image

image

Über das Buch

Das große Finale der »Almost a Fairy Tale«-Dilogie! Wird Natalie es schaffen, ihren Bruder aus den Klauen der machthungrigen Hexe Raikun zu retten und die Welt vor ihrer Schreckensherrschaft zu bewahren?

Schon im Frühjahr 2018 geht das nervenaufreibende Abenteuer um Natalie und ihrer großen Liebe Kilian weiter!

Inhalt

Über das Buch

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Teil II

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Teil III

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Teil IV

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Nachwort und Dank

Über den Autor

image

1

Sie werden ihn umbringen. Als Magischer bei einer Kundgebung von Pro Mensch aufzukreuzen, war an sich schon unklug. Dort auch noch die Stimme zu erheben, grenzte an ein Selbstmordkommando.

»Gleiche Rechte für Magische! Gleiche Rechte …«

Mit tief in die Stirn gezogener Kapuze schob sich Natalie durch die Menge auf den Aufwiegler zu. Dem Nieselregen zum Trotz hatten sich unzählige Anhänger der rechtsradikal orientierten Bewegung in der Dornröschenpassage eingefunden.

Alle hingen an den Lippen des Vorsitzenden Merten Salmwender, dessen Rede man auf der Videoleinwand mitverfolgen konnte. Er war ein Verwandlungskünstler. Auf der Bühne, unter den schwarz-weißen Logos von Pro Mensch, mutierte er zum Entertainer, der die Massen mobilisieren konnte.

Soeben wurde Raikuns Videobotschaft eingespielt, die sie im Zuge des Angriffs auf den Greifspalast an die Regierung gerichtet hatte. Pro Mensch hatte sie zusammengeschnitten und präsentierte lediglich die Kernaussagen – das perfekte Instrument, um die Stimmung gegen Magische anzuheizen.

»Die Übernahme der Kontrolle über den Greifspalast ist eine Demonstration unserer Macht … Wir verlangen sofortige Gespräche mit der Bundesregierung … Sollten unsere Forderungen nicht erfüllt werden, töten wir jede Stunde eine Geisel … töten wir jede Stunde eine Geisel … töten wir … töten wir …«

»Das, liebe Freunde«, rief Salmwender, »ein Szenario wie dieses – 650 Abgeordnete in den Händen einer magischen Terroristin – muss in Zukunft verhindert werden! Wir müssen uns vor solchen Angriffen schützen …«

»Gleiche Rechte! Gleiche Rechte für Magische!«

Der Schrei aus den hinteren Reihen trug weit über die Köpfe der Zuschauer hinweg. Natalie hatte den Magischen fast erreicht, um den sich inzwischen eine Gruppe zusammengerottet hatte. Er jedoch skandierte ungerührt seine Parolen.

»Nieder mit den Magiegesetzen! Gleiche Rechte für alle! Gleiche Rechte für Magische …«

»Halt’s Maul!«, schnitt ihm einer der Umstehenden das Wort ab und andere fielen mit ein.

»Der braucht ’ne Abreibung!«

»Magischenarsch! Macht ihn fertig!«

Eine Faust knallte dem Magischen ins Gesicht und er taumelte zurück, direkt in Natalies Arme. Sie schob sich vor ihn, rief ihre Bannmagie herbei und schleuderte sie dem Angreifer vor die Brust. Pfeifend entwich seine Atemluft, er ging zu Boden. Die Magie summte, knisternd verflüchtigten sich silbrige Funken.

Für einen Moment herrschte fassungslose Stille. Natalie hob beide Hände, bereit zum Kampf.

»Natalie.« Kilians Stimme ertönte in ihrem Headset. »Was soll das werden?«

»Die werden ihn bei lebendigem Leib häuten«, murmelte sie. »Das kann ich nicht zulassen.«

Seit Monaten schon mussten die Magischen die »Maßnahmen zum Schutz der menschlichen Bevölkerung«, wie die neue Regierung ihr Anti-Magischen-Programm betitelt hatte, erdulden. Dass das nicht jeder schlucken wollte, konnte Natalie nur zu gut verstehen. Sie durften sich nicht den Mund verbieten lassen, von niemandem, zu keiner Zeit.

»Noch jemand?« Herausfordernd musterte sie die Runde.

»Provoziere sie nicht, Nat. Denk an den Job.«

Natalie warf einen Blick zur Bühne, wo Kilian Posten bezogen hatte. Gut, dass er ein Auge auf sie hatte. Er brachte sie zur Ruhe, wenn sie aufbrauste, er erdete sie.

Er hat recht. Ich sollte den Hass nicht noch mehr schüren. Kaum hatte sich der Magische aufgerappelt, hielt sie ihm ihre Marke hin. »OMB. Ihre ID-Karte bitte.«

Er presste ein Taschentuch an seine blutende Nase, machte aber keine Anstalten sich auszuweisen.

»Hören Sie schlecht? Ich möchte Ihre ID-Karte sehen!«

»Ich scheiß auf die OMB! Ich scheiß auf die Menschen! Ich scheiß auf euch alle hier!« Erneut begann er zu brüllen. »Nieder mit den Magiegesetzen! Gleiche Rechte für Magische!«

»Der hat noch nicht genug!« Auch der Rädelsführer der Menschen stand wieder auf den Beinen und rieb sich das lädierte Kinn. Er wirkte wie der typische Büromensch, den man allmorgens in der Schwebebahn traf. Damit bildete er keine Ausnahme. Die Anhänger von Pro Mensch waren Familienväter, Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunde – was die Sache umso erschreckender machte. »Was jetzt, Frau Agentin? Nimmst du den Kerl fest oder müssen wir das erledigen?«

»Leg dich lieber nicht mit der an«, flüsterte ihm ein anderer zu. »Schau, der fehlt ein Finger – das ist die Bannmagierin der OMB.«

Das kam überraschend. Die Ermordung des Mächtigen war durch die Medien gegangen, Natalies Ernennung als seine Nachfolgerin – zweifellos durch ihn noch vor seinem Tod initiiert – aber eine Randnotiz geblieben. Man hatte einen Skandal vermeiden wollen. Einer kriminellen Magischen die Haftstrafe aufgrund ihrer unentbehrlichen Fähigkeiten zu erlassen, warf nun mal kein gutes Licht auf die OMB.

Natalie spürte, wie sich die Härchen in ihrem Nacken aufrichteten. Der Magische starrte sie hasserfüllt an. Er hielt ihrem Blick stand, bis sie selbst irritiert die Augen senkte.

»Ach ja? Ist sie das? Wen juckt’s.« Der Büromensch deutete nach vorn. »Nicht mehr lang, und die Organisation ist genauso Geschichte wie die Scheißmagischen.«

Auf der Videoleinwand lief der aktuelle Werbespot des Pharmaunternehmens MitranBiotec. Natalie wurde jedes Mal speiübel, wenn sie ihn sah, und der Gedanke, dass Paige an der Entwicklung von Innovatis mitgearbeitet hatte, stach wie mit glühenden Nadeln hinter ihren Schläfen.

»Fühlen Sie sich durch Ihre magische Abstammung beeinträchtigt?«, flötete die Sprecherin. »Haben auch Sie schon darüber nachgedacht, wie es wäre, ein Mensch zu sein? Magische in aller Welt müssen Abstriche in Lebensqualität und sozialen Standards hinnehmen, sie werden in ein Leben gepresst, das sie einschränkt und zunehmend belastet. MitranBiotec hat die Lösung: Mit Innovatis ändern Sie Ihren Status – von Magischer zu Mensch, ganz einfach, ganz natürlich. Treten Sie aus dem Schatten. Nutzen Sie Ihre Potenziale. Bieten Sie Ihren Kindern die Chance auf eine gesicherte Zukunft. Innovatis – menschlich in neue Zeiten!«

Abscheu zeichnete das Gesicht des Magischen. »Genauso gut könnten sie uns vergasen!«

Der Büromensch lachte kalt. »Wäre auch eine Idee.«

Die zwei wollten aufeinander losgehen, Natalie konnte gerade noch dazwischentreten.

»Wir haben Rechte!«, schrie der Magische. »Wir lassen uns nicht ausrotten wie … Ungeziefer!«

»Endlich rafft er’s! Ungeziefer gehört vernichtet oder was denkt ihr?« Die Umstehenden nickten zustimmend, froh, ihr Sprachrohr gefunden zu haben.

In Natalies Magen ballte sich die altbekannte Wut. Zäh und klebrig, durchsetzt von Hilflosigkeit und Verbitterung, war sie zu ihrem ständigen Begleiter geworden, seit Raikun in ihr Leben getreten war. Zumeist konnte sie sich beherrschen, aber es gab Momente, da sie sich nicht anders zu helfen wusste, als die Wut herauszulassen.

Dies war so ein Moment.

Sie wollte ihnen ins Gesicht spucken, sie allesamt mit Magieschlägen aus dem Weg räumen. Ihnen zeigen, wie es sich anfühlte, wenn das Ungeziefer sich wehrte. Aber sie hatte Kilians Worte noch im Ohr und riss sich am Riemen. Der Magische war der Unruhestifter, ihn musste sie aus dem Verkehr ziehen, darauf kam es an, nicht auf ihre Gefühle.

»Ihre ID-Karte! Sofort!«, forderte sie abermals. Ein viertes Mal würde sie nicht darum bitten.

»Du kannst mich mal!«

Als er wieder seine Parolen anstimmte, rammte sie ihm einen Magiestoß in die Seite, sodass er nach Luft schnappte. Er wich zurück, tauchte in der Menge unter, aber Büromensch und Konsorten waren fix. Sie stürzten sich auf ihn und ehe Natalie sich’s versah, war eine wilde Schlägerei im Gange. Sie wurde an den Rand gedrängt.

Die Statuten der OMB enthielten für einen solchen Fall konkrete Direktiven. Allein einzuschreiten war verboten, und obendrein gefährlich und dumm. Aber so wie sich der Kampf entwickelte, würde es noch Tote geben, bevor ein Agententeam vor Ort war.

»Kilian, ich brauche Verstärkung!« Hoffentlich war damit den Vorschriften Genüge getan.

»Bin unterwegs.«

Gut. Sie schmetterte den ersten Magiestoß in die Menge.

Bannmagie ließ sich auf vielerlei Arten nutzen: als Fesselung, als Schutzschild, als Käfig oder als Angriffswaffe. Natalie war ihre Anwendung in Fleisch und Blut übergegangen, sie gebrauchte sie intuitiv, wie einen zusätzlichen Körperteil. Eine Fähigkeit, die sie während ihrer Gefangenschaft entwickelt und für die Raikun sich doch tatsächlich Dankbarkeit von ihr erwartet hatte. Nun, Dankbarkeit rangierte auf ihrer Empfindungsskala irgendwo bei minus hundert. Hass, Wut, Rachegelüste hingegen ganz oben, sie waren das, was Natalie antrieb.

»Aus dem Weg!«

Die Schaulustigen wichen vor ihr zurück, teils von der Magie niedergestreckt, teils in Panik getroffen zu werden. Schlag um Schlag arbeitete sich Natalie zum Zentrum des Geschehens vor, wo der Büromensch und zwei andere den Magischen in die Mangel genommen hatten. Sie donnerte dem bulligsten der Kerle einen Magiestoß in die Nieren und er brach stöhnend zusammen. Der zweite sprang erschrocken beiseite, der Büromensch hielt mitten im Hieb inne.

»Scheiße, was soll das?«

»Verschwinden Sie hier, bevor ich Sie alle festnehmen lasse!«

Die Magie kräuselte sich um Natalies Hände, summend, pulsierend, eine Urgewalt, die nur sie zu beherrschen vermochte. Die Menschen konnten sie nicht wahrnehmen, dennoch ließen sie von dem Magischen ab. Er sprang auf. Sein Gesicht war von Schlägen verunstaltet, er blutete.

»Verhaften Sie besser ihn«, knurrte der Büromensch. »Das ist eine friedliche Kundgebung, Aufrührer haben hier nichts verloren.«

Natalie drückte dem Magischen den Lähmer an die Brust. »Mitkommen, sofort!«

Er schoss ihr einen erzürnten Blick zu, ließ sich aber wider Erwarten abführen. Abseits der Menschenmassen drängte sie ihn an eine Hausmauer.

»Bist du lebensmüde oder was ist mit dir los?«

Er lachte. Blut klebte an seinen Zähnen. »Das hast du missverstanden, Natalie. Es war nur ein Auftrag.«

»Was denn für ein …?« Er packte den Lähmer, trat ihr zwischen die Füße und wirbelte sie herum, dabei verdrehte er ihr die Hand, sodass sie die Waffe loslassen musste.

Jetzt stand sie mit dem Rücken zur Wand. Sie riss die Linke hoch, doch ehe sie ihm einen Magiestoß verpassen konnte, fing er ihr Handgelenk ab. Er drückte ihr beide Arme über den Kopf. Verzweifelt trat Natalie gegen seine Schienbeine, da schlang sich auf einmal ein Riemen um ihren Hals und schnürte ihr die Luft ab.

»Letzte Worte?«

»Was?«

»Bevor du stirbst. Ich sammle sie. Habe eigens ein Notizbuch dafür angelegt … ›Bitte nicht!‹ ist das Beliebteste, dicht gefolgt von ›Warum ich?‹ und ›Was habe ich getan?‹«

Sie war einem Killer auf den Leim gegangen. »Kilian! Ich brauche dich!«, krächzte sie.

»Auch hübsch. Er wird dich nicht retten. Niemand wird dich retten.«

Wenn sie eine Hand frei bekäme, eine nur! Aber der Griff des Kerls war fest und die Magie in ihr schrumpfte. Immer enger zog sich der Riemen. Röchelnd trat sie um sich. Helle Sterne tanzten ihr vor den Augen, ihr Puls hämmerte hinter ihren Schläfen, ein letztes Aufbegehren ihres sterbenden Körpers. Ihre Gegenwehr erlahmte mit jeder Sekunde mehr. Sie konnte kaum noch sprechen, trotzdem presste sie die Frage heraus.

»Wer hat dich … beauftragt? Raikun?«

»Diskretion ist in meinem Geschäft Voraussetzung.«

»Woher wusstest du …?« Aus. Nur noch ein Wimmern kam aus ihrem Mund.

»Dass ich die Richtige erwische? Ich wusste es nicht. Ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich gleich beim ersten Versuch auf mein Opfer traf.«

Ein Ruck am Riemen, und gleißender Schmerz schoss ihr durch die Wirbelsäule, nahm ihr auch den letzten Lebenswillen. Der nächste würde ihr das Genick brechen.

»Sag auf Wiedersehen, Mädchen.«

»Auf Wiedersehen, du Arsch!« Eine andere Stimme. Ein Knall, wie von einer Faust, die Knochen zerschmetterte. Etwas Kühles glitt über ihren Hals, der Riemen löste sich. Frische, erquickende Luft strömte in Natalies Lungen.

»Nat!« Das war Kilian. »Bist du okay?«

»Ja.« Natalie nickte. Das Sprechen fühlte sich an, als steckte eine Messerklinge in ihrem Hals. Der Magische lag, durch Kilians Fausthieb niedergestreckt, zu ihren Füßen. »Das war knapp.«

Sie fielen in eine kurze Umarmung, dann fesselte Kilian den Kerl mit geübten Griffen und durchsuchte seine Taschen. »Keine Papiere. Was war mit dem los? Wieso ist er so ausgerastet? Ich dachte schon, der bringt dich um.«

»Das hatte er vor«, sagte Natalie. Der Adrenalinschub wich einer Art Schock. Ihr klapperten die Zähne, sie sackte an die Hausmauer. »Kilian, er sollte mich umbringen.«

image

Die weiße Schlange hing reglos im Baum, das Schwanzende um eine Astgabel geschlungen. Perfekt getarnt im Geäst der Birke. Das war gut. Ihr Treffen musste geheim bleiben.

»Ich habe nicht viel Zeit.« Das Handy in der Linken gab Natalie vor zu telefonieren. Sie fröstelte, was nicht bloß vom Regen und der für Mitte September ungewöhnlich kühlen Witterung herrührte. »Es gab Ausschreitungen bei der Kundgebung von Pro Mensch. Kilian braucht mich bei der Nachbesprechung.« Das war weniger als die halbe Wahrheit, aber im Moment wollte sie das Erlebte einfach nur vergessen.

»Es nimmt kein Ende, was?«

Natalie hatte sich an Jollys zischelnde Sprechweise gewöhnt, nicht jedoch an den Gedanken, dass ihre Freundin womöglich bis an ihr Lebensende ihr Dasein als Schlange fristen musste. Alle Versuche, sie zu erlösen, waren gescheitert. Nur Brisko, der den Zauber gesprochen hatte, konnte sie zurückverwandeln – es sei denn, man kannte das Hintertürchen. Aber Natalie wäre die Letzte, die es fertigbrächte, Jolly aufs Geratewohl den Kopf abzuhacken oder was auch immer nötig war, um den Fluch zu brechen.

»Nein. Es wird mit jedem Tag schlimmer.« Sie seufzte. »Also?«

»Paige konnte die Blutprobe mit der Datenbank abgleichen. Sie stammt von Liam.«

»Hölle, ganz sicher? Er ist am Leben?«

»Hundertprozentig.«

Natalie schloss die Augen, dankbar für die gute Nachricht. Endlich schien sich ihr gefährliches Spiel auszuzahlen.

»Und die andere Blutprobe?«

»Konnte sie nicht zuordnen«, sagte Jolly. »Die Person ist nicht im System zu finden.«

»Könnte Raikun die Daten manipuliert haben?«

»Schon, aber warum dann nicht auch Liams? Das wäre ja total idiotisch – eine Probe schon, die andere nicht … Jedenfalls weist das Blut einen extrem hohen MQ-Wert auf, höher als deiner. Eine solche Magyära-Konzentration ist selten.«

»Eine magisch höchstbegabte Person also. Vielleicht ist es ihr eigenes.«

»Oder Briskos.« Jolly zischelte. »Sollte mir der Dreckskerl je unterkommen, werde ich ihn solange mit Gift vollpumpen, bis er mich auf Knien anfleht, dass er mich zurückverwandeln darf.«

Natalie lächelte. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als Jolly in die Arme schließen zu können. »Wann bekommst du die nächste Dosis?«

»Paige gibt die letzte Ampulle nicht raus, sie baut auf Reserve. Weißt du, wie mich das ankotzt? Anstatt auszugehen, Jungs kennenzulernen, das Leben zu genießen, kuschle ich mit meiner Schwester und dem Kater. Höchst vergnüglich.«

»Immerhin hast du Gesellschaft. Ist doch gut, dass er euch zugelaufen ist. Und kein Problem mit Schlangen hat.«

Jolly seufzte zischelnd. »Na ja, sich in seinem Unglück zu suhlen, macht es nicht besser.« Mochte sie auch ab und zu zynisch wirken, so fand sie stets rasch zu ihrem unerschütterlichen Optimismus zurück. Natalie hätte sich gern ein Stück davon abgeschnitten. »Ach, fast hätte ich’s vergessen: Paige ist es endlich gelungen, die DNA der Magyära neu zu codieren.«

Paige hatte es Natalie bereits erklärt: Die Magyära im Blut eines Magischen, Symbionten, die es ermöglichten, Magie zu wirken, waren nicht einfach von einer auf die andere Person übertragbar. Ihre DNA war exakt an den Körper angepasst. In einem fremden Organismus wurden sie inaktiv.

»Das heißt, sie könnte das Blut der betreffenden Person …«

»Liams Blut«, warf Jolly ein.

»… sie könnte Liams Blut mit Magyära anreichern?«

»Nicht könnte. Sie kann es. Sie kann Raikuns Auftrag ausführen.«

Und Raikun kann Liams Fähigkeiten wecken. Natalies Gedanken waren unkontrollierbar, ein Schiff auf stürmischer See. Was Raikun vorhatte, war die logische Konsequenz. An Natalie hatte sie sich die Zähne ausgebissen, ihre Eltern und den Mächtigen hatte sie ermordet, Hanjo hatte sie in den Wahnsinn getrieben. Blieb nur noch ein Windersom, der Potenzial zum Bannmagier hatte – Liam. Dummerweise war ihr Bruder nicht unbedarft in Sachen Bannmagie. Sie selbst hatte ihm erklärt, wie man magische Gitter webte.

Hastig klärte Natalie Jolly auf. »Er wird den Dreh schnell raushaben, sobald er die Magie wahrnehmen kann. Und Raikun braucht nur mittels Hexenzauber an seinem Verstand herumzudoktern und schon verfügt sie über einen Bannmagier.« Eine willige Marionette in den Händen einer Wahnsinnigen. »Stell dir vor, sie schafft das bei anderen auch! Sie könnte aus Menschen Magische machen.«

»Ganz so einfach ist es nicht. Wo nichts ist, kann man auch nichts vermehren. Ein minimaler Grundanteil von Magyära muss schon vorhanden sein, um die DNA überhaupt zu lesen.«

»Das erleichtert mich ungemein. Ich dachte schon, die Welt wird bald von Hexen- und Zauberermarionetten überschwemmt werden.«

»Paige kann Raikun aber nicht mehr lang hinhalten«, gab Jolly zu bedenken. »Wir brauchen einen Plan.«

Natalie atmete tief durch. So lange hatten sie darauf gewartet und nun ging es Schlag auf Schlag. »Okay. Ich rede mit Kilian und wir vereinbaren einen Kriegsrat. Ihr hört von uns.« Unauffällig blickte sie zu Jolly auf. »Ich muss jetzt los.«

»Bis bald. Und Nat, vergiss nicht: Wir zwei gegen den Rest der Welt.«

2

Der Pförtner begutachtete erst ihr Auto mit zusammengekniffenen Augen, dann sie, als fürchtete er, sie könnte eine Bombe ins Krankenhaus schmuggeln. Paige versprach sich nicht allzu viel davon, den Mann zu drängen. Tot war tot, eine Leiche würde ihr nicht davonlaufen.

»Mein Name ist Paige Dibensky«, wiederholte sie bemüht gelassen. »Ich möchte zu Frau Dr. Fellner. Sie hat mich in einer dringenden Angelegenheit hergebeten und ich gehe mal davon aus, dass sie Besseres zu tun hat, als auf mich zu warten. Halten Sie Rücksprache mit ihr oder öffnen Sie dieses Tor, aber vergeuden Sie hier nicht kostbare Zeit.«

Grummelnd zog sich der Pförtner in sein Haus zurück. Sekunden später ging die Schranke auf.

Paige begab sich auf direktem Weg zur Intensivstation. In Mitran gab es zwei Krankenhäuser für Magische, das Zur guten Fee war das größere und trotzdem waren seine Kapazitäten erschöpft. Es war unmöglich, die Augen vor den herrschenden Zuständen zu verschließen. Patientenbetten auf den Gängen, teilweise doppelt belegt, Warteschlangen vor den Schaltern der Notaufnahme, sichtlich übermüdetes Personal, Ärzte, die Dutzende Male ausgerufen wurden. Hier lag einiges im Argen.

Eine Schwester zeigte Paige eine kernige Frau im Arztkittel, deren Gesicht von Schlafmangel zeugte.

»Frau Dr. Fellner?« Sie bejahte, ohne ihren Schritt zu verlangsamen, und Paige blieb nichts übrig, als neben ihr herzuhasten. »Paige Dibensky, MitranBiotec. Wir hatten telefoniert.«

»Ja. Kommen Sie mit – Elise«, sprach sie eine vorbeieilende Schwester an, »wo liegt der Innovatis-Fall?«

»Auf der Terrasse, glaube ich.«

Fellner nickte, als wäre es gang und gäbe, Leichen auf der Terrasse zwischenzulagern. Im nächsten Moment wurde sie von einem Pfleger aufgehalten.

»Sie werden im OP 3 gebraucht! Offene Bauchwunde, eine Fee, etwa zehn Jahre alt, ist auf dem Skateboard durch eine Glasscheibe gedonnert.«

»Scheiße. Bin unterwegs.« Fellner wandte sich an Paige: »Tut mir leid. Aber gehen Sie schon mal vor, die Akte sollte beiliegen.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und war auch schon im Gewühl verschwunden.

Paige fragte sich zur Terrasse durch. Gesperrt. Zutritt verboten!, stand auf einem handgeschriebenen Schild. Sie spähte durch die Glastüren und entdeckte draußen drei fahrbare Tragen. Unter grünen Laken, deren Zipfel im Wind flatterten, zeichneten sich Körperumrisse ab.

Die Tür war überraschenderweise unversperrt. Die Luft roch nach Regen und feuchtem Laub. Der Herbst hatte in den letzten Tagen viel zu früh und mit unerwartet kühlen Temperaturen in Mitran Einzug gehalten und Paige hatte sich noch nicht daran gewöhnt.

War die Terrasse aufgrund von Platzmangel umfunktioniert worden? Sie glich einer großen Loggia. Risse durchzogen die Mauern, die Bodenfliesen waren gesprungen und teilweise rausgebrochen, Spinnennester, weiß und dicht, bauschten sich in den Ecken. Eindeutig ausgedient.

Die Patientenakten waren unter die Spanngurte geklemmt. Eine Frau. Todesursache: Lungenembolie. Ein Mann. Todesursache: Multiorganversagen durch Sepsis. Ein Mann. Herzinfarkt. Also Nummer zwei.

Thornen Kasje, sechsunddreißig, Tontechniker. Erstaunlich hoher MQ-Wert. Eingeliefert vor zwei Tagen mit Verdacht auf beginnende Sepsis. Behandlung ohne Erfolg. Todeszeitpunkt heute Morgen acht Uhr dreiunddreißig.

»Ah, gut, Sie haben ihn gefunden.« Fellner. Ihre barsche Sprechweise war unverkennbar. Paige blickte auf.

»Was ist mit der Kleinen?«

»Welche Kleine?«

»Die Fee. Bauchwunde.«

»Verstorben.«

Schockiert schnappte sie nach Luft.

»Tja, der Transport hierher kommt oft einem Todesurteil gleich. Sie hätte gute Chancen gehabt, hätte man sie ins nächstgelegene Krankenhaus bringen können. Leider war sie eine B.«

Die Klasseneinteilung war eines der Übel, unter denen die Magischen seit Einführung der Magiegesetze Ende des 19. Jahrhunderts zu leiden hatten. Bis vor wenigen Monaten waren öffentliche Einrichtungen auch für B-Klassifizierte zugänglich gewesen. Jetzt nicht mehr.

Der frischgebackene Bundeskanzler Dothias Mildenweith hatte menschlichen wie magischen Wählern demonstrieren wollen, dass er bereit war hart durchzugreifen. Die Geiselnahme im Greifspalast hatte sich in die Seelen der Menschen gebrannt, Angst beherrschte ihr Denken, und die Politik machte sich das zunutze. Die Rechte der Magischen der Klasse B waren auf jene der Klasse C herabgestuft worden, was bedeutete, dass für sie sämtliche menschliche Institutionen tabu waren.

Paige wusste nichts darauf zu sagen. Sie beobachtete die Entwicklung im Land mit Entsetzen und hatte das dumpfe Gefühl, dass dies erst der Anfang war.

Fellner räusperte sich. »Die Toxinwerte waren bereits bei Einlieferung alarmierend, die Ursache nicht zu finden. Wir gingen von Gift aus, wussten aber nicht, welches, und mussten langwierige Tests durchführen. Er ist uns praktisch unter den Händen weggestorben.«

»Wenden Sie hier denn keine Magie an?«

»Doch, natürlich. In diesem Fall war nichts zu machen. Leider gab es eine Schlamperei mit den Papieren, weshalb wir seinen Probandenausweis zu spät sichten konnten.«

»Was denn für eine Schlamperei?«

»Wir sind unterbesetzt. Der Patient lag lange Zeit auf dem Gang, dabei gingen die Papiere verloren.«

»Gut, dass sie wieder aufgetaucht sind.« Paige sah sich den Ausweis an. Der Tote war einer der zweihundert Probanden, die sich für Phase I von Innovatis gemeldet hatten. Er hatte insgesamt drei Injektionen erhalten, die dritte und essenzielle Dosis erst vor wenigen Tagen. »Viel kann ich dem Ausweis nicht entnehmen. Ich muss die Probandenakte einsehen. Wie kommen Sie auf die Idee, dass die Sepsis durch Innovatis ausgelöst wurde?«

Fellners Augenbrauen hoben sich. »Ich bitte Sie. Sein Blut war rein. Menschlich. Die Magyära abgestorben. Sagen Sie mir, was sonst hätte diesen Effekt?«

»Das mag ja sein, aber …«

»Er ist nicht der Einzige.«

Ein Schauer durchlief sie. »Wie bitte?«

»Ich habe im Doktor Allwissend nachgefragt.« Das zweite Magischen-Krankenhaus. »Sie hatten zwei ähnliche Fälle, kürzlich erst.«

»Auch Probanden? Warum wurde das nicht gemeldet?«

»Wurde es.«

Paige schloss die Akte. »Nicht an mich.«

»Sind denn nur Sie dafür zuständig?«

»In gewisser Weise.«

Nach ihrem Ausfall im Frühjahr letzten Jahres hatte ihr Chef Justus Bahkle sie von Projekt Purgatio, nunmehr Innovatis, abgezogen. Seither koordinierte sie die Leitstelle der klinischen Entwicklung.

Sie hatte lange mit sich und dem moralischen Dilemma gerungen. Schließlich war Innovatis eine Keule gegen Magismus, eine Art Insektizid sozusagen, mit dem geringfügigen Unterschied, dass es die Magyära waren, die ausgemerzt wurden und keine Blattläuse.

Für Paige kam das einem Völkermord gleich und daran wollte sie nicht beteiligt sein. Doch Natalie und Kilian hatten sie davon überzeugt, dass es von Vorteil wäre, an der Quelle zu sitzen. Paiges große Hoffnung, dass Innovatis aus individualrechtlichen Gründen nicht für den Markt zugelassen werden würde, hatte sich bisher nicht erfüllt.

Doch der Tod dieses Magischen, so tragisch er auch war, könnte die Wende herbeiführen, sollte sich der Verdacht auf Toxizität bestätigen.

Sie bat, die Akte kopieren zu dürfen, aber Fellner verneinte. »Das ist nicht gestattet. Ich muss allerdings weiter. Sie haben doch sicher ein Handy dabei.« Nach diesem mehr als eindeutigen Wink verließ die Ärztin die Terrasse.

Paige fotografierte die Akte. Danach rief sie ihren ehemaligen Kollegen Zaven an, der ihren Job beim Wunderteam übernommen hatte. »Ich brauche deine Hilfe«, sagte sie ohne Umschweife. »Möglicherweise könnte ich Projekt P zum Kippen bringen.«

image

Paiges Büro befand sich im Erdgeschoss des MitranBiotec Firmensitzes. Sie hatte die Leitung des diagnostischen Monitorings inne, sie führte Evaluierungen durch, sie war Ansprechpartnerin für Probanden und Ärzte, ihr oblag die Öffentlichkeitsarbeit. Alles, was Innovatis betraf, ging durch ihre Hände.

Sie hasste jede einzelne Minute, die sie vor ihrem Laptop zubringen musste. Als Mikrobiologin sollte sie im Labor stehen, Routinediagnostik durchführen oder Forschung betreiben. Stattdessen hatte sie einen verdammten Bürojob.

»Susan«, sagte sie beim Eintreten zu ihrer Assistentin, »ich brauche die Probandenakte von Thornen Kasje, Nummer …« Sie geriet ins Stocken, als sie bemerkte, dass Susan nicht allein war. »Herr Bahkle? Wollen Sie zu mir?«

Ihr Chef war in Begleitung zweier Techniker, die gerade dabei waren, das Büro auseinanderzunehmen. Laptop, Tablet, Aktenordner, Notizbücher – sämtliche elektronischen und nicht elektronischen Unterlagen wurden in Kartons gepackt. Paiges Schreibtisch war bereits leer geräumt, bei ihrer Assistentin sah es nicht besser aus.

Susans Blick durchbohrte Paige geradezu. »Sie nehmen alles mit.«

»Warum das?« Paige wandte sich an Bahkle. »Müssen wir umziehen?

»Nein«, erwiderte er völlig emotionslos. »Sie sind fristlos entlassen. Sie beide.«

»Wie bitte?« Paiges Herz begann zu rasen.

»Ich sagte doch, ich habe nichts damit zu tun«, jammerte Susan.

»Das werden wir prüfen. Mir wurde zugetragen, Paige, dass Sie Firmeneigentum für private Forschung nutzen und außerdem Betriebsgeheimnisse weitergegeben haben.«

Zugetragen? »Was für ein ausgemachter Blödsinn! Sie können Laptop und Tablet untersuchen, Sie werden nichts Privates darauf finden.«

»Mag sein, doch Sie haben sich Zutritt zu unseren Labors verschafft, namentlich L4, das Sie regelmäßig benutzen, obwohl Sie keine Zugangsberechtigung haben. Sie verwenden eine gefälschte Schlüsselkarte. Wir haben die Türdaten und die der Geräte ausgelesen, es abzustreiten ist zwecklos.«

»Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen!«

»Das beurteile ich lieber selbst. Wir werden eine umfassende Untersuchung durchführen. Sollte sich unser Verdacht erhärten, droht Ihnen eine Anzeige.«

Verdammt, Lydia, die IT-Technikerin der OMB, hatte doch geschworen, dass man Paige nicht auf die Schliche kommen würde!

Bahkle streckte die Hand aus. »Wenn ich bitten darf.«

»Ich habe keine Schlüsselkarte«, erklärte sie.

»Soll ich wirklich den Wachdienst rufen?«

Ihm die Karte auszuhändigen, käme einem Schuldeingeständnis gleich. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Ich besitze keine Karte. Ich weiß nicht, von wem Sie diese Information haben, aber diese Person lügt.«

»Die Daten lügen nicht.«

»Die Daten besagen nur, dass jemand eine gefälschte Karte benutzt. Und da verdächtigen Sie ausgerechnet mich?«

Unsicherheit schlich sich in Bahkles Züge. »Na schön. Dann geben Sie mir Ihre Firmenkarte.«

Schulterzuckend löste Paige den Clip von ihrem Hosenbund und händigte Bahkle die Karte aus.

»Sie werden zu einem Gespräch gebeten, sobald unsere Untersuchung abgeschlossen ist. Jetzt melden Sie sich beim Portier und verlassen auf schnellstem Wege das Gebäude.«

»Ich auch?«, fragte Susan mit großen Augen.

»Sie auch. Sollten Sie nicht binnen zehn Minuten fort sein, wird Sie der Wachdienst hinausbegleiten. Guten Tag.« Festen Schrittes verließ Bahkle das Büro. Licht tanzte auf seiner Glatze, als er durch den Flur eilte.

»Das ist alles deine Schuld«, zischte Susan erbost. »Ich wusste, dass du was verheimlichst.«

War Susan der Informant? Paige drängte ihr Zittern zurück, ihre Halsmuskulatur war hart wie Gips. »Ach ja? Und das hast du Bahkle brühwarm erzählt.«

»Ich wünschte, es wäre so, dann stünde ich jetzt nicht ohne Job da!«

Paige suchte nach Anzeichen einer Lüge in Susans Gesicht, doch sie fand nur Tränen. Ihre Verzweiflung war echt.

Da hatten sie was gemeinsam.

image

Seltsame Geräusche drangen an ihr Ohr, als sie nach Hause kam. Alarmiert ließ Paige ihre Tasche fallen und eilte ins Wohnzimmer.

»Jolly! Maunz! Hört sofort auf! Spinnt ihr?«

Schlange und Kater waren in einen Kampf verwickelt. Sie hatte die zwei oft genug beim Spiel beobachtet, das zwar ähnlich ablief, aber bei Weitem nicht so brutal. Das hier war bitterernst.

»Auseinander, sofort!« Paige fasste dazwischen und bereute es sofort. Krallen bohrten sich in ihr Handgelenk oder waren es Zähne? »Au, verdammt! Jolly! Bist du irre? Lass ihn in Ruhe!«

Ein Zischen war die Antwort. Blitzschnell wand sich die Schlange um den Leib des Katers, der wiederum biss Jolly in den Nacken. Sie ließ von ihm ab, wich zurück. Zischend und fauchend taxierten die beiden einander, dann griff die Schlange neuerlich an. Der Kater maunzte erbärmlich.

»Jolly! Lass das!« Was war nur in sie gefahren?

Der Kater, ein beachtliches Exemplar mit dreifarbigem Fell, herrlichen Bernsteinaugen und einer süßen schwarzen Schwanzspitze, war Paige an einem Regentag im Frühjahr zugelaufen. Von einem Einsamkeitsanfall überrollt, hatte sie ihn mit in die Wohnung genommen. Wer brauchte schon einen Wolf im Bett, wenn man einen Kater haben konnte?

Nur für eine Nacht, hatte sie gedacht, rückblickend gesehen ziemlich naiv. Wider Erwarten hatten sich die Schlange und der Kater sofort verstanden. Also hatte Paige ihn behalten, auch mit dem Gedanken im Hinterkopf, der Nachbarin endlich die zur Katzenklappe passende Katze präsentieren zu können – Maunz.

Im Fell des Katers waren Blutspuren zu sehen, am Maul ebenfalls. Ob Jolly verletzt war, konnte Paige nicht erkennen. Sie holte einen Eimer Wasser aus dem Badezimmer und goss es über die Kämpfenden. Verdutzt fuhren sie auseinander. Maunz schüttelte sich, sodass die Tropfen spritzten. Jolly hatte sich zu einem Knäuel zusammengerollt, aus dem nur die Augen hervorglommen. Für einen Moment herrschte Stille.

»Wagt es ja nicht! Sonst gibt’s die nächste Dusche!«

Ihrer Warnung zum Trotz belauerten sie sich erneut. Der Kater grapschte mit der Pfote nach der Schlange, die wiederum schnappte mit entblößten Zähnen nach ihm. Hoffentlich erwischte sie ihn nicht, das Gift wirkte rasch und würde ihn für Stunden lähmen oder gar töten.

»Jolly!«

Endlich bekam sie eine Antwort. »Er ist ein Dieb!«

»Was hat er gestohlen? Dein Abendessen?«

»Deinen Laptop!«

Paige lachte ungläubig auf. »Was redest du da?«

Der Kater sprang auf die Schlange zu, verbiss sich in ihrem Nacken und schüttelte sie wild. Jolly kreischte. »Das Tablet, Paige!«

Erst jetzt entdeckte sie, dass es halb unter die Couch gerutscht war. Maunz schleuderte die Schlange quer durch den Raum und sie knallte gegen die Wand.

»Himmel, Jolly?«

»Bin … okay. Halte ihn auf!«

Paige griff nach dem Tablet, da sauste der Kater heran und versenkte seine Krallen in ihrem Handrücken. Ihre Finger öffneten sich.

»Danke, meine Liebe.« Die paar Sekunden, in denen Paige verdauen musste, dass die kehlige Stimme dem Kater gehörte, nutzte er aus und schnappte sich das Tablet. »Mein Name ist übrigens Sly Taps, nicht Maunz. Vielen Dank für die Gastfreundschaft, und nichts für ungut.«

Das Mistvieh lief plötzlich auf zwei Beinen, ihr Tablet unter den »Arm« geklemmt – geradewegs Richtung Tür. Ein weißer Blitz zischte an Paige vorbei. Sie schüttelte ihre Starre ab und rannte hinterher.

Zu spät. Jolly lag seltsam verdreht vor der Katzenklappe und schluchzte leise. Der Kater aber war auf und davon. Mit dem Tablet.

»Jolly? Alles okay?«

»Renn ihm nach!«

»Der ist längst über alle Berge.« Paige nahm die Schlange auf die Arme, um sie zu untersuchen. Sie schien ziemlich angeschlagen, aber bis auf ein paar Kratzer nicht ernsthaft verletzt. »Sollen wir dich verwandeln?«

»Nein. Sichere die Daten, Paige, schnell.«

Ich dämliche Nuss! Den Verlust von Laptop und Tablet konnte sie eventuell verschmerzen, den der Daten aber keinesfalls. Hastig holte sie ihr Handy aus der Tasche und loggte sich in ihre Cloud ein. »Nein, oh nein! Ich bekomme keinen Zugriff! Benutzername oder Kennwort nicht bekannt!«

Jolly reckte den Kopf. »Scheiße, sind die schnell.«

Paige versuchte es abermals. Und wieder. Keine Chance. Ihre Cloud war gehackt worden. Die Forschungsergebnisse waren weg, die Arbeit eines ganzen Jahres dahin. Sie hatte Raikun nichts mehr anzubieten. Der Deal würde platzen.

3

Bob war ausgesprochen schlecht gelaunt. Natalie kannte seine Spielchen zur Genüge und sie hatte für die Eintönigkeit seines Daseins durchaus Verständnis, aber nicht bei diesem Wetter.

»Bob, was soll das? Mach endlich auf!«

Wieder keine Antwort, schon zum dritten Mal. Das magische Tor hielt sich für die oberste Instanz der OMB. »Muss ich erst auf die Knie fallen, damit du dich erbarmst?«

»Eine höfliche Anfrage genügt normalerweise«, vermeldete Bob hochmütig. Seine Stimme schien direkt aus dem Torbogen zu kommen. »Mitten in der Nacht stehe ich jedoch nicht zur Verfügung. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf.«

»Es ist gerade mal zwanzig Uhr vorbei.«

»Es ist täglich gerade mal zwanzig Uhr vorbei.«

»Du übertreibst maßlos.«

Ja, sie kam in letzter Zeit öfter erst spät abends nach Hause, aber nur, weil sie nach Raikun suchte. Verbissen ging sie jedem noch so kleinen Anhaltspunkt nach, jedem hinter vorgehaltener Hand geraunten Gerücht. Vorwiegend befragte sie Magische in Mitrans Slumbezirk. Und da die Leute mit einer warmen Mahlzeit im Bauch erwiesenermaßen redseliger waren, spendierte sie ihnen zumeist eine Suppe oder heiße Würstchen. Ihr Mitgefühl sei ihre größte Schwäche, hatte Raikun ihr einmal eröffnet.

Natalie rüttelte am Gitter. »Bobandragiusodamnait, im Namen von Natalie Amalia Windersom, öffne das Tor!«

»Was bekomme ich dafür?«

»Nichts. Absolut nichts.«

»Ich könnte Gesellschaft gebrauchen. Hol mir mein Einhorn zurück. Es fehlt mir.«

»Es ist nicht dein Einhorn, es ist das letzte in ganz Europa und gehört maximal dem Zoo. Außerdem hast du dich ständig darüber beschwert, dass es die Hecke kahl frisst.«

»Da du es erwähnst: An der Nordseite ist die Hecke ein wenig ausgedünnt. Wie wäre es mit einer magischen Ader?«

Natalie wusste aus Erfahrung, dass Bob nur darauf wartete, dass sie die Beherrschung verlor. Er würde sich an ihrem Wutausbruch ergötzen, ihr noch ein paar Frechheiten an den Kopf werfen und sie letztlich doch einlassen. Gab sie jedoch nach, könnte sie sich den Ärger ersparen.

»Also gut, du bekommst deine Magie. Darf ich jetzt rein?«

»Selbstverständlich«, sagte Bob würdevoll und die Torflügel schwangen unter leisem Quietschen auf.

Misstrauisch äugte Natalie nach oben. »Kein Honig, kein Parfüm, kein Spülwasser, verstanden?«

»Wie könnte ich?!«

Bob hielt Wort. Stattdessen ließ er Kakao regnen, als sie durch das Tor lief, und sein Kichern begleitete sie bis zur Freitreppe.

Rund um den Eingang drängten sich Basilisken, Kobolde, Wolfs- und Drachenköpfe, alle aus Stein, als hätte ein Zauberer einen Fluch ausgesprochen just in dem Augenblick, da die Organisation von magischen Wesen überrannt wurde.

Natalie hatte keinen Blick für die prächtige Fassade, bibbernd vor Kälte stürmte sie die Treppe hinauf. Die Tür zu ihren Räumen, den ehemaligen Gemächern ihres Großvaters, stand offen.

Kurz zögerte sie, weil sie das Gefühl beschlich, seine Stimme wäre unter jenen, die so aufgebracht auf den Flur drangen, und sie stellte sich vor, er würde hinter den Regalen hervortreten, eines der Artefakte aus den Magischen Chroniken der Grimms in den Händen, das womöglich heruntergefallen war. Prinzessin Aniats goldene Kugel etwa, die den »Froschkönig« aus dem Brunnen herbeigerufen hatte. Die silberne Axt, den Geist im Glas – beides hatte dem jungen Holzhacker Bastian Kohl gehört. Das Horn, das Mauern einstürzen ließ. Den Zaubertopf, der Hirsebrei kochte. Aber die magischen Artefakte waren hinter Bannmagie verwahrt und ihr Großvater, der Mächtige, war tot.

Sie fand Kilian, Ed und Vajos im Arbeitszimmer vor. Die Diskussion erstarb bei ihrem Eintreten.

»Nat, endlich«, sagte Kilian. Zerknirscht registrierte sie, dass er sich Sorgen gemacht hatte. Er sah es nicht gern, wenn sie allein durch die Stadt stromerte, seit dem Mordanschlag noch weniger.

»Morgen früh ist eine Kontrolle angesetzt«, sagte Ed. Er war kein Mann vieler Worte. Seit er durch den Kampf gegen Brisko querschnittsgelähmt war, war er noch reservierter geworden.

»Und um mir das zu sagen, kommst du extra hier rauf?«, entgegnete Natalie. Die Gemächer lagen in einem Seitenflügel ohne Aufzug. Als Chef der OMB hätte Ed ein Anrecht auf diese Räume gehabt, doch er hatte sie ihr überlassen und bewohnte einige Zimmer im Erdgeschoss, die rollstuhlgerecht ausgebaut worden waren. »Wie hast du das überhaupt angestellt?«

»Vajos hat ihn getragen«, erklärte Kilian.

»Mitsamt dem Rollstuhl«, betonte Vajos. Der Agent war ein Bär von einem Mann, stattliche zwei Meter zehn groß, und obwohl er es abstritt, vermuteten sie, er könnte einen Halbriesen unter seinen Vorfahren haben. Der Vollbart, den er neuerdings trug, verstärkte den Eindruck noch.

»Tolle Leistung. Und jetzt trägst du ihn bitte wieder runter. Mitsamt dem Rollstuhl. Was für eine Kontrolle überhaupt?«, wandte sie sich an Ed.

»Sie wollen das Gefängnis inspizieren. Wenn du dich in die Aufsichtsratssitzungen bequemen würdest, junge Dame, wüsstest du das. Du musst morgen dabei sein.«

»Ich muss überhaupt nichts.«

»Du bist die Bannmagierin. Wer weiß, was ihnen einfällt, wenn du wieder mal durch Abwesenheit glänzt. Willst du, dass sie auf der Suche nach dir im ganzen Haus herumschnüffeln?«

Natalie wechselte einen Blick mit Kilian, der prompt die Augenbrauen hob.

»Und wenn schon«, erwiderte sie störrisch. »Sollen sie ruhig kommen. Dann kann ich ihnen wenigstens gleich erklären, was ich von ihren Maßnahmen halte.«

Eds Gesicht färbte sich rot. »Das hättest du gestern bei der Sitzung machen sollen!«, schrie er. »Ich bin es leid, dich ständig zu entschuldigen!«

»Wenn du von mir erwartest, dass ich mit zwanzig magischenfeindlichen Menschen beratschlage, wie man das Regierungsprogramm durchsetzen und den Magischen das Leben zur Hölle machen kann, dann hast du dich geschnitten …«

Es klopfte und die neue Küchenhilfe trat ein, ein Junge mit stoppeligem Haar, der so mager war, dass Natalie jedes Mal das Gefühl beschlich, er bekäme zu wenig zu essen. Er brachte ein Tablett mit belegten Broten und eine Obstschale voller rotglänzender Äpfel. »Der Koch schickt mich …«

»Ich habe ihn um ein Abendessen für dich gebeten«, erklärte Kilian.

»Danke. Stell es einfach auf den Tisch.« Als er an ihr vorbeiging, stibitzte Natalie einen Apfel aus der Schale, doch dann fiel ihr Blick auf seine knochigen Hände und sie drückte ihn dem Jungen in die Hand. »Hier, nimm auch einen.«

Er bedankte sich strahlend und biss auch gleich hinein, ehe er die Tür hinter sich schloss.

Zäh wie Teig schlängelte sich die Stille um Natalies Gedanken. Sie verschränkte die Hände im Nacken und blickte zur Decke. Am liebsten hätte sie Ed sofort rausgeworfen, aber vermutlich sollte sie sich besser bei ihm entschuldigen.

»Wenn die morgen auch nur irgendetwas finden, was ihnen sauer aufstößt«, sagte er, »haben wir sie womöglich dauernd am Hals. Dein Antrag ist übrigens abgelehnt worden. Sie wollen auch in Zukunft keine Magischen aufnehmen. Agenten müssensollendürfen ausschließlich Menschen sein.«

»Mit welcher Begründung?«

Ed zuckte mit den Schultern. »Steht in den Statuten? So war es schon immer? Mögliche Gewissenskonflikte? Such’s dir aus. Aber wundert dich das angesichts der aktuellen Lage?« Er wartete ihre Antwort nicht ab. »Wie auch immer. Mein Job ist weiß der Himmel kein Honiglecken. Und ich mache ihn nur, weil ihr mich alle bekniet habt. Ich kann sofort kündigen, wenn euch nicht passt, wie ich den Laden führe.«

Natalie schüttelte den Kopf und wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, da ließ ein Poltern sie aufhorchen. Kilian stürmte nach draußen, sie und Ed folgten.

Der Küchenjunge lag reglos auf der Treppe. Schaum quoll aus seinem Mund, seine Lippen waren bläulich verfärbt, sein Gesicht verzerrt. Kilian beugte sich über ihn.

»Ist er … tot?«, fragte Natalie.

»Ja. Sieht nach Gift aus.«

»Was? Aber … aber woher?«

Wie als Antwort auf Natalies Frage löste sich der Apfel aus den verkrampften Fingern des Jungen und kullerte die Stufen hinab. Kilian bückte sich danach, schnupperte.

»Er war präpariert.«

»Warum sollte man den Küchenjunge töten wollen?«

»Nicht ihn – dich. Jemand will dich töten, Nat, und ihm ist jedes Mittel recht.«

»Du hättest doch auch einen Apfel aus der Obstschale nehmen können … Aber … du … isst keine Äpfel!«, fiel es ihr ein. »Du hasst sie geradezu.«

Kilian nickte. »Dieser Jemand weiß genau über uns Bescheid. Ich wollte dir das ohnehin erzählen: Der Kerl, der dich erwürgen wollte, schweigt wie ein Grab, aber dieser Riemen ist magisch. Er zieht sich bei Hautkontakt zu. Jetzt der Apfel. Das erinnert mich sehr an die Mordversuche an Königin Blanka.«

»Schneewittchen?«, meinte Ed ungläubig. »Haben wir es mit einem Spaßvogel zu tun?«

»Tja, da kommt nur eine in Betracht.«

»Raikun«, sagte Natalie. Und an Ed gewandt: »Nein, ich glaube, es ist ihr todernst.«

image

Weit nach Mitternacht schloss Natalie endlich die Tür zu den Gemächern. Sie sank an Ort und Stelle zu Boden, müde und frustriert.

Kilian saß am Schreibtisch und verfolgte am Laptop die Spätnachrichten. Er hob den Kopf. »Hey. Alles klar?«

»Nichts ist ›klar‹.«

»Du trägst keine Schuld.«

Nicht direkt, da hatte er schon recht. Dennoch sah sie sich als eine Art Auslöser – letztlich bei allem, was passiert war. Als wäre sie verflucht, der eine Funke zu sein, der die Bombe entzündete, immer und immer wieder.

Kilian sah sie eindringlich an. »Bitte. Mach dir keine Vorwürfe. Niemand konnte das ahnen.«

Der Koch hatte jede Beteiligung an dem Giftanschlag abgestritten. Seiner Aussage nach hatte ein Bauer die Äpfel geliefert. Sie waren alle vergiftet gewesen, die ganze Kiste. Zum Glück hatte sonst noch niemand einen gegessen.

»Gibt’s was Neues?«, fragte Natalie, als Kilians Blick zurück zum Bildschirm zuckte.

»Sander Hagen wurde tot aufgefunden.«

»Der Bannmagier?« Sie hatte ihn erst kürzlich bei der Europa-Konferenz der Organisation kennengelernt. »Er war doch für Nordeuropa zuständig. Was ist passiert?«

»Er lag tot in der Dusche. Noch weiß man nichts Genaues, man geht von einem Herzinfarkt aus.« Kilian seufzte. »Das ist nicht alles. Gerade wurde bekannt gegeben, dass die OMB auf Geheiß der Regierung die Lizenzvergabe bis auf Weiteres einstellt. Bestehende Lizenzen sollen geprüft und gegebenenfalls eingezogen werden.«

Das hat Ed wohlweislich verschwiegen. Natalie schlug die Hände vors Gesicht. Ihr war zum Heulen.

»Und wer wird sie wohl behalten dürfen?«, murmelte Kilian. »Regierungstreue, Parteifreunde, Geldgeber.«

»Allen anderen wird die Existenzgrundlage entzogen.«

»Sodass ihnen nichts übrig bleibt, als ›ihren Status zu ändern‹«, sagte er dumpf.

»Höre ich da etwa Pessimismus?«

Kilian war im letzten Jahr immer zuversichtlich geblieben. Er hatte Natalie bestärkt, nicht aufzugeben, sie aufgebaut, wenn sie am Boden zerstört war, was oft genug vorkam. Er war der Heldentyp, einer, der aufstand und weiterkämpfte, wenn alles verloren schien. Ihr Held.

Er lachte leise, klappte den Laptop zu und setzte sich neben sie. »Nein, das nicht. Aber Sorge.«

»Vor der Zukunft?«

»Um dich.« Sachte strich er über ihre Wange.

»Ich kann auf mich aufpassen.«

»Ich weiß. Nur, manchmal hältst du dich für unbesiegbar. Das könnte ins Auge gehen.«

Das war ihr bewusst. »Sie wird es wieder versuchen.«

»Ja. Wir müssen Vorsichtsmaßnahmen treffen. Ab sofort solltest du nicht mehr allein unterwegs sein.«

»Hm. Ich frage mich gerade, ob ich diesen gut aussehenden OMB-Agenten als Bodyguard engagieren könnte. Du weißt schon, den mit den grünen Augen und der sexy Stimme.«

»Du findest meine Stimme sexy?«

Sie verzog das Gesicht. »Nicht, wenn du absichtlich einen auf erotisch machst. Das ist grauenhaft.«

Kilian zog sie an sich und pustete ihr seinen warmen Atem ins Haar. »Grauenhaft. Du kannst nicht mich meinen.«

»Ich meine den, mit dem hübschen Lächeln. Und dem knackigen Po. Der so gut küsst. Keinesfalls dich.«

»Na warte!«

Kichernd sprang sie auf, ehe er sie packen konnte, aber sie kam nicht weit. Kilian fing sie ein und warf sie wie einen Sack über seine Schulter. Sie trommelte mit den Fäusten auf seinen Rücken ein, doch er kannte kein Erbarmen. Im Schlafzimmer ließ er sich aufs Bett fallen und sie landete auf ihm.

»Ich werde dir zeigen, wie gut ich küssen kann. Du wirst mich anflehen, nicht aufzuhören.«

Natalie grinste. »Immer diese leeren Versprechungen …«

Seine Lippen waren weich und samtig, der Kuss süß. Sie hielt die Augen geöffnet, ließ den Blick wandern, von einem vertrauten Punkt zum nächsten: seine langen Wimpern, die Narbe an seiner Schläfe, die winzigen Falten im Augenwinkel.

Sie wühlte die Finger in sein Haar und er ließ seine unter ihr Shirt wandern. Die Berührung schickte heißkalte Schauer über ihre Haut.

Früher, als sie noch ein ganz normales Mädchen mit einem ganz normalen Leben und ganz normalen Träumen gewesen war, hätte sie über die Vorstellung, dass es so werden könnte, bloß den Kopf geschüttelt. Mit neunzehn bereits mit ihrem festen Freund zusammenleben? Nie und nimmer. Einen Mann aus tiefstem Herzen lieben, ohne Wenn und Aber? Nicht in ihrem Alter. Am allerwenigsten aber hätte sie erwartet, dass sie rasend glücklich und verzweifelt zugleich sein würde.

»Du weinst«, stellte Kilian bestürzt fest und wich zurück.

»Blödsinn.«

»Ich schmecke Salz.« Mit der Fingerspitze pflückte er eine Träne von ihrer Wange. »Siehst du?«

Natalie küsste den Tropfen weg. »Ich sehe den Mann, den ich liebe.«

»Und das treibt dir die Tränen in die Augen, ja?«

»Es sind Freudentränen. Weil ich den besten von allen abgekriegt habe.« Sie zeichnete mit beiden Daumen seine Augenbrauen nach. »Verlass mich nicht.«

»Niemals. Wie kommst du auf so eine absurde Idee?«

Natalie hielt ihre linke Hand hoch. »Schlechte Ware.«

»Frechheit!«, rief er mit gespielter Empörung. »Dir fehlt ja der halbe Zeigefinger! Ich bin getäuscht worden, das stand nicht im Vertrag. Ich sollte dich zurückgeben.«

»Zu spät. Ich bin Vollwaise.« Sie drängte den Schmerz in ihr Inneres zurück. Er wurde sofort durch anderen Schmerz ersetzt. »Heirate sie nicht, diese Prinzessin aus Schweden.«

Kilian lachte. »Das hatten wir doch längst geklärt.«