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Meine liebe Schwester!

Briefe aus Deutsch-Südwestafrika

Elisabeth von Walsburg
1900 -1904

Marianne Acquarelli (Hg.)

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www.editiohistoriae.at

Inhalt

Elisabeth von Walsburg, von allen Elisa genannt, muss sich nicht nur in eine ungewollte Ehe, sondern zusätzlich in die Pläne ihres Mannes Tristan fügen. Nur wenige Tage nach der Hochzeit wandern die Jungvermählten nach Windhuk in Deutsch-Südwestafrika aus, wo Tristan die Stelle als Gemeindearzt antreten wird. Schon die lange Reise hält viele Erlebnisse und Eindrücke für Elisa bereit, die sie in Briefen an ihre in Wien lebende Schwester Victoria schildert.

 

In Windhuk angekommen muss sich die junge Frau in einer völlig fremden Welt zurechtfinden und mit den geringen Möglichkeiten, die das noch junge Schutzgebiet des Deutschen Reichs bietet, auskommen. Die fehlende Infrastruktur, Weihnachten bei 35° Grad Hitze und Termitenplagen sind nur einige der Herausforderungen, denen sich Elisa stellen muss.

 

Am Anfang scheint es, dass Elisa und Tristan durch das harte Leben zueinander finden – aus der arrangierten Ehe könnte mehr werden. Doch plötzlich tauchen Gerüchte um Tristans Zuneigung zu einer seiner Patientinnen auf ...

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet: www.editiohistoriae.at

1. Auflage – Copyright © 2017 editio historiae, Verlag MMag. DDr. Marianne Acquarelli, 1210 Wien

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden – das gilt auch für Teile daraus.

Wissenschaftliche Beratung: Dr. Bernhard Wenning

Redaktion und Layoutgestaltung: DDr. Marianne Acquarelli

Titelbild: www.pixabay.com

Illustrationen: editio historiae

Lektorat: Helge Hoffmann

Satz: Adobe InDesign bei editio historiae

E-Book-Konvertierung: www.Satzweiss.com, D-66121 Saarbrücken

ISBN ePUB: 978-3-9504278-3-7

Vorwort

Otto von Bismarck wehrte sich jahrelang erfolgreich gegen Kolonien für Deutschland. Für ihn waren sie wenig wirtschaftlich und brachten politische Störungen. Noch 1881 lehnte er eine deutsche Kolonialpolitik ab, weil er verwundbare Punkte in fernen Weltteilen unbedingt vermeiden wollte.

 

Doch der Trend der Zeit war gegen seine Einstellung. In Deutschland war ein regelrechtes Kolonialfieber ausgebrochen, das sich durch die Gründung von zahlreichen Vereinen und Gesellschaften, die eine Kolonialisierung zum Ziel hatten, zeigte. Die tatsächlichen Gebietserwerbungen gingen, wie im Fall von Deutsch-Südwestafrika, auf private Initiativen zurück:

 

Der deutsche Kaufmann Adolf Lüderitz hatte 1882 zusammen mit Heinrich Vogelsang und Kapitän Timpe den Erwerb des Schiffes „Tilly“ beschlossen, um in Afrikas noch unbesetzten Gebieten nach geeignetem Land zu suchen. Heinrich Vogelsang wurde tatsächlich fündig und schloss 1883 einen Vertrag über den Kauf der Bucht Angra Pequena, heute Lüderitzbucht, mit fünf Meilen Umland. Die Einheimischen erhielten dafür 200 Gewehre und 100 englische Pfund. In den kommenden Jahren wurden mit den Eingeborenen weitere Landübertragungen ausgehandelt.

 

Da für Deutschland die Wahrung der kaufmännischen Interessen im Vordergrund stand, stellte Bismark 1884 sogenannte Schutzbriefe aus. In der Folge wurden die neuen Territorien, auch häufiger Schutzgebiete, als Kolonien genannt. Diese Unterstützung der wirtschaftlichen Initiativen hielt fünfzehn Jahre an. Erst 1899 wurde eine formelle staatliche Verwaltung bestellt.

 

Die neuen Schutzgebiete sollten Deutschland in vielerlei Hinsicht Vorteile bringen. Zum einen erhofften sich die Investoren hohe Renditen und zum anderen sollte beispielsweise Deutsch-Südwestafrika das Problem der Überbevölkerung im Reich lösen. Die Migrantenströme sollten weg vom beliebten Ziel Amerika in die neuen Gebiete umgeleitet werden.

 

Durch Ausstellungen über Expeditionen, die vom Kolonial-Wirtschaftlichen Komitee organisiert wurden, und Berichte über das Wirtschaftsleben in den Schutzgebieten sollten die Leute auf den Geschmack kommen. Elisabeth von Walsburg gerät durch ihren Ehemann in eben jenen Sog der Aufbruchstimmung hinein und muss zur Mitte von 1900 ein neues Leben in Windhuk beginnen. Ihre Eindrücke, Erinnerungen und Sorgen teilte sie ihrer Schwester Victoria, die in Wien lebte, in zahlreichen Briefen mit.

 

Die vorliegende Edition ist an die heutige Orthografie angepasst. Unterstützend wurden Fußnoten mit Erläuterungen über den geschichtlichen Hintergrund eingefügt. An dieser Stelle ergeht ein Dank an den Militärhistoriker Dr. Bernhard Wenning, der seine wissenschaftliche Expertise zur Verfügung stellte.

Karte von Deutsch-Südwestafrika

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1

Heidelberg, 14. Januar 1900

 

 

 

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Wie gern wäre ich nur dabei gewesen! Dein Alfred trägt Dich auf seinen Händen wie einen wertvollen Schatz. Niemand weiß besser als ich, dass Du es auch verdienst. Deine detaillierten Schilderungen von diesem prunkvollen Ballsaal im Tabarin[1] lassen ihn vor meinen Augen fast Wirklichkeit werden. Allein die goldenen Balkone klingen schon zu verlockend, um von dort das bunte Treiben auf der Tanzfläche zu bestaunen. Deine Beschreibungen der edlen Tischwäsche, der Gedecke und der hauchdünnen Champagnergläser lassen das Bild von einem Feenreich in mir auferstehen. Es gibt Platz für 2 500 Gäste? Da muss ja tatsächlich die gesamte feine Wiener Gesellschaft zusammengekommen sein, um auf das Eintreffen des neuen Jahres, was sage ich, des neuen Jahrhunderts anzustoßen. Ein wahrhaft erhabener Rahmen, um dieses denkwürdige Silvester zu begehen.

 

Wie jedes Jahr ist auch unser Haus in vollem Glanz erstrahlt, doch seit Deiner Hochzeitsfeier in dem hübschen Kursalon[2] beim Stadtpark ist Mama nichts mehr gut genug. Sie hat Papa mit ihren Wünschen fast in den Wahnsinn getrieben. Wenn es nach Mama gegangen wäre, hätte Papa am besten für unser ganzes Heim eine Komplettrenovierung in Auftrag gegeben.

 

Zum Glück ist Papa standhaft geblieben, denn selbst sein Gehalt als Direktor des Cement-Werks, könnte all das nicht abdecken. Er hat ja schon genug darunter gelitten, dass die Familie Deines Mannes einen Großteil Eurer Hochzeit bestritten hat. Es ist selbstverständlich, dass der einzige Sohn aus einer der wichtigsten Industriellenfamilien Wiens seine Hochzeit mit allem Pomp begehen musste. Und Deine wunderbare neue Familie hat ja nie den geringsten Zweifel aufkommen lassen, dass sie mit Alfreds Wahl seiner Braut nicht hochbeglückt gewesen wäre.

 

Also, warum hört Papa nicht endlich auf sich zu grämen und Mama sollte wieder mit ihrem Leben zufrieden sein. Wir können uns alle nur glücklich schätzen, dass Du es, liebe Victoria, so gut getroffen hast. Dein Fredi ist nicht nur lieb, sondern obendrein eine glänzende Partie. Es war wohl ein gelungener Schachzug von Fortuna, dass Alfred zum Studieren nach Heidelberg gekommen war.

 

Zu guter Letzt hat sich Mama mit einigen kleinen Änderungen unseres Silvesterdiners besänftigen lassen und es war ein gelungenes Fest. Wilhelm hat das erste Mal daran teilnehmen dürfen. Papa hat ihm nur strengstens jeden Alkohol verboten und es ist kaum zu glauben, aber der Lausejunge hat doch tatsächlich auf die väterlichen Ermahnungen gehört!

 

Ohne Dich war ich nur leider recht arm dran. Mama hat mir den alten Baron von Waidenthal als Tischherren an meine rechte Seite gesetzt und an meine linke diesen Freund von Andreas aus seiner Studentenverbindung – Tristan. Der Herr Baron ist fast taub und hat mir ständig die Hand getätschelt. Mit ihm zu reden war eine Qual. Ich erinnere mich, dass Mama Dich ja auch einmal neben ihn gesetzt hatte. Hatte sie ihn Dir damals nicht mit höchsten Lobesworten als gute Partie angepriesen? Wie entsetzlich! Der gute Mann ist schon über siebzig und selbst mit seinem großen Vermögen als Dreingabe, kann diese Ehe keine rechte Freude sein.

 

Nun entsinne ich mich, dass Mama mir gegenüber eine Andeutung gemacht hatte, die demselben Gedanken entsprungen sein könnte. Oh, Victoria, sollte das mein Schicksal sein? Du hast mit Deinem Liebreiz und Deiner Schönheit auf einen Mann wie Fredi hoffen dürfen, doch da ich nach Papa geraten bin ... was bleibt mir da an Träumen?

 

Nun, Andreas Freund Tristan hat mich recht eindeutig wissen lassen, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als der harten Realität ins Auge zu blicken. Dieser arrogante Pfau hatte gerade noch genug Höflichkeit aufbringen können, mir als seiner Tischdame zuzunicken und einen guten Appetit zu wünschen. Dann hat er doch tatsächlich kein Wort mehr an mich gerichtet. Die Dauer des ganzen Diners hat er mit Großcousine Adelheid und Andreas parliert. Zu unserer entzückenden und älteren Verwandten war dieser Popanz galant – und zu mir kein Wort?!

 

Dem lieben Gott habe ich gedankt, als Mama die Tafel endlich aufhob. Ich floh beinahe in den Salon und drückte mich von einer Ecke in die andere. Kurz vor Mitternacht hielt Papa eine aufmunternde Rede und als alle mit Champagner versorgt waren, gab es ein kräftiges „Prosit Neujahr!“. Unser guter Wilhelm hat ganz artig mit Apfelschorle angestoßen und, weißt Du, er war so entzückend und hat mit mir getanzt. Dabei hat er sich schon recht geschickt angestellt. Ich weiß gewiss, dass er in ein paar Jahren der gleiche Herzensbrecher wie Andreas sein wird.

 

Das führt mich gleich zu unserem älteren Bruder. Abgesehen davon, dass er sich ausgerechnet Tristan als neuen besten Freund ausgesucht hat, ist Papa wohl nicht recht glücklich mit seinen sonstigen Leistungen. Er bestand seine letzte Prüfung wieder nicht. Wie Du Dir vermutlich sehr gut vorstellen kannst, hat Papa getobt wie ein wilder Stier und seinem Erstgeborenen erneut mit vielerlei Konsequenzen gedroht. Und lässt er irgendetwas davon Wirklichkeit werden? Nein! Daher jucken Andreas die väterliche Schelte natürlich gar nicht. Es ist und bleibt ein Jammertal.

 

Am Neujahrstag verließ ich so bald es ging mit Attila das Haus. Zum Glück war es ein schöner Tag und mit meinem Gedanken bei Dir wählte ich unseren Lieblingsspazierweg. Es war wundervoll! Ganz Heidelberg lag noch im Bett und ich konnte mich an einer nie da gewesenen Ruhe erfreuen.

 

Auf den Neckarstaden war keine Menschenseele und die ganze Stadt schien nur für mich da zu sein. Attila war selig, denn ich hatte keine Scheu, ihn gleich nach der Brücke von der Leine zu lassen. Der Gang zum Schlosspark wäre herrlich gewesen, doch Du ahnst nicht, was es mir vergällt hat. Vom Haus des Studentencorps klang doch tatsächlich noch Lärm bis zu mir! Oh, wie schrecklich, denn sicher war Andreas mit seinem Freund auch mit dabei. Es gibt keine Worte, die das Gegröle des „Chors“ zu schildern imstande wären. Zu meinem großen Glück hat sich niemand von denen herumgetrieben. Attila hätte sonst bestimmt Laut gegeben, aber er hat nur wie bei jedem Ausgang in seliger Ruhe alles abgeschnüffelt. Du kennst ihn ja! Da er (eigentlich wir beide) am Vortag die ganze Zeit ins Haus gesperrt war (waren), sind wir anschließend die ganz große Runde abgegangen. Auch um elf war noch alles ruhig. Ich hörte auf dem Rückweg nur die Glocken der Heiliggeistkirche.[3]

 

Zu meiner großen Freude war die Konditorei Hörcher[4] geöffnet und ich nahm meinen allerersten Kaffee im neuen Jahrhundert. Kann es sein, dass er besonders gut schmeckte? Meine Fantasie geht wieder mit mir durch. Wahrscheinlich hatte nur die kalte Luft meinen Geschmackssinn empfindlich gemacht.

 

Als ich zu Hause ankam, herrschte dort emsiges Treiben, um die Spuren der Silvesternacht aus dem Esszimmer und den Salons so rasch wie möglich zu beseitigen. Ich bat Mama, die Dienstmädchen etwas weniger durch die Gegend zu hetzen, doch das hätte ich besser bleiben lassen. Du kennst ja ihre Tiraden über das Hochhalten eines ständig empfangsbereiten Hauses. Als ob irgendjemand in den Tagen nach Neujahr der Familie Karl seine Aufwartung machen würde. Du kannst meinen Seufzer wahrscheinlich bis nach Wien hören.

 

Die ersten Gäste, wenn man von Großcousine Adelheid absieht, kamen erst wieder zu unserem traditionellen Dreikönigsempfang. Du weißt ja, dass es bis auf das Sommergartenfest die einzige Gelegenheit ist, zu der Mama auch alle Kinder unserer Verwandtschaft lädt. Es war wundervoll. Wilhelm und vor allem Georg waren ganz glücklich über all die jungen Herren, mit denen sie trotz der Kälte recht gern im Garten irgendein wildes Spiel veranstaltet haben. Ich war wiederum sehr froh, dass ich mich mit unseren Cousinen ins Kinderspielzimmer zurückziehen durfte. Von den Mädchen ist eines entzückender als das andere. Cecilia ist so groß geworden und sie sieht Dir nach wie vor sehr ähnlich. Es war eine helle Freude mit ihnen den Tag zu verbringen.

 

So viel besser als unten im Großen Salon. Mamas Andeutungen gegenüber allen Verwandten über mein Dasein als Ledige und dem allzu offensichtlichen Mangel an Bewerbern zerrten an meinen Nerven. Seit Deinem Weggang hat sie meinen Stand, bis auf die Schwärmereien über Deine Hochzeit, leider zu ihrem Lieblingsthema gemacht. Es vergeht kein Tag ohne Vorhaltungen über meine Kleidung, mein Äußeres oder meine Interessen.

 

Da fällt mir ein, dass ich Dir noch etwas erzählen wollte: Andreas gab bei Tisch bekannt, dass anlässlich der Einsetzung der neuen Gouverneure in den Deutschen Schutzgebieten eine Wanderausstellung nach Heidelberg kommen wird. Dem deutschen Volk sollen all die exotischen Orte in Afrika und Asien nähergebracht werden. Andreas polterte mit dieser Neuigkeit natürlich wieder wie ein Elefant durchs Haus. Ich glaube nicht, dass Papa sehr gern davon hören mochte. Er hat doch damals mit diesem Kaufmann Lüderitz und dessen Schiff Tilly[5] recht viel Geld verloren. Sein Groll ist auch nach so vielen Jahren kaum verraucht. Doch zu meinem Erstaunen hat er unserem großen Bruder gar nicht Einhalt geboten. Vielleicht, weil Tristan mit am Mittagstisch gesessen hatte. Und wenn ich mich recht entsinne, brachte jener das Thema eigentlich auf. Kann ich vielleicht darauf hoffen, dass er auf Nimmerwiedersehen in eine der Kolonien verschwindet?

 

Mein Brief endet hier, denn ich muss los. Wilhelm und Georg haben mich angefleht, mit ihnen mit der Drahtseilbahn[6] zum Schloss hinaufzufahren. Ich habe eigentlich sehr viele Sachen zu erledigen, aber was tut man nicht alles für die kleinen Brüder.

 

Schreib mir bitte gleich und erzähle mir von Dir.

 

Deine Elisa

2

Heidelberg, 24. Februar 1900

 

 

 

Liebe Vica!

 

 

Deine Wiener lassen sich den Fasching recht gut gefallen! Ich freue mich so, zu hören, dass es Dir in der neuen Heimat an nichts fehlt. Viel mehr: Deine neue Welt scheint ein funkelndes und strahlendes Paradies zu sein. Fast jeden Abend findet in einem dieser eleganten Palais ein Ball statt? Wie wundervoll!

Und all die Kleider, die Du Dir machen lassen kannst. Ganz besonders gefällt mir Deine Beschreibung von Deinem Kleid in der nilgrünen Farbe mit der passend dazu gefertigten Stola. Oh, es klingt alles atemberaubend und dieses Jahr ist die fröhliche Zeit auch so lang.

 

Mama möchte die Tage bis zum Aschermittwoch ebenfalls genießen und sie hat Papa zu einem Hausball überredet. Das Fest soll in zwei Tagen am Rosenmontag stattfinden und alle sind in heller Aufregung. Mama beauftragte ein eigenes Unternehmen mit der Umgestaltung des Großen Salons. Zur Beruhigung Papas ist alles nur für diesen einen Abend gemietet. Mama musste versprechen, dass unsere Sachen wieder an ihren angestammten Platz kommen und nichts Neues zurückbleibt. Auch keine der großen Topfpflanzen, mit deren Hilfe gemütliche Plätze geschaffen werden, um Gelegenheit für Konversation zu haben.

 

Vor dem Tanz wird es für einige ausgewählte Gäste ein Diner geben und an dieser Stelle kommt der Punkt, der mir die schöne Gelegenheit fast verderben mag. Als einer der Ehrengäste soll ausgerechnet Tristan geladen sein. Du erinnerst Dich vielleicht an diesen Freund von Andreas, von dem ich Dir schrieb. Und warum das Getöse um diesen unsympathischen Mann? Er hat seinen Werdegang zum Mediziner und Chirurgen vollendet. Wie ich mit zusammengebissenen Zähnen zugeben muss tatsächlich mit beachtenswerter Bravour, aber ich verstehe immer noch nicht, warum sich Papa so hervortut.

 

Seit ein paar Tagen weiß ich, dass Tristan ein Freiherr ist – von Walsburg. Doch sein Familienzweig ist verarmt, die bedauernswerten Eltern seit einigen Jahren tot und Tristan besitzt nur mehr ein winziges Gut irgendwo in Sachsen. Ich kann mir Papas ungewöhnliche Zuneigung nicht im Geringsten erklären.

 

Nun, viel Zeit, um mich mit dieser Frage zu beschäftigen, bleibt mir nicht. Mama scheucht nicht nur das ganze Personal, sondern auch mich unbarmherzig durch das Haus und durch die Gegend. Fast stündlich hat sie eine Liste mit Besorgungen für mich. Natürlich sind es Angelegenheiten, die keinen Aufschub dulden. Meine Arbeit für die Wohlfahrt muss ich notgedrungen ständig hinten anstellen, was mich dauert, denn das Wetter ist noch recht kalt und viele arme Seelen brauchen nach wie vor warme Kleidung. In unserer Nähkammer stapeln sich Körbe voller unerledigter Wäsche.

 

Es gibt aber noch eine ganz andere Neuigkeit, von der ich Dir berichten muss. Unsere Universität hat doch tatsächlich beschlossen, auch Frauen zum Studium zuzulassen! Das ist eine wahrhaft fantastische Entwicklung. Du erinnerst Dich doch noch, wie wir über all die Warnungen gestaunt haben, die dieser Entscheidung vorausgegangen sind. Wir Frauen sollen die erotischen Sinne der Studenten wecken, unsere intellektuelle Leistungsfähigkeit sei gemildert oder wir werden wahnsinnig, wenn wir uns nicht der Ehe und Mutterschaft zuwenden?

Andreas hat sein Abitur ja nur bestanden, weil wir ihm alles aufbereitet haben und, verzeih mir, ich habe bei Mama und Papa eher den Eindruck, dass einen Ehe und Elternschaft in die geistige Umnachtung treiben ... Ich glaube, ich kann Dich bis nach Heidelberg lachen hören.

 

Wie gern würde ich in diesen Olymp des Wissens eintreten dürfen! Doch wie überrede ich Papa? Er war doch schon kaum davon zu überzeugen, dass wir die Schule für höhere Töchter besuchen dürfen.

Bei einer meiner Einkaufsrunden für Mama habe ich das aktuelle Verzeichnis der Universität erstanden. Doch ich wage nur, Dir davon zu erzählen und blättere auch nur im Geheimen auf meinem Zimmer darin.

 

Da ich hier zu Hause bereits als sitzengeblieben gelte, kann ich Mama und Papa vielleicht dafür gewinnen, einen anderen Weg einzuschlagen. Wenn sie mich das Abitur machen lassen, könnte ich bei Philologie immatrikulieren und später als Hauslehrerin eine gute Anstellung finden. Was denkst Du, liebe Victoria? In mir weckt allein der Gedanke sehr viel Hoffnung auf eine gute Zukunft.

 

Ich muss nun leider aufhören, denn ich höre Mama wieder nach mir rufen. Ich umarme Dich und warte schon jetzt voller Freude auf Deinen nächsten Brief.

 

Deine Elsa

3

Heidelberg, 30. März 1900

 

 

 

Meine liebste Schwester!

 

 

Das sind wahrhaft wundervolle Neuigkeiten. Du bist wahrscheinlich guter Hoffnung und ich werde bald Tante? Du siehst mich vor Freude durchs Zimmer hüpfen. Kein Wunder, dass Fredi auch vollkommen aus dem Häuschen ist. Was werdet ihr für ein schönes und entzückendes Kindchen haben?

 

Ich verstehe Deine Entscheidung, es Mama vorerst nicht zu sagen. Damit hat sie weniger Zeit, um Dir in Wien die Schwangerschaft so schwer wie möglich zu machen. Denn eines ist gewiss: Sobald sie davon erfährt, packt sie die Koffer und dann ist es mit Deiner Seligkeit vorbei. Lass Dir Zeit. Ich halte Mama gerne für Dich aus.

 

Unser Ball war ein voller Erfolg und er wurde sogar in der Zeitung mit ein paar Zeilen lobend erwähnt. Ich lege Dir den Abschnitt bei, doch Mama berichtete Dir sicher auch schon davon.

 

Was tut sich seitdem hier in Heidelberg? Die großenteils selbst auferlegten Fastenregeln gehen allen auf die Nerven. Papa hat wie jedes Jahr ein dringendes Geschäftsessen nach dem anderen und speist fast täglich außer Haus. Ich flüchte zu Hörcher und unsere beiden jüngeren Brüder werden mindestens einmal täglich bei der Selbstversorgung in der Speisekammer erwischt. Es ist gut möglich, dass unser Vorrat an Geselchtem und Würsten für die Zeit nach Ostern schon halbiert ist.

 

Da unsere Emma die Lausejungen so ins Herz geschlossen hat, ist das Komplott bisher nicht aufgeflogen. Ich halte das für einen rechten Glücksfall, denn ich glaube kaum, dass ein so strenges Fasten gut für zwei Heranwachsende ist.

 

Damit bleibt nur noch Mama, die sich eisern an Gemüse und Getreide hält. Du weißt ja, wie die strenge Diät auf ihre Laune schlägt. Damit ist es ausgeschlossen, dass ich mit ihr über meine Pläne reden kann. Mit Papa geht es auch nicht, weil er fast nie zu Hause ist. Zumindest freut sich die Wohlfahrt, weil ich nun wieder viel Zeit für die Flickarbeit habe.

 

Ich war jedoch nicht ganz untätig. Vor ein paar Tagen konnte ich dem Gymnasium einen Besuch abstatten. Der Direktor war sehr freundlich und erklärte mir, wie ich das Abitur im Rahmen einer externen Prüfung machen kann. Es unterscheidet sich kaum von den Prüfungen, die Andreas bestehen musste. Oh, ich bin noch mehr Feuer und Flamme. Jeden Tag sehne ich das Ende der Fastenzeit mehr herbei, damit ich Mama und Papa endlich für meine Ideen gewinnen kann. Du kannst mir glauben, dass es mich mehr und mehr drängt, das Haus für immer verlassen zu können.

 

Mama okkupiert den großen Salon und das Herrenzimmer scheint neuerdings Andreas und Tristan zu gehören. Bei einem seiner Besuche ging ich an der halb geöffneten Tür vorbei und, stelle Dir vor, von Walsburg machte einen derben Scherz über mich. Ich war so wütend, dass ich ihm am liebsten einen Tritt verpasst hätte. Doch Andreas hätte sich mit Sicherheit über mich lustig gemacht und mich des Lauschens bezichtigt.

 

Es gibt allerdings ein Lichtlein am Horizont. Tristan Freiherr von Widerlich hat die Zusage für eine Anstellung in der Klinik bekommen. Damit hat er zumindest weniger Zeit für Besuche bei uns.

Vielleicht mag er sich ja sogar noch weiter entfernen. Das neue Lieblingsthema der beiden sind unsere Deutschen Kolonien. Sie waren nicht nur bei der Ausstellung, sondern frequentieren auch häufig Vorträge der Kolonialgesellschaft. Andreas hat sogar eine Broschüre der Deutschen Kolonialschule[7] mitgebracht. Vielleicht erhört ja der Herrgott meine täglichen Gebete? Andreas entschließt sich für die Ausbildung in Witzenhausen und Tristan geht nach Kiautschou[8]? Du siehst mich vor dem Globus im ausnahmsweise leeren Herrenzimmer stehen ... und hoffen.

 

Du fehlst mir sehr, doch ich will Dich nicht mit meinem Gejammer belasten und wünsche mir nichts sehnlicher, als einen guten Fortschritt Deiner Schwangerschaft.

 

Schreibe mir bitte bald.

 

„Tante“ Elisa

4

Heidelberg, 19. April 1900

 

 

 

Meine liebe Schwester!

 

 

Es gibt keine Worte, die zum Ausdruck bringen können, wie niedergeschlagen ich bin. Verzeih mir, dass ich Deinen Brief nicht abwarte und Dir wieder schreibe, doch diesmal in allerhöchster Verzweiflung!

 

Wie Du weißt, habe ich das vergangene Osterwochenende herbeigesehnt, um in Ruhe mit Papa über meine Zukunft zu reden. Neben den Vorbereitungen für das Festessen habe ich jede freie Minute für meine Pläne genutzt. Die Bibliothek war an den meisten Vormittagen frei und ich habe mit der Umsetzung meiner Pläne begonnen. Deutsch, Algebra, Geschichte, Geografie – alles, was mir in die Hände fiel.

 

Und nun scheint mein Traum wie eine Seifenblase zu zerplatzen. Doch ich erzähle Dir von Anfang an:

Am Gründonnerstag hatte ich mich wieder in die Bibliothek zurückgezogen und stand mit einem Buch vor dem Globus – die Länder Europas.

 

Es kam doch tatsächlich Tristan herein und er ließ sich auch nicht mit dem Hinweis vertreiben, dass Andreas außer Haus sei. Er begann ein Gespräch mit mir, dessen Zweck ich erst einige Tage später begreifen sollte. Tristan wollte von mir wissen, was ich über ferne Länder dachte. Da ich ja mit Wilhelm und Georg die Ausstellung über die Deutschen Kolonien besucht hatte, unterhielten wir uns darüber.

 

Tristan war recht freundlich und erkundigte sich doch tatsächlich, ob ich gerne reiste. Ein entsetztes „Nein“ hätte mir entfahren sollen und ich wäre jetzt weniger unglücklich. Warum?

 

Am Ostermontag sah ich endlich die Gelegenheit für ein Gespräch mit Papa, der auch einwilligte, doch ich kam wenig zu Wort. Ohne mein Wissen und naturgemäß ohne mein Einverständnis hat der Freiherr von Walsburg um MEINE Hand angehalten. Stell Dir das nur vor!

 

Papa zeigte sich überglücklich, denn nicht nur der Titel würde mir schmeicheln, sondern ich könne auch mit Stolz auf den Karriereweg blicken, den mein zukünftiger Ehemann einzuschlagen gedachte.

 

Tristan von Walsburg hat sich für die Stelle als Gemeindearzt in Windhuk beworben und wurde in Betracht gezogen! Doch der derzeitige Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika, Theodor Leutwein, hat für die Bewerber neben der Ausbildung zum Mediziner noch eine weitere Bedingung gestellt. Um dem Frauenmangel in der Kolonie entgegenzuarbeiten, wird nur ein verheirateter Arzt eingestellt.[9] Freiherr Tristan braucht also dringend eine Frau und die Tatsache, dass ich gerne reise, soll als Grundlage genügen?

 

Meine ganzen Pläne brechen wie ein Kartenhaus in sich zusammen, damit ich als Mittel zum Zweck einem Mann, der mich nicht mag und ich ihn genauso wenig, um den halben Globus folge?

 

Als ich Papa auf diesen Umstand der mangelnden Sympathie aufmerksam machte, tat er meine Einschätzung als unrichtig ab. Tristan habe meine kompetente Art und meinen Fleiß in höchsten Tönen gelobt, denn er hätte mich angeblich schon länger beobachtet. Papa erklärte mir, dass er keinerlei Bedenken habe, seine Tochter diesem aufstrebenden jungen Mann anzuvertrauen.

 

Aufstrebend und jung? Ja vielleicht, aber keineswegs ehrlich. Tristan hat mich doch bisher kaum zur Kenntnis genommen. Im Gegenteil, er geruhte ja Andreas sogar mitzuteilen, dass die Schönheit unserer Mutter zur Gänze an Dich gegangen wäre und zwar so gründlich, dass für mich nichts mehr übrig gewesen war.

 

Länger beobachtet? Das fällt mir ebenso schwer zu glauben. Tristan hat wohl nur die Stellenausschreibung länger beobachtet, um festzustellen, dass er ganz schnell eine praktisch veranlagte Frau benötigt.

Seit jenem unseligen Gespräch mit Papa sitze ich wie gelähmt im Zimmer und starre meistens in meine Psyche. Dort sehe ich eine normal aussehende Frau, die genau wusste, was sie wollte und, der alle Zukunftspläne weggenommen wurden. Meine Fingerknöchel sind schon ganz verkrampft, so fest presse ich die Hände auf die Tischplatte. Gestern hatte ich eine geschlagene Stunde meinen Hut noch auf, bevor es mir auffiel. Oh, was soll ich nur machen?

 

Tristan sprach bisher auch nicht wieder vor und daher weiß ich eigentlich nur von Papa, dass ich offiziell verlobt sei. Müsste ich nicht vorher um meine Zustimmung gebeten werden? Doch bisher wurde mir nur ein dünnes Heft der Deutschen Kolonialgesellschaft aufs Zimmer gelegt, das die Auswanderer über Deutsch-Südwestafrika und seine angeblichen Vorzüge informiert. Doch darin gibt es eigentlich nur Informationen, die für Männer gedacht sind. Es geht hauptsächlich um die Möglichkeiten, Arbeit zu finden oder die Landnahme als zukünftiger Farmer.

 

Ein paar Abschnitte sind den Eingeborenen gewidmet und wie man am besten mit ihnen umgeht. Sachdienliche Hinweise für Frauen fehlen zur Gänze und ich kann mir nicht das geringste Bild machen.

Liebe Victoria, ich höre, dass man nach mir ruft. Ich muss hier leider enden.

 

In Liebe

 

Deine Elisa