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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 Werner Weißmann
2. Auflage, 2009
Alle Rechte, insbesondere der Vervielfältigung und der
Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.
Cover: Casa-Museu Salvador Dalí in Portlligat (Cadaqués)
Herstellung und Verlag:
Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-8448-8398-5

Für Catherine und Leonie

Er saß in seinem Sessel, der einer Liege glich, und dachte über sein Leben nach, das an ihm vorüber zog wie eine Wand aus Wasser. Er blickte in die vertraute Ferne, direkt den steinernen Löwen ins Angesicht, die er Richard und Gert getauft hatte. Als Apotropäum hatte er sie aufgestellt, sie waren aber mehr seine Freunde als nur tote Materie, die dem Abwehrzauber dienen sollten. Er liebte sie wie sein eigenes Kind, mehr noch – sie waren einer seiner Lebensinhalte.

Man sah ihm nicht an, dass er noch vor kurzem sein Leben als kaum mehr lebenswert erachtete, seine Haut war von den solaren Kräften und vom Wind rötlich gefärbt. Er wirkte gelassen und ruhig, aber in seinem Inneren hatten die Zeit und die erlittenen Verluste tiefe Spuren hinterlassen. Manchmal fragte er sich, ob es wieder so wie früher werden würde, als alles leicht und unkompliziert war, als die Welt in einem Engelslicht erschien, als seine Liebe zu seiner Frau nicht bedeckt war vom Schatten der Jahre.

Die Zeit draußen tat ihm gut, drinnen war es schlimmer. Innerhalb von Gebäuden fühlte er sich unfrei, aber unter dem Himmel fühlte er so etwas wie Glück. Er sagte zu sich, dass er nochmals den Weg zurück machen wolle in seiner Erinnerung, um nachzudenken, um zu lernen, um dem Schmerz positive Erfahrungen abzugewinnen, um die Zukunft makellos zu gestalten.

Sein Idealismus war ihm geblieben. Hie und da machte er zwar gewisse Konzessionen, aber er war der Selbe geblieben, wenngleich älter, aber nicht reif wie eine Frucht, die demnächst vom Stamm fällt und in ein paar Tagen dahinwelkt.

Er dachte an vieles, aber sein Kopf war irgendwie leer; bisweilen fühlte er so etwas wie Kraft in sich, aber diese Kraft löste sich auf in der Summe der Erinnerungen. Plötzlich läutete das Telefon. Seine alte Freundin klagte ihr Leid, und in diesem Licht erschien sein Leben prächtig. Er hatte allen Grund glücklich zu sein: Er hatte Familie, eine hübsche Frau, die alles für ihn geben würde; er hatte eine Tochter, an der er aber das hasste, was ihn ausmachte, ihre Ungeduld des Herzens, ihr Fordern, ihr Auftreten.

Es war für ihn immer schwieriger, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft voneinander zu trennen, die Linien waren verwoben, um nicht zu sagen verworren. Man konnte noch nicht sagen, ob jemals wieder ein Entwirren stattfinden kann, zumindest dieser Zeitpunkt machte eine Prognose schwierig.

Er sah sich in seinem Büro sitzen. Die Luft wog schwer und drückend über den Flächen aus Glas und Chrom, aber dennoch mochte er das leichte Vibrieren der warmen Ströme mehr als die lautlose Kälte. Nach Wochen war er zufrieden, es bewegte sich etwas in seinem Leben, und das war gut. Am meisten drückte auf sein Gemüt der Stillstand, innerhalb kürzester Zeit führte dieser Stillstand bei ihm zu einer Verfassung, die manche erst nach Jahren der Erfolglosigkeit verspüren. Von einem Tag auf den anderen kippte die Heiterkeit in tiefe Sorge. Nein: er war kein oberflächlicher Mensch, auch wenn er diesen Zustand mancherorts herbeisehnte, wenn er die selbstzufriedenen Personen beobachtete, wie sie vorbeigingen. Er träumte viel. Je schlechter es ihm ging, desto mehr träumte er von Dingen, die immer weiter in die Ferne rückten. Er war leidenschaftlich, und so träumte er leidenschaftlich von Dingen, die andere nie oder sehr spät in ihrem Leben besitzen. Er konnte nicht zuwarten. Etwas in seinem Inneren sagte ihm, dass sein Leben kurz und intensiv sein werde – diese dunkle Ahnung sollte sich ja auch bestätigen.

Er war kein Materialist, aber seine Gedanken waren oft mit den schönen Dingen beschäftigt, aber nicht, weil sie Materie sind, sondern weil er sich zu ihnen hingezogen fühlte, wie ein Mensch, der vor Urzeiten die Ideen in einem anderen Universum gesehen hatte und nun unaufhaltsam nach diesen Idealen zustrebte. Er träumte von einem Aston Martin.

Sein ganzes Denken gehörten diesen beiden Worten: Aston … Martin … Für ihn die Erfüllung, der Olymp, die Seelenverwandtschaft, seinesgleichen im Streben nach Perfektion. Auch er wollte alles gut machen, wodurch ihm aber kein finanzieller Erfolg beschienen war. Aber er wollte und konnte nicht so wie die anderen fahrlässig mit der „Wahrheit“ umgehen. Für ihn stand vieles über Reichtum und Geld. Er mochte Geld an sich nicht, aber vieles, das er mochte, bedurfte des Geldes.

Als er diese Zeilen schrieb, stand gerade sein Leben, sein Beruf, sein Werdegang auf dem Spiel, und er wollte das alles nicht verspielen. Er hatte lange dafür gekämpft, viele Jahre seines Lebens dafür hergegeben, um nicht zu sagen: geopfert. Doch so wie der Phönix aus der Asche emporsteigt, so war er immer mehr Asche ohne die Chance auf Wiedergeburt. Außerdem glaubte er nicht an eine Wiedergeburt, und so musste er in diesem Leben danach trachten, nicht gänzlich zu Asche zu werden; nein, er hatte noch etwas in ihm, das ihm sagte, weiter, nur weiter, nicht aufgeben, aber diese Stimmen wurden leiser.

Das Rot des Merbau-Bodens wärmte seine Seele. Neben den schwarzen Schatten der Einrichtung loderte es in wilder Leidenschaft und riss ihn mit in erotische Abenteuer. Rote Haare, kurz leuchtete dieser Gedanke auf, aber sogleich wurde er abgetan: Vergangenheit, leere Sehnsucht, Verderben, Sirenen, Feuer, das immer in die Tragödie führt. War es sein Schicksal? Wenn er sich treiben ließe? Aber er wollte sich nicht treiben lassen, er war lebenshungrig, aber erschöpft: Diese beiden Tendenzen kämpften in ihm. Schon der Flügelschlag eines Insektes konnte die Richtung dieser Strömung beeinflussen. Es hing zu dieser Zeit alles an einem unsichtbaren seidenen Faden, den nur das Schicksal, das ihm offensichtlich wohl gesonnen war, aufrecht erhielt.

Die Meldung vom aufgeschobenen Projekt traf ihn weniger hart als erwartet. Vielleicht, weil nicht von Absage die Rede war, sondern nur von einem „auf unbestimmte Zeit verschoben“. So konnte er wieder hoffen. Die Büchse der Pandora war geöffnet, zurück blieb ein Funke, die Idee der Hoffnung. Aber all das kostete ihn Substanz. Eigentlich war er ein ansehnlicher Kerl, zwar etwas zu wenig breitschultrig für manchen Geschmack, aber dennoch ein Mann, der auf Frauen wirkte. Er konnte auch charmant sein, wenn er sich bemühte, und in letzter Zeit bemühte er sich immer mehr. Er wollte ein guter, ein besserer Mensch werden. Er wollte seine verletzende Art ablegen, die anderen in ihrer Mittelmäßigkeit tolerieren, oder noch besser: überhaupt nicht mehr von Mittelmäßigkeit sprechen, sondern nur noch vom Anderssein.

Er hatte in den letzten Jahren immer mehr Titel angehäuft, aber war mit jedem Titel bescheidener geworden, zumindest glaubte er das selber, manch andere legten ihm diese Bescheidenheit als Hochmut und Arroganz aus. Aber er war in diesem Punkt zufrieden mit sich, und diese Zufriedenheit war ja in letzter Zeit eher der Ausnahmezustand.

In ein paar Wochen würde er am Meer sein, dachte er sich. Er würde Momente erleben, die leicht und unbeschwert sein würden. Er dachte daran, dass er seine Frau am Strand lieben werde, oder zumindest küssen. Er dachte an vergangene Zeiten, die sich in der Zukunft wiederholen würden, wäre er nur bereit dazu. Er war dazu bereit, aber die äußeren Faktoren lasteten auf ihm wie einstürzende Mauern.

Und in zwei Monaten würde er wieder am Meer sein, vielleicht würde dann die Last weniger schwer wiegen. Man konnte es nicht vorhersehen, aber genau das war es, das ihn drückte. Er war ein Mann der Tat, und im Moment konnte er so wenig bewegen. Er wollte, aber da war nichts, das sich bewegen ließ. Und falls etwas kurz in Bewegung geriet, wurde es im selben Moment wieder an seinen alten Platz gerückt. Das machte ihn traurig, und immer trauriger.

Das war nicht immer so gewesen. Er war eigentlich ein fröhlicher Mensch, kein Unterhalter, aber sein Lächeln konnte andere Personen gewinnen, und seine Geschichten konnten andere Menschen bewegen. Er war kein steifer Mensch, er liebte zwar seine Titel, aber sie bedeuteten für ihn etwas anderes, als manche glaubten. Er liebte den informellen Umgang, das Ungezwungene, zumindest war er dieser Ansicht. Strukturen waren ihm zwar wichtig, aber im selben Moment setzte er sich über diese Schranken hinweg. Er konnte schnell zwischen Positionen wechseln – das war eine seiner Stärken. Ja, er machte sich über sich selbst lustig, manches Mal gelang ihm das. Sein Traum war es, Geschichten-Erzähler zu werden. Am Ende seines Lebens wollte er dort ankommen, dass er zu jeder Gelegenheit eine Geschichte aus dem Zauberhut ziehen konnte. Geschichten voller Bilder und fröhlicher Nuancen, die die Leute unterhalten konnten. Schon heute war er im Stande, solche Geschichten zu erzählen, aber für ihn war es noch viel zu selten. Die Augenblicke, wo er jetzt schon diese Rolle verkörperte, waren die glücklichsten.

Die nächsten Jahre sollten alle diesem Lebenstraum gewidmet sein, und so las er in einem Jahr unzählige Bücher, er las sie wirklich und überflog sie nicht nur, in der Hoffnung, dass sich am Ende die Große Geschichte in seinem Kopf formen würde, die vom Leben erzählt, von der Liebe, vom Sterben und der Vergänglichkeit. Die Große Geschichte: Das war wohl das Motiv hinter all den Studien und Entbehrungen. Niemand wusste das, aber er hatte dies vor Jahren erkannt. Es war nur am Rande der Weg zu Ruhm und Macht, und dass er sich mit seinem Wissen die Freiheit erkaufen wollte. Es war nicht das Streben nach Adel und Geschichtsträchtigkeit, es war der unbändige Wille, zu etwas zu werden, das er nicht war.

Er hatte eine tiefe Sehnsucht in sich, die man am ehesten mit einer Sehnsucht nach Gleichgewicht und Liebe beschreiben kann. Er liebte seine Frau, er liebte ein paar wenige Menschen in seinem Leben – seine Lebensmenschen, die anderen Menschen waren ihm zwar nicht Last, aber auch nicht Hingabe. Er konzentrierte sich lieber auf Wenige, denen er sich ganz schenkte.

Sein Kopf lastete schwer auf seinen Schultern. Er war ein Spielball, abhängig von außen, dürstend nach guten Neuigkeiten, die sich aber zurzeit nur selten einstellten. Gestern noch war ihm so, dass die zähen Monate der Vergangenheit angehörten, gestern verspürte er, wie es sein würde, wenn das Leben nicht nur Sorgen servierte. Gestern war alles so, wie es sein sollte, heute kam der Rückfall, der sich immer mehr auswuchs zu einer handfesten Depression. Er wollte mit jemandem sprechen, aber seine Lebensmenschen waren nicht erreichbar. Er machte sich Luft, indem er ein paar Seiten an seinem neuen Roman schrieb, aber die Inhalte glitten immer wieder ins Autobiographische ab und der Erzählfaden zerriss in tausend Stücke.

In zwei Tagen würde er seine Freundin aus alten Tagen wieder sehen, aber er wusste jetzt schon, dass man die Vergangenheit nicht herauf beschwören könne, und er wollte dies auch nicht mehr. Er hatte mit manchen abgeschlossen, abgerechnet, Bilanz gezogen, und der Saldo wies zwar noch eine freundliche Optik aus, jedoch waren die Blicke in die Zukunft so bedeutungsschwanger, dass die Bilanz bereits heute ins Unheilvolle kippte.

Er betrachtete die Krise, in der er sich befand, zwar als Mittel, neue Wege zu gehen, die bis dahin ungangbar erschienen, jedoch war die Krise nun zu einer Last geworden, aus der man keine Lehren mehr schöpfen konnte. Er hatte alles in Bewegung gesetzt, und es erschien ihm eigentlich unerklärlich, wieso diese Anstrengungen kein Momentum bewirkten, vielmehr sich auflösten in Warten, Warten, Warten.

Die Sonne schien an diesem Tag gegen die unbeugbare Kraft der Wolken immerfort kämpfen zu müssen. An dem vorherigen Tag hatte er mit seiner Frau kaum ein Wort gesprochen, und auch seine Nacht war unruhig und schweißgebadet. Er wollte weder tröstende Worte hören, noch liebevolle Umarmungen erhalten. Es gibt Augenblicke, da möchte man an seine Seele niemanden heran lassen, sich nur mehr verschließen, um sich gegen potenzielle Schmerzen, die einem zugefügt werden könnten, zu immunisieren. Das Unverständnis, das man damit erntet, bestätigt dabei nur die eigene Position; man zieht sich zurück in den schützenden Cocoon und will nur noch schlafen.