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Byung-Chul Han

Gute Unterhaltung

Eine Dekonstruktion der abendländischen Passionsgeschichte

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Inhalt

Vorwort zur Neuauflage

Vorwort

Süßes Kreuz

Schmetterlingsträume

Über den Luxus

Satori

Moralische Unterhaltung

Gesunde Unterhaltung

Sein als Passion

Ein Hungerkünstler

Gelassenheit zur Welt

Eine Meta-Theorie der Unterhaltung

Anmerkungen

Vorwort zur Neuauflage

Die Geschichte des Westens ist eine Passionsgeschichte. Leistung heißt die neue Passionsformel. Die Passion tritt erneut als Spielverderberin auf. Eigentlich schließen Arbeit und Spiel einander aus. Heute wird aber selbst das Spiel der Produktion unterworfen. Sie wird gamifiziert.

Die Leistungsgesellschaft bleibt eine Passionsgesellschaft. Selbst Spieler dopen sich, um mehr leisten zu können. Der derivativen Unterhaltung, die es daneben noch gibt, haftet etwas Fratzenhaftes an. Sie verkommt zu einer geistigen Abschaltung. Wird die Zeit der Passion tatsächlich überwunden sein, wird nicht nur die gute Unterhaltung, sondern auch die schöne Unterhaltung geben, nämlich die Unterhaltung durch das Schöne. Ja, es wird wieder das SPIEL geben.

Vorwort

Ihr Charakter ist Passion. Die Musik

leidet nicht im Menschen, hat nicht teil

an seinem Handeln und seiner Regung selber:

sie leidet über ihm […]. Die Musik legt

den Menschen […] das Leid leibhaft

auf die Schulter, das die Sterne

über ihm erheischen.

Theodor W. Adorno

Schreiben als Form des Gebetes.

Franz Kafka

Durch die Ubiquität der Unterhaltung hindurch kündigt sich derzeit etwas grundsätzlich Neues an. Es bahnt sich eine fundamentale Veränderung hinsichtlich des Welt- und Wirklichkeitsverständnisses an. Die Unterhaltung erhebt sich heute zu einem neuen Paradigma, ja zu einer neuen Seinsformel, die darüber entscheidet, was weltfähig ist und was nicht, ja was überhaupt ist. So präsentiert sich die Wirklichkeit selbst als eine besondere Wirkung der Unterhaltung.

Die Totalisierung der Unterhaltung hat eine hedonistische Welt zur Folge, die vom Geist der Passion als Verfall, als Nichtiges, ja als Nicht-Sein gedeutet und degradiert wird. Im Grunde aber sind Passion und Unterhaltung nicht gänzlich verschieden. Der reine Unsinn der Unterhaltung ist dem reinen Sinn der Passion doch benachbart. Dem Lächeln des Narren ähnelt gespenstisch das schmerzverzerrte Gesicht des homo doloris. Dieser verpfändet das Glück für die Glückseligkeit. Diesem Paradoxon gilt es nachzugehen.

Süßes Kreuz

Von dir, Quell aller Güter,

Ist mir viel Gut’s getan.

Dein Mund hat mich gelabet

Mit Milch und süßer Kost,

Dein Geist hat mich begabet

Mit mancher Himmelslust.

Matthäus-Passion, Johann Sebastian Bach

Als die Matthäus-Passion am Karfreitag des Jahres 1727 in der Thomaskirche zu Leipzig erstmals erklang, gerieten alle, so wird in einer Chronik überliefert, in die »größte Verwunderung«. »Hohe Ministri und Adeliche Damen« sahen einander an und sagten: »Was soll daraus werden?« Vor Entsetzen schrie eine fromme Witwe auf: »Behüte Gott, ihr Kinder! Ist es doch, als ob man in einer Opera oder Comödie wäre«. So berichtet ein gewisser Gerber in seiner »Historie der Kirchen-Ceremonien in Sachsen«.1 Gerber, der ohne Weiteres ein strenger Kantianer hätte sein können, missbilligt die zunehmende Ausbreitung der Musik im Gottesdienst. Er bedauert, dass es »Gemüther« gebe, die »an solchen eiteln Wesen« ein Wohlgefallen hätten, die also »sanguinisch und zur Wollust geneigt« seien. Musik und Passion vertrügen sich nicht: »Ob nun wol eine mäßige Music in der Kirche bleiben kan, […] so ist doch bekannt, daß sehr offt damit excediret wird, und man wol mit Mose sagen möchte: Ihr machts zu viel, ihr Kinder Levi, 4. B. Mos. 16. Denn es klinget offt so gar weltlich und lustig, daß sich solche Music besser auf einen Tantz-Boden oder in eine Opera schickte, als zum Gottesdienste. Am allerwenigsten will sich die Music nach vieler frommer Hertzen Meynung zur Passion, wenn solche gesungen wird, schicken«.2

Zu theatralisch und opernhaft muss die Matthäus-Passion auch auf die Leipziger Ratsherren gewirkt haben. Ihre Aufführung verschärft die ohnehin bestehende Spannung zwischen ihnen und Bach. So fasst der Rat den Beschluss, Bach das Gehalt zu kürzen. In der Anstellungsurkunde, die Bach als »Cantor der Schule zu St. Thomae« unterschrieb, heißt es: »In Beybehaltung guter Ordnung in denen Kirchen, die Music dergestalt einrichten, daß sie nicht zu lang währen, auch also beschaffen seyn möge, damit sie nicht opernhafftig herauskommen, sondern die Zuhörer vielmehr zur Andacht aufmuntere«.3 Diese bemerkenswerte Klausel zum Kantorenamt verweist auf die zunehmende Hybridisierung der geistlichen Musik durch die weltliche. Langsam löst sich die geistliche Musik aus dem liturgischen Zusammenhang und nähert sich der bürgerlich-modernen Konzertmusik: »Mit solcher Durchdringung der Kirchenmusik mit Bestandteilen des ›theatralischen‹ Stiles der weltlichen Kantate und der Oper, die von den Pietisten heftig bekämpft […] wurde, war dem musikalischen Gestalten ein Weg gewiesen, an dessen Ausgang das Musikideal der Gluckschen Oper und des Haydnschen Oratoriums aufleuchtet«.4

Auf der einen Seite wird das Musikleben der Bachzeit zunehmend von der welschen Leichtigkeit, vom Sinnenrausch, vom satten, üppigen Wohllaut beherrscht. »Kenner« und »Liebhaber« bilden das neue Musikpublikum. Diesem geht es primär um Genuss und Geschmacksbildung. Auf der anderen Seite erheben sich, auch im Kreise der Lutherischen Orthodoxie, kritische Stimmen gegen die Kunstmusik im Gottesdienst. Von der pietistischen Bewegung geht eine rigorose Musikfeindlichkeit aus. Geduldet werden nur fromme Lieder, die zu einer eingängigen Melodie still und innig gesungen werden. Die Musik soll das Wort nicht überfluten, darf keine Eigenmacht entfalten. Gerber beruft sich auf Dannhauer, der der Lehrer des Pietismusbegründers Philipp Jacob Spener war: »Die Instrumental-Music achten und halten wir nicht höher, als daß sie eine Zierde unserer Kirche sey, keinesweges aber zum Wesen des Gottesdienstes gehöre. Eben dieser grosse Theologus verwirfft auch die eingeführte Gewohnheit, daß man mit Stimmen unter die Instrumental-Music singet, weil doch die Worte so gesungen werden, niemand recht verstehen kan, wenn die Instrumenten dabey thönen und brausen […]«.5 In dem Glauben, die Ausbreitung der Kirchenmusik sei wohl nicht aufzuhalten, empfiehlt Gerber seinen Lesern, den »guten Seelen«, sie »in Gedult« zu »ertragen« und »an dem Gottesdienst keinen Eckel« zu empfinden.6

Am liebsten hätte Gerber alle Orgeln aus der Kirche entfernt: »Ja man hat auch an einer Orgel nicht genug, sondern es müssen in mancher Kirche derselben zwey seyn, daß man wol sagen möchte: Wozu taugt dieser Unrath«.7 Der Gebrauch der Orgel ist Gerber zufolge auf die Funktion zu reduzieren, beim Singen den Ton auf der richtigen Höhe zu halten, damit die Lieder überhaupt zu Ende gesungen werden können: »Die Orgeln sind auf gewisse Masse in einer Kirche gar nützlich, denn sie dienen dazu, daß die Lieder im rechten Thone angefangen, und auch in einen Thone fortgesungen und zu Ende gebracht werden. Denn es sonst leicht geschicht, daß der Vorsänger, Cantor oder Schul-Meister den Thon fallen lassen, und unterziehen, und das Lied kaum kan zu Ende gebracht werden«.8 So wird der Orgel jeder ästhetische Eigenwert genommen. Das Brausen der Instrumente erschwert nur das Verständnis des Textes. Die Instrumentalmusik soll dezimiert werden zuguns ten des Wortes: »[D]er Gottesdienst bestehet in Beten, Singen, Loben und Anhörung oder Betrachtung des Göttlichen Wortes, wozu Orgeln und andere musicalische Instrumenta nicht vonnöthen seyn, die erste Christliche Kirche auch zwey bis dreyhundert Jahr dergleichen nicht gebrauchet hat«.9

Die Kirchenmusik ist also eine bloße »Zierde«. Sie ist dem »Wesen des Gottesdienstes« äußerlich. Gerber beruft sich auf Theophil Großgebauer, der in seiner fundamentalistischen Musikfeindlichkeit den Pietisten nahe steht. Zitiert wird aus seiner von prophetischem Eifer erfüllten Schrift »Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion« (1661): »[D]ie musicalischen Spiele belustigen mehr das Gemüth, als daß dadurch innerlich das Hertz solte zu göttlichen Dingen geordnet werden«.10 Die Musik ist das Äußerliche, vor dem das Innerliche in Schutz genommen werden muss: »O spricht nicht der Heyland ausdrücklich, das Reich Gottes komme nicht mit äuserlichen Geberden, sondern es sey inwendig in uns«?11 Die Musik wird hier degradiert zu einer Beigabe, zu einer »sinnlichen Würze«, die der »eigentlichen Speise des Wortes« äußerlich ist wie der »Zucker«, der die »Göttliche Artzney« »durchsüsset«.12

Problematisch ist die strikte Trennung zwischen dem Innerlichen und dem Äußerlichen, zwischen Herz und Gemüt, zwischen Wesen und Zierde oder zwischen Speise und Würze. Gehört etwa die Würze nicht wesenhaft zur Speise? Gäbe es nicht ein göttliches Wort, das, statt eine bittere »Artzney« zu sein, als solches schon süß wäre? Dem »Schmecken« der mystisch gestimmten Seele offenbart sich Gott nämlich als »höchste Süssigkeit«.13 Wie aber dann zwischen der Süße Gottes und der Süße der Musik unterscheiden?

Die Pietisten bekämpften zwar den Tanz. Aber die Melodien ihrer frommen Lieder waren paradoxerweise auffallend tänzerisch. Einige dieser Lieder klangen wie Menuette. So bemerkt ein selbst ernannter »Liebhaber des reinen Evangelii und Freund der gesunden Theologie« spöttisch, dass diese pietistischen Lieder sich »mehr zum Tanz als zur Andacht« schickten, »daß man sich muß lassen vorrücken, es werde ein neues Lied nach der Melodie gesungen, da der Groß-Vater die Groß-Mutter nahm«.14

Gegen das »Gepräng und Gethön«, das das »arme Volck« bezaubert,15 unterstreicht Großgebauer immer wieder den Vorrang des Wortes. Gottes Wort allein lässt die göttliche Freude entstehen. Es ist eine »Weißheit«, so Großgebauer, »Gottes Wort in schöne Psalmen [zu] bringen / und in anmuthigen Melodeyen das Wort Gottes durch die Ohren ins Herz ein[zu]flössen«. Keine göttliche Freude spende dagegen jene »scheußliche Weibische Göttin Cybele«, die »das Gethön der Seyten-Spiel so freudig« machte, »daß sie ihr eigen Blut vergoß«.16 Die phrygische Tonart, die Tonart der Ekstase und Leidenschaft, verweist auf die orgiastische Musik des Kybele- oder Dionysoskultes. Abscheulich wäre für Großgebauer eine kybelische Musik im Gottesdienst, die zur Ekstase und Wortvergessenheit führen würde. Er distanziert sich jedoch nicht konsequent von jeder Trunkenheit. Diese kehrt wieder. Wie ein »süßer Wein« sollen nämlich die Psalmen den »Geist« trunken machen: »Gleich wie Trunckenbolde voll Weins werden / also muß die Gemeine [sc. Gemeinde] voll Geistes werden. Was gibt uns der Apostel für Mittel an die Hand / daß wir voll Geistes werden können? Nichts anders als Psalmen / Lob-Gesänge geistliche Lieder. Das ist der süsse Wein / den die Gemeine trincken muß / will sie voll Geistes werden«.17 Wie aber zwischen der Trunkenheit des Geistes und der des Gemüts unterscheiden? Besteht tatsächlich ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der Wort- und Musiktrunkenheit, zwischen göttlichem und weltlichem Wein? Gott – ein Synonym für die absolute Ergötzung? Die pietistische Sängerin Anna Maria Schuchart, die bekannt ist für ihre Ekstasen und Visionen, soll, erwacht aus einer »Erstarrung im Tiefschlaf«, gesungen haben:

Sie seyn schon im Himmel hier

Sollen allzeit trincken

Christi Blut

Ihnen zu gut

An dem Creutz vergossen

Aus Christi Wunden geflossen.

[…]

Sieh die schönsten Freuden

Im Himmel solstu weiden.

[…]

Wenn die Welt versuncken ist

In der Abgrunds=Höllen

Kommt gezogen Jesus Christ

will die Frommen holen.

Aus der Welt

In sein Zelt

Und die Cron aufsetzen

Ewig sie ergetzen.18

Die Aufgabe bestünde laut Großgebauer also darin, das heilige Blut, das Blut Christi, und das Blut Kybeles nicht zu vermischen. Sie sind aber vom Geschmack her einander so ähnlich. Sie sind nämlich beide süß. Und sie machen beide trunken.

»Sanguinisch und zur Wollust geneigt« sind Gerber zufolge Freunde der Kunstmusik im Gottesdienst. Der Librettist der Matthäus-Passion, Christian Friedrich Henrici, mit dem Bach auf gutem Fuß gestanden haben soll,19 müsste womöglich ein Sanguiniker gewesen sein. In der »Allgemeinen Deutschen Biographie« (1880) findet man folgende Angaben zu Henrici: »Obgleich nicht ohne Talent zur Poesie […] suchte er durch geschmacklosen Witz und grobe höchst unsittliche Scherze […] rohere Seelen zu vergnügen und dieß ist ihm denn auch vortrefflich gelungen. Dafür aber ward ihm die Verachtung des feineren Theiles seiner Zeitgenossen sowol als der Nachwelt zum verdientesten Lohne«. Alle seine Gedichte »strotzten«, so heißt es weiter, von »sprichwörtlichen Redensarten und mitunter den seltensten«, die »sehr oft obscönster Natur« sind.20 Gerade dieser zur Obszönität neigende Henrici alias Picander war der Librettist der Matthäus-Passion. Er ist auch der Textdichter mancher weltlicher Kantaten von Bach wie »Kaffeekantate« (BWV 211). Hier singt »Lieschen« eine Arie der Wollust:

Ei! wie schmeckt der Kaffee süße,

Lieblicher als tausend Küsse,

Milder als Muskatenwein.

Kaffee, Kaffee muß ich haben;

Und wenn jemand mich will laben,

Ach, so schenkt mir Kaffee ein!

Picander war sicherlich, wie es auch in der »Allgemeinen Deutschen Biographie« hieß, kein frommer Mensch. Dem Inhalt der Passionsgeschichte müsste er sehr skeptisch gegenübergestanden haben. Die Arie der Wollust aus der Kantate Hercules auf dem Scheideweg, deren Textdichter er ebenfalls war, liest sich wie eine Devise seines Lebens:

Wer wählet sich den Schweiß,

Der in Gemächlichkeit

Und scherzender Zufriedenheit

Sich kann sein wahres Heil erwerben?

Wie Bachs Lebensmotto erscheint der Vermerk »Anti-Melancholicus«, den er auf der Innenseite des Umschlages des Klavierbüchleins für seine Frau Anna Magdelena angebracht hat. Bach muss die Idee eines »glücklichen Musicus« vorgeschwebt haben, der den »Vorgeschmack der himmlischen Vergnügung« genösse. Für diesen musicus beatus widerspräche die Unterhaltung oder die Ergötzung des Gemüts nicht dem Gotteslob.

In der Generalbasslehre (1738) definiert Bach den Generalbass wie folgt: »[Es] soll wie aller Music, also auch des General Basses Finis und End Uhrsache anders nicht als nur zu Gottes Ehre und Recreation des Gemüths seyn. Wo dieses nicht in acht genommen wird da ists keine eigentliche Music sondern ein Teuflisches Geplerr und Geleyer«.21 Für seine Generalbasslehre benutzte Bach offenbar die »Musicalische Handleitung« von Friedrich Erhard Niedt (1710) als Vorlage. Festzustellen ist jedoch eine Abweichung von der Niedt’schen Definition des Generalbasses. Bei Niedt heißt es: »Endlich soll auch der Finis oder End-Ursache aller Music / und also auch des General-Basses seyn / nichts als nur Gottes Ehre und Recreation des Gemühts / wo dieses nicht in acht genommen wird / da ist auch keine recht eigentliche Music / und diejenigen / welche diese edle und göttliche Kunst mißbrauchen / zum Zunder der Wollust und fleischlicher Begierden / die sind Teuffels-Musicanten / denn der Satan hat seine Lust solch schändlich Ding zu hören / ihm ist eine solche Music gut gnug / aber in den Ohren Gottes ist es ein schändliches Geplärr«.22 Nach der Bach’-schen Definition des Generalbasses ist nicht klar, was die Musik zum »Teuflischen Geplerr und Geleyer« werden lässt. Aus der Niedt’schen Definition hat Bach Ausdrücke wie »Wollust« oder »fleischliche Begierden« ganz entfernt. Womöglich war er sich bewusst, dass zur Ergötzung des Gemüts notwendig eine Lustempfindung gehört. Hinsichtlich des Musikgenusses ist zwischen himmlischer und teuflischer Lust, zwischen göttlicher und weltlicher Vergnügung schwer zu unterscheiden. Außerdem spendet die Wollust nicht nur der »Satan«, sondern auch Jesus. In Bachs geistlichen Kantaten kehrt die Wollust hartnäckig wieder. In der Kantate »Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget« findet sich ein Choral der Wollust:

Was frag ich nach der Welt und allen

ihren Schätzen,

Wenn ich mich nur an dir, mein Jesu,

kann ergötzen!

Dich hab ich einzig mir zur Wollust

vorgestellt:

Du, du bist meine Lust; was frag ich

nach der Welt!

Auf der Titelseite des »Orgel-Büchleins« (1712–1717) notiert der junge Bach: »Dem höchsten Gott allein zu Ehren, / Dem nechsten, drauß sich zu belehren«. Von der Ergötzung des Gemüts ist hier noch nicht die Rede. Die Musik ist vor allem eine laudatio Dei. Sie gilt dem »höchsten Gott allein«. In der »Clavier Übung« von 1739 dagegen ist von Gottes Ehre nicht mehr die Rede. Gott weicht der Ergötzung des Gemüts: »Dritter Theil / der / Clavier Übung / bestehend / in / verschiedenen Vorspielen / über die / Catechismus und andere Gesaenge / vor die Orgel: / Denen Liebhabern, und besonders denen Kennern / von dergleichen Arbeit, zur Gemüths Ergezung«. Auch die »Goldberg-Variationen« (1941/42), die für einen Grafen, der an Schlaflosigkeit litt, geschrieben wurden, tragen die Bemerkung: »Denen Liebhabern zur Gemüths Ergetzung«. Die Liebhaber oder Kenner als neue Adressaten seiner Musik stellen diese ganz außerhalb des theologischen Zusammenhanges, wonach der Mensch Gefallen findet an der göttlichen Ordnung, an der göttlichen Harmonie der Welt, die sich in der Musik widerspiegelt. Nun dient die Musik der Geschmacksbildung und dem Genuss. In dem Sinne ist sie ausgesprochen modern.

Hätte Bach nicht auch seiner Matthäus-Passion die Bemerkung »Denen Liebhabern, und besonders denen Kennern von dergleichen Arbeit, zur Gemüths Ergezung« voranstellen können? Eine hohe dramatische Spannung zeichnet die Matthäus-Passion aus. Dialoge lassen Teile wie theatralische Szenen erscheinen. Nicht ganz übertrieben ist also der Ausruf der frommen Witwe: »Behüte Gott, ihr Kinder! Ist es doch, als ob man in einer Opera oder Comödie wäre«.

Die Matthäus-Passion von Bach blieb lange vergessen. Erst hundert Jahre später, am 11. März 1829, wurde sie durch Mendelssohn in Berlin wieder aufgeführt, und zwar nicht in einer Kirche, nicht im Rahmen eines Gottesdienstes, sondern in einem Konzertsaal. Bezeichnenderweise gab Paganini am selben Tag ein Konzert in Berlin. Die Veränderungen, die Mendelssohn am Werk vornimmt, machen Bachs Passion in gewisser Hinsicht wort-arm. Passagen des biblischen Berichtes wurden gestrichen. Beseitigt wurden Elemente, die den dramatischen Fortgang retardieren würden. Und das Werk wurde auf die Hälfte der ursprünglichen Spieldauer verkürzt. Eingesetzt wurden rasche Tempi und lang anhaltende Crescendi, die die dramatische Spannung zusätzlich erhöhten. Das nur von einem Tasteninstrument begleitete ›trockene‹ Rezitativ »Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriß«, das dramatische Ereignisse unmittelbar nach der Kreuzigung Christi darstellt, wurde zu einem üppigen Klanggemälde koloriert.23 Der Choral »Wenn ich einmal soll scheiden«, der dem von Mendelssohn instrumentierten Rezitativ vorangeht, wurde dagegen a cappella gesungen,24 sodass aufgrund dieses Kontrastes eine hohe dramatische Spannung entstand. Diese lyrisch-romantische Fassung der Matthäus-Passion hätte erst recht die Bemerkung verdient: »Denen Liebhabern zur Gemüths Ergetzung«.