914 war er in Hamburg.

Verschüttet

In seinem Lebenslauf, den er für seine Bewerbung als Scharfrichter im Frühjahr 1924 anfertigt, schrieb Johann Reichhart mit gestochen scharfer Handschrift, dass er sich als Kriegsfreiwilliger bereits im August 1914 zur »Infanteriemaschinengewehrkompanie 76« gemeldet hat. Diese Einheit gehörte zum Infanterie-Regiment »Hamburg« Nr. 76, das auch 2. Hanseatische genannt wurde. Es war ein Traditionsregiment, das sofort mit Kriegsbeginn an die Westfront verlegt wurde. Es gehörte zur 1. Armee. Zuerst eroberte es die Festung von Lüttich in Belgien, im September war es in der Schlacht an der Marne bei Esternay eingesetzt. In dieser Schlacht, die für die Deutschen bereits am 12. September 1914 in einem absoluten Desaster endete, waren rund 750 000 deutsche Soldaten eingesetzt. Vermutlich – exakte Zahlen gibt es nicht – wurden rund 250 000 Landser verwundet, fielen oder gerieten in Gefangenschaft.

Der Chef des Großen Generalstabs, Hellmuth von Moltke (1848–1916), Neffe des berühmten Generalfeldmarschalls Hellmuth von Moltke (1800– 1891) musste den Rückzug anordnen. Angeblich soll er dem Kaiser gemeldet haben: »Majestät, wir haben den Krieg verloren!« Er stand innerhalb einer Woche buchstäblich »nackt« da. Damit hatte er Erfahrung. Sechs Jahre zuvor war der eher korpulente Moltke tatsächlich als Ehrenpräsident des Berliner Vereins für Körperkultur noch strahlender Schirmherr eines Maskenballs für Nackte gewesen. Nun als Entblößter arbeitete er weiter an seiner eigenen Dekonstruktion als Feldherr und musste mit ansehen, wie in den kommenden zwei Jahren Hunderttausende in den Grabenkämpfen der Westfront ihr Leben ließen.

Auch nach der Schlacht an der Marne fielen die Masken. Nichts war,wie es gewesen war. Vom vermeintlichen Jubel bei Kriegsausbruch war nichts mehr zu spüren. Die kläglichen Reste des aufgeriebenen Hamburger Regiments wurden am 21. September 1914 zu gerade einmal drei Kompanien vereint. Normalerweise bestand ein Infanterieregiment aus zwölf Kompanien. Eine Woche später füllte man Reichharts Regiment mit frischen, unverbrauchten Mannschaften jedoch wieder auf. Der Krieg konnte weitergehen.

Es ist nicht mehr festzustellen, ob Johann Reichhart erst zu diesem Zeitpunkt an die Front kam. Seine Personalakte ist bei einem Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg verbrannt. Als Mitglied einer Infanteriemaschinengewehrkompanie war er meistens an vorderster Front. Für den Vormarsch hieß das, wie sich ein Soldat in German Werths Hörfunkfeature über die Schlacht von Verdun mehr als ein halbes Jahrhundert später erinnerte: »Wir durften uns nicht um Verletzte und Verwundete kümmern.« Auch eine solche Erfahrung sollte Johann Reichharts weiteres Leben nachhaltig prägen.

Reichharts Regiment war ab März 1915 der 221. Infanteriebrigade der 111. Division eingegliedert. Der oberpfälzische Metzger war nun im Schlachthaus des immer noch jungen 20. Jahrhunderts angekommen. Immer wieder kämpfte das Regiment mit starken Verlusten. Während des Krieges haben insgesamt 19 899 Soldaten in diesem Regiment Dienst getan. Im August 1914 zogen mehr als 3000 Mann in den Krieg, nur 647 haben ihn überlebt.