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Zur performativen Expressivität des KClaviers

Aufführung und Interpretation – Symposium München, 27. –28. April 2018

Herausgegeben von

Claus Bockmaier und Dorothea Hofmann

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MUSIKWISSENSCHAFTLICHE SCHRIFTEN
DER HOCHSCHULE FÜR MUSIK UND THEATER MÜNCHEN

Herausgegeben von Claus Bockmaier

Band 13

Claus Bockmaier
Dorothea Hofmann
(Hgg.)

Zur performativen
Expressivität des KClaviers

Aufführung und Interpretation – Symposium München,

27. – 28. April 2018

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Dieser Band wurde finanziert vom Musikwissenschaftlichen Institut der Hochschule für Musik und Theater München und von der Kohlndorfer Stiftung München

April 2020 Allitera Verlag

Ein Verlag der Buch&media GmbH

© 2020 Buch&media GmbH, München

Redaktion: Dr. Claus Bockmaier, unter Mitarbeit von Tobias Reil

Herstellung: Franziska Gumpp Gesetzt aus der Minion Pro

Umschlaggestaltung: Johanna Conrad unter Verwendung einer Fotografie von Dr. Claus Bockmaier

ISBN Print 978-3-96233-213-6

ISBN PDF 978-3-96233-215-0

Printed in Europe

Allitera Verlag

Merianstraße 24 • 80637 München

Fon 089 13 92 90 46 • Fax 089 13 92 90 65

Weitere Publikationen aus unserem Programm finden Sie auf www.allitera.de

Kontakt und Bestellungen unter info@allitera.de

Inhalt

Einführung

Claus Bockmaier / Dorothea Hofmann

»... daß er gleichsam aus der Seele des Tonsetzers spiele«

Frühe Konzepte musikalischer Interpretation

Heinz von Loesch

Die Clavichord-Sammlung im Musikinstrumentenmuseum der Universität Leipzig

Organologische Perspektiven in Forschung, Lehre und Transfer

Josef Focht

Satztechnische und interpretatorische Fragen

Zu Johann Sebastian Bachs Choralvorspiel

Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’ BWV 715

Markus Jans

»La réunion des goûts« als Vortragsindiz

Zu Händels A-Dur-Suite des Drucks von 1720

Claus Bockmaier

»Alles muss gehörig singen«

Johann Matthesons Wol-klingende Finger-Sprache

Thomas Seedorf

Zur Dynamik in Mozarts Münchner Klaviersonaten von 1775

Manfred Hermann Schmid

»... denn ich spiel’s ganz anders«

Richard Strauss als Klavierbegleiter eigener Lieder – Untersuchungen zu historischer Performance-Praxis am Fall der Doppeleinspielung von

Ruhe, meine Seele! op. 27 Nr. 1

Kilian Sprau

Gestaltete Form – Interaktion von Mikro- und Makroform in 46 Interpretationen (1925–2018) von Arnold Schönbergs

Sechs kleinen Klavierstücken op. 19

Christian Utz / Thomas Glaser

Klaviermusik von George Crumb und der Körper der Pianistinnen oder Pianisten

Dorothea Hofmann

Die beim Symposium gespielten Instrumente in historischer Bauweise

Michael Eberth / Bernhard Haas

Register

Einführung

Claus Bockmaier / Dorothea Hofmann

Bereits zwei frühere Symposien des Musikwissenschaftlichen Instituts der Hochschule für Musik und Theater München beschäftigten sich mit Fragen der musikalischen Interpretation: ein erstes 2005 in breiterer Entfaltung zu »Interpretationsästhetik und Aufführung«, ein zweites dann 2010 gezielt zu »Chopins Klaviermusik« – die Inhalte beider Konferenzen liegen auch in Druckpublikationen vor.1 2012, zum 80. Geburtstag von Glenn Gould, führte das Institut außerdem einen Workshop durch, der sich den interpretatorischen Schwerpunkten der Klavierkunst dieses Pianisten widmete (im Rahmen einer Veranstaltung im Gasteig unter dem Titel »We do not play the piano with our fingers but with our mind«). Der hier vorgelegte Band nun vereinigt die meisten Beiträge des erst recht interpretationsspezifischen Symposiums »zur performativen Expressivität des KClaviers«, das am 27. und 28. April 2018 an der Münchner Musikhochschule stattfand.2 Die wissenschaftliche Veranstaltung unter der Leitung von Claus Bockmaier und Dorothea Hofmann war als Forschungspräsentation mit den »Barocktagen« der HMTM verknüpft: einem Festival mit verschiedenen Konzertereignissen des Instituts für Historische Aufführungspraxis in der Verantwortung von Michael Eberth. Die Kooperation beider Institute in dieser Form war ein fruchtbares Novum - das in Hinkunft möglichst auch Fortsetzungen finden soll. Die Schreibung von »KClavier« mit K und mit C verweist auf das Spektrum der Tasteninstrumente in ihrer historischen Dimension bis zu ihrer heutigen Ausprägung, deren Ausdrucks- und Gestaltungspotenzial in dieser gesamten Spannweite thematisierbar sein sollte. Innovativ, weil in teilweise direktem Bezug zu Inhalten der Tagungsreferate, erfolgten dementsprechend konkrete Aufführungsdemonstrationen an verschiedenen Tasteninstrumenten: Orgel, Clavichord, Cembalo, Hammerklavier und moderner Flügel, im Vorfeld mit den jeweiligen Referenten abgestimmt. Die betreffenden Werke erklangen anschließend nochmals als Abrundung in einem »Kleinen KClavier-Konzert«. Die gesamte Programmübersicht der Barocktage war in einem ausführlichen, kommentierten Programmheft dargestellt, das auf der Internetseite unseres Instituts abrufbar ist.3

Die Tagung erfüllte somit konzentriert die Intention unseres Musikwissenschaftlichen Instituts, Interpretationstheorie und -praxis miteinander zu verknüpfen, ganz entsprechend dem sich aktuell ausdehnenden Interpretationsforschungsbereich respektive der performance studies.4 So war bei dem Symposium insbesondere auch die Fachgruppe »Aufführungspraxis und Interpretationsforschung« der Gesellschaft für Musikforschung erstrangig vertreten (Heinz von Loesch als deren Sprecher, stellvertretend Dorothea Hofmann und Kai Köpp) mit ihrer ausdrücklich dem Spannungsfeld zwischen schriftlicher Festlegung und erklingendem Ergebnis von Musik gewidmeten Zielrichtung – unter grundlegender Beachtung methodischer Grundfragen, insbesondere im Hinblick auf: ästhetische, analytische, musiktheoretische Voraussetzungen, Zusammenhänge zwischen Werk- und Aufführungsgeschichte, institutionelle Aufführungsbedingungen, Wechselbeziehungen zwischen Interpreten- und Komponistenbiografik und nicht zuletzt Tonträgerforschung.

Wenn im Tagungstitel das Attribut »performativ« zu »Expressivität« selbstredend auf musikalische Aus- und Aufführung Bezug nimmt, so lässt sich dies doch dahin gehend weiter konkretisieren, dass sehr bewusste und bestimmte ›Handlungsentscheidungen‹ des KClavierspielers im Interpretationsvorgang in den Blickpunkt rücken. John Austins sprachphilosophisches Diktum »how to do things with words«5 wird damit im Kontext der Musik zu einem »how to do things with keys«. Zum Verstehen – zur Untersuchung wie zur Begründung – dieses ›Tuns‹ kommen musikwissenschaftlich gangbare Vorgehensweisen in Betracht, die entweder bereits vorliegende Interpretationen, d. h. insbesondere Tonaufnahmen, analytisch aufschlüsseln oder die aus zeitgenössischen Lehrquellen, Editionskommentaren und Ähnlichem wie auch aus der res facta der Komposition und den Implikationen des Werkkontexts mögliche Interpretationskonzepte aufzeigen. Bei dem Symposium waren beide Zugangswege zur Offenlegung tasteninstrumentaler Ausdrucksdimensionen repräsentiert.

So entfaltete Heinz von Loesch (Berlin) eine theoriegeschichtliche Sicht auf musikalische Interpretationskonzepte im ausgehenden 18. Jahrhundert, da man »gleichsam aus der Seele des Tonsetzers spielen« sollte. Einen konkreten Interpretationsimpuls gab Markus Jans (Basel) zum Choralvorspiel Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’ von Johann Sebastian Bach (BWV 715) im Blick auf eine außergewöhnlich stark chromatisierte Passage. Jürgen Geiger (Weilheim) stellte seine Untersuchungen zur interpretatorischen Klanggestaltung russischer Orgelmusik im Fall Alexander Glasunows vor, insbesondere im Spiegel verschiedener Registrierungsansätze. Josef Focht (Leipzig) beleuchtete aktuelle Aspekte der Clavichord-Forschung, ausgehend vom umfangreichen Sammlungsbestand des Instrumentenmuseums der Universität Leipzig. Zur Interpretation von Händels A-Dur-Suite (HWV 426) vor dem Hintergrund der französisch-italienischen ›réunion des goûts‹ referierte Claus Bockmaier (München). »Alles muss gehörig singen« – unter dieser auktorialen Prämisse Johann Matthesons beleuchtete Thomas Seedorf (Karlsruhe) dessen Wohlklingende Fingersprache. Manfred Hermann Schmid (Augsburg) besprach zwei Sätze aus Mozarts Klaviersonaten von 1775 hinsichtlich des Verhältnisses von notierten oder nicht-notierten dynamischen Differenzierungen und gegebener kompositorischer Struktur. Tendenzen der Beethoven-Interpretation des 19. Jahrhunderts behandelte Kai Köpp (Bern) anhand von musikalischen Vortragslehren, kommentierten instruktiven Ausgaben sowie frühen Tondokumenten. Untersuchungsmethoden zur Interpretation von Schönbergs Sechs kleinen Klavierstücken op. 19, hier im Besonderen zur Auffassung von deren Zyklizität, demonstrierten Christian Utz und Thomas Glaser (Graz) in Auswertung einer von ihnen unternommenen Pilotstudie. Klavierspiel über das Spiel auf der Klaviatur hinaus zeigte Dorothea Hofmann (München) in ihrem Vortrag und verwies damit nicht nur auf die außergewöhnliche Rolle des Instruments mitsamt des hochaktiven Pianistenkörpers in George Crumbs Makrokosmos, sondern auch auf die grundsätzliche Idee der Klaviatur als ›Schnittstelle‹ von Mensch und Instrument. Kilian Sprau (Augsburg) zu guter Letzt stellte die pianistische Mitwirkung von Richard Strauss bei dessen eigenen Liedern zur Diskussion, der in der Tat vieles »ganz anders spielte«, als ›werkgetreu‹ zu erwarten gewesen wäre.

Die Vergegenwärtigung der Musik zu den musikwissenschaftlichen Darlegungen lag in den Händen folgender Interpreten und Interpretinnen:

Jürgen Geiger (der selbst auch referierte), Orgel – J. S. Bach / A. Glasunow;

Tomomi Arakawa, Clavichord – G. Chr. Wagenseil;

Andrii Slota, Cembalo – G. Fr. Händel;

Stefan Steinemann, Hammerflügel – J. Mattheson;

Natalia Lentas, Hammerflügel – W. A. Mozart;

Dorothea Hofmann (in ihrem eigenen Beitrag), moderner Flügel – G. Crumb.

Unser großer Dank gilt den genannten Studierenden, die durch ihre musikalische Beteiligung den spezifischen Charakter der Tagung wesentlich mitgeprägt haben. Die hier zum Erklingen gekommenen Instrumente in historischer Bauweise sind am Schluss dieses Bands mit Fotos sowie Identitätsangaben von Michael Eberth (besaitete Tasteninstrumente) und von Bernhard Haas (spanische Orgel) dokumentiert; wir danken den Kollegen auch herzlich für diese Ergänzung.

Den Lesern dieses Buchs seien hier zur raschen Orientierung noch einige Hinweise gegeben. Um den jeweiligen Forschungskontext auf den ersten Blick überschaubar zu machen, außerdem zur Vereinfachung der Belegformen in den Fußnoten, ist jedem Aufsatz das dazugehörige Quellen- und Literaturverzeichnis vorangestellt, geordnet in alphabetischer Folge nach Autoren bzw. Herausgebern. In den Anmerkungen erscheinen dann jeweils Kurzbelege per Name und Erscheinungsjahr der Quelle (bzw. gegebenenfalls in Klammer der verwendeten Ausgabe). Für Internetseiten gilt beim Beleg, dass sie im Einzelnen zum Zeitpunkt der Redaktion dieses Bands aufrufbar waren. Das Register erfasst die im Haupttext wie auch in den Anmerkungen vorkommenden Personennamen (ausgenommen solche, die nur unspezifisch in Literaturangaben genannt sind). Noten-Abbildungen und Tabellen sind aus Gründen des Formats teilweise ans Ende der jeweiligen Beiträge gerückt, worauf in diesen Fällen stets durch einen Pfeil (→) verwiesen wird. Zumal insgesamt nur (fach)übliche Abkürzungen benutzt wurden, schien uns ein Abkürzungsverzeichnis entbehrlich.

Schönsten Dank sagen wir wiederum unserem geschätzten ›Kooperationstandem‹ vom Allitera Verlag für die höchst angenehme Zusammenarbeit bezüglich der Layout-Erstellung und der Drucklegung des Bands: Alexander Strathern als verantwortlichem Verleger und Dietlind Pedarnig als Lektorin. Besonders danken wir auch zwei Doktoranden unseres Musikwissenschaftlichen Instituts für ihre Mitarbeit: Tobias Reil, der den aufwändigen redaktionellen Erstdurchgang bewältigt hat, und Markus Göppel für sein sorgfältiges Korrekturlesen. Und da der Band nur aufgrund der ausgearbeiteten Schriftbeiträge unserer Mitautoren ins Werk gesetzt werden konnte, bedanken wir uns erst recht bei all den geschätzten Kollegen für die Ermöglichung dieser durchaus einzigartigen Publikation.

München, im Januar 2020 Claus Bockmaier / Dorothea Hofmann

1 Beiträge zur Interpretationsästhetik und zur Hermeneutik-Diskussion, hg. v. Cl. Bockmaier (Schriften zur musikalischen Hermeneutik 10), Laaber 2009 (Tl. 2), S. 143-373; Facetten II: Kleine Studien – Edition und Interpretation bei Chopin – Die Münchner Schule und Max Reger, hg. v. Cl. Bockmaier (Musikwissenschaftliche Schriften der Hochschule für Musik und Theater München 10), München 2016, S. 77-152.

2 Der vollständige Titel lautete: Aufführung und Interpretation – Aspekte, Perspektiven, Diskussionen zur performativen Expressivität des KClaviers.

3 http://mw.hmtm.de/images/2018-04-27_Barocktage_Druck.pdf.

4 In dieser Hinsicht bestand auch ein Konnex mit einem 2018 an der Universität Augsburg angelaufenen DFG-Projekt »zum Portamento und ihm verwandte Vortragsstilmittel in Liedern des Komponisten Richard Strauss« von Kilian Sprau, der unserem Institut bis jetzt als Lehrbeauftragter angehört und zum Wintersemester 2019 / 2020 als Professor für Musiktheorie an die Universität der Künste Berlin berufen worden ist.

5 Ursprüglich entwickelt in Vorlesungen an der Harvard University 1955; Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), englische Ausg. 1962 / 1975, deutsche Bearb. v. Eike von Savigny, 2. Aufl. Stuttgart 1979.

»... daß er gleichsam aus der Seele des Tonsetzers spiele«

Frühe Konzepte musikalischer Interpretation

Heinz von Loesch

QUELLEN UND LITERATUR

Theodor W. ADORNO 1925: Zum Problem der Reproduktion, in: ders., Musikalische Schriften VI (Gesammelte Schriften 19), hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. (1984), 440–444. – ADORNO 1925–1959: Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Aufzeichnungen, ein Entwurf und zwei Schemata, hg. v. Henri Lonitz (Nachgelassene Schriften 1/2), Frankfurt a. M. (2001). – Artikel 1929: Interpretation, musikalische, in: Hugo Riemanns Musik Lexikon, 11. Aufl., bearb. v. Alfred Einstein, Berlin, [Bd. 1] 810. – Pierre BAILLOT, Hg. 1793: Violinschule von Rode, Kreutzer und Baillot [anonyme Übers.], Leipzig (1806). – Franz BRENDEL 1852: Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich. Von den ersten christlichen Zeiten bis auf die Gegenwart. Zweiundzwanzig Vorlesungen gehalten zu Leipzig im Jahre 1850, Leipzig. – Hermann DANUSER 1996: Interpretation, in: MGG, 2. Ausg., Sachteil Bd. 4, Kassel u. a., 1053–1069. – Hans Heinrich EGGEBRECHT 1967: Interpretation, in: Riemann Musik Lexikon. Sachteil, 12. Aufl., hg. v. H. H. Eggebrecht, Mainz, 408–409. – Georg Wilhelm Friedrich HEGEL 1835–1838: Ästhetik, 2 Bde., hg. v. Friedrich Bassenge, 4. Aufl., Frankfurt a. M. (1985). – Johann Heinrich Gottlieb HEUSINGER 1797: Handbuch der Ästhetik oder Grundsätze zur Bearbeitung und Beurtheilung der Werke einer jeden schönen Kunst, als der Poesie, Malerei, Bildhauerkunst, Musik, Mimik, Baukunst, Gartenkunst ..., Tl. 1, Gotha. – Hans-Joachim HINRICHSEN 2009: Was heißt »Interpretation« im 19. Jahrhundert? Zur Geschichte eines problematischen Begriffs, in: Zwischen schöpferischer Individualität und künstlerischer Selbstverleugnung. Zur musikalischen Aufführungspraxis im 19. Jahrhundert (Musikforschung der Hochschule der Künste Bern 2), hg. v. Claudio Bacciagaluppi / Roman Brotbeck / Anselm Gerhard, Schliengen, 13–25. – HINRICHSEN 2011: Kann Interpretation eine Geschichte haben? Überlegungen zu einer Historik der Interpretationsforschung, in: Gemessene Interpretation. Computergestützte Aufführungsanalyse im Kreuzverhör der Disziplinen, hg. v. Heinz von Loesch / Stefan Weinzierl (Klang und Begriff 4), Mainz, 27–37. – E. T. A. HOFFMANN 1812–1813: Beethoven. Zwei Klaviertrios Op. 70, in: ders., Schriften zur Musik, hg. v. Friedrich Schnapp, Darmstadt (1965), 118–144. – Mary HUNTER 2005: »To Play as if from the Soul of the Composer«. The Idea of the Performer in Early Romantic Aesthetics, in: Journal of the American Musicological Society, Bd. 58/2 (2005), 357–398. – Roman INGARDEN 1962: Das Musikwerk, in: ders., Untersuchungen zur Ontologie der Kunst. Musikwerk – Bild – Architektur – Film, Tübingen, 1-136. – Tobias JANZ 2019: Wahrheit und Schönheit, in: Geschichte der musikalischen Interpretation im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Thomas Ertelt / Heinz von Loesch, Bd. 1: Ästhetik - Ideen, Kassel / Berlin, 157–195. – Reinhard KAPP 2011: Interpretation, Reproduktion, in: Adorno Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Richard Klein / Johann Kreuzer / Stefan Müller-Doohm, Stuttgart / Weimar, 145–156. – Eduard KRÜGER 1847: Dilettantismus und Virtuosenthum, in: ders., Beiträge für Leben und Wissenschaft der Tonkunst, Leipzig, 3–30. – Adolph KULLAK 1861: Die Aesthetik des Klavierspiels, 2. Aufl., hg. v. Hans Bischoff, Berlin (1876). – Heinz von LOESCH 2017: Zur Genese des Begriffs der musikalischen Interpretation, in: Musikalische Interpretation im Dialog. Musikwissenschaftliche und künstlerische Praxis, hg. v. Andreas Münzmay / Marion Saxer, München, 19–35. – LOESCH 2019: Autor – Werk – Interpret, in: Geschichte der musikalischen Interpretation im 19. und 20. Jahrhundert [wie weiter oben], Bd. 1, 63–127. – Adolph Bernhard MARX 1826: Die Kunst des Gesanges, theoretisch–praktisch, Berlin. – MARX 1839: Der kunstgemässe Vortrag, in: ders., Allgemeine Musiklehre. Ein Hülfsbuch für Lehrer und Lernende in jedem Zweige musikalischer Unterweisung, Leipzig, 259–302. – Hugo RIEMANN 1901: Geschichte der Musik seit Beethoven (1800–1900), Berlin / Stuttgart. – Christian Daniel Friedrich SCHUBART 1784–1785: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, hg. v. Ludwig Schubart, Wien (1806). – [Johann Abraham Peter SCHULZ 1774:] Vortrag. (Musik.), in: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, hg. v. Johann Georg Sulzer, neue verm. 2. Aufl., Tl. 4, Leipzig (1794), 700–715. – Laure SPALTENSTEIN 2017: Berlin 1830, Wien 1870, München 1910. Eine Begriffsgeschichte musikalischer Aufführung im 19. Jahrhundert (Schott Campus), Mainz.

Der Begriff der Interpretation in der Musik ist bekanntlich mehrdeutig. Mit Hans Heinrich Eggebrecht und Hermann Danuser unterscheiden wir eine theoretische bzw. hermeneutische von einer praktischen oder performativen Interpretation.1 Aber auch der Begriff der ›performativen Interpretation‹ ist doppeldeutig. Einerseits meint er die Aufführung von Musik im Unterschied zur Komposition schlechthin, andererseits zielt er auf eine besondere Weise der Aufführung, die sich spezifisch ›interpretierend‹ verhält, eine Weise, die sich nach allgemeiner Auffassung erst spät herausgebildet hat – irgendwann im 19. oder 20. Jahrhundert – und die auch danach nicht unangefochten war. Vor allem eine Reihe von Komponisten, doch auch ausübende Musiker des 20. Jahrhunderts haben sich ausdrücklich gegen ihn ausgesprochen oder ihn doch bewusst vermieden; sie gaben den älteren Termini Ausführung, Vortrag, Aufführung, Reproduktion und Wiedergabe den Vorzug: Igor Stravinskij, Paul Hindemith, Arnold Schönberg, Rudolf Kolisch und Hans Pfitzner. In den letzten Jahren wurde der Interpretationsbegriff dann übrigens auch vonseiten der Performativitätstheorie infrage gestellt, wenn freilich auch mit gegenteiliger Zielsetzung, und für den Anglizismus ›Performance‹ geworben.

Mit der Frage, wann sich Interpretation im engeren – emphatischen – Sinn herausgebildet hat, hat sich die Musikwissenschaft wiederholt beschäftigt. Ein erster Zugangsweg war die Rekonstruktion der ›Sache selbst‹: Seit wann lässt sich in der Geschichte der musikalischen Aufführung von Interpretation im emphatischen Sinn reden? In diesem Zusammenhang wurden immer wieder Namen zwischen Felix Mendelssohn Bartholdy und Clara Schumann auf der einen und repräsentativen Vertretern der Urtextbewegung in den 1920er-Jahren auf der anderen Seite genannt.

In den letzten Jahren hat man sich vermehrt auch mit der Geschichte des Wortgebrauchs beschäftigt.2 Nach dem derzeitigen Stand der Forschung begegnet der Terminus ›Interpretation‹ vereinzelt seit den 1840er-Jahren – bemerkenswerterweise gerne im Zusammenhang mit Künstlern, die auch von der Geschichte der Aufführung als frühe Vertreter der Werkinterpretation gefasst worden waren: Mendelssohn, Clara Schumann, Hans von Bülow. In größerem Umfang trifft man den Begriff dann nach 1900, so etwa in Hugo Riemanns Geschichte der Musik seit Beethoven.3 Und als lexikalisches Lemma erscheint er zum ersten Mal 1929 in der von Alfred Einstein herausgegebenen 11. Auflage von Riemanns Lexikon.4 Bis zur 10. Auflage 1922 waren Fragen der musikalischen Interpretation vor allem unter dem Stichwort »Ausdruck« behandelt worden.

Ein dritter Zugangsweg zur Genese des Konzepts der Interpretation soll mit dem vorliegenden Beitrag eingeschlagen werden. In einem ersten Schritt möchte ich eine Reihe prominenter Positionen der Vortragstheorie des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts vorstellen, sieben an der Zahl. In einem zweiten Schritt sollen diese dann auf ihr Verhältnis zum späteren Interpretationsbegriff befragt werden. Dieser Zugangsweg scheint mir insofern von Bedeutung, als es vor dem Eintrag in Riemanns Lexikon von 1929 keine definitorische Bestimmung des Terminus gegeben hat und das mit dem Begriffsgebrauch Intendierte immer nur aus dem Kontext erschlossen werden kann. Das aber muss sich ja irgendwie zu den gängigen Positionen der Vortragstheorie verhalten – ganz abgesehen davon, dass auch diese nicht ohne Interesse sind.

I. Sieben Positionen der Vortragstheorie

1.

Ausgang nehmen möchte ich von Johann Abraham Peter Schulz’ Artikel Vortrag in Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste von 1774, einem der ersten Texte, der den Vortrag umfassend und systematisch in den Blick nimmt. Der Text wurde in der zweiten Auflage von 1794 von einigen wenigen Literaturhinweisen abgesehen unverändert wiederabgedruckt. Aus dem Artikel ist insbesondere eine Formulierung berühmt geworden, die auch als Substrat des Schulz’schen Vortragsbegriffs gelten kann: Der Vortragende solle »gleichsam aus der Seele des Tonsetzers« spielen.5

»Jedes gute Tonstük hat seinen eigenen Charakter, und seinen eigenen Geist und Ausdruk [...]; diese muß der Sänger oder Spieler so genau in seinen Vortrag übertragen, daß er gleichsam aus der Seele des Tonsetzers spiele. Daß es hier nicht auf bloßes richtiges Notenlesen ankomme, ist leicht begreiflich.«6

Mit der – erkennbar vom Geist der Empfindsamkeit geprägten – Formulierung, »daß er gleichsam aus der Seele des Tonsetzers spiele«, ist zunächst einmal gemeint, dass der Ausführende nicht bloß die ›Noten‹ spielen solle, sondern vielmehr noch etwas anderem gerecht werden müsse: dem Charakter, Geist und Ausdruck des Stücks sowie den dahinterstehenden Seelenzuständen des Komponisten bzw. seinen Intentionen. Zur Lösung dieser Aufgabe bedarf es, wie der Text im Weiteren deutlich macht, eines »wahren Virtuosen«7, der dem Notierten erst einmal folgen, es dann aber auch ergänzen und zuweilen sogar dagegen verstoßen muss.8

2.

Zehn Jahre später, in den Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst (1784–1785, veröffentlicht 1806) erhebt Christian Daniel Friedrich Schubart die doppelte Forderung, dass der Solospieler einerseits »Genie«, ja »Schöpferkraft« besitzen, dass andererseits jedoch seine »Ichheit hinwegschwinden« und ganz zum »Idiom« des Komponisten werden müsse.

»Der Solospieler muss entweder seine eignen oder fremde Phantasien vortragen. In beyden Fällen muss Genie sein Eigenthum seyn. Will ich eine Sonate von Bach vortragen [gemeint ist Carl Philipp Emanuel Bach], so muss ich mich so ganz in den Geist dieses grossen Mannes versenken, dass meine Ichheit wegschwindet, und Bachisches Idiom wird. Alle mechanischen Fertigkeiten: Ohr, geflügelte Faust, Fingersatz, Tactfestigkeit, Verständnis des Instruments, Lesekunst, und dergleichen weggerechnet; so wage sich nur kein Solospieler auf den Schauplatz, wenn er nicht Schöpferkraft besitzt; wenn er nicht die Noten in eben so viel Feuerflocken zu verwandeln weiss; wenn er nicht die begleitenden Stimmen um ihn, wie die Zuhörer versteinern kann, und – ach, wenn er unfähig ist, dem Geiste zu gebiethen in allen zehn Fingern zu brennen.«9

Die Behauptung von Schulz, dass es nicht nur auf richtiges Notenlesen ankomme, wird bei Schubart – im enthusiastischen Ton des Sturm und Drang vorgetragen – zur Forderung gesteigert, Noten »in Feuerflocken« zu verwandeln und dem »Geiste zu gebiethen in allen zehn Fingern zu brennen«. Und statt nur »aus der Seele des Komponisten zu spielen«, soll laut Schubart eben die »Ichheit« des Vortragenden »wegschwinden« und »Bachisches Idiom« werden. Die beiden Forderungen nach Schöpferkraft und Ich-Auflösung stehen dabei unvermittelt nebeneinander.

3.

In der Violinschule von Pierre Rode, Rodolphe Kreutzer und Pierre Baillot von 1793, dem offiziellen Unterrichtswerk des neu gestalteten Pariser Conservatoires, dessen Texte von Baillot stammen, muss der Spieler nicht hinter dem Komponisten zurücktreten, braucht sein Ich nicht »hinwegzuschwinden« – vielmehr soll sein »Styl« mit dem des Komponisten verschmelzen, wobei er zugleich »sich selbst ganz darstellt«. In der deutschen Übersetzung von 1806 heißt es:

»Jeder Componist drückt seinen Werken ein ihm eigenes Gepräge auf – dies ist der ihm eigene Styl, der aus seiner Manier zu empfinden und sich auszudrücken von selbst hervorgeht.

Hier liegt eine Klippe für viele Violinspieler. Mancher hat die Fähigkeit, die Werke eines Componisten gut vorzutragen, indem er die eines andern nicht zu spielen im Stande ist [...]. Wird aber der Lehrling nur durch physische Hindernisse aufgehalten, so bemühe er sich, die größte Mannigfaltigkeit der Spielart und des Vortrags sich zu erwerben, indem er alle Gattungen und die Werke aller Meister studiert. [...] Unter den besten Werken der besten Meister wird er bald den Styl annehmen, der mit seiner Art zu empfinden die meiste Ähnlichkeit hat.«

Er wird,

»wenn er in der That den Keim des wahren Talents in sich trägt, sich endlich einen Styl bilden, in welchem er sich selbst ganz darstellt.«10

Stilverschmelzung bei gleichzeitiger Selbstdarstellung des Spielers, lautet das Vortragsideal der Professoren des Pariser Conservatoires.

4.

Im Handbuch der Ästhetik von Johann Gottlieb Heusinger 1797, zur Zeit der Veröffentlichung des Buchs »Doctor und Privatlehrer der Philosophie an der Universität zu Jena«, wie es auf dem Titelblatt heißt, lässt sich dann zum ersten Mal von einem Primat des Werks reden. Heusinger behauptet, dass alles, was an einer dargebotenen Komposition schön, geistreich, treffend sei, dem Komponisten gehöre, und der Virtuose das Werk nur geben solle, wie es sei.

»Es liegt dem albernen Spiele der meisten seynwollenden Virtuosen Unwissenheit über das, was sie seyn können, und Arroganz zu Grunde. Sie wollen nicht bedenken, daß sie sich zu dem Compositeur durchaus verhalten, wie der Declamator zu dem Dichter. Auch der Declamator ist Virtuos, und wer die Composition eines Andern spielt, der thut nichts weiter, als daß er die Rede, die dieser aufgesetzt hat, der Versammlung vorträgt. Was an derselben schönes, geistreiches und treffendes ist, das gehört dem Componisten, so wie dem Dichter, und die Sache des Virtuosen ist es, daß er in seinem Vortrage das Werk des ersteren nicht verunstalte; daß er es gerade so gebe, wie es ist. Hierinn besteht auch sein Ruhm.«11

Der Virtuose bietet Werke anderer dar, die ihren Wert in sich selbst tragen. Seine Aufgabe könne nur darin bestehen – wie es im weiteren Verlauf des Textes heißt –, den Komponisten zu »verstehen«, in den »Geist eines Werkes« einzudringen, das »ein großer Kopf gearbeitet hat«12, und die Werke eben nicht zu »verunstalten«. Mit Heusinger bzw. aus der Theorie der Schönen Künste scheint in den Jahren nach 1800 auch der Begriff des Werks bzw. Kunstwerks Eingang in die Vortragstheorie gefunden zu haben. Zuvor war nur von Stücken, Tonstücken und Kompositionen die Rede gewesen.

5.

E. T. A. Hoffmann verbindet in seinem Aufsatz über Beethovens Klaviertrios op. 70 (1812–1813), der zu Teilen in die Kreisleriana übernommen wurde (vor 1815), die Schubart’sche Position der Ich-Auflösung und die Heusinger’sche vom Primat des Werks bei kunstreligiöser Aufladung des Ganzen.

»Was nun die Schwierigkeit betrifft, so gehört zum richtigen, bequemen Vortrag Beethovenscher Komposition nichts Geringeres, als daß man ihn begreife, daß man tief in sein Wesen eindringe, daß man im Bewußtsein eigner Weihe es kühn wage, in den Kreis der magischen Erscheinungen zu treten, die sein mächtiger Zauber hervorruft. Wer diese Weihe nicht in sich fühlt, [...] der bleibe ja davon. [...] Der echte Künstler lebt nur in dem Werke, das er in dem Sinne des Meisters aufgefaßt hat und nun vorträgt. Er verschmäht es, auf irgend eine Weise seine Persönlichkeit geltend zu machen, und all sein Dichten und Trachten geht nur dahin, alle die herrlichen, holdseligen Bilder und Erscheinungen, die der Meister mit magischer Gewalt in sein Werk verschloß, tausendfarbig glänzend ins rege Leben zu rufen.«13

Der wahre Künstler dürfe also nur in dem Werke leben, das er im »Sinne des Meisters aufgefaßt hat«, und müsse es unbedingt vermeiden, »auf irgend eine Weise seine Persönlichkeit geltend zu machen«. Zugleich müsse er jedoch vom Bewusstsein eigener »Weihe« durchdrungen sein. Wer eben solches nicht empfindet, »der bleibe ja davon«.

6.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist in seinen zwischen 1817 und 1829 gehaltenen, doch erst posthum 1835–1838 durch Heinrich Gustav Hotho publizierten Vorlesungen über die Ästhetik dann der Erste, der verschiedene Vortragshaltungen in Abhängigkeit von verschiedenen Arten der Musik beschreibt, wobei er – gleichfalls als Erster – die Begriffe objektiv und subjektiv verwendet. Er unterscheidet einen objektiven Vortragsstil bei Werken von »objektiver Gediegenheit« und einen subjektiven Vortragsstil bei Werken, »in welchen die subjektive Freiheit und Willkür schon von seiten des Komponisten her überwiegt«.14 Konkretes Anschauungsobjekt für den subjektiven Vortragsstil sind die Opern Rossinis. Bei ersterer Vortragsart »braucht« der ausübende Künstler

»nicht nur nichts von dem Seinigen hinzuzutun, sondern er darf es sogar nicht, wenn nicht der Wirkung soll Abbruch geschehen. Er muß sich ganz dem Charakter des Werks unterwerfen und nur ein gehorchendes Organ sein wollen.«15

In der zweiten Vortragsart

»wird teils die virtuoseste Bravour an ihrer rechten Stelle sein, teils begrenzt sich die Genialität nicht auf eine bloße Exekution des Gegebenen, sondern erweitert sich dazu, daß der Künstler selbst im Vortrage komponiert [...] und in dieser Weise schlechthin selbständig und produzierend erscheint.«16

Objektiver Vortrag bei Werken von objektiver Gediegenheit, subjektiver Vortrag bei Werken von subjektiver Freiheit und Willkür.

7.

In der Nachfolge Hegels werden die Begriffe objektiv und subjektiv dann für die Beschreibung des Vortrags sui generis verwendet. Es wird ein idealer Vortrag als Synthese von Objekt und Subjekt konstruiert (Adolf Bernhard Marx, Eduard Krüger und Franz Brendel).17 Der für die Neue Zeitschrift für Musik schreibende Musiker und Musikkritiker Eduard Krüger unterscheidet in einem Aufsatz aus dem Jahre 1847 drei Stufen des Vortrags:

1. den »unmittelbare[n] oder natürliche[n] Vortrag: baare nackte Objectivität, rhythmische Strenge, tonische Buchstäblichkeit; allgemeine Grundlage aller musikalischen Darstellung« –

2. den »subjective[n] Vortrag, sinnlich, anmuthig, gefühlvoll, überhaupt der Reflexion zugehörig [...]; selbständiges Leben, Höhe und Tiefe des eigenen Herzens« – sowie

3. den »künstlerische[n] Vortrag, die beiden unteren vereinend, objective Wirklichkeit und Strenge mit dem inglühenden Feuer des mitschaffenden, mitlebenden Herzens verbunden«.18

An der Konstruktion eines idealen oder künstlerischen Vortrags aus objektivem und subjektivem Vortrag bzw. aus objektiven und subjektiven Anteilen wird bis weit ins 20. Jahrhundert hinein festgehalten. Vor ihrem Hintergrund erfolgten alle großen Diskussionen der Vortragstheorie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie bildet nicht zuletzt den Kern des Interpretationsbegriffs im ersten Lexikoneintrag bei Riemann / Einstein.19 Und sie prägt in hohem Maße große Teile der in den 1940er- und 1950er-Jahren entstandenen Reproduktionstheorie von Adorno.20

II. Interpretation im emphatischen Sinn?

Fragt man nun, wie sich die skizzierten Modelle zu dem am Ende des 20. Jahrhunderts verbreiteten Konzept der Interpretation verhalten, so muss die erste vorläufige Antwort lauten, dass sich in jedem Modell wesentliche Elemente des späteren Interpretationskonzepts ausmachen lassen – ja sie zum Teil regelrechte Topoi ausbilden, die sich bis heute im Interpretationsdiskurs gehalten haben –, dass die stärkste Übereinstimmung jedoch mit dem Modell der Subjekt-ObjektDichotomie besteht.

Bevor ich nun die sieben Modelle noch einmal im Einzelnen durchgehe, möchte ich versuchen, die Bedeutung des Interpretationsbegriffs am Ende des 20. Jahrhunderts kurz zu umreißen. Zur Kennzeichnung des Interpretationsbegriffs in Abgrenzung zu anderen möglichen Vortragsbegriffen wird in der Regel auf die Bedeutung des Terminus im Sinn von Auslegung, Erklärung, Deutung (lateinisch interpretatio) verwiesen in Analogie zur Auslegung sprachlicher Texte in Theologie, Philologie und Jurisprudenz. Hermann Danuser hat im Artikel Interpretation in der zweiten Ausgabe der MGG diesen Hinweis noch durch zwei weitere Annahmen präzisiert: zum einen, dass es offensichtlich etwas auszulegen gebe bzw. dass die Sache Auslegungen erlaube, zum anderen, dass in jedem Falle mehrere Auslegungen möglich seien, die nicht von vornherein nach den Kriterien richtig und falsch beurteilt werden könnten.21

Mit diesen beiden die Freiheit der Interpretation betonenden Annahmen ist die Sache meines Erachtens jedoch noch nicht zureichend beschrieben. Ergänzt werden muss sie um einen weiteren Punkt, den Danuser offenbar voraussetzt: den Sachverhalt, dass dem Notentext bei allen Deutungsmöglichkeiten eine hohe bindende Kraft zukommt. Nicht umsonst sind die Vergleichsobjekte aus anderen Sparten vor allem Texte in Theologie und Jurisprudenz: die Bibel und Gesetzestexte. Interpretation ereignet sich nur bei Texten von hoher Verbindlichkeit.

Wenn es in der Musik um eine hohe Verbindlichkeit des Textes geht, ist die Rede in der Regel von ›Werken‹ oder von Werken im emphatischen Sinn‹. Und genau darauf ist Interpretation auch ausgerichtet, wie vice versa. Letztlich ist die Sache einfach: Interpretation ist Werkinterpretation, und Werke bedürfen der Interpretation. Nicht mehr und nicht weniger. Schauen wir vor diesem Hintergrund noch einmal auf die sieben paradigmatischen Formulierungen der Vortragstheorie.

1. Johann Abraham Peter Schulz’ Konzept des Aus-der-Seele-des-Komponisten- Spielens zielt vor allem auf die auch später immer wieder begegnende Denkfigur, dass es nicht der Buchstabe sei, sondern der Geist, auf den es ankomme, sowie die Vorstellung, dass man im Interesse des Geistes durchaus gegen den Buchstaben verstoßen dürfe. Einen Notentext im Sinn eines verbindlichen Werktextes gibt es bei Schulz nicht bzw. er spielt keine nennenswerte Rolle.

2. In Schubarts Forderungen nach Schöpferkraft wie Ich-Auflösung begegnen die Konzeptionen des schöpferischen Vortrags wie die des Vortragenden als bloßes Medium. Ein Werk im emphatischen Sinn gibt es – trotz der Erwähnung einer Sonate von Bach – auch hier nicht. Das Problem des Vortrags wird lediglich auf der Ebene von Komponist und Spieler bzw. ihrer Idiome verhandelt. »Will ich eine Sonate von Bach vortragen, so muss ich mich so ganz in den Geist dieses grossen Mannes versenken, dass meine Ichheit wegschwindet, und Bachisches Idiom wird.«22 Darüber hinaus werden die beiden Forderungen nach Schöpferkraft und Ich-Auflösung in keinerlei Verhältnis zueinander gesetzt, sodass auch nicht klar wird, ob Schubart sie überhaupt als Widerspruch empfindet.

3. In Pierre Baillots Modell der Stilverschmelzung werden die verschiedenen Ansprüche von Komponist und Spieler dagegen durchaus in Beziehung zueinander gesetzt – die Stile müssen zu einem Ausgleich finden, miteinander verschmelzen eben, doch gibt es auch hier kein ›Werk‹. Die Frage wird, ähnlich wie bei Schubart, auf der Ebene des Idioms bzw. Stils verhandelt. Und am Ende des Weges steht bei Baillot auch nicht der Ausdruck des Stücks oder des Komponisten, sondern der Ausdruck des Spielers.

4. In Johann Gottlieb Heusingers »Werk«, in dem alles Schöne, Geistreiche, Treffende »dem Componisten gehört«23, gibt es dann zum ersten Mal das Werk im emphatischen Sinn, und es wird auch als Werk bezeichnet. Der Virtuose, dessen Sache es sei, den Komponisten zu verstehen und in seinem Vortrag das Werk nicht zu »verunstalten«, es »gerade so zu geben wie es sei«24, ist jedoch noch kein Interpret im oben skizzierten Sinn; er ist vielmehr jener ›Diener‹, der im weiteren Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts als ›Diener am Werk‹ zumal im musikalischen Feuilleton zu großen Ehren gelangen sollte.

5. Bei E. T. A. Hoffmann gibt es das Werk im emphatischen Sinn natürlich auch. Von ihm ist in dem entsprechenden Passus ausdrücklich die Rede, es wird als solches bezeichnet, und nicht zuletzt geht dem Passus über den Vortrag eine eingehende Werkanalyse voraus. Darüber hinaus erscheint das Werk, ganz im Sinn der Hoffmann’schen Metaphysik der Instrumentalmusik, kunstreligiös aufgeladen, so aufgeladen wie der Vortrag des Werks auch. Beiden eignet »Weihe«. So kommt es, dass der vortragende Künstler, obwohl er es verschmähen soll, »auf irgend eine Weise seine Persönlichkeit geltend zu machen«25, letztlich nicht zum ›Diener‹ wird, sondern, auch wenn das Wort nicht fällt, zum ›Priester‹ – ein Topos, der in der Musikkritik gleichfalls bis heute begegnet.

6. Bei Hegel begegnen dann zwar zum ersten Mal die Begriffe »objektiv« und »subjektiv«, doch bringt er sie nicht in Verbindung zueinander. Objektiver und subjektiver Vortrag bleiben – bei aller differenzierten Beschreibung des objektiven Vortrags – kategorial getrennt. Eine ›Interpretation‹ im emphatischen Sinn stellt keine der beiden Vortragsarten dar. Beim objektiven Vortrag gleicht der ausübende Musiker dem Diener Heusingers – er will auch bei Hegel nur ein »gehorchendes Organ« sein26 –, beim subjektiven Vortrag geht es nicht um ›Werke‹, sondern um skizzenhafte Vorlagen, um Skripte, die improvisatorisch-virtuos in Szene gesetzt werden sollen.

7. Im idealen oder künstlerischen Vortrag der durch Hegel inspirierten Vortragstheorien von Adolf Bernhard Marx, Eduard Krüger und Franz Brendel zeichnet sich dann unverkennbar so etwas wie ›Interpretation im emphatischen Sinn‹ ab. Das Objekt ist nicht mehr ein Stil oder der Komponist, sondern ein konkreter Notentext: ein Werk. Und als Objekt im Rahmen einer Subjekt-Objekt-Dichotomie bedarf es auch eines Subjekts – so wie das Subjekt eines Objekts bedarf –, und nur sie beide zusammen vermögen das Ganze zu bilden: ein Werk zum Sprechen zu bringen. Die Parallelen zum Konzept der Werkinterpretation sind augenfällig.

III. Interpretation und Subjekt-Objekt-Dialektik

Gewinn der Subjekt-Objekt-Dichotomie war, dass sie ermöglichte, Phänomene in eine bestimmte Konstellation zu setzen, die vorher unverbunden nebeneinandergestanden hatten – so etwa die Forderungen nach Schöpferkraft und Ich-Auflösung bei Schubart. Nachteil war zunächst einmal, dass sie nur mit zwei Variablen operierte, einem Subjekt und einem Objekt, das gesamte Setting in Wahrheit jedoch komplexer war. Neben Notentext und Interpretensubjektivität gab es eben die Autorintention, aber auch solche gleichsam intersubjektiven Faktoren wie historische Kenntnisse bezüglich Aufführungsstil und Biografie oder analytische Einsichten – wie z. B. die das ausgehende 19. Jahrhundert in Atem haltende Phrasierungslehre Hugo Riemanns. Sie alle schienen für die Aufführung eine große Bedeutung zu haben, waren von der einfachen Subjekt-Objekt-Dichotomie aber nicht zu erfassen, was zu weitläufigen Überlegungen Anlass bot: ob das Objekt denn nun eigentlich der Notentext sei oder nicht vielmehr ein vom Autor Gemeintes (Adolph Kullak)27.

Von dieser Fragestellung zehrt noch die erste lexikalische Bestimmung des Interpretationsbegriffs in Riemanns Musik Lexikon:

»Der Komponist hat in den Notenzeichen die lebendige Gestalt seiner Schöpfung nur andeutungsweise fixieren können; die Nachschöpfung aus diesem Notenbild heraus durch den Sänger, Spieler, Dirigenten heißt I[nterpretation]. Aus der Annäherung an jene vom Komponisten gemeinte Idealgestalt ergibt sich die Qualität der I[nterpretation]; der Subjektivität des Ausführenden ist dabei ein ästhetisch durchaus berechtigter, freilich begrenzter Spielraum gelassen.«28

Neben dem Notentext gibt es die »vom Komponisten gemeinte Idealgestalt«. Aus der Annäherung an sie bestimme sich die Qualität der Interpretation. Der »Subjektivität des Ausführenden« sei dabei »ein ästhetisch durchaus berechtigter«, wenn auch »begrenzter Spielraum gelassen«. Der Formulierung liegt unverkennbar die Subjekt-Objekt-Dichotomie zugrunde, wobei die Objekt-Bestimmung gezielt umgangen wird bzw. differenziert erfolgt. Im Übrigen erweist sich die Formulierung als spezifisches Ergebnis der Diskurse um den subjektiven und objektiven Vortrag – wem der Vorzug zu geben sei – am Ende der 1920er-Jahre: nach Spätromantik, die den subjektiven Vortrag präferierte, und Neuer Sachlichkeit, die Objektivität einklagte.

Die Nähe der auf der Subjekt-Objekt-Dichotomie basierenden Aufführungskonzepte des mittleren 19. Jahrhunderts sowohl zum Interpretationskonzept Adornos als auch zu jüngeren Interpretationsbegriffen, die sich auf ›Auslegung‹ in Analogie zur Auslegung sprachlicher Texte berufen, beruht darauf, dass für den Interpretationsbegriff Adornos wie für die Mehrzahl aktueller Interpretationskonzepte die Autorintention kaum eine Rolle spielt, für Adorno darüber hinaus auch die Frage aufführungspraktischer Regularien nicht. Mit anderen Worten: Die Aktualität der Subjekt-Objekt-Dichotomie setzt entweder eine vorsätzliche Reduktion des Settings auf einen Werktext und ein Interpretensubjekt voraus, wie es bei Adorno der Fall ist, oder aber ein Setting, bei dem alles außer dem Notat selbst in einen Prozess der Subjektivierung hereingezogen wird, wozu jüngere Aufführungstheorien neigen, Die Autorintention gilt in der Mehrzahl der Fälle als nicht rekonstruierbar und sie braucht es im Rahmen einer Musikkultur, welche sich vor allem auf Werke vergangener Zeiten stützt, die der steten Neu-Lektüre bedürfen, um lebensfähig zu bleiben, auch nicht zu sein. Alles andere – die Kenntnis historischer Aufführungspraktiken, Einsichten der musikalischen Analyse – mag man zwar als intersubjektiv bezeichnen, es muss in jedem Falle jedoch subjektiv anverwandelt werden. Und es ist auch keine in dem Sinn objektive Instanz wie der Notentext selbst, gegen den man immerhin ›verstoßen‹ kann, wenn man gegen ihn nach einer fest eingewurzelten communis opinio des 20. Jahrhunderts auch nicht verstoßen darf. In dem Aufsatz Zum Problem der Reproduktion von Adorno aus dem Jahr 1925 heißt es, dass »alle Interpretation am ›Text‹. am kompositorisch Fixierten schlechthin, seine Grenze« habe.29 Ähnlich lautende Aussagen finden sich bei Roman Ingarden30, und selbst Vertreter jüngster Performance-Theorien lassen gerade dieses Diktum unangetastet.

Ich komme zum Schluss. Gesteht man den sich auf eine Subjekt-Objekt-Dichotomie stützenden Aufführungskonzepten der 1840er- und 1850er-Jahre zu, zum ersten Mal so etwas wie Interpretation im emphatischen Sinn zu umschreiben, so bestätigt sich ein weiteres Mal das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts als Schwellenzeit der Aufführungsgeschichte: Nicht nur fällt Mendelssohns und Clara Schumanns Wirken in diese Zeit, nicht nur begegnet das Wort Interpretation zum ersten Mal vereinzelt, auch von einer Dialektik von Werk und seiner Interpretation lässt sich erstmalig reden. Was nicht bedeutet, dass ältere Aufführungsmodelle bzw. Denkfiguren ausgedient gehabt hätten: die Ich-Auflösung des ausübenden Künstlers, die Verschmelzung der Idiome von Komponist und Virtuose, der ausübende Künstler als Medium, Diener oder Priester.31 Interpretation war eben keineswegs die allein bevorzugte Form der Aufführung komponierter Musik.

1 Eggebrecht 1967; Danuser 1996.

2 So insbesondere Hinrichsen 2009, Loesch 2017, Spaltenstein 2017.

3 Riemann 1901.

4 Artikel 1929.

5 Vgl. dazu ausführlicher auch Hunter 2005 und Loesch 2019.

6 Schulz 1774 (1794), S. 706–707.

7 Ebd., S. 714.

8 Ebd., S. 710.

9 Schubart 1784–1785 (1806), S. 295.

10 Baillot 1793 (1806), S. 20–21.

11 Heusinger 1797, S. 188.

12 Ebd., S. 189.

13 E. T. A. Hoffmann 1812–1813 (1965), S. 48–49.

14 Hegel 1835–1838 (1985), S. 324.

15 Ebd.

16 Ebd.

17 Marx 1826 und 1839, Krüger 1847, Brendel 1852.

18 Krüger 1847, S. 21–22.

19 Artikel 1929.

20 Adorno 1925–1959 (2001); vgl. auch Janz 2019.

21 Danuser 1996.

22 Schubart 1784-1785 (1806), S. 295.

23 Heusinger 1797, S. 188.

24 Ebd.

25 E. T. A. Hoffmann 1812-1813 (1965), S. 48-49.

26 Hegel 1835–1838 (1985), S. 324.

27 Kullak 1861 (1876), S. 43.

28 Artikel 1929,

29 Adorno 1925 (1984), S. 440,

30 Ingarden 1962.

31 Vgl. dazu Loesch 2019, S. 63.

Die Clavichord-Sammlung im Musikinstrumentenmuseum der Universität Leipzig

Organologische Perspektiven in Forschung, Lehre und Transfer

Josef Focht

QUELLEN UND LITERATUR