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Sturzregen und Springwurzpulver

Regen prasselte auf das Kopfsteinpflaster. Holly blinzelte und wischte sich die Tropfen aus den Augen.

Selbst jetzt, im trüben Tageslicht, sah der Schlosshof prächtig aus. Rosen umrankten die hohen Fenster. Und es wimmelte von Einhörnern. Die Wandfiguren aus tiefblauen Saphiren wirkten täuschend echt – als würden sie Holly im nächsten Moment entgegenspringen.

Mitten im Hof spuckte ein gewaltiger Brunnen noch mehr Wasser aus.

Als wäre es nicht schon feucht genug! Holly schüttelte sich. Höchste Zeit für ein Kaminfeuer und etwas zu essen. Aber zuerst die Einhörner. Und zwar die richtigen, lebendigen.

Sie schob die triefende Kapuze ihres Mantels nach hinten, um besser zu sehen.

Im nächsten Augenblick drückte Mahina ihr die Zügel in die Hand. „Ich muss sofort zur Königin“, brummte ihre Mutter. „Kümmere dich um Justus.“ Sie marschierte zu einer vergoldeten Tür. Dahinter führten mehrere Stufen zu einem Kamin, dessen Feuer im Luftzug aufloderte, als Mahina schwungvoll die Türflügel aufriss.

Miau! Yella sprang aus der Satteltasche, flitzte über den Hof und drückte sich zwischen Mahinas stämmigen Beinen hindurch. Sekunden später schlug die Tür hinter ihnen zu.

„Na, besten Dank“, murmelte Holly. Und jetzt? Gisbert und die anderen Ritter, die ihre Mutter und sie begleitet hatten, waren ebenfalls im Schloss verschwunden.

„Also los, Alter“, sagte sie und ruckelte an den Zügeln des riesigen Maultiers. Konnte ja sein, dass Justus ausnahmsweise darauf reagierte.

Justus schnaubte. Holly hätte schwören können, dass sich sein zottiges braunes Fell im Nacken aufstellte. Wie bei einem Hund. Aber mehr tat sich nicht.

Bleib doch hier, du sturer Esel!, dachte Holly und beschloss, jetzt sofort die Einhörner zu suchen. Schließlich hatte sie genug gewartet. Ungefähr ihr ganzes Leben lang.

Schon immer hatte sie zum Schloss gewollt – dem einzigen Ort weit und breit, an dem Einhörner aufgezogen und unterrichtet wurden.

Sie waren scheu, die meisten Bewohner des Königreichs bekamen nie eines zu Gesicht. Holly schon. Sie lächelte bei dem Gedanken daran. Plötzlich hatte es vor ihr gestanden. Mitten im Smaragdwald. Groß und majestätisch. Mit weißem Fell und grauer Mähne. Es hatte den Kopf gesenkt und sie einen Moment lang betrachtet, bevor es zwischen den Bäumen verschwunden war.

Da fuhr eine Windböe durch Justus’ Zottelmähne. Justus wackelte mit dem Kopf. Echt kläglich sah das aus.

Holly seufzte. Na schön. Nächster Versuch.

Sie wühlte in den Satteltaschen.

Da war er ja. Kleiner Beutel – große Wirkung. Springwurz. Einmal dran riechen und schon würde das Maultier einen Riesensatz machen. Und, wenn es nach Plan lief, direkt vor der Tür landen, hinter der Holly den Stall vermutete.

Wie erwartet, senkte Justus neugierig den Kopf und beschnupperte den Beutel.

Die Reaktion auf das Pulver war prompt und deutlich. Justus machte tatsächlich einen Satz, dazu verpestete ein gewaltiger Pups die Luft. „Also echt, wie ekelhaft!“, zeterte Holly. Sie nahm Anlauf und warf sich gegen Justus’ gigantisches Hinterteil. „Los, rein mit dir!“

Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen das Maultier. Justus trat einen Schritt zur Seite.

Der kleine Schritt reichte. Holly verlor das Gleichgewicht und landete bäuchlings in der Wasserpfütze, die sich unter Justus’ Hufen gebildet hatte.

„Bäh!“ Sie spuckte aus und schüttelte den Kopf. Schlammspritzer – überall auf ihren roten Locken. Na toll! Jetzt war sie nicht nur klitschnass, sondern auch total verdreckt. Das machte im Schloss bestimmt einen richtig guten Eindruck.

In diesem Moment hörte sie ein Kichern. Überrascht sah Holly auf. Wenige Meter entfernt presste sich eine Gestalt in einem hellblauen Kleid dicht an eine Säule. Und kicherte.

Holly kniff die Augen zusammen. Das war ja wohl das Letzte. Am liebsten hätte sie das Mädchen gepackt und zu sich in die Pfütze gezerrt.

„Was stehst du da so blöd rum? Hilf mir gefälligst!“

Das Mädchen trat einen Schritt vor und warf dabei einen Blick nach oben.

„Was denn? Hast du Angst, dich nass zu machen?“, fragte Holly und rappelte sich auf. „Oder schmutzig?“

Schlagartig wechselte die Gesichtsfarbe des Mädchens von Blass zu Knallrot. Es stapfte auf sie zu und stemmte die Hände in die Hüften.

„Natürlich nicht“, fauchte es.

„Sah aber so aus“, gab Holly zurück. Braunes Matschwasser rann an ihr herunter, während das Mädchen aussah wie aus dem Ei gepellt. Und das bei diesem Wetter.

Es deutete auf den Beutel mit Springwurzpulver, den Holly immer noch umklammerte.

„Das kannst du vergessen, damit wird das nie was“, sagte es schnippisch. „Weißt du nicht, dass Springwurz bei Maultieren nicht wirkt?“

Holly grinste. „Tut es doch. Macht Blähungen.“

Das Mädchen zog die Augenbrauen hoch. Holly kam sich plötzlich albern vor. Und erst recht, als sich das Mädchen dicht neben Justus stellte, eines seiner puscheligen Ohren zu sich heranzog und etwas hineinflüsterte.

„Vorsicht, Justus mag es nicht, wenn seine Ohren angefasst werden“, warnte Holly.

Mit einem Mal setzte sich Justus in Bewegung. Er lief einfach hinter dem Mädchen her. Schnurstracks in den Stall.

Unfassbar! Holly riss die Augen auf. „Wie hast du das gemacht?“

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Ist keine Kunst. Einhörner sind viel schwerer zu bändigen.“

„Du kennst dich mit Einhörnern aus?“, fragte Holly verdutzt.

„Ich bin Luise“, antwortete das Mädchen, als wäre damit alles gesagt.

Justus fühlte sich sofort wohl in dem Stall, der geräumig und hell war. In seiner Box lag eine dicke Schicht Stroh. Als hätte sie es schon immer gemacht, versorgte Luise das Maultier mit Heu, einer Portion Hafer und frischem Wasser. Justus’ Kopf baumelte entspannt hin und her, während Luise ihn bürstete. Sogar an seinem kitzeligen Bauch durfte sie ihn berühren.

„Phh!“ Holly schlenderte durch die Stallgasse. Bis auf etliche Pferde sowie einen Esel und zwei Ziegen, die sich eine Box teilten, war der Stall leer. Merkwürdig.

Am Ende der Stallgasse entdeckte Holly eine schlichte, grün gestrichene Holztür. Sie berührte den Türgriff, doch Luise rief sofort: „Pfoten weg!“

„Das kann man auch netter sagen. Ich wollte mich nur mal umsehen. Wo sind denn die Einhörner?“

Luise starrte sie aus schmalen Augen an. „Du willst zu den Einhörnern?“

„Klar“, entgegnete Holly vergnügt. „Deshalb bin ich doch hier.“

„Aha, jetzt verstehe ich. Du bist also die Neue? Vergiss es! Kannst gleich morgen früh wieder abreisen. Wir brauchen dich hier nicht, kapiert?“

Luise baute sich dicht vor Holly auf. So dicht, dass Holly die feinen Härchen in ihrer Nase sehen konnte. Das war definitiv zu dicht.

Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. Luise rückte sofort nach.

In Hollys Bauch grummelte es. Wenn sie eins nicht mochte, dann bedrängt zu werden. Außerdem: Was sollte das überhaupt? Waren die Schlossleute immer so?

„Du brauchst mir gar nichts vorzumachen“, zischte Luise. „Ich weiß genau, was du willst: dich bequem ins gemachte Nest setzen. Nachdem ich jahrelang bei Dolores geschuftet habe! Niemals! Verschwinde gefälligst!“

Jetzt reichte es. Tagelang hatte Holly im strömenden Regen auf Justus gehockt. Endlich am Schloss angekommen, hatte sie immer noch kein einziges Einhorn zu Gesicht bekommen. Sie war durchgefroren und müde. Ein bisschen Heimweh nach dem Turm im Smaragdwald hatte sie auch, aber das würde nur ihre Katze Yella erfahren.

Und jetzt wurde sie auch noch beschimpft!

Holly rannte los. Vergaß Kaminfeuer und Essen und stürmte aus dem Stall, über den Hof am Brunnen vorbei durch das Schlosstor. Ohne sich umzusehen, lief sie über die gläserne Brücke, die die Schlossinsel mit dem Festland verband.

Sie raste den breiten Strand entlang, dann eine Düne hinauf. Oben angekommen, fiel sie auf die Knie und keuchte. Als sich ihr Herzschlag wieder beruhigt hatte, atmete sie tief ein. Die Luft war irgendwie weich und salzig, ganz anders als daheim im Smaragdwald.

Holly rollte sich auf den Bauch, stützte den Kopf in die Hände und blickte hinaus aufs Meer. Endlich hatte es aufgehört zu regnen. Die weite Wasserfläche lag wie ein glatter grauer Teppich vor ihr. Nur unterbrochen von der Felseninsel mit dem Königsschloss. Das Schloss der Einhörner.

Es bestand aus hellem Sandstein, der in der Abendsonne rosa schimmerte. Am breiten Hauptgebäude mit den zwei klobigen Türmen klebten unzählige Erker und Vorsprünge, die im Laufe der Jahrhunderte angebaut worden waren. Hinter dem Schloss entdeckte Holly noch ein Gebäude, das sie an einen großen Bienenstock erinnerte.

Sie zog das Fernrohr aus der Manteltasche, das ihr Gisbert unterwegs geschenkt hatte. Jetzt konnte sie alles noch genauer erkennen. Jemand trieb eine Herde Schafe über die Brücke aufs Festland. Da waren Ritter und Burgfräulein auf den Balkonen. Vor dem Schlosstor balgten sich einige Hunde um einen Knochen. Und sie sah eine kleine Gestalt in einem himmelblauen Kleid. Holly ballte die Fäuste.

Plötzlich stutzte sie und betrachtete noch einmal den übergroßen Bienenstock. Etwas fehlte. Die Einhörner! Sie konnte kein einziges entdecken. Nur die beiden großen aus Stein rechts und links des Brückenzugangs.

Holly suchte mit dem Fernrohr die Paddocks und Wiesen rund ums Schloss ab. Nichts. Alles leer. Sie schluckte. Wo waren die Einhörner?

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Die Schule der Einhörner

Wirbel um Kosmo

eISBN 978-3-96129-088-8

Edel:Kids Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

Copyright © Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Text: Ruth Rahlff

Projektkoordination: Christiane Rittershausen

Lektorat: Sandra Margineanu

Cover- und Innenillustrationen: Tina Kraus

Covergestaltung: Antje Warnecke, nordendesign.de

Layout und Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Herstellung: Frank Jansen

ePub-Konvertierung: Datagrafix GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Inhalt

Sturzregen und Springwurzpulver

Begegnung bei Mondschein

Immer locker bleiben!

Bei den Steinwächtern

Das beste Versteck der Welt

Zaubern? Kinderleicht!

Die Neue

Eine lange Nase in falschen Angelegenheiten

Eine fiese Herausforderung

Stur wie ein Maultier

Ein Königreich für ein Horn!

Die Blutprobe

Anders als gedacht

2

Begegnung bei Mondschein

Braten, Kohl und geräucherte Salbeistängel, vermischt mit Rosenblüten und Pferdeschweiß. Wie eine Welle schlugen die Gerüche über Holly zusammen, als sie hinter einem der Schlossdiener durch die goldene Eingangstür huschte. Holly schnappte eine letzte Portion frische Luft, bevor die Türflügel hinter ihr zuknallten.

Sie stellte sich so dicht ans Kaminfeuer, dass die Hitze fast wehtat, und sah sich um.

Fackeln erleuchteten einen endlos langen Flur. An dessen Ende befand sich eine breite Treppe. Wahrscheinlich. Um ganz sicherzugehen, hätte Holly durch Gisberts Fernrohr gucken müssen.

Das Schloss war riesig – Holly fühlte sich winzig wie eine Ameise. Zumindest hier, unter der hohen Marmordecke.

Sie zupfte einen Diener am Ärmel, der mit einem Berg Decken und Kissen beladen war. „Ich suche meine Mutter.“

„Ich hab sie jedenfalls nicht“, schnauzte der Diener und wankte mit seinem Wäscheberg erstaunlich schnell davon.

Auch ein Küchenjunge und eine Kammerzofe schoben sie nur zur Seite, ohne zu antworten.