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Carl-Auer

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Systemische Soziale Arbeit

»Sozialarbeiterische Minimalethik: Steigere Alternativität!«

Peter Fuchs

Soziale Arbeit, als Einheit von Sozialarbeit und Sozialpädagogik, kann inzwischen als etablierte Profession und als aufstrebende Disziplin der Sozialwissenschaften gelten. Hinsichtlich der Profession lässt sich die Soziale Arbeit als systemische Praxis beschreiben und erklären sowie mit den vielfältigen Handlungsoptionen systemischer Methodik anreichern. In der Wissenschaft der Sozialen Arbeit sind Systemtheorie und Konstruktivismus als Paradigmen anerkannt.

Systemische und systemtheoretische Konzepte entsprechen den komplexen Aufgabenfeldern und Herausforderungen der Sozialen Arbeit in besonderer Weise. Sie erlauben es, einen Blick zu schulen und zu vertiefen, den die Soziale Arbeit seit jeher einzunehmen versucht: einzelne Menschen bei der Bewältigung ihrer alltäglichen Lebensführung nicht mit ihren Problemen zu verwechseln. Vielmehr geht es Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern in ihrer Unterstützungsarbeit darum, die sozialen Verhältnisse, die systemischen Kontexte einzublenden, die die Verhaltensweisen von Menschen, ihre Eigenschaften und Probleme herausfordern, verfestigen und auch lösen können. Die klassische These, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, lässt sich mit der Systemtheorie nicht nur postulieren, sondern wissenschaftlich darstellen und methodisch so nutzen, dass überraschende Potenziale des Denkens und Handelns kreiert werden können.

Die Reihe Systemische Soziale Arbeit verfolgt das Ziel, die Potenziale und Grenzen der systemischen Sozialarbeitspraxis und Sozialarbeitstheorie auszuloten und weiterzuentwickeln. Dabei sollen das gesamte Spektrum der Sozialen Arbeit, ihre Vielschichtigkeit, ihre zahlreichen Arbeitsfelder und Rahmenbedingungen ausgeleuchtet und methodisch fundiert werden. Damit bieten die Bücher der Reihe praktizierenden Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen sowie Studierenden und Lehrenden Perspektiven an, die den Möglichkeitsraum des Denkens und Handelns nachhaltig erweitern.

Prof. Dr. Heiko Kleve

Herausgeber der Reihe Systemische Soziale Arbeit

Frank Früchtel
Erzsébet Roth

Familienrat und inklusive, versammelnde Methoden des Helfens

Unter Mitarbeit von Sophie Richter und Jörg Vollmar

2017

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Themenreihe »Systemische Soziale Arbeit«

hrsg. von Heiko Kleve

Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

Umschlagfoto: pixabay.com

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

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Erste Auflage, 2017

ISBN 978-3-8497-0185-7 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8096-8 (ePUB)

ISBN 978-3-8497-8083-8 (PDF)

© 2017 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Tel. + 49 6221 6438-0 · Fax + 49 6221 6438-22

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Inhalt

Geleitwort

1Einleitung

2Das Jugendamt nimmt die Kinder von Herrn Gärtner mit, und eine Familie hilft gemeinsam: Ablauf und Grundsätze des Familienrates

2.1Haltung der Fachkräfte und Indikation

2.2Neutralität der Koordination

2.3Vorbereitung

2.3.1Heimspiel und gemeinsames Essen

2.3.2Rituale

2.3.3Einladung

2.4Informationsphase

2.5Family-only-Phase

2.6Verhandlungsphase

2.7Folgerat

3Das Geschenk der Maori an die Welt: Das Family Group Conferencing und seine Geschichte

3.1Maori – die Wikinger des Sonnenaufgangs

3.2Zentrale kulturelle Institutionen der Maori-Gesellschaft: Mana, Whakapapa und Koha

3.2.1Mana

3.2.2Whakapapa

3.2.3Koha

3.3Archaisches Geben als elementarer Sozialprozess

3.4Die Kolonialisierung Neuseelands

3.5Der Sachverständigenbericht Puao-Te-Ata-Tu und der »Children, Young Persons, and Their Families Act«

3.6Youth Justice Family Group Conference

3.7Care and Protection Family Group Conference

4Die Kinder von Frau Mbonge: Risiken und Nebenwirkungen professioneller Hilfe

4.1Die Kolonialisierung der Lebenswelt

4.2Begrenzung der Kolonialisierungsrisiken

4.3Der Familienrat als Resonanzboden für lebensweltliche Schwingungen

5Frau Hubert will keine Hilfe: Umgang mit isolierenden Vorbehalten

5.1Vermittlungskunst

5.2Auf ein unbefriedigendes Resümee aufbauen

5.3Familienrat als Methode, das Jugendamt loszuwerden

5.4Antworten auf isolierende Vorbehalte

5.5Fortsetzung: Frau Hubert will keine Hilfe

5.6Die Methode des »Nudging«

6Familie Cengiz-Libre sucht nach Verbündeten: Versammlungsmethoden machen das Netzwerk sichtbar und erweitern den Kreis der Beteiligten

6.1Theorien des sozialen Selbst

6.2Familie Cengiz-Libre

6.3Versammlungsmethoden

6.3.1Kreisfragen

6.3.2Methode »Mannschaftsaufstellung«

6.3.3Versammlungsimagination

6.3.4Neutralitätsdeklaration

6.3.5Commitment-Methode

6.3.6Verheißung mit Forderung

6.3.7Ein gelöstes Problem ansprechen

6.3.8Durchhangeln

6.3.9Metaphorisches Modell

6.3.10Netzwerkerkundung mittels Eco-Mapping

6.4Datenschutz

6.5Familie Cengiz-Libre hält Familienrat

7Vater und Sohn helfen gemeinsam: Probleme so thematisieren, dass sich Menschen verstanden fühlen und gemeinsam etwas tun wollen

7.1Vorbereitungsarbeit der Koordination

7.2Ein Heimspiel arrangieren

7.3Briefe für den Familienrat

7.4Der Familienrat tagt

7.5Sorgeerklärung

7.6Stärkerunde

7.7Restorative Social Work

8Amira weiß nicht wohin: Kultursensible Konfliktbearbeitung zwischen Tradition und Moderne

8.1Ein Familienrat in einer Situation familiärer Gewalt

Vorbereitung

Familienrat

Nach dem Familienrat

8.2Familienrat als eine Praktik zwischen Tradition und Moderne

Amira heute

9Frau Zacharias findet ihre Familie: robleme als Rohstoff für soziale Verbindungen und die Bedeutung von Ritualen und Folgeräten

Jörg Vollmar und Frank Früchtel

9.1Familienrat als Ultima Ratio

9.2Familienrat als Ritual

9.3Sozialer Mehrwert

9.4Routine als Methode: Über die Bedeutung von Folgeräten

10Familienrat als Konzept im Kinderschutz

10.1Risiken des Kinderschutzes

10.2Beispiel: Eine notwendige Wächter-SpFH

10.3Aspekte des Kinderschutzes in der UN-Kinderrechtskonvention

10.4Family Group Conference als originäres Kinderschutzverfahren in Neuseeland

10.5Familienrat im Kinderschutz nach § 36 SGB VIII

10.6Beispiel: »Machen Sie einen Plan, wer Paul ein sicheres Zuhause bereiten wird …«

11Ein Stundenplan sorgt für Familienfrieden: Grafisches Schreiben und leichte Sprache

Sophie Richter und Frank Früchtel

11.1Grafisches Schreiben

11.2Leichte Sprache

12Verbreitung, gesetzliche Verankerung und Organisationsmodelle: Globale Bestandsaufnahme des Family Group Conferencing

12.1Neuseeland

12.2Großbritannien und Irland

12.2.1Family Rights Group

12.2.2Daybreak

12.2.3Gesetzliche Grundlagen

12.2.4Forschung: »Advocacy« und »Service-user involvement«

12.2.5Irland

12.3Australien

12.3.1Gesetzliche Grundlagen der einzelnen Bundesstaaten zur Kinderschutzgesetzgebung (»Child Protection Legislation«)

12.3.2Drehbuch der »Real Justice Conference«

12.4Kanada: Kulturelle Angemessenheit und Gemeinschaft (»community«) in der Hilfeplanung

12.5Vereinigte Staaten

12.5.1American Humane Association und ihre FGC-Webseite

12.5.2»Restorative practices«

12.6European FGC Network

12.7Niederlande: Bürger-Koordinatoren und »Eigen Kracht Centrale«

12.8Skandinavien: Forschung zum Family Gruop Conferencing

12.8.1»Knowledge Review«: Instrumentelle und relationale Dimensionen des Family Group Conferencing

12.8.2»Nordic Research Report«: Partizipation von Kindern und Jugendlichen

12.9Österreich und Schweiz

12.10Deutschland

12.10.1Regionale Entwicklungen

13Familienrat in Zahlen

13.1Forschungsdesign der wissenschaftlichen Evaluation

13.2Regionale Verbreitung des Verfahrens

13.3Die Familien

13.4Ausgangslage und Realisierung eines Familienrates

13.5Vorbereitung, Teilnehmer, Ort und Dauer von Familienräten

13.6Hilfe, Selbsthilfe und »Wir-Hilfe« als Potenziale des Familienrates

14Ausblick: Familienrat als relationale Hilfe

14.1Fallbeispiel: Vier Mütter mit einer gemeinsamen Sorge

14.2Personenzentrierung des modernen Humanismus

14.3Humanismus und Homo oeconomicus: Wie Personenzentrierung und Nutzenmaximierung zusammenpassen

14.4Transdisziplinärer Exkurs ins Tierreich: Symbiose und Kooperation statt Kampf und Konkurrenz

14.5Empathieforschung und das soziale Selbst

14.6Das reziproke Eigene und das Resonanzkonzept

14.7Neue »relationale« Hilfeformen

14.7.1Gemeinschaftskonferenzen

14.7.2Zukunftsfest bzw. persönliche Zukunftsplanung

14.7.3»Talking circles«

14.8Eigenschaften des relationalen Helfens

14.8.1Probleme sind Potenziale

14.8.2Crowding-in bzw. Kreiserweiterung

14.8.3Problemvergemeinschaftung

14.8.4Gemeinsamkeit vor Wirksamkeit

Literatur

Über die Autoren

Geleitwort

Das vorliegende Buch ist ein Glücksfall für alle Fachkräfte der sozialen Arbeit, auch für Lehrkräfte und Mitarbeiter in Kindertagesstätten, Frühförderung, Eingliederungshilfe und vielen anderen sozialen Arbeitsfeldern. Es beschreibt den Familienrat anhand unterschiedlicher Geschichten, die aus dem Leben gegriffen sind, entwickelt dabei die fachlichen Fragestellungen, die sich professionelle Helfer im Zusammenhang mit dem Familienrat stellen, und ordnet das Ganze in einen weit gefassten theoretisch-philosophischen Zusammenhang ein.

Damit liegt hier ein Fachbuch vor, das leicht und geradezu unterhaltsam zu lesen ist und die »schwere Kost« der Theorie so vermittelt, dass die Leser die Werke von Habermas, Bourdieu, Rosa u. v. a. tatsächlich für ihre Arbeit nutzen können. Sie werden zur Selbstreflexion angeregt, können einen Schritt zurücktreten und ihre Praxis von einer Metaebene aus betrachten. Das hilft, die eigene Haltung und das alltägliche Tun durch Erkenntnis weiterzuentwickeln. Gleichzeitig gibt es eine Vielzahl von methodischen Hinweisen und Tipps, die nicht nur im Zusammenhang mit dem Familienrat nutzbar sind, sondern auch die Kommunikation und die Kooperation zwischen Fachkräften und Adressaten von (staatlich finanzierter) Hilfe bzw. Unterstützung erleichtern und optimieren können.

Die Autoren blicken dabei über den Tellerrand der Jugendhilfe und die Grenzen von Deutschland hinaus. Sie stellen z. B. Methoden aus der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung vor, leichte Sprache und grafisches Schreiben. Das sollte auch in der Jugendhilfe »Pflichtfach« werden. Praxisberichte zeigen, dass es immer wieder zu Missverständnissen oder gänzlichem Unverständnis kommt, weil die »ganz normalen Menschen« die Sprache der Fachkräfte nicht verstehen. Das hat weniger mit deren intellektueller Kompetenz zu tun als mit einer Fachsprache, die – aus welchen Gründen auch immer – so speziell und kompliziert ist, dass sie im Alltag nicht allgemein verständlich ist. Leichte Sprache und grafisches Schreiben fordern uns heraus, wir müssen »auf den Punkt kommen«, klar und deutlich sagen, worum es geht, und unsere geliebten Fachausdrücke außen vor lassen.

Die Theorien des sozialen Selbst regen zum Nachdenken darüber an, ob Hilfen, die aufgrund von Rechtsansprüchen erbracht werden, von fremden Menschen, die ihr Geld damit verdienen, wirklich das Nonplusultra eines gelingenden Lebens sind – so wird es uns ja in der teilweise unsäglichen Debatte um das Fachkonzept »Sozialraumorientierung« von einigen Protagonisten gerne weisgemacht.

Nicht die professionelle sozialpädagogische Familienhilfe macht glücklich, sondern das Gefühl: »Da gibt es Menschen, die zu mir stehen und mich unterstützen, weil ich es bin, weil ich ihnen wichtig bin, weil sie mich mögen.« Super, wenn es daneben auch noch die Möglichkeit gibt, professionelle Hilfe zu bekommen, »wenn ich sage, dass ich sie brauche, und dabei auch definieren kann, wie viel Hilfe ich benötige und in welcher Art und Weise. So kann ich mich zugehörig und aufgehoben fühlen in meiner Familiengruppe und gleichzeitig Chef in meinem Leben bleiben.«

Insofern sollte das vorliegende Buch nicht nur von denen gelesen werden, die sich ohnehin schon für den Familienrat begeistern. Ich würde mir wünschen, dass dieses Werk zur Pflichtlektüre für junge genauso wie für erfahrene Fachkräfte der Sozialen Arbeit wird und so dazu beiträgt, das Verfahren Familienrat auch im deutschsprachigen Raum zu einem Regelinstrument zu machen wie in Neuseeland. Gesetzliche Regelungen können das sicher unterstützen, aber viel wertvoller sind doch Fachkräfte in allen Bereichen, die die Philosophie der versammelnden Methoden verinnerlicht haben und sie im Kontakt mit ihren Adressaten leben.

Birgit Stephan

Koordinatorin für den Familienrat in der

Freien und Hansestadt Hamburg

1    Einleitung

In manchen Stadtwohnungen sind die Wände ziemlich dünn. »Hure«, »Miststück« und Ähnliches wird geschrien. Ich sitze im Pyjama vor dem Fernseher. Dann höre ich ein Kind weinen. Ich mache den Fernseher leise und überlege, rüberzugehen und zu fragen, ob alles in Ordnung sei, ob ich irgendwie helfen kann. Aber ich bin schon im Pyjama, und es würde den Nachbarn nicht gefallen: »Mischen Sie sich nicht ein, das geht Sie nichts an«, würden sie sagen. Oder sie machen gar nicht erst auf. So entscheide ich mich, sitzen zu bleiben. Außerdem gibt es für solche Fälle ja das Jugendamt oder die Polizei. Ich nehme mir vor, noch fünf Minuten zu warten und dann anzurufen, aber dann hört der ganze Zinnober so schnell auf, wie er angefangen hat. Es bleibt still, und ich bin erleichtert, nichts tun zu müssen, obgleich es sich nicht gut anfühlt.

Am nächsten Tag sehe ich die Nachbarin im Treppenhaus. Sie wendet ihr Gesicht von mir ab und versucht ein blaues Auge zu verstecken. Wir gehen schweigend aneinander vorbei, ich habe einfach nicht den Mut, sie anzusprechen. Aber wenn das noch mal vorkommt, rufe ich an, nehme ich mir fest vor.

Polizei, Jugendamt, Familienrichter, Vormünder, Sozialarbeiter, Eheberater, Therapeuten, Kinderärzte, Fallmanager – sie alle sind notwendig für einen guten Sozialstaat. Gleichzeitig verlernen die Nachbarn, selbst etwas zu tun, denn dafür gibt es ja Fachleute. Die Fachleute verlernen ihrerseits, die Nachbarn, Freunde, Bekannten und Arbeitskollegen zu fragen, ob die etwas tun können. Der ganze soziale Sektor ist geprägt von Einzelfallhilfen: Einzelnen wird geholfen, die in Gemeinschaften leben. Wenn diese Gemeinschaften achtsam sind und wenn die Fachkräfte es schaffen würden, diese Gemeinschaften einzubeziehen – wer weiß, vielleicht würde der Fall meiner Nachbarn nie ein Fall fürs Jugendamt. Was wäre, wenn wir dafür Methoden entwickeln würden … ?

Vor 25 Jahren wurde in der neuseeländischen Jugendhilfe eine radikale Form der Betroffenenbeteiligung gesetzlich verankert. Diese orientiert sich an indigenen Praktiken der Maori und untersagt Fachkräften die Aufstellung von Hilfeplänen. Stattdessen beauftragt sie ganze Verwandtschaften und Freundesgruppen mit Lösungsfindung, Entscheidung und Planung. Das Family Group Conferencing war Antwort auf die Kritik, die Beteiligung von Eltern und Kindern auf die Auswahl der Standardhilfen zu reduzieren und den weiten Kreis der wichtigen, aber nicht juristisch sorgeberechtigten Menschen – das viel zitierte Dorf, das man braucht, um ein Kind zu erziehen – zu bloßen Zuschauern der professionellen Jugendhilfeleistungen zu machen: Großeltern, Tanten, Freunde, Nachbarn, Kollegen, Peers etc.

In Deutschland wurde der erste Familienrat im Jahr 2005 organisiert. Ich erinnere mich, wie eine Jugendamtsleiterin das damals in Deutschland noch gänzlich unbekannte Hilfeplanverfahren der Family Group Conference mit den Worten kommentierte: »Das ist ja schön und gut – nur leider haben wir hier in Deutschland keine Maori-Indianer!« Vielleicht hatte sie ja recht: Hätten wir hierzulande früher damit begonnen, kultursensible Hilfeformen zu entwickeln, wäre man schon längst auf das Family Group Conferencing gestoßen. So wurde es in Deutschland – im Vergleich zu den angloamerikanischen und skandinavischen Ländern – erst mit 15 bis 20 Jahren Verzögerung bekannt.

Damals war der Ausgangspunkt die Lebensweltorientierung. Man wollte Formen des Helfens und der Hilfeplanung entwerfen, welche die Lebensweltferne professioneller Methoden und administrativer Abläufe in Richtung der Strukturmaximen des 8. Jugendberichts verringern. Mit »Verwandtschaftsräten« und »Familiengruppekonferenzen« – so die ersten deutschen Bezeichnungen – wurde erprobt, ob sich fachliche und hoheitliche Aufgaben auch dann realisieren lassen, wenn man die Betroffenen selbst auf dem »Fahrersitz« ihrer Hilfeplanung Platz nehmen lässt.

Das partizipatorische, lebensweltorientierte Anliegen dieses Hilfeplanverfahrens war der Ausgangspunkt. Man wollte die Abtretung der aktiven Rolle der Betroffenen an (Fach-)Autoritäten verhindern sowie Alltagspraktiken und lebensweltliche Tradition gegenüber wissenschaftlichen Ansätzen stärken, um die Überformung lebensweltlicher Unterstützungskulturen durch professionelle Hilfelogiken zu verringern.

Im Zuge des aufkommenden sozialräumlichen Diskurses wurde der »Familienrat« – so der später für den deutschsprachigen Raum vereinbarte Name – dann auch als Möglichkeit der Ressourcenmobilisierung gesehen. Das Konzept sieht vor, einen weiten Kreis von Menschen zu beteiligen. Dadurch werden Hilfeleistungen aus dem Netzwerk der Betroffenen angeregt, die unter Umständen passgenauer sind, weil sie wohnort- und milieunah sind und von gewachsenen Beziehungen getragen werden.

Die systemische Sichtweise des Familienrates hebt hervor, dass Problemursachen und Lösungspotenziale nicht individuellen Symptomträgern und Hilfeexperten zugeschrieben werden, sondern der Kontext einbezogen und Autopoiese ermöglicht wird. Die operative Geschlossenheit des Familiensystems gegenüber dem Hilfesystem wird verfahrensmäßig modelliert; Fachkräfte und Familiengruppe werden zwar durch einen vorgegebenen Ablauf »strukturell gekoppelt«, die Familiengruppe arbeitet aber selbstreferenziell und erhält durch die Sorgeerklärung nur einen Anstoß von außen.

Der neueste Diskurs betont die relationalen Aspekte des Familienrates: Probleme werden nicht einseitig als Defizite aufgefasst, sondern als sozial wertvolle Gelegenheiten, Menschen miteinander in Verbindung zu bringen. Aufbau und Erhalt von Beziehungen und Gemeinschaft gelten als mindestens genauso wichtig wie instrumentelle Problemlösungen und die emotionale und kommunikative Resonanz; die Berührung zwischen Menschen wird gegenüber dem zweck- und zielbezogenen Handeln gestärkt. Zudem entstehen Hilfen, die mit Reziprozitätserwartungen aufgeladen sind und deswegen zur Stabilität des sozialen Zusammenhalts beitragen. So wird der Familienrat nicht mehr in erster Line als Verfahren des Hilfesystems gesehen, sondern als verwandtschaftliche, freundschaftliche und bürgerschaftliche »Wir-Hilfe«.

Schließlich hat der Familienrat als Verwaltungsverfahren auch die dort mittlerweile zur Prämisse gewordene Wirkungsorientierung zu bedienen. Von einem neuen Verfahren werden instrumentelle und problemlösende Wirkungen erwartet, welche die Effekte bisheriger Verfahren übertreffen. Veränderungsbedürftige Situationen sollen verbessert werden. Und weil dies im Bereich sozialer Dienstleistungen immer nur in Koproduktion mit den Adressaten geschehen kann, verspricht der Familienrat durch seine intensive Form der Betroffenenbeteiligung bessere Ergebnisse als eine expertenlastige Hilfeplanung.

Mittlerweile sind Conferencing-Verfahren außer in der Erziehungshilfe auch in Strafvollzug, Jugendgerichtshilfe, Gesundheitshilfe, Behindertenhilfe, Sozialpsychiatrie, Altenhilfe und Schulen gebräuchlich. Gesetzlich verankert ist der Familienrat nun in etwa einem Dutzend Regionen und Ländern der Welt. Dies vereinfacht seinen Einsatz wesentlich, ist er doch eine Mischung aus lebensweltlicher Praxis, professioneller Methode und gesetzlichem Verfahren und somit auf Legitimierung in allen diesen Sphären angewiesen.

Hierzulande ist der Familienrat in der Jugendhilfe in vier unterschiedlichen Organisationsformen etabliert worden:

Es gibt zertifizierte Ausbildungen, fachliche Netzwerke und eine wachsende Zahl von Anwendern. Deswegen ist es an der Zeit, ein Fachbuch vorzulegen, das den bisherigen Stand der Entwicklung zusammenfasst. Mit diesem Buch wird einerseits die theoretische Einbettung dieses ungewöhnlichen Verfahrens vorangetrieben, andererseits wird das, was sich bislang weltweit an »Versammlungsmethodik« entwickelt hat, praxisnah anhand von Fallbeispielen und methodischen Analysen vermittelt.

Zur Gliederung

Die meisten Kapitel dieses Buches beginnen mit einem Fallbeispiel, anhand dessen ein besonderer fachlicher Aspekt des Conferencing illustriert wird. Daran schließen sich methodische Vertiefungen und Materialsammlungen an. Da fachliches Handeln in unterschiedlichen Fallkonstellationen variiert, haben wir wichtige fachliche »Essentials« wiederholt dargestellt, um verschiedene Facetten ihres Einsatzes zu zeigen. Querverweise im Text ermöglichen es, alle inhaltlich zusammengehörigen Stellen zu finden. Sämtliche Fallbeispiele stammen aus der Praxis, wurden aber für dieses Buch geringfügig verändert, um den Datenschutz und die Anonymität der betroffenen Familiengruppen zu gewährleisten.

Bei Kap. 9 fungierte Jörg Vollmar als Koautor von Frank Früchtel, bei Kap. 11 war es Sophie Richter. Alle anderen Kapitel haben Frank Früchtel und Erzsébet Roth gemeinsam verfasst.

2    Das Jugendamt nimmt die Kinder von Herrn Gärtner mit, und eine Familie hilft gemeinsam: Ablauf und Grundsätze des Familienrates

Es klingelt. Ingo Gärtner (52) fragt sich, wer so früh am Morgen vor seiner Wohnungstür steht. Es passt gerade gar nicht. Jeder Morgen ist stressig. Allein drei Mädchen schulfertig zu machen und berufstätig zu sein ist alles andere als einfach. Als seine Frau vor anderthalb Jahren die Scheidung einreichte und sich nicht mehr für die gemeinsamen Kinder interessierte, hat sich alles verändert. Wenn Herr Gärtner in seiner Firma als Sicherheitsmann seine Routen läuft, plagt ihn oft ein schlechtes Gewissen. Er kommt einfach nicht dazu, die Wohnung aufzuräumen. Mittlerweile ist das Wohnzimmer so vollgestellt, dass nur noch ein schmaler Weg zur Couch führt. »Papa, bei meiner Freundin Lara haben sie zu Hause ganz viel Platz! Ich will hier auch mehr Platz haben!«, hat seine jüngste Tochter kürzlich gefordert. Lehrer rufen mittlerweile regelmäßig an, weil seine Töchter oft die erste Stunde verpassen. Bis am Morgen alle Mädchen versorgt und aus dem Haus sind, dauert es manchmal zwei Stunden.

Herr Gärtner macht die Tür auf und schaut in das besorgte Gesicht der Mitarbeiterin des Jugendamtes: »Frau Schnelsen, was … was kann ich für Sie tun?« Neben Frau Schnelsen steht ein Mann, offenbar ein Kollege. Herr Gärtner wird unsicher. Seine mittlere Tochter Leonie (8) läuft mit nackten Füßen über den kalten Boden zu ihrem Vater, immer noch im Schlafanzug, obwohl sie schon längst losgehen müssten, um pünktlich in der Schule zu sein. Ihren großen Teddybären hat sie im rechten Arm: »Papa, wer ist da?« Auch seine jüngste Tochter Janine (6) wandelt verschlafen den Flur entlang und schmiegt sich an ihren Vater, den Daumen im Mund.

»Herr Gärtner, es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber ich muss heute Ihre Kinder mitnehmen. Sie können erst einmal nicht bei Ihnen bleiben.« Der Vater regt sich nicht. Er steht unter Schock. »Papa, was meint Frau Schnelsen? Wird sie uns jetzt zur Schule bringen?«, fragt Leonie, während sie am Hosenbein ihres Vaters zupft. Frau Schnelsen kniet sich zur mittleren Tochter Leonie herab und erklärt ihr, dass sie heute nicht in die Schule gehen müssen. Sie würde gemeinsam mit ihren Schwestern eine Weile woanders leben. Leonie versteht die Bedeutung der Worte nicht und scheint sich über den bevorstehenden Ausflug zu freuen. Der Kollege von Frau Schnelsen fragt die Töchter, wo ihre Kleidung zum Anziehen zu finden ist. Die beiden Mädchen gehen in ihr gemeinsames Kinderzimmer und ziehen sich an.

Die älteste Tochter Nicole (12) kommt im Schlafanzug verwundert den Flur entlang. Sie scheint gerade aufgestanden zu sein. »Papa, was ist los?« Sie schaut besorgt. Herr Gärtner setzt sich langsam auf den Stuhl im Flur, den er extra für seine Kinder dort hingestellt hat, damit sie sich nicht auf den Boden setzen müssen, wenn sie ihre Schuhe anziehen. Er steht immer noch unter Schock. Frau Schnelsen antwortet für ihren Vater: »Nicole, wir nehmen euch heute mit. Ihr könnt hier erst einmal nicht bleiben. Wir haben eine schöne Unterkunft für euch gefunden.« Nicole schaut ungläubig: »Ich gehe hier nicht weg. Ich bleibe hier.« Frau Schnelsen antwortet ruhig: »Du musst mit uns kommen. Du kannst hier erst einmal nicht leben.« Nicole dreht sich um und läuft in ihr Zimmer. »Und wie ich hier leben kann! Es hat doch bis jetzt auch geklappt. Sie können machen, was Sie wollen, ich gehe hier nicht weg!« Sie verschwindet in ihrem Zimmer. Frau Schnelsen geht an Herrn Gärtner vorbei, der sich noch immer nicht rührt, und läuft Nicole hinterher. Aber bevor Frau Schnelsen eintreten kann, verriegelt Nicole ihre Tür. Die Jugendamtsmitarbeiterin redet durch die Tür auf Nicole ein, doch das junge Mädchen regt sich nicht. Währenddessen kommen Leonie und Janine angezogen aus ihrem Kinderzimmer. Der Kollege von Frau Schnelsen steht direkt hinter ihnen. Leonie bleibt vor Nicoles Tür stehen: »Sie mag keine Ausflüge. Nicole ist am liebsten in ihrem Zimmer.« Frau Schnelsen lächelt Leonie an und nimmt sie an die Hand. Vor der Wohnungstür bittet Frau Schnelsen die Kinder, mit ihrem Kollegen schon mal runterzugehen. Sie würde gleich nachkommen. Sie wendet sich an den Vater: »Herr Gärtner, kann ich jemanden für Sie anrufen? Ihre Schwester vielleicht?« Der Mann nickt versunken. Frau Schnelsen sucht in ihrem Handy nach der Nummer, die sie bei einem ihrer Hausbesuche abgespeichert hat, als die Schwester von Herrn Gärtner zu Besuch war. Sie verabschiedet sich und schließt die Wohnungstür. Herr Gärtner regt sich nicht. Es ist ganz still. Er kann das leise Schluchzen seiner ältesten Tochter hören. Und das Rauschen in seinen Ohren, es hört nicht auf. Er hat versagt.

2.1  Haltung der Fachkräfte und Indikation

Ein Familienrat beginnt mit dem Zutrauen und der Zuversicht der zuständigen Fachkraft, dass eine »erweiterte Familiengruppe« (siehe weiter unten) sehr wohl in der Lage ist, gute Entscheidungen für ihre Kinder zu treffen, auch wenn die Kernfamilie im Moment das Kindeswohl nicht sicherstellen kann.

Eine »Inobhutnahme«, wie im geschilderten Fall, ist eine kurzfristige Übergangslösung. Lässt sich die Kindeswohlgefährdung nicht abwenden, werden Kinder dauerhaft in einem Kinderheim oder in einer Pflegefamilie untergebracht. Zieht die Inobhutnahme einen langwierigen Rechtsstreit zwischen Jugendamt und Familie nach sich, können die Kinder bis zu zwei Jahre in diesen Zwischenunterbringungen verweilen. Dadurch können Kinder zusätzlich belastet werden, aber die Gewährleistung ihrer Sicherheit einerseits und die Rechte der Eltern andererseits machen diese unklaren Zwischenlösungen unvermeidbar. Fachkräfte gehen den Weg der Inobhutnahme nur, wenn sie erhebliche Zweifel an der momentanen Leistungsfähigkeit der Eltern haben. Für diese wirkt eine Inobhutnahme ihrer Kinder wie ein grundsätzliches Misstrauen gegen sie. Sie fühlen sich nicht selten vom Jugendamt hintergangen. Der Fachkraft ist aber bewusst, in welch schwierigen Umständen sich diese Eltern befinden, z. B. aufgrund von beruflichen Krisen oder Beziehungskonflikten. Nicht das Unvermögen der Eltern, sondern die Bearbeitung dieser Lebensumstände in Richtung auf einen »gelingenderen Alltag« (Thiersch u. Grunwald 2004, S. 18) steht im Zentrum der Intervention. Andererseits ist eine Inobhutnahme ein gewaltiger Eingriff in die Familie, der oft einen kaum zu überwindenden Argwohn gegenüber dem Jugendamt hervorruft. Der Familienrat stellt eine geeignete Möglichkeit dar, Eltern und Verwandten Anerkennung zu zeigen und die Entscheidungskompetenz für ihre Kinder bei ihnen zu belassen – auch in Situationen, in denen sie nicht allein für ihre Kinder sorgen können. Eine Inobhutnahme kann gleichzeitig einen Familienrat ankündigen und den Betroffenen signalisieren, dass sie in kürzester Zeit selbst wieder die Entscheidungen für ihre Kinder treffen können, sich dazu aber versammeln und gemeinsam helfen müssen.

Der Familienrat wird nicht nur in Fällen von Kindeswohlgefährdungen eingesetzt, sondern immer dann, wenn professionelle Hilfen so an die Lebenswelt der Betroffenen anzupassen sind, dass die Potenziale und Präferenzen der Betroffenen voll zum Tragen kommen können. Der Familienrat ist einerseits ein Aktivierungsinstrument, weil er die Mitwirkung der Leistungsberechtigten und von deren Netzwerk stimuliert, andererseits ein Beteiligungsinstrument, weil er weitgehende Möglichkeiten für Leistungsberechtigte schafft, auf Verwaltung und freie Träger Einfluss zu nehmen, was die Ausgestaltung ihrer Hilfe anbelangt.

Familienräte – im Englischen spricht man von »conferencing models« – werden versammelt,

Eine halbe Stunde später trifft die Mutter von Herr Gärtner in dessen Wohnung ein. Sie hat seinen Cousin und dessen Frau mitgebracht. Die Mutter hatte den Eindruck, »viel Familie« sei jetzt hilfreich. Herr Gärtner bricht in Tränen aus, nachdem die Verwandten die Wohnungstür zuziehen. Alle sind betroffen. Aber sie sehen auch, in welchem Zustand die Wohnung ist: Der Flur ist wie das Wohnzimmer mit Müllsäcken, Zeitungspapier und etlichen Magazinen vollgestellt. In der Küche findet sich keine freie Ablagefläche mehr. Alles steht ungewaschen herum: Töpfe, Tassen, Gläser, angebrochene Fertiggerichte und Nudeln. Altpapier, Pizzakartons, Bierkästen und leere Flaschen lassen keinen Quadratmeter Fußboden mehr frei. Die Schwester schaut Herrn Gärtner an: »Sag ehrlich, wie lange waren die Kinder nicht mehr in der Schule?« Der Vater zögert: »Drei Tage … ich hab es einfach nicht geschafft, anzurufen und sie abzumelden …« Im gemeinsamen Gespräch kommen die Gärtners zur Einschätzung, die Herausnahme der Kinder sei nachvollziehbar – auch wenn es sich nicht richtig anfühlt. Der Cousin fasst die Situation wie folgt zusammen: »Wenn du deine Kinder je wiedersehen willst, müssen wir dieses Chaos beseitigen. Wir bleiben jetzt so lange hier, bis die Wohnung zumindest entmüllt ist.« Sie halten ihr Wort. Der Cousin, seine Frau, die Schwester und Herr Gärtner packen mit an. Nicole macht das Gleiche in ihrem Zimmer.

Frau Schnelsen kontaktiert einen freien Träger mit ausgebildeten Koordinatoren für Familienräte. Sie trifft sich mit der Koordinatorin in ihrem Büro und beginnt zu erzählen: Sie ist erst seit einem Jahr für die Familie zuständig. Zuvor gab es eine zweijährige sozialpädagogische Familienhilfe. Die Familienhelferin beschrieb Herrn Gärtner als kooperativ und reflektiert, aber auch als sehr langsam. Er brauche viel Zeit, Neues in seinen Alltagsrhythmus zu integrieren. Nach Beendigung der Familienhilfe ist der Vater wieder in seine alten Verhaltensweisen zurückgefallen. Frau Schnelsen ist ratlos und blättert in der Akte, die gefüllt ist mit unzähligen Berichten. Auch das Kompetenztraining der Erziehungsberatungsstelle hat nicht geholfen. Immer wenn der professionelle Einsatz vorüber war, kamen die Kinder nach ein paar Wochen nicht mehr regelmäßig in die Schule. Und wenn, dann fielen sie durch zerzaustes Haar oder einen unordentlichen Schulranzen auf. Auch die Mutter der Kinder war unzuverlässig: Beim Familiengericht wurden zwar Vereinbarungen getroffen, dass sie ihre Töchter alle zwei Wochen über das Wochenende zu sich nimmt, aber die Mutter schaffte das allenfalls einmal im Monat und sagte nicht einmal ab, wenn sie ihre Kinder doch nicht abholen konnte. Die Kinder vermissen sie sehr.

Bei den Hausbesuchen fiel Frau Schnelsen neben der desolaten Wohnung aber auch die berührende Liebe der Geschwister untereinander und zu ihrem Vater auf. Zudem hat die Sozialarbeiterin registriert, dass sich einige Familienangehörige und Nachbarn für die Familie einsetzen. Seitdem die beiden jüngeren Schwestern jetzt im Kinderheim sind und die Schule gewechselt haben, hat der Vater jede Besuchszeit wahrgenommen, gemeinsam mit Nicole – auch sie vermisst ihre Geschwister.

Frau Schnelsen klappt die Akte zu und atmet einmal durch. Dann beginnt sie mit einer sozialpädagogischen Diagnose, doch die Koordinatorin unterbricht sie: »Frau Schnelsen, ich brauche das alles nicht zu wissen. In jedem anderen Fachgespräch wäre das natürlich völlig angebracht. Es ist sogar besser, wenn ich es nicht weiß. Dann fällt es mir leichter, neutral zu bleiben. Es reicht vollkommen aus, wenn Sie mir mitteilen, ob die Familie schon über den Familienrat Bescheid weiß und ihn machen will oder ob ich die Familie erst einmal selbst informieren soll. Meine Aufgabe liegt in der Koordination. Ich werde nur für die Organisation des Familienrates zuständig sein, der so laufen soll, dass die Eltern, die Kinder, die Angehörigen, aber auch die Fachkräfte ihre Sicht der Dinge sagen können und die Familie dann selbst einen Plan macht, den Sie aus Kinderschutzgesichtspunkten beurteilen müssen.«

2.2  Neutralität der Koordination

Entschließt sich die zuständige Fachkraft zu einem Familienrat, beginnt das Verfahren mit einem Auftrag an eine Koordinatorin oder einen Koordinator (Abb. 1, Seite 22). Dies setzt die Bereitschaft zu einer besonderen Kooperationsform voraus, denn das Jugendamt delegiert die Organisation der Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII, die seine originäre Aufgabe ist. Damit trifft die Fachkraft eine Entscheidung für einen radikal beteiligungsorientierten Hilfeplanungsprozess, den sie nicht mehr allein steuern wird, weil eine große Anzahl von Menschen involviert sein wird, die allesamt mitreden werden. Die Fachkraft konzentriert sich auf die Recherche zum vorliegenden Problem und zu eventuellen Gefährdungen des Kindeswohles, gibt aber die Organisations- und Moderationsaufgaben im Hilfeplanungsprozess an die Familiengruppe und an eine neutrale Koordination ab.

Der Neutralitätsstandard der Koordination besagt, dass diese un abhängig von Kontrollaufgaben des öffentlichen Trägers handelt, aber auch von eventuellen Hilfeleistungen freier Träger sowie den Interessen der Familie. Die Koordination handelt neutral und wacht nur über die Einhaltung der Standards des Familienrates. Sie hat einen Organisationsauftrag, keinen pädagogischen, intervenierenden oder helfenden. Ihre Zuständigkeit beschränkt sich auf die Organisation, Planung und Durchführung des Familienrates. Ihre Verantwortung und ihr Geschick liegen darin, alle wichtigen Menschen des Netzwerks ausfindig zu machen und zum Familienrat zusammenzubringen. Die Koordination stellt sicher, dass die Versammlung ein Heimspiel (siehe unten) für die Familiengruppe wird, sodass deren Beteiligungschancen größtmöglich sind. Außerdem bereitet sie die mitwirkenden Fachkräfte auf den Familienrat vor. Sie arbeitet zwar darauf hin, dass ein Familienrat zu einem konsensuellen Plan kommen kann, nimmt aber keinen Einfluss auf dessen Inhalte und entscheidet nicht darüber, ob die Ergebnisse z. B. ausreichend sind, das Wohl der Person(en) sicherzustellen, um die es beim Familienrat geht.

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Abb. 1: Ablauf des Familienrates

Die Koordination agiert lösungsneutral, ihre Aufgabe ist mit der Dokumentation des Familienrates und mit der Durchführung von Folgeräten abgeschlossen. Sie ist nicht bei einem Träger angestellt, der in diesem Fall mit Hilfeleistungen durch das Jugendamt oder einen anderen Kostenträger beauftragt war oder wird, um nicht in Interessenskonflikte zu geraten. Unter diesen Gesichtspunkten ist es für die Koordination hilfreich, nur die für die Koordinationsaufgabe nötigen Informationen zu kennen:

Diese reduzierte Informationslage hilft der Koordination dabei, das Neutralitätsgebot einzuhalten, sich nicht in den Fall hineinziehen zu lassen und sich als »Hüterin des Verfahrens« ganz darauf zu konzentrieren, dass der Familienrat nach den Regeln der Kunst abläuft.

Die Koordinatorin besucht zuerst Herrn Gärtner, weil er das Familienoberhaupt und die wichtigste Bezugsperson der Kinder ist. Die Wohnung ist aufgeräumt. Auch seine Schwester ist anwesend. Sie hat Kaffee gekocht und das gute Geschirr herausgeholt. Das Wohnzimmer ist spärlich mit einer in die Jahre gekommenen Couch und zwei Sesseln ausgestattet, an der gegenüberliegenden Wand steht ein großer Massivholzschrank, der den Raum sehr dunkel wirken lässt. Nachdem die Koordinatorin erklärt hat, was genau ein Familienrat ist, bestätigt Herr Gärtner, dass er sich schon im Vorfeld darüber informiert hat: »Nachdem uns Frau Schnelsen am Telefon den Familienrat vorschlug, habe ich dazu gegoogelt und finde das gut!«

»Wen würden Sie denn gern zum Familienrat einladen?«, beginnt die Koordinatorin mit ihrer Arbeit. Herr Gärtner zählt zuerst seine Kinder auf. »Ihre Patentante ist auch sehr wichtig für sie. Ich habe ihr schon Bescheid gegeben.« Die Koordinatorin schreibt mit und fragt nach den Kontaktdaten. »Ich überlasse es Ihnen, wie Sie Ihre Familie einladen, außer Sie brauchen dabei Hilfe, dann unterstütze ich gern. Wichtig ist, dass ich jedem eingeladenen Mitglied kurz mitteile, wofür der Familienrat gemacht und wie er ablaufen wird. Es wäre hilfreich, wenn Sie Ihren Verwandten ankündigen, dass ich sie anrufen möchte, und sie fragen, ob das in Ordnung geht.« Herr Gärtner winkt ab: »Eigentlich wissen schon alle Bescheid. Ich habe auch die Mutter der Kinder informiert. Sie weiß, wann der Familienrat stattfindet. Aber ich kann nicht garantieren, dass sie auch wirklich kommt.« Sicherheitshalber kontaktiert die Koordinatorin die Mutter telefonisch und erzählt ihr vom Ablauf des Familienrates. Die Mutter sagt ihre Teilnahme zu. Ganz oben auf der Liste stehen außerdem der Cousin von Herrn Gärtner und dessen Frau, die Schwester von Herrn Gärtner und die Patentante der Kinder. Auch einige Nachbarn fügt Herr Gärtner seiner Liste noch hinzu.

Zudem besucht die Koordinatorin Leonie und Janine im Kinderschutzhaus. Eine Sozialarbeiterin führt sie zum Zimmer der beiden Mädchen: »Sie konnten nicht getrennt werden. Janine hörte nicht auf zu schreien, bis ein anderes Mädchen umzog, sodass sie bei ihrer Schwester schlafen konnte.« Die Kinder sitzen auf dem Fußboden ihres lichtdurchfluteten Kinderzimmers. Zwei Einzelbetten stehen jeweils an einer Wand, das eine ist unberührt. Leonie und Janine schlafen in einem Bett. Die Koordinatorin setzt sich zu den Kindern auf den Boden und wird zum Spielen eingeladen. Nach einer Viertelstunde holt sie ein großes Blatt Papier heraus. »Schaut mal, ihr Lieben. Ich würde gerne mit euch über euren Papa und eure Familie sprechen. Es wird nämlich ein Familienrat geben, bei dem darüber gesprochen wird, wo ihr wohnen wollt. Ich möchte euch fragen, wen ihr bei eurem Familienrat dabeihaben wollt.« Sie holt Stifte heraus und malt für jedes Kind einen großen Kuchen. In die Kuchenstücke schreibt sie jeweils »Familie«, »Freunde«, »Nachbarn«, »Verwandte« und ein Fragezeichen. Die Mädchen sollen aufschreiben, wen sie einladen möchten. Das gefällt ihnen. Die Gästeliste wird erweitert.

Die Koordinatorin weist immer wieder darauf hin, dass die Gespräche lediglich zur Vorbereitung des Familienrates dienen sollen und bis zum Rat keine Fachgespräche über die Familie geführt werden dürfen. Vor allem will sie die Fachkraft dabei unterstützen, ihre Sorge klar auf den Punkt zu bringen: Warum wurden die Mädchen gegen den Willen des Vaters untergebracht? Was genau hat sie in der Familie beobachtet, das eine Gefährdung der Kinder darstellt? Im zweiten Schritt bespricht die Koordination mit Frau Schnelsen, wie diese die Fakten im Familienrat klar formulieren, aber dennoch der Familiengruppe auch Mut und Hoffnung machen kann.

Die Lehrerinnen der neuen und alten Schule melden sich eigenständig bei der Koordination. Die Kinder sind ihnen wichtig, sie wollen dabei sein. Die Koordination stimmt deren Teilnahme mit der Familie ab. »Ich würde Sie bitten«, erläutert die Koordinatorin am Telefon, »dass Sie sich schon vorher genau überlegen, was Sie in der Infophase mitteilen möchten. Welche Stärken sehen Sie bei den Kindern? Was mögen sie? Was tut ihnen gut? Wie können Sie der Familiengruppe Mut machen?«