Über Kathryn Croft

Kathryn Croft glaubt seit ihrer Kindheit an die Macht von Geschichten und hat einen Abschluss in Medienwissenschaften und Englischer Literatur. Bevor sie mit dem Schreiben begann, arbeitete sie im Personalwesen und als Lehrerin. Sie lebt mit ihrer Familie und zwei Katzen in Guildford, Surrey. Mehr Informationen zur Autorin unter www.kathryncroft.com

Eva Riekert ist nach längerer Verlagstätigkeit als freischaffende Übersetzerin und Lektorin in erster Linie in den Bereichen Kinder- und Jugendliteratur und Junge Erwachsene tätig. Daneben übersetzt sie gelegentlich O-Töne für Dokumentarfilme im Bereich Jazz und Ökologie. Für Aufbau übersetzt sie Bücher von Carola Dunn und Kathryn Croft. Sie lebt derzeit in Berlin.

Informationen zum Buch

Du wachst neben einem Toten auf. Es ist nicht dein Ehemann – und es ist auch nicht dein Bett: Ohne jede Erinnerung an die Nacht zuvor erwacht Tara in einem fremden Bett. Neben ihr liegt ihr freundlicher Nachbar Lee – mit einem Messer in Brust. Hat sie ihn ermordet? Zum Glück hat sie kein Blut an den Händen. Tara schafft es, in ihr Haus zurück zu schleichen und die harmlose Nachbarin zu spielen. Doch dann gerät ausgerechnet ihre Tochter in Verdacht, eine geheime Affäre mit dem Nachbarn gehabt zu haben.

Der Bestseller aus Großbritannien – ein Thriller mit hundert Prozent Spannungsgarantie!

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Kathryn Croft

Während du schläfst

Thriller

Aus dem Englischen von Eva Riekert

Inhaltsübersicht

Über Kathryn Croft

Informationen zum Buch

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Prolog

Teil Eins

• Kapitel Eins •

• Kapitel Zwei •

• Kapitel Drei •

• Kapitel Vier •

• Kapitel Fünf •

• Kapitel Sechs •

• Kapitel Sieben •

• Kapitel Acht •

• Kapitel Neun •

• Kapitel Zehn •

• Kapitel Elf •

• Kapitel Zwölf •

• Kapitel Dreizehn •

• Kapitel Vierzehn •

• Kapitel Fünfzehn •

Teil Zwei

• Kapitel Sechzehn •

• Kapitel Siebzehn •

• Kapitel Achtzehn •

• Kapitel Neunzehn •

• Kapitel Zwanzig •

• Kapitel Einundzwanzig •

• Kapitel Zweiundzwanzig •

• Kapitel Dreiundzwanzig •

• Kapitel Vierundzwanzig •

• Kapitel Fünfundzwanzig •

• Kapitel Sechsundzwanzig •

• Kapitel Siebenundzwanzig •

• Kapitel Achtundzwanzig •

• Kapitel Neunundzwanzig •

• Kapitel Dreißig •

• Kapitel Einunddreißig •

• Kapitel Zweiunddreißig •

Teil Drei

• Kapitel Dreiunddreißig •

Danksagungen

Impressum

Für Dad,
••••••••
der unvergessen bleibt

Prolog

Ich schlage die Augen auf und weiß auf der Stelle, dass etwas nicht stimmt. Kein vertrautes Gefühl. Die dunklen Rollos, die alles aussperren bis auf einen feinen Streifen Sonnenlicht, sind nicht meine, ebenso wenig wie das schwarze Seidenlaken, das über meinem Körper liegt, oder das viel zu weiche Kopfkissen unter meinem Kopf.

Das ist nicht mein Schlafzimmer.

Da meine Augen noch müde sind vom Schlafen, nehme ich meine anderen Sinne zu Hilfe, um zu ergründen, wo ich bin, aber ich komme nicht darauf.

Noch etwas stimmt nicht.

Mir sollte wärmer sein – gestern Abend hatten wir über sechsundzwanzig Grad, trotzdem ist mir kalt. Und indem ich allmählich wacher werde, brauche ich nur ein paar Sekunden, um herauszufinden, warum das so ist.

Ich bin nackt.

Ich zwinge mich, klar zu sehen, starre in die Dunkelheit und versuche, den Rest des Schlafzimmers zu erkennen. Alles ist weiß und klar, bewusst minimalistisch. Möbel, die ich nicht gewählt hätte. Möbel, die mir sowohl fremd als auch vertraut vorkommen.

Jemand liegt neben mir.

»Noah?«, flüstere ich. Aber ich weiß bereits, dass er es nicht ist. Die Gestalt unter dem Bettlaken ist nicht mein Mann.

Jetzt gerate ich in Panik, denn das kann doch alles nicht sein. Langsam hebe ich das Betttuch an und betrachte das schwarze Haar, das irgendwie vertraut ist, und die sonnengebräunte Haut seines Rückens.

Ich kenne diesen Mann.

Sanft stoße ich ihn an, warte auf eine verlegene Reaktion. Gleichzeitig tauchen nach und nach kurze Bilder von seinem Gesicht vor mir auf, wie er gestern ausgesehen hat. Das Lächeln, mit dem er mich hereinbat.

»Lee?« Wieder stoße ich ihn leicht an, diesmal jedoch etwas fester.

Nichts.

Gelegentlich habe ich Noah auch so erlebt. Noch zu benebelt von irgendeiner Feier, um aufzuwachen, bis ich ihm direkt ins Ohr schreie.

Ich schwinge die Beine über die Bettkante und sehe mich nach meinen Kleidern um. Meine schwarze Bluse hängt über dem Heizkörper, meine Unterwäsche ist über den Boden verstreut. Ich kann mich nicht erinnern, was ich sonst noch getragen habe. Ich kann mich an nichts anderes erinnern, außer hier hergekommen zu sein.

Ich suche zusammen, was ich finden kann, und ziehe mich eilig an. Ich will nicht, dass er mich ohne Kleider sieht. Was er allerdings ja schon hat. Muss er ja. Und als ich um das Bett herum an seine Seite trete, weiß ich erneut, dass etwas nicht stimmt. Etwas anderes. Etwas, das schlimmer ist, als nackt im Bett meines Nachbarn aufzuwachen.

Er ist tot. Ich weiß es intuitiv. Keiner, der noch Leben in sich hat, kann so bewegungslos daliegen.

Mit ungelenken, roboterartigen Bewegungen ziehe ich das Betttuch zurück und bereite mich auf den Anruf beim Rettungsdienst vor. Er ist jung, aber er kann ja trotzdem einen Herzanfall gehabt haben. Ich weiß, das kann jedem passieren, wenn er sich verausgabt. Aber nein, ich darf einfach nicht glauben, dass ich mit ihm geschlafen habe. Das würde ich Noah nicht antun. Und Rosie und Spencer auch nicht.

So weit bin ich nun also gewappnet. Es ist der große Blutfleck, der als Schock kommt. Die klaffende Wunde in seiner Brust. Das ›O‹, zu dem sein Mund geformt ist. Die anklagenden, weit aufgerissenen Augen.

Ich schreie in die Stille.

Teil Eins

Kapitel Eins

24 Stunden zuvor

Ich liege im Bett und sehe Noah beim Packen zu. Er ist methodisch und hakt Punkt für Punkt auf seiner Liste ab, die er vor Tagen auf seinem Handy eingerichtet hat. Alles wird säuberlich in seinen Koffer gelegt, jeder Zentimeter Platz wird voll und ganz ausgenutzt. Ich lächle vor mich hin. Das ist Noah, wie er leibt und lebt. Das totale Gegenteil von mir.

»Freust du dich, das Haus für dich allein zu haben?«, fragt er. »Zur Abwechslung mal ein bisschen Ruhe?«

Ja, ich freue mich. Ich liebe die Kinder, und ich liebe Noah, aber ich muss mal wieder zu mir selbst kommen, wenn auch nur übers Wochenende. Die Gelegenheit kommt so selten, dass ich sie voll ausnutzen muss. »Nur Rosie macht mir Sorgen«, sage ich zu ihm. »Sie ist … na ja …«

»Ist wieder was vorgefallen?« Er hält mitten im Falten eines T-Shirts inne und sieht mich fragend an. Er hat immer den Verdacht, dass ich ihm nicht alles sage, wenn es um unsere siebzehnjährige Tochter geht. Aber wenn ich ihm etwas vorenthalten habe, dann nur deshalb, um ihr Vertrauen zu mir nicht zu zerstören. Nicht, dass Rosie das zu schätzen weiß. Wir sind beide gegen sie.

Ich setze mich auf und ziehe die Knie ans Kinn. »Nichts Neues. Aber sie redet immer noch von Anthony.« Ich warte auf die Explosion.

»Will sie vielleicht, dass die Polizei wieder hier auftaucht? Warum lässt sie den armen Kerl nicht in Ruhe? Er will nicht. Ende der Geschichte.«

Nicht in Rosies Welt. Anthony war erst wochenlang hinter ihr her, eine Bestätigung ihrer Schönheit, die wir ja alle sehen können, aber dann, nach dem ersten Kuss, hat er auf einmal das Interesse verloren. So was kann vorkommen. Die meisten von uns können mit so einer Zurückweisung umgehen, aber nicht Rosie. Es war nicht die erste Katastrophe für sie und wird auch nicht die letzte sein. Es ist nur einfach die, mit der wir es derzeit zu tun haben.

»Das kommt schon in Ordnung«, sage ich. »Sie hat ihn kurz erwähnt, sonst nichts. Ich glaube, sie hatte ihn in der Schule gesehen, und das … muss wohl was ausgelöst haben.« Denn es gibt immer einen Auslöser für Rosie. Er muss nicht mal mit ihrem aktuellen Trauma zu tun haben.

Noah seufzt, dann macht er mit dem Zusammenfalten weiter. »Sie muss wieder zu Dr. Marshall. Er hat doch beim letzten Mal geholfen, nicht wahr?«

Nein, eigentlich nicht. Aber in meiner Ratlosigkeit, was ich sonst tun könnte, habe ich ihr vorgeschlagen, sie wieder bei ihm anzumelden, bin jedoch auf heftigen Widerstand gestoßen. Brüllen. Schreien. Porzellan zerschmeißen. Dann Stille und totaler Rückzug, die Verweigerung, zu reden, mit keinem. Und schließlich dann die andere Rosie. Die Rosie, die uns versichert, dass alles in Ordnung ist, bis wir ihr glauben, so dass wir den Termin absagen, um die Zeit des Doktors nicht zu verschwenden.

Er konnte uns auch keinen Rat geben. Laut sprach er von Depression, aber sein Blick sagte etwas anderes. Sie wird da schon herauswachsen. Sie will nur Aufmerksamkeit. Jetzt kümmert euch selbst darum.

»Ich hab’s im Griff«, sage ich, »konzentriere du dich einfach auf New York. Schnapp dir den Kunden.« Und stumm setze ich hinzu: Komm nicht zurück und erzähl mir, es ist mal wieder passiert, nach dem ganzen Hin und Her bist du hier und mit uns doch am falschen Ort.

Noah schließt seinen Koffer, hebt ihn vom Bett und stellt ihn in eine Zimmerecke, damit er nicht im Weg steht. Er kommt zu mir und gibt mir einen sanften Kuss auf die Stirn.

»Sieh zu, dass du mit deinem Bild fertig wirst. Ich weiß, ihr Künstlertypen müsst in die richtige Stimmung kommen oder wie ihr das nennt, aber am Sonntagabend sind wir alle wieder zusammen.«

Ich habe schon nachgerechnet, wie viele Stunden ich habe: sechsundfünfzig. Sehsundfünfzig Stunden, um abzuschließen, was ich für den Wettbewerb der London Art Gallery einreichen will. Die Chancen, dass ich gewinne, sind gering, aber der ausgesetzte Preis ist, dass ich von der Galerie vertreten werde, also werde ich mein Bestes geben. Und das Haus für mich zu haben wird mir ungeheuer helfen. Außerdem lenkt es mich davon ab, an die Schule zu denken, daran, Schüler zu maßregeln, und vor allem an meinen Kollegen Mikey denken zu müssen.

Noah unterbricht meine Gedanken. »Spencer geht also zu deinen Eltern, und Rosie besucht Libby? Mir wäre es lieber, wenn sie beide zu deinen Eltern gingen.«

Das hat er seit gestern schon dreimal mit mir durchgesprochen. Und jedes Mal habe ich geantwortet, ja, ich habe mir mehrfach von Libbys Eltern versichern lassen, dass Rosie das ganze Wochenende bleiben kann. Es ist für alles gesorgt. Und Bernadette weiß über Rosies Probleme Bescheid. Sie wird ein Auge auf unsere Tochter haben.

»Erinnere dich, was letztes Mal passiert ist«, sage ich zu ihm. »Ich möchte meine Eltern nicht wieder so unter Stress setzen.«

Er verzieht den Mund, und ich weiß, dass er daran zurückdenkt, was vor zwei Monaten passiert ist. Wie schlimm es für meine Eltern war, der Polizei melden zu müssen, dass ihre Enkelin verschwunden sei. »Hmmm. Stimmt«, sagt er. Dann kommt wieder das Aufseufzen, das nur Rosie in ihm auslösen kann.

Ich höre vom Flur her, wie eine Tür aufgeht. Es ist erst zehn vor sieben, daher weiß ich, dass es Spencer sein muss, der den Gang entlangschleicht, damit er seine Schwester nicht weckt. Wie oft habe ich ihm schon gesagt, dass Rosie einen Orkan verschlafen würde, aber er meint, Vorsicht sei besser. Spencer steht früh auf, damit er die Ruhe vor dem Sturm genießen kann. Ich habe vergessen, ihm gestern zu sagen, dass Rosie heute keine Schule hat, die Wahrscheinlichkeit, dass sie vor ein Uhr auftaucht, geht also gegen null.

»Ah, gut, Spencer ist schon auf«, sagt Noah. »Ich sehe ihn also noch, ehe ich gehe. Das Taxi kommt in einer halben Stunde, ich muss jetzt noch duschen.«

Ob sich Noah gestern schon von Rosie verabschiedet hat? Aber ich frage ihn nicht. Das löst nur wieder ein längeres Palaver aus, und ich brauche diesen Moment, um für Spencer da zu sein.

Als ich unten bin, sehe ich unserem Sohn zu, wie er sich Cornflakes in eine Schale schüttet, und staune wieder einmal, wie anders er ist als Rosie. So umgänglich. Ich spiele sie nicht gegeneinander aus, und selbst im tiefsten Inneren meines Herzens und meiner Seele liebe ich sie beide gleichermaßen. Aber Spencer macht es einem so viel leichter.

»Mum, darf ich bei Grandma und Grandad heute Abend eine DVD angucken?«

Er wird ganz rot vor Aufregung. Es kommt selten vor, dass man ihn nicht fröhlich sieht, und selbst wenn Rosie wegen irgendwas ausrastet, bleibt er gelassen, versucht das Beste in der Situation zu sehen und in seiner Schwester.

»Kommt drauf an, was für eine DVD«, sage ich und nehme einen Schluck Kaffee, um richtig wach zu werden.

»Na ja, sie ist genaugenommen erst ab fünfzehn, aber alle in der Schule haben sie gesehen.«

»Spencer, du bist elf. Such dir eine andere aus.«

Er protestiert nicht, findet sich einfach damit ab, und schnell ist er wieder friedlich und berichtet mir von seiner neuen Englischlehrerin, die gerade an seiner Schule angefangen hat. Ich muss unwillkürlich lächeln, als er erzählt, dass die anderen kein gutes Haar an ihr lassen, dass er jedoch nett zu ihr war, weil sie ja nichts Blödes gemacht habe.

Das bestätigt mir, dass ich zumindest etwas richtig gemacht habe.

»Dad!«, ruft Spencer, als Noah reinkommt, dessen Haar noch feucht vom Duschen ist.

Noah eilt auf ihn zu, zerzaust ihm die Haare und nimmt ihn in die Arme. Und hinter meiner Tasse Kaffee lächle ich über die Szene. Nur Rosie fehlt uns. Die Rosie, die es noch irgendwo geben muss.

Später, nachdem ich geduscht und angezogen bin, mache ich mich daran, in der Glasveranda zu malen. Der ganze Tag dehnt sich vor mir aus, und ich bin schon gespannt darauf, was ich zuwege bringe. Ich habe mich für einen See entschieden – die Äste eines großen Baumes recken sich über die Wasserfläche, als wollten sie die einzelnen treibenden Blätter berühren – ein See, der nur in meiner Vorstellung existiert.

Ich höre Rosie erst, als sie direkt hinter mir steht. Es ist erst zehn Uhr, aber sie ist schon angezogen, enge Jeans, ein weites T-Shirt mit V-Ausschnitt. Ihre Schuhe sind so korallenrot wie das T-Shirt, und ihre glänzenden schwarzen Haare liegen fächerartig über ihren Schultern. Sie sieht immer super aus.

»Hi, Mum«, sagt sie mit einem kurzen Blick auf die Staffelei. »Was willst du malen?«

Als ich ihr erzähle, was ich mir vorstelle, nickt sie, und ihr Gesicht verzieht sich zu einem kleinen Lächeln.

»Eine Landschaft – das ist eine gute Idee.«

»Bist du schon fertig, um zu Libby zu gehen? Soll ich dich fahren?«

»Nicht nötig, wir treffen uns in Putney. Ich nehme den Bus.«

Obwohl Putney nicht weit weg liegt von Richmond, mache ich mir doch Sorgen. Aber Rosie scheint heute ruhig und guter Stimmung zu sein, und ich weiß, dass sie sich die ganze Zeit auf dieses Wochenende gefreut hat.

»Na gut, wenn du meinst.«

»Hör auf, dich meinetwegen aufzuregen, Mum. Es geht mir gut. Okay?«

Daher entspanne ich mich etwas, denn das ist die Rosie, der ich vertraue. Wie ich sie immer gerne hätte. Ich streichle ihre Hand und möchte gerne glauben, dass sie das Schlimmste hinter sich hat. Dass sie Anthony abgehakt hat.

»Also, tschüss«, sagt sie und schwebt wie ein Schmetterling durch die Tür.

Den Tag heute schafft sie. Ich weiß es.

Ich bin so vertieft in mein Malen, dass es schon nach zwei ist, als ich schließlich ans Essen denke. Ich komme voran, es kann also nicht schaden, eine kleine Pause zu machen.

Als mein Handy klingelt, während ich mein Sandwich esse, freue ich mich, Lisas Namen auf dem Display zu sehen. Meine Schwester ist andauernd auf Reisen oder unternimmt irgendwelche Abenteuer, von denen ich nur träumen kann, deshalb sind die Momente selten, in denen wir uns unterhalten können.

»Alles okay?«, fragt sie, nachdem sie mir von ihrer letzten Reise nach Thailand erzählt hat.

Ich berichte ihr von Rosies letzten Eskapaden, und sie pfeift ins Telefon.

»Das Mädchen muss mich mal irgendwohin begleiten«, sagt sie. »Da kommt sie wieder in Ordnung. Aber wenigstens kann sie sich dieses Wochenende mit ihrer Freundin amüsieren.«

Rosie mit Lisa auf einer Reise – eine interessante Idee, eine, die ich mir mal durch den Kopf gehen lasse, wenn sie den Schulabschluss hinter sich hat. Vielleicht muss ihr mal klar werden, dass es da draußen eine andere Welt gibt – nicht nur das kleine Universum, das sich allein um Rosie dreht.

»Wie geht’s Harvey?«, frage ich.

Lisa zögert. »Super. Er plant gerade schon wieder die nächste Reise für uns. Er denkt an Australien.« Sie senkt die Stimme zu einem Flüstern. »Ich will dir ehrlich sagen, Tara, es wird mir ein bisschen zu viel. Es wäre nett, mal länger als nur ein paar Wochen im Lande zu sein.«

Ich habe mich schon oft gefragt, woher Lisa die Energie für ihr ganzes Jet-Setting nimmt, aber mit ihren sechsunddreißig ist sie schließlich drei Jahre jünger als ich, und keine Kinder zu haben hilft wahrscheinlich auch. Sind die beiden Gründe entscheidend? Ich bin schon erschöpft, wenn ich einen Ausflug zum West End plane. Aber ich freue mich für sie, dass sie ihr Leben voll auskostet. Hat sie immer gemacht.

»Ist zwischen euch beiden alles in Ordnung?« Ich fühle, dass etwas nicht ganz stimmt, aber Lisa lässt sich nicht gerne über Einzelheiten ihrer Beziehungen aus. Und nach gerade mal sechs Monaten ist diese noch ziemlich jung.

»Es läuft wirklich gut. Wir haben eine Menge gemein.«

Aber findest du ihn auch aufregend?, will ich sagen. Gibt er dir das Gefühl, dass du alles erreichen kannst, sein kannst, wer du willst? Denn so sollte es sein. Ich denke an Noah. Er gibt mir immer noch dieses Gefühl, auch wenn ich Zweifel habe, dass es umgekehrt ebenfalls so ist.

»Du fehlst mir«, sagt Lisa und holt meine Gedanken zurück. »Hey, wo du doch alleine bist, soll ich heute Abend rüberkommen? Ich bring eine Flasche Wein mit, und du kannst mir alles erzählen, was so läuft.«

Ihr Angebot ist verlockend – es wäre nett, alles durchzuhecheln –, aber der Abgabetermin für den Wettbewerb rückt näher, und ich muss jeden Augenblick nutzen, den ich habe.

Die Ruhe vor dem Sturm.

Sie schweigt, als ich ihr das sage, doch dann versichert sie mir, dass sie es versteht. »Ist schon so lange her«, setzt sie jedoch nach. »Wann war das letzte Mal? Ist einen Monat her, seit wir uns auf ein paar Drinks in dieser Pianobar getroffen haben.«

Ja, sie hat recht. Allerdings erinnere ich sie nicht daran, wie betrunken sie war, oder daran, dass Noah sie schon früh nach Hause fahren musste.

Wir verabschieden uns wie gewöhnlich: mit hoffnungsvollen Versprechungen, uns bald zu treffen.

Trotz all meiner guten Vorsätze, den ganzen Tag zu malen, schlafe ich ein, als ich auf dem Sofa eine Pause mache. Vom Pling meines Handys werde ich wach: eine SMS von Noah, und zu meinem Schrecken sehe ich, dass es fast sieben ist. Er schreibt, dass er gerade in JFK gelandet und unterwegs zum Hotel ist, um seinen Kunden zu treffen.

Fast zwanzig Jahre Zusammensein mit Noah haben mir einige Einblicke in die Werbebranche gegeben, vor allem, dass es eine Einer-frisst-den-anderen-Welt ist, eine, in der Noah hart um jeden Auftrag kämpfen muss.

Ich antworte und wünsche ihm Glück. Die zwei Küsse, die ich dranhänge, würde ich ihm gerne persönlich geben. Ich bin nie besitzergreifend oder würde ihn von irgendwas abhalten, was er gerne tun möchte. Ich will nur sicher sein, dass er immer nach Hause kommen will.

Seine umgehende Antwort: »Ich liebe dich«.

Als ich seine SMS wegschalte, sehe ich, dass ich noch eine unbeantwortete Nachricht habe, und zwar von unserer Nachbarin Serena. Ich bezeichne sie und ihren Mann abwechselnd als Freunde oder Nachbarn, denn sie sind tatsächlich beides. Aber immer mal wieder ist es, als ob sie ganz zu dem einen oder dem anderen werden, deshalb sind sie vielleicht weder das eine noch das andere. Aber egal, was sie für uns sind und wir für sie, sie sind ein nettes Paar, und wir haben Glück, dass sie gegenüber wohnen.

»Kannst du rasch rüberkommen?«, fragt Serena. »Muss mich ausheulen!«

Das Ausrufezeichen sagt mir, dass sie das nicht ganz ernst meint, aber man weiß nicht so recht bei Serena. Sie ist eigentlich eine starke Frau, aber ich weiß, dass sie zurzeit einiges durchmacht.

Gerade will ich zurücksimsen, dass ich unterwegs bin, da werde ich abgelenkt, denn Rosie simst, ob Libbys Mutter sie zum Essen ins West End mitnehmen darf. Das geht in Ordnung, solange sie in Begleitung sind, und als ich ihr meine Zustimmung geschickt habe, mache ich mir nicht mehr die Mühe, Serena zu antworten. Ich werde einfach hingehen. Allerdings muss ich mich vorher umziehen. Ist zwar nur auf der andren Straßenseite, aber ich kann das Haus nicht in Joggingklamotten voller Farbspritzer verlassen.

Lee kommt an die Tür, mit nichts an außer Shorts. Aber da er Gartenarchitekt ist, bin ich es gewohnt, ihn so zu sehen.

»Ach, hallo, Tara, wie geht’s? Komm rein.« Er hält die Tür auf und tritt beiseite, um mich hereinzulassen. »Entschuldige, dass ich halb nackt bin; ich werfe mich mal kurz in ein T-Shirt. Aber es ist ja auch so elend heiß, nicht wahr?«

»Macht doch gar nichts, äh, entschuldige. Ich habe gerade Serenas SMS gekriegt. Alles in Ordnung bei ihr? Und bei dir auch?«

Er runzelt die Stirn. »Alles okay bei uns. Aber Serena ist gar nicht da. Sie ist eben erst gegangen. Ihre Freundin feiert Junggesellinnenabschied.«

Das ist mir jetzt rätselhaft. »Aber sie hat mir gerade gesimst und gefragt, ob ich rüberkommen könnte. Bin mir zumindest ziemlich sicher.« Ich hab noch nie eine SMS falsch verstanden, doch jetzt kommen mir Zweifel.

Um Lee zu beweisen, dass ich nicht völlig daneben bin, ziehe ich mein Handy heraus und rufe Serenas Kurznachricht auf. Da ist sie, genau so, wie ich sie in Erinnerung habe.

»Hm«, sagte Lee, als ich ihm die SMS zeige, und runzelt erneut die Stirn. »Wart mal ’ne Sekunde.« Er wischt über das Display, dann lächelt er. »Sie hat die Nachricht heute Morgen abgeschickt.«

Er zeigt mir das Display und tatsächlich: zehn Uhr fünfzehn. Ist also Stunden her.

Ich komme mir dämlich vor, entschuldige mich überschwänglich und mache kehrt, um zu mir zurückzugehen.

»Sei doch nicht albern«, sagt Lee, »wo du schon mal da bist. Warum bleibst du nicht auf einen Drink? Ich habe in diesem Moment eine Flasche Rotwein aufgemacht.«

Ich zögere, hin- und hergerissen. Jenseits der Straße wartet mein unfertiges Bild, aber es wäre nett, ein bisschen Gesellschaft zu haben. Und Lee ist sehr unterhaltsam.

Kaum, dass ich auf ihrem cremeweißen Ledersofa sitze, habe ich das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Irgendwie ist es nicht richtig, ohne Serena hier zu sein; sosehr ich Lee mag, ist sie doch eher diejenige, mit der ich befreundet bin.

Lee zieht ein T-Shirt an und reicht mir ein Glas Wein. Ich nippe nur daran, denn ist es klug, Alkohol zu trinken, wo ich heute fast nichts gegessen habe?

»Na, Tara, wie läuft’s denn? Wir haben dich ja eine Weile nicht gesehen.«

Ich überlege, wann das letzte Mal war, kann mich aber nicht erinnern. Es kann doch wirklich nicht so lange her sein? Komisch, dass man so nah bei jemandem wohnt und sich trotzdem nicht ständig sieht. In unserer Sackgasse stehen nur zehn Häuser um eine große Grünfläche, was die Sache noch seltsamer macht.

Ich berichte ihm von meiner Malerei und merke erfreut, dass er interessiert zuhört.

»Dann hast du also mit Unterrichten aufgehört?«, fragt er. »Kann ich dir nicht verdenken. Ist bestimmt die schwierigste Arbeit der Welt.«

Ich mache mir nicht die Mühe, das richtigzustellen. Ich bin nämlich schon seit einem Jahr nicht mehr Kunstlehrerin. »Na ja, ich leite immer noch den Beratungsdienst für den neunten Jahrgang, aber es stimmt schon, ich hoffe, dass ich mit der Zeit vom Malen leben kann.« Das ist meistens der Moment, wenn die Leute einen abwesenden Blick bekommen und mir ihre stummen Gedanken zuschreien: Die meisten Künstler sind doch arme Schlucker. Zu viel Konkurrenz. Vielleicht solltest du bei deinem richtigen Job bleiben. Aber ihre Bedenken feuern mich nur an.

Bei Lee ist das nicht so. Er fragt mich, was mein Genre ist, und versichert mir, wie sehr er jede Art von Kreativität bewundert. »Deine Leidenschaft gefällt mir«, sagt er, und ich werde rot bei seinem Kompliment.

»Und wie geht’s euch beiden?«, frage ich und hoffe, dass ich ihm nicht zu nahe trete. Ich habe bisher nur mit Serena über ihre Probleme gesprochen und kann nicht sicher sein, ob Lee weiß, dass seine Frau mir so viel anvertraut hat.

Einen Augenblick lang wirkt er tatsächlich überrascht, und vielleicht versucht er zu überlegen, wie offen er mir gegenüber sein kann, aber lange braucht er nicht, um draufloszureden. »Wir versuchen es jetzt schon seit Jahren, und wenn ich ehrlich bin – es ist anstrengend. Manchmal möchte ich am liebsten etwas …«

»Etwas Abstand?«

»Ja, ganz genau. Eine Pause. Ich will vergessen, dass wir Probleme haben, und möchte einfach nur leben.« Er lächelt und nimmt einen kräftigen Schluck Wein. »Ich will nur, dass Serena und ich … wieder wir sind.«

Wie jedes Mal, wenn ich mit Serena rede, überfallen mich Schuldgefühle. Die Schwangerschaft mit Rosie kam wie von selbst, ohne dass wir es schon wollten, und beim zweiten Mal mussten wir nur ein paar Monate warten, bis ich mit Spencer schwanger war. Aber alles hat seinen Preis.

Es gibt nichts, was ich Lee raten könnte, daher weiche ich auf das aus, was ich auch fest glaube: »Ihr beide kommt schon klar.« Weil man ja keine Wahl hat. Egal, welche Schicksalsschläge uns treffen, wir finden einen Weg heraus, es sei denn, es handelt sich um eine tödliche Krankheit.

»Um ehrlich zu sein, Tara, ich bin mir nicht mal sicher, dass ich überhaupt noch ein Baby will. Oder zumindest nicht jetzt unbedingt. Wir sind ja noch ziemlich jung. Ich finde, das Leben sollte nicht so … belastet sein.«

Ich weiß, dass Serena dreiunddreißig ist, Lee muss also nah dran sein. Er hat recht: Sie haben noch Zeit. Aber das ist natürlich nicht das, was Serena fühlt.

»Noch eins?«, fragt Lee und deutet auf mein Glas, das inzwischen leer ist.

»Nein … danke, im Gegenteil, ich sollte zurück.« An meine Staffelei und in mein leeres Haus, auf das ich mich seit Wochen gefreut habe.

Aber Lee schenkt mir schon ein. »Es ist doch noch früh. Ein Glas noch, und dabei erzählst du mir von diesem Kunstwettbewerb.«

Aber es bleibt nicht nur bei dem einen, und nach zwei weiteren Gläsern fühle ich mich zu wohl, um nach Hause zu wollen. Es ist jetzt zu spät, um weiterzumalen, die Sonne ist schon lange untergegangen; es ist also nichts dabei, hierzubleiben und mit Lee zu plaudern.

Und dieser Gedanke ist das Letzte, an das ich mich erinnere.

Kapitel Zwei

Jetzt

Ich weiß nicht, wie ich es nach Hause schaffe, aber jetzt bin ich irgendwie da und sinke zu Boden, kaum dass ich die Tür geschlossen habe. Meine schweren Atemzüge hallen durch das Haus, und bestimmt wird der nächste auch mein letzter sein.

Ich habe ihn dort zurückgelassen. Tot. Und jetzt gibt es kein Zurück mehr, kein Benachrichtigen der Polizei, denn ich habe den Tatort einfach verlassen. Übelkeit überfällt mich, und ich renne hinauf ins Bad, gerade noch rechtzeitig. Meine Panik lässt jedoch nicht nach.

Instinktiv ziehe ich meine Sachen aus und untersuche jedes Teil, kann aber keine Blutspuren oder irgendwas finden. Selbst mein Körper ist ohne jeden Blutfleck. Zumindest entdecke ich nichts.

Aber ich stelle die Dusche an, fast zu heiß, um es auszuhalten, und schrubbe jeden Zentimeter Haut ab, bis ich krebsrot bin. Meine Tränen vermengen sich mit dem Wasser, und die Laute, die ich ausstoße, klingen nicht wie von einem Menschen.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, bis ich herauskomme, um den ersten Schritt in Angriff zu nehmen, mich mit dem Unheil zu befassen, in das ich geraten bin, aber es ist immer noch erst sechs Uhr morgens. Die Zeit steht still. Ich wickle mich in ein Handtuch – das von Noah, weil es mir als Erstes in die Hand fällt –, setze mich auf die Bettkante und versuche, meinen Atem unter Kontrolle zu bringen.

Durchdrehen bringt mich nicht weiter. Ich muss mich in den Griff bekommen, wenn ich das Ganze verstehen will. Aber das Bild von Lees leerem Gesicht, seinem leblosen Körper will mir einfach nicht aus dem Sinn. Fünfzig Jahre können vergehen, und es wird immer noch da sein, so plastisch, als ob ich noch neben ihm stehe.

Mein Atem wird regelmäßiger. Ich konzentriere mich auf die Fakten. Erstens: Ich habe Lee nicht umgebracht. An mir war kein Blut, weder von ihm noch von mir, ich kann es also nicht getan haben. Zweitens: Wer immer ihm das angetan hat, hat mich dort in seinem Bett gesehen. Sein Mörder kennt mein Gesicht. Was, wenn er oder sie hinter mir her ist?

Ich renne durchs Haus und überprüfe alle Fenster und Türen, und als ich damit fertig bin, überprüfe ich alle noch einmal, getrieben von Angst und Paranoia, die ich einfach nicht abschütteln kann. Und dann rolle ich mich auf dem Sofa zusammen und versuche, meine Lage zu durchdenken.

Es ist noch nicht zu spät: Ich gehe zur Polizei. Schließlich habe ich die Wahrheit auf meiner Seite. Und sobald sie ihre Ermittlungen gemacht haben, sehen sie ein, dass ich unschuldig bin.

Mein Telefon klingelt, und ich zucke zusammen. Das muss die Polizei sein. Jemand hat gesehen, wie ich das Haus von Lee und Serena verlassen habe, und jetzt glaubt mir keiner mehr, dass ich gerade alles melden wollte.

Aber es ist Spencer. Sein Name auf dem Display zwingt mich in die Normalität zurück. Ich hole tief Luft.

»Hi, Liebling, ist alles okay? Du bist ja schon früh auf.« Ich muss mich sehr zusammenreißen, um munter zu klingen.

»Ja, ich bin früh mit Grandad aufgestanden, um mit Jackson rauszugehen. Aber Mum? Grandma und Grandad haben mich keine DVD gucken lassen. Nicht mal eine ab zwölf. Und ich bin doch fast zwölf! Schon in ein paar Wochen, warum erlauben sie es denn nicht?«

Mein Kopf dröhnt. Wie kann ich mich über so etwas Triviales unterhalten, während Lee tot daliegt? »Spencer, sie tun nur, was sie für das Beste halten. Mach dir nichts draus, morgen bist du ja wieder zu Hause. Und ich prüfe den Film mal und entscheide, ob du ihn nächstes Wochenende ansehen kannst.«

Doch mein Sohn bleibt gelassen, wenn auch entschlossen – etwas, das ich normalerweise an ihm bewundere. »Du könntest doch heute im Lauf des Vormittags mit ihnen reden, dann lassen sie mich vielleicht heute Abend gucken?«

»Mal sehen«, sage ich. Diese Unterhaltung strengt mich zu sehr an.

Die Freude in seiner Stimme tut mir fast weh. »Super! Ich gebe mal eben an Grandma weiter, sie ist –«

»Nicht jetzt!« Meine Bitte klingt eher barsch wie ein Befehl.

Spencer verstummt. Sekunden vergehen. »Okay«, sagt er schließlich.

»Ich rufe euch später an. Ich bin gerade zu beschäftigt.«

»Tschüss, Mum«, sagt er. Er merkt, dass etwas nicht stimmt. Für einen Elfjährigen ist Spencer äußerst einfühlsam.

Nachdem ich aufgelegt habe, sitze ich eine halbe Stunde da, das Handy umklammert, entschlossen, die Polizei anzurufen und zu tun, was ich tun sollte, und doch unfähig, mich zu rühren. Wenn irgendeine Möglichkeit bestünde, wie ich ihnen helfen kann, Lees Mörder zu finden, würde ich nicht zögern, aber ohne irgendeine Erinnerung an die Nacht, abgesehen davon, dass ich bei ihm war, gibt es nichts, was ich angeben kann, deshalb kann ich nicht riskieren, meine Familie wegen nichts zu gefährden.

Ich trete ans Wohnzimmerfenster. Die Sonne strahlt schon vom wolkenlosen Himmel, ein krasser Gegensatz zu der Finsternis in dem Haus, auf das sie scheint. Ich entdecke kein Lebenszeichen und kann nur vermuten, dass Serena noch nicht zurück ist.

Jetzt wird sie wohl gerade in einem Hotel aufwachen und ihren Kater mit schwarzem Kaffee bekämpfen – obwohl sie ja versucht, schwanger zu werden, weiß ich, dass sie immer mal wieder Alkohol trinkt –, und sie hat keine Ahnung, dass ihr Mann tot in ihrem Ehebett liegt. Sein Leben ausgelöscht von … wem?

Ich war es nicht. Ich weiß, dass ich es nicht war. Aber die Haustür war geschlossen, ehe ich ging, und es gab keine Anzeichen für einen Einbruch. Denk nicht zu heftig darüber nach, sonst wird es dir zum Verderben.

Aber ich bin ja schon erledigt, denn ich war dort und stecke irgendwie drin als ahnungslose Beteiligte am Mord meines Nachbarn.

Die Vorhänge sind noch zugezogen von gestern Abend, auch wenn ich mich nicht erinnern kann, dass Lee sie zugezogen hat. Ich kann mich an nichts entsinnen, außer auf dem Sofa gesessen und Wein getrunken zu haben.

Ich überlege, ob ich Serena eine SMS schicken soll, um ihr mitzuteilen, dass ich eben erst ihre Nachricht von gestern Vormittag gelesen habe, denn sie wird sich fragen, warum ich nicht geantwortet habe. Panik steigt in mir auf, als mir klar wird, was für ein Glück es war, dass ich ihr gestern nicht gesimst habe. Ich hätte geschrieben, dass ich schon unterwegs bin. Dann würden sie und bald alle wissen, dass ich drüben war. Dass ich die letzte Person war, die Lee gesehen hat und also eindeutig seine Mörderin sein muss.

Aber es ist okay. Ich bin vorerst sicher.

Während ich auf das Haus gegenüber starre, kommt mein Entschluss, die Polizei nicht zu verständigen, erneut ins Wanken. Es ist eine schwierige Wahl, aber ich muss an meine Familie denken. Rosie und Spencer brauchen mich, beide, ich darf einfach nicht die Frau sein, die neben ihrem toten Nachbarn aufgewacht ist. Ich tue es auch für Noah, obwohl er mich weniger braucht. Es geht nicht um mich und die Angst vor Folgen, denn ich weiß, dass ich Lee nichts angetan habe.

Und dessen bin ich ganz sicher, mehr als alles andere.

Ohne weiter nachzudenken, nehme ich mein Handy und fange an, meiner Freundin eine Nachricht zu schicken. Eine Lüge. Verrat.

Und als ihre Antwort kommt, ein freundliches »Kein Problem, wir reden, wenn ich Sonntag nach Hause komme«, unterdrücke ich die Tränen, schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter und sage mir, dass ich mich bis auf Weiteres mit der Situation abfinden muss. Um meiner Familie willen.

Der restliche Vormittag vergeht quälend langsam, ein verschwommener Wechsel von Aus-dem-Fenster-Starren und starken Tassen Kaffee. Etwas anderes kann ich nicht zu mir nehmen.

Der Briefträger schiebt drüben einen Stapel Post durch den Türschlitz, nichtsahnend, dass das Grundstück, auf dem er steht, ein Tatort ist. Das Leben der anderen geht weiter, während es für mich zum Stillstand gekommen ist, ebenso für Serena.

Ich möchte meine Familie bei mir haben. Ich brauche den Lärm und das Leben, selbst Rosies Ausraster. Egal was, nur damit diese schreckliche Stille durchbrochen wird.

Während mir das durch den Kopf geht, kommt eine SMS von Noah, dass alles gut gegangen ist mit dem Kunden, und ich berechne den Zeitunterschied – New York ist fünf Stunden zurück – und wundere mich, warum er schon so früh auf ist. Nicht darüber grübeln. Liegt sicher am Jetlag. Es kann keinen anderen Grund dafür geben, warum er zu dieser Zeit wach ist.

Malen ist jetzt unmöglich; ich kann nur dasitzen und auf das starren, was ich bisher geschafft habe – den grünlich blauen See –, und bin nicht in der Lage, meinen Pinsel in die Hand zu nehmen und auch nur den kleinsten Strich aufs Papier zu bringen. Gestern hatte ich das fertige Bild im Kopf; heute ist es wie weggewischt.

Und als ich es nicht mehr aushalte, mit meinen Gedanken allein zu sein, rufe ich Lisa an. Ich muss es jemandem erzählen, und wenn einer es versteht, dann meine Schwester. Sie ist tolerant, und selbst wenn sie den Verdacht hegen sollte, dass ich mit Lee geschlafen habe, wird sie mich nicht verdammen.

»Hey, Tara«, sagt sie mit verschlafener Stimme. Sie hat wohl einen heftigen Abend hinter sich. »Bin ein bisschen verkatert«, fährt sie fort und bestätigt meinen Verdacht. »War gestern Abend auf Kneipentour. Hat großen Spaß gemacht, aber jetzt bezahle ich dafür.«

»Ich wollte dich fragen, ob du rüberkommen magst.« Hoffentlich kaschiert meine Ausdrucksweise meinen Hilferuf. »Aber ich habe Verständnis dafür, wenn’s dir zu viel ist.«

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragt sie.

Natürlich hört sie an meiner Stimme, dass etwas nicht stimmt. Sie kennt mich besser als fast jeder andere.

Jetzt muss ich es ihr sagen. Dann kommt sie auf der Stelle her und steht mir so bei, wie wir es immer gegenseitig tun. Ich setze zum Sprechen an, aber die Worte bleiben stecken, ehe ich sie herauslassen kann.

»Ich … ich kämpfe mich echt an diesem Bild ab. Von dem Wettbewerb hängt so viel ab.«

»Das weiß ich doch, Schwesterherz. Aber du schaffst es. Gehört das alles nicht zum kreativen Prozess? Hör mal, ich würde ja rüberkommen, wenn ich könnte, doch Harvey hat für heute was geplant. Ich weiß nicht so recht, was es ist, aber er ist nicht besonders glücklich, dass ich noch im Bett bin.«

Ich sage, dass es nichts ausmacht, dass ich lieber versuchen sollte, mit meinem Bild voranzukommen, und dass ich ihr einen schönen Tag wünsche.

»Du kommst schon klar, Tara. Ich bin sicher, du kommst nur deshalb nicht voran mit dem Malen, weil dir Noah und die Kinder fehlen«, sagt sie. »Allein zu sein ist wohl doch nicht so witzig, stimmt’s?«

Abends habe ich meinen Spähposten am Wohnzimmerfenster ausnahmsweise verlassen und sitze in der Küche, als ich etwas höre. Ich erstarre, und mir geht nur ein Szenario durch den Kopf: Wer immer es war, der Lee getötet hat, ist jetzt hinter mir her.

Aber als ich mich umdrehe, steht Rosie unter der Tür. Mit seitlich geneigtem Kopf beobachtet sie mich.

»Rosie, ist alles in Ordnung? Du bist ja früh zurück.« Bitte lass sie nicht schon da sein, weil wieder was vorgefallen ist. Für einen Moment muss ich die Gedanken an Lee beiseiteschieben.

Sie macht einen Schritt in die Küche, zögernd, als ob sie im Haus von Fremden ist und nicht in ihrem Zuhause, dort, wo sie fast ihr ganzes Leben lang gelebt hat.

»Warum glaubst du eigentlich immer, dass ich Mist gebaut habe?«

Natürlich sage ich nicht, dass es doch meistens so ist. Jetzt ist auch nicht der Zeitpunkt für eine Auseinandersetzung. »Ich wundere mich nur, dass du schon zurück bist.«

Sie kommt näher und sieht mir aufmerksam ins Gesicht. »Du siehst ziemlich fertig aus, Mum. Bist du krank?«

Die Worte klingen wie die einer besorgten Tochter, aber sie kommen in einem Ton, der alles andere als warm ist. Ich überlege, warum sie wohl wütend auf mich sein könnte. Haben wir kürzlich gestritten? Habe ich sie für etwas bestraft, was sie für ungerecht hält? Doch alles vor Lee ist überlagert, ist vorübergehend aus meinem Gedächtnis gelöscht.

Was ist geschehen, Lee? Was haben wir gemacht?

Ich behaupte, dass es mir gut geht, doch sie zieht die Augenbrauen hoch. Wenn ich nicht einmal Rosie täuschen kann, die die halbe Zeit nur um sich selbst kreist, was bleibt mir dann für eine Chance?

Sie zieht einen Stuhl heraus und setzt sich neben mich. »Es ist nur, dass ich mit dir reden muss. Es ist wichtig.«

Egal, was mir Rosie erzählen muss, es ist eine willkommene Ablenkung.

»Komm schon, du weißt, du kannst mir alles erzählen.« In dem Sinn habe ich sie aufzuziehen versucht, seit sie ein Kleinkind war. Es gibt nichts, was sie mir nicht sagen kann.

Sie wirkt erleichtert und verzieht den Mund zu einem Lächeln. »Mum, ich war mit jemandem zusammen.«

Das macht mir allerdings eher Angst. »Ach, Rosie, geht’s wieder um Anthony? Weil –«

»Nein, es geht nicht um Anthony!« Sie schreit es beinahe heraus.

»Beruhige dich, Rosie. Dann erzähl mir doch einfach alles über ihn.«

Wenn ich meiner Tochter sage, sie soll sich beruhigen, hat das normalerweise den gegenteiligen Effekt; diesmal übergeht sie es.

»Er heißt Damien. Aber versprich mir jetzt, dass du nicht wütend wirst.«

Ich bin es gewohnt, dass Rosie sich immer absichtlich eine Ewigkeit Zeit lässt, bis sie zur Sache kommt – so ist sie nun mal –, aber diesmal möchte ich sie unbedingt bei Laune halten. »Ich werde nicht wütend, denn egal, was es sein mag, du sprichst ja wenigstens darüber.« Was bin ich nur für eine Heuchlerin.

Sie zieht die Luft ein. »Also … er ist ein bisschen älter.«

Wieder dies bange Gefühl, diesmal im ganzen Körper. »Was meinst du mit ein bisschen?«

Sie zuckt mit den Schultern und kneift die Augen zusammen. »Weiß ich nicht! Vielleicht so um zwanzig. Wen stört’s?«

»Du willst sagen, du triffst dich mit einem Mann, und du weißt nicht mal, wie alt er ist?« Zu spät merke ich, dass mein Vorgehen völlig falsch ist. Dass es als Negativbeispiel in einem Fachbuch über Mutter-Tochter-Beziehungen stehen könnte.

Sie steht auf und schiebt heftig den Stuhl weg. »Warum könnt ihr euch nicht einfach für mich freuen, du und Dad? Die Sache mit Anthony hat euch nicht gepasst, und jetzt passt euch nicht die mit … Ich kann es euch einfach nicht recht machen, oder?«

Und dann poltert sie die Treppe hinauf und schlägt ihre Tür hinter sich zu. Und ich habe keine Ahnung, warum sie so früh zurück ist und mit wem sie angeblich zusammen war.

Aber wenigstens bin ich nicht mehr allein. Ich muss meine Gedanken jetzt auf meine Tochter richten. Sie kommt schon wieder herunter, sobald sie sich beruhigt hat, und dann schenke ich ihr meine ungeteilte Aufmerksamkeit, denn sie braucht mich. Und wer dieser Mann sein mag oder auch nicht, ich werde Verständnis zeigen.

Aber während ich warte, kann ich dem Gefängnis meiner Gedanken nicht entkommen. Ich gehe ins Wohnzimmer zurück, um meinen Platz am Fenster wieder einzunehmen. Nichts hat sich in der letzten Stunde verändert, draußen hat alles immer noch den Anschein der Normalität. Unsere friedliche Sackgasse. Und morgen kommt Serena wieder nach Hause und erwartet, von ihrem Mann begrüßt zu werden, aber stattdessen … Wie kann ich zulassen, dass es so läuft?

Ich könnte ein Stück weit wegfahren und von einer Telefonzelle aus einen anonymen Anruf bei der Polizei machen. Allerdings gibt es so was wie Anonymität nicht mehr. Sie würden den Anruf zurückverfolgen und mir auf die Spur kommen.

Mein Handy klingelt. Ich zucke zusammen, weil ich so nervös bin.

»Tara, wie läuft’s denn so zu Hause?« Noahs Stimme wirkt tröstlich.

Ich berichte ihm von Rosie, und er seufzt ins Handy.

»Wir müssen also wieder mal ernsthaft mit ihr reden, oder?«

Dieses Gespräch tut gut, ein Anker der Normalität.

»Ich weiß nicht, was beunruhigender ist – ob sie tatsächlich was mit einem älteren Typ angefangen hat oder ob sie womöglich wieder jemandem nachstellt.«

»Ich rede mit ihr. Aber hör mal, du solltest Schluss machen, der Anruf kostet ja ein Vermögen.«

»Ja, du hast recht«, sagt Noah. »Ab jetzt simse ich, bis ich wieder zu Hause bin.«

Wir verabschieden uns, und ich rufe kurz bei meinen Eltern an, um zu hören, wie es mit Spencer geht. Er freut sich über meinen Anruf und bettelt wieder, die DVD angucken zu dürfen, die er so unbedingt sehen will, daher gebe ich nach und sage, er darf. Es gibt im Moment wahrlich schlimmere Dinge, über die ich mir Sorgen machen muss.

Kaum beende ich den Anruf, stürze ich wieder in meine neue Wirklichkeit. Aber ich kann nur weitermachen und mich auf meine Familie konzentrieren.

Ich klopfe an Rosies Tür und warte, dass sie mich hereinruft. Aber Sekunden vergehen ohne Antwort, und hinter der Tür herrscht nichts als Schweigen.

Ich nehme an, dass sie schläft, und schleiche über den Flur zu unserem Schlafzimmer, obwohl ich weiß, dass ich heute Nacht keine Ruhe finde.

Doch bevor ich die Tür aufmachen kann, ruft Rosie: »Lass uns einfach morgen reden, Mum. Ich glaube, wir sind beide nicht in der richtigen Verfassung für ein vernünftiges Gespräch.«

Ich stecke so tief in meinen Schuldgefühlen, dass ich ihre Worte fast falsch auslege. Sie kann von letzter Nacht nichts wissen; es ist nur mein Kopf, der mir einen üblen Trick spielt.

Als ich im Bett bin, knipse ich die Lampe aus, ziehe die Decke enger um mich, trotz der Hitze, und schließe die Augen. Das Bild von Lee will jedoch nicht verschwinden. Dazwischen drängen sich immer mal wieder Unterhaltungsfetzen, die ich mit ihm gehabt habe. Tränen laufen mir über die Wangen, als ich daran denke, wie oft er mir im Garten geholfen hat, wenn ich zu sehr mit meiner Arbeit beschäftigt war, und wie er sich geweigert hat, Geld dafür anzunehmen. Er hat das, was jetzt passiert ist, nicht verdient; er war immer nur nett zu uns, und sogar Serena, die ihn besser kannte als sonst jemand, hat sich nie über ihn beklagt. Kein einziges Mal. Wer könnte ihm den Tod gewünscht haben?

Jetzt ist es nur noch ein Geduldsspiel. Irgendjemand weiß, dass ich dort war, und früher oder später bricht alles über mir zusammen.

Kapitel Drei

Lautes Hämmern weckt mich, aber ich rühre mich nicht. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet? Doch da ist es wieder. Poch, poch, poch. Diesmal ist es nicht zu überhören, auch nicht die Tatsache, dass es von unserer Haustür kommt.

»Mum? Da versucht jemand, die Haustür einzuschlagen.« Rosie steht an meiner Schlafzimmertür, noch im Pyjama, mit schlafzerzausten Haaren.

Ich stemme mich hoch. »Da klopft nur jemand«, sage ich. Doch dann fällt mir wieder ein, was passiert ist, und vorbei sind die wenigen Augenblicke des Vergessens.

»Ja«, spöttelt Rosie, »ich weiß, Mum. War ironisch gemeint.«

Ich werfe einen Blick auf meinen Wecker. Acht Uhr. Zu früh für einen Sonntagmorgen, an meine Tür zu klopfen. Das kann nur wegen Lee sein.

»Ich gehe nachsehen«, sagt Rosie und wendet sich schon der Treppe zu.

»Nein! Ich gehe. Wer weiß, wer das ist.«

Ich springe auf, schnappe meinen Morgenrock vom Haken an der Tür und renne an Rosie vorbei, die meinen Rat überhört und schon nach unten geht.

Poch, poch, poch.

Ich darf sie nicht vor mir unten sein lassen, aber auch nicht zu viel Aufhebens machen. »Ich erwarte eine Sendung«, rufe ich. »Könnte schwer sein. Lass mich gehen.«

»Ach so«, sagt sie, zögert und verliert das Interesse. Doch dann dreht sie sich nach mir um, und ich bin überzeugt, dass sie meine Lüge durchschaut. »Was hast du denn bestellt?«

Es bleibt mir keine Zeit, spontan etwas zu erfinden, etwas, das mich später nicht einholen und bloßstellen könnte, egal, wie unbedeutend es sein mag.

Poch, poch, poch.

»Lass mich jetzt einfach aufmachen, Rosie.«

»Sorry«, sagt sie, aber ich spüre ihren Blick auf mir, während ich durch die Diele gehe, mit flatterndem Magen.

Dass ich einem uniformierten Polizeibeamten gegenüberstehe, sollte kein Schock für mich sein. Sie sind gekommen, um mich abzuholen, und meine Tochter muss mit ansehen, wie man mich in Handschellen abführt. Den Anblick wird sie ihr restliches Leben lang nicht vergessen.