Erich Mühsam

Tagebücher in Einzelheften

 

Heft 9

3. April – 26. Juni 1912

 

Herausgegeben von Chris Hirte
und Conrad Piens

Signet

Erich Mühsam (1878–1934) hat 15 Jahre lang, von 1910 bis 1924, sein Leben und seine Zeit im Tagebuch festgehalten, ausführlich, stilistisch pointiert, schonungslos auch sich selbst gegenüber – und niemals langweilig. Mühsam macht die Nachwelt zum Zeugen eines einzigartigen Experiments: Er will Anarchie nicht nur predigen, sondern im Alltag leben. Er läßt seiner Spontaneität, seiner Sinnlichkeit, seinen Überzeugungen freien Lauf und beweist sich und seiner Mitwelt, daß ein richtiges Leben im falschen durchaus möglich ist – man muß es nur anpacken. Auch das Schreiben ist Aktion, in allen Sätzen schwingt die Erwartung des Umbruchs mit, den er tatsächlich mit herbeiführt: Die Münchner Räterevolution ist auch die seine, und die Rache der bayerischen Justiz trifft ihn hart. Doch sein Sendungsbewußtsein verleiht ihm eine Kraft, die ihn auch über die schlimmen Jahre der bayerischen Festungshaft rettet.

 

Mühsams Tagebücher sind ein Jahrhundertwerk, das es noch zu entdecken gilt. Sie erscheinen gedruckt in 15 Bänden, als eBooks in 35 Einzelheften und zugleich im Internet auf www.muehsam-tagebuch.de, wo neben dem durchsuchbaren Volltext auch ein kommentiertes Register und der Vergleich mit dem handschriftlichen Original geboten wird.

 

 

München, Mittwoch, d. 3. April 1912.

Mit dem erotischen Grossbetrieb, der »Glücksträhne«, wie Lotte sich in Anlehnung ans Pokerspiel ausdrückt, scheint es wieder mal vorbei zu sein. Tagelang kein Kuß, und alles fort und verreist, wovon man einige Freuden erhoffen könnte. Dabei hätte ich grade jetzt große Regelmäßigkeit nötig, da ich schauderhaft onaniere und wirklich bald üble Folgen davon fürchte. – In einigen Tagen ist ja vielleicht Ella Barth zu erwarten, und vielleicht bringt sie mir die ersehnte Ruhe und Beglückung.

Vorgestern arbeitete ich eifrig am Leitartikel des »Kain« (der erst heute fertig wurde). Abends war ich in der Torggelstube, nachdem ich mit Wilm eine Stunde allein das »Krokodil« bevölkert hatte. Ich unterhielt mich ausgezeichnet mit Wilhelm v. Scholz, den ich dann noch bis zu seiner Pension in der Max Josefstrasse begleitete. Später traf ich im Stefanie Anton Dreßler, der mir gräßliche Dinge berichtete. Er muß 1000 Mk Schulden seiner Ehefrau zahlen, die sich nicht von ihm scheiden lassen will. Am Tage nach dieser Eröffnung verlor er aus der Tasche Schmuck im Werte von 2200 Mk, den sich Frl. Rolffs nur ausgeliehen hatte, und am folgenden Tage fuhr er mit ihr im Auto zur »Bonbonnière«, bei einer Kurve ging die Tür auf, Frl. Rolffs wurde hinausgeschleudert und erlitt einen Schädelbruch und eine Gehirnerschütterung. Sie liegt schwer krank in einer Klinik. Ich war recht erschüttert von diesen Mitteilungen.

Gestern früh traf ein Telegramm ein von Berndls, ich möchte sie abends um 7 Uhr von der Bahn holen. Um 3 Uhr war Komet-Sitzung (die Fortsetzung des Blattes ist noch unentschieden). Um 5 ging ich zu Strauß, um ihm den Bahnhofsprozeß zu übertragen, er hatte Konferenz und ich mußte 1½ Stunden warten. Ehe ich zur Bahn ging, telefonierte ich dann noch mal heim, um das Abendbrot abzubestellen. Herr Kaderschafka sagte mir, eine Dame sei dagewesen und habe auf einem Zettel hinterlassen, daß sie mich im Stefanie erwarte, zwei andere Damen hätten sehr oft per Telefon nach mir gefragt. – Berndls kamen an. Ich brachte sie in dieser Pension unter. Pedantische Kleinbürger. – Ich fand in meinem Zimmer diesen Zettel: »Cher Mühsam. Je suis à Stefanie. Zaza t’embrasse.« Jane! die ich längst mit ihrem Espagnol in Italien wähnte! Sie war natürlich längst fort vom Café. Ich schrieb ihr, sie solle heute zu Tisch zu mir kommen. Sie kam leider nicht. Vielleicht wollte sie adjö sagen. – Die beiden andern Damen, wurde mir im Café gesagt, hätten auch dort fortwährend angerufen. Natürlich meldeten sie sich, als ich endlich kam, nicht mehr. Wer mag das gewesen sein? Ich war sehr wütend, alles versäumt zu haben und ging in die Torggelstube. Zuerst nur Strauß. Dann kam der widerliche Sektreisende Grimm, später Muhr, Dr. Kantor, Wilh. v. Scholz, Gustel Waldau, Weigert, Dr. Rosenthal mit dem Pariser Maler Spiro, den ich noch aus dem Café du Dôme kenne, und zuletzt, als die meisten schon fort waren, Wedekind, der von Wien zurück ist. Es war ein sehr netter Abend. Ich trank sehr viel.

Finanziell wird dieser Monat, fürchte ich, sehr übel werden. Die Rechnung beträgt 171 Mk. 40 an Johannes, und 275 Mk werde ich alles in allem nur haben, falls der »Komet« nicht doch noch wieder gehn sollte. Jaffé ist noch verreist, mit dem Dreimaskenverlag wird nicht allzufest zu rechnen zu sein, und wenn nun – worauf ich andrerseits doch sehr sehr hoffe – Ella kommt – – ich weiß nicht, wie alles werden wird, zumal am 1. Mai ja nicht einmal mehr die 100 Mk, die ich diesmal vom »Komet« kriege, da sein werden. Von Lübeck hatte ich mal wieder eine Karte. Papa gehts besser. Er geht schon wieder in Sitzungen. Aber sein Herz ist noch krank, wovon er selbst nichts ahnt. Ich habe in der letzten Zeit sehr stark das Gefühl, daß doch in der allerkürzesten Frist die große Wendung bevorsteht. Gott geb’s.

 

München, Freitag, d. 5. April 1912.

Mit dem »Kometen« sieht es windig aus. Ich fürchte sehr, daß ich mit dem Schuldschein über 1500 Mk eine kapitale Dummheit gemacht habe. Geht jetzt das Blatt ein, so habe ich eine Menge Arbeit ohne Vergütung geleistet und muß obendrein später – wann denn nun endlich? – ein kleines Vermögen draufzahlen. Könnten die, die nie Not gekannt haben, blos einen Einblick in die Lage eines Menschen tun, der ewige Geldsorgen hat! Hätte ich gewußt, wovon ich diesen Monat alle kleinen Ausgaben bestreiten kann, hätte ich mich wohl gehütet, mich derartig zu verpflichten. Aber die Hoffnung, wieder ein Jahr lang – und wohl doch das letzte, in dem ich derartig rechnen muß – mit einigem Anstand über die Tage hinwegzukommen, war so verlockend, daß ich das Risiko einging. Morgen wird mir wohl als Geburtstagsgeschenk die Nachricht zuteil werden, daß es Herrn Wild nicht gelungen ist, den Rest der Garantie aufzutreiben, daß ich kein Geld mehr vom »Kometen« bekomme und Herrn Diro Meier statt dessen 1500 Mk schulde. – Es gibt nichts Kostspieligeres in der Welt als den Dalles.

Eben telefoniert Albert R., er sei im Stefanie. Ich breche also ab und eile hin. Vielleicht erfahre ich etwas über die Verhaftungsaffären.

 

München, Sonnabend, d. 6. April 1912.

Mir ist garnicht geburtstäglich zu mute, und den ganzen Tag wars nicht anders. Kein wirklich beteiligtes Herz, kein Kuß, keine Feier. Ich nehm’s, wie es ist.

Um also trocken fortzufahren. Was geschah vorgestern? – Ach ja: Mittags erschien Jane, ich lag noch im Bett, küßte mich, zirpte herum und machte mich sehr heiter, ob ich auch einsah, daß sie erotisch für mich verloren ist. Wir gingen miteinander ins Café, wo sie ihren argentinischen Béguin traf – und der Tag brachte weiter nichts Sensationelles. Tags zuvor hatte sie mich abends zu Benz bestellt gehabt, kam aber nicht. Ich traf dort das Puma mit ihren Ehemanns-Stellvertretern, und Freksa, die Beutler, Düllberg und Wilhelm v. Scholz. In der Torggelstube war in diesen Tagen gar nichts los. – Gestern gabs auch nichts Wichtiges, nur, daß Uli von Paris zurück ist. Ich traf sie auf der Straße vor dem Café Stefanie und freute mich, daß sie mir zur Begrüßung gleich den Mund gab.

Abends war dann also R. im Café. Er erzählte von der Scheidegger-Geschichte. Es scheint doch nicht ganz so hoffnungslos zu stehn, wie ich glaubte. Man hofft, Scheideggers Unglaubwürdigkeit infolge seiner erblichen Belastung und andern Erscheinungen von Geisteskrankheit nachweisen zu können. Überaus gefährlich ist die ganze Sache natürlich trotzdem. Ich kann wohl sagen, daß mich seit Jahren nichts mehr derartig aufgeregt hat wie die bodenlose Schuftigkeit dieses Lümmels. Denn – soll er selbst irrsinnig sein –, auch Wahnsinnsausbrüche müssen von Charakternoblesse temperiert sein. Sehr erschütterte mich, was R. über Friedel erzählte. Sie ist natürlich sehr gefaßt und beherrscht, doch aber in großer Bewegung und sieht schlecht aus. Alle Augenblicke ist sie in Zürich. Sie will weder mit mir noch mit sonstwem irgendwelche Begegnungen, zumal sie fortgesetzt bespitzelt wird. (Seit einer Reihe von Tagen beobachten Morax und ich an der Ecke gegenüber dem Café Stefanie zwei Spitzel, die sich in 2–3 Stunden gegenseitig ablösen und dort Wache stehen. Ob diese Beschnüffelung in irgendeinem Zusammenhang mit den Schweizer Verhaftungen steht? Und in welchem?) – Der Gedanke an Friedel verfolgt mich seit dem Unglück, das sie betroffen hat, unausgesetzt. Selbst nachts schrecke ich auf und meine, ihr geschähe etwas. Ob sie in der Ferne ein Gefühl hat für meine trostlose Treue? Wann werde ich sie endlich wiedersehn?

Als ich gestern heimkam, fand ich ein Telegramm aus Paris vor, ich solle sofort an Johannes telegrafisch das Monatsgeld nach Arago schicken. Nach seinen letzten Mitteilungen mußte ich annehmen, er sei in Zürich, und natürlich ist das Geld dorthin abgegangen. Ich bin sehr böse auf ihn, daß er mir immer nur schreibt, wenn er mich im Moment braucht. Freilich: ich schreibe ihm ja überhaupt garnicht.

Und heute habe ich nun also mein 34tes Jahr glücklich hinter mich gebracht. Die Waidmannsluster und Tante Rosel aus Graz waren gestern schon mit Glückwünschen da, heute nun alle meine Geschwister, außer Joëls. Geschenke stehen mir auch in Aussicht. Hans und Minna wollen wissen, ob ich lieber Hemden oder Unterhosen haben will. Da ich Unterhosen überhaupt nie trage, werde ich Hemden wählen. Charlotte stellt eine Tasse, Ostereier und einen Aschbecher in Aussicht als gemeinsames Präsent von Joëls und Landaus. Schön. – Von Papa kam ein ausführlicher Brief, dem 10 Mk beigeschlossen waren. Der Inhalt ergriff mich einigermaßen. Er schreibt ausführlich über seinen Gesundheitszustand und berichtet, daß es ihm erheblich besser gehe als in den letzten drei Monaten. Dann heißt es wörtlich: »Viel wird ja nicht mehr werden. Der Knax, den ich weghabe, wird sich kaum mehr reparieren lassen.« Die erste Empfindung, in diesen Worten solle wieder ein Vorwurf gegen mich liegen, wird wohl falsch sein. Er wird es wohl ganz unpolitisch meinen – hoffe ich. Aber seine Glückwünsche für das neue Lebensjahr erbittern mich doch wieder recht. Könnte er nicht dafür sorgen, daß mein Leben glücklicher und meine Arbeit zweckmäßiger und erfolgreicher wäre? Zehn Mark – ein Millionär! – Aber andrerseits: kennte er meine Empfindungen, er wäre unfähig, sie entfernt zu begreifen. Er lebt in einer andern Welt, weil er in einer andern Zeit lebt.

Mittags waren Uli und Seewald bei mir. Sie schenkten mir Zigarren. Lotte und Emmy gratulierten mir im Caféhause, in dem ich den ganzen Nachmittag von 3–8 Uhr stumpfsinnig zugebracht habe. So fange ich das neue Lebensjahr an, und bei Gott mit wenig Hoffnungen. Der »Komet« ist hin – man muß es jetzt wohl sicher annehmen – es sieht trübe aus.

34 Jahre! Du lieber Himmel! Was habe ich erreicht! Wie kläglich wenig! Immer noch das dürftige möblierte Zimmer. Immer noch von Monat zu Monat die Angst, die Rechnung nicht zahlen zu können. Und schon wieder die völlige Entkleidung aller Sicherheit im Geldverdienen. – Und der Ruhm? Du lieber Himmel! Was tue ich mit dem bißchen Berühmtheit? Mit dem Angeglotztwerden? Mit den Komplimentationen? Wer kennt meine Lyrik? Wer führt meine Dramen auf? Wieviele Leute lesen auch nur den »Kain«, der noch mein einziger Trost ist? – Und die Liebe? Schweigen will ich, erröten, mich schämen, und ihrer denken, der Einzigen, die ich verlor, weil ich’s nicht wert war, sie mir zu erhalten. Friedel, Friedel! Mit dem Gedanken an Dich beginne ich dies neue Jahr. Mit dem Gedanken an Dich werde ich dies Jahr wie alle ferneren dieses Lebens beschließen – und ewig unglücklich sein.

 

München, Sonntag, d. 7. April 1912

Das war wohl der ödeste, stimmungsloseste Geburtstag gestern, den ich je erlebt habe: aber auch garnichts Festliches den ganzen Tag, garnichts Erhebendes und Erfreuliches. Nach der gestrigen Einzeichnung hier ging ich in die Torggelstube, wo ich zuerst mit Lotte, Uli, Seewald, Kalser und Cronos, nachher, als die noch in eine Bar weitergingen – natürlich ohne auf die Idee zu kommen, mich zum Mitgehn aufzufordern, – am Stammtisch mit Futterer, Schwaiger und einem Regierungsrat Fischer, einen ganz lustigen, stark fürs Theater interessierten Herrn, der mir seine Stellung als gleichbedeutend mit der eines preußischen Landrats erklärte. Schwaiger hatte den guten Geschmack, mich zu einer Diskussion über Anarchismus zu provozieren, und ich nahm Dalba, Caserio, Czolgosz, Breszi u.s.w. energisch in Schutz. Zum Glück kam um 2 Uhr Steiner, der mich ins Café Orlando abholte, wo wir noch bis 3 Uhr Billard spielten. – Einen Ertrag hat aber dieser Tag doch gehabt: ich habe seit langem wieder einmal ein Gedicht gemacht, das mir bis jetzt aus der Nähe noch sehr gelungen scheint: ein Sonett (merkwürdig! Ich mache doch nie Sonette!), zu dem die Sorge und das Mitgefühl für Friedel mich stimmte. Ich hatte es den ganzen Tag embryonal im Kopf, bis es in ganz später Nachtstunde – zum Teil erst im Bett – seine überraschende Form annahm. Ich war von der Anstrengung des Dichtens so aufgeregt, daß ich sehr lange nicht einschlafen konnte und mir nach 5 Uhr früh noch die Patience-Karten aufschlug.

Heut kam ein Brief von Grethe und Julius aus Lübeck. Die beiden größeren Jungen hatten mit drangeschrieben. Der älteste, Walther, hat nächste Woche »Barmitzwoh«. Ich muß ihm was schenken, und werde wohl eine hübsche Lenau-Ausgabe billig zu erwerben suchen. – Ferner ein sehr betrübender Brief von Ella. Sie kommt nicht. Offenbar ist Martin wahnsinnig verliebt in sie und läßt sie nicht fort. Aber sie fordert mich auf, zur Hauptmann-Premiere nach Lauchstädt (wo liegt das?) zu kommen, wo sie auch sein wird. Ich will mich erkundigen, was das bedeutet. Hauptmann wird doch sein neues Stück »Gabriel Schillings Flucht« nicht an irgendeiner Provinzbühne uraufführen lassen? Ich verstehe das nicht. Ehe ich mich zu solcher Reise entschlösse, müßte ich auch erst – abgesehen von der Geldmöglichkeit – die Gewißheit haben, daß Ella ohne Begleitung dorthin kommt. Ihr im Hotel vor der Zimmertür des Herrn Martin Gutenacht sagen zu sollen, könnte mich wenig reizen.

Jetzt will ich für Steinrück und Waldau, die im Neuen Verein Lyrik rezitieren sollen, Gedichte aus dem Krater heraussuchen, und jedem ein Exemplar schicken.

 

München, Montag, d. 8. April 1912.

Ostermontag. Es ist ein wundervoller warmer Frühjahrstag, und ich bin wieder erst um ½ 2 Uhr aufgestanden. Ich muß schon gestehn, daß ich garnicht mehr mit meiner Lebensart zufrieden bin. Vielleicht werde ich doch mal die Pension wechseln müssen. Das Essen gefällt mir, seit die neuen Wirtsleute da sind, garnicht mehr, und das Ende des »Kometen« wird mich ja wohl sowieso in die fatale Notwendigkeit versetzen, meine ganze Lebenshaltung wieder beträchtlich zurückzuschrauben. Jetzt habe ich noch einige 40 Mk – sind die aber alle, dann gnade mir Gott oder Professor Jaffé.

Die Liebes-Glücksträhne scheint ganz abgerissen zu sein. Ich sehne mich wieder sehr nach Erotik. Nicht mal ein hübsches Dienstmädchen ist da. – Seit längerer Zeit interessierte mich im Café Stephanie ein sehr anmutiges Geschöpf: groß, mit den hochgezogenen Schultern, die ich so sehr liebe, schlank, blond, blauäugig, und in der Kleidung von jener gelinden Schlampigkeit, auf die ich immer wieder hineinfalle. Keiner wußte ihren Namen, man sagte mir nur, daß sie in der Pension Führmann wohne. So sah ich sie dann auch bald mit Leuten meiner entfernteren Bekanntschaft und beschloß, ihr unter allen Umständen persönlich näher zu treten. Ich fing das so an wie immer: ich grüßte sie, und erreichte in kurzer Zeit, daß sie mich, wenn ich sie mal übersah, zuerst begrüßte. Ich wollte nun einmal eine Gelegenheit abwarten, wo ich sie allein anträfe und sie dann anreden, da ich sie nun aber vor einigen Tagen in der Gesellschaft von Morax sah, setzte ich mich einfach dazu. Sie war sehr nett. Es stellte sich aber heraus, daß sie nicht nur verheiratet ist, was ja nicht unbedingt hätte zu stören brauchen, sondern in zwei Monaten ihrer Entbindung entgegensieht. Ich hatte nichts bemerkt. Ihr Mann ist ein ganz junger Bursche namens Jung, die Ehe dauert bis jetzt 2 Jahre und ein einjähriges Kind ist schon da. Gestern saß ich mit dem Ehepaar im Café, Jane kam mit Béguin an unseren Tisch, und verschwand bald wieder – nachdem ich dem Herrn Bunge (dem Argentinier) seine Eifersucht vorgeworfen und er sie bestritten hatte –, und gegen ½ 7 Uhr beschloß man, einen gemeinsamen Spaziergang zu machen. Morax und Idachechen [Idachen], Öhring, das Jungsche Ehepaar und ich bewegten uns in den Englischen Garten, ich immer per Arm mit der schwangeren jungen Frau, die drei anderen Männer vorne weg, und in der Mitte allein die treue Ida, die jugendliche Ahnfrau. Es war beschlossen, zu Führmann essen zu gehn, und nach einem sehr langen Spaziergang kamen wir unten in der Belgradstraße an. Es wurde Clavier gespielt. Der kleine Lotz machte die possierlichsten Größenwahnscherze, und nachher, Frau Jung hatte sich gedrückt, gingen wir noch zu etwa 6 Personen einen Schnaps trinken, wobei wir wohl ein Dutzend Kneipen absuchten. In keiner gab es Schnaps. Endlich fanden wir in der Herzogstrasse eine Wirtschaft »Ursula«, wo wir welchen kriegten. Ein Klavier wurde hereingeschoben, Morax spielte und wir andern sangen dazu revolutionäre Lieder zum Erstaunen der übrigen Gäste. Gegen 11 Uhr begleitete man mich zur Straßenbahn und ich fuhr zur Torggelstube. Ich ließ das Puma mit den sie umwerbenden Cronos und Kalser allein und setzte mich in die Ecke, in der die Lorm, Feldhammer, Weigert, Schwaiger, Spiero, Gustel Waldau und Albert Steinrück versammelt waren. Das Gespräch ging natürlich fast ausschließlich um die Presse-Intrigen gegen Steinrück und Speidel. Steinrück erklärte kategorisch, daß er keine Lust habe, sich hier herumzuärgern, da er die glänzendsten Anträge nach Berlin und Wien habe. Er, Spiero, Feuchtwanger, der noch gekommen war, und ich gingen dann noch ins Orlando. Steinrück wollte von Feuchtwanger und mir wissen, was er, speziell auf die neueste Schweinerei der »Münchner Post«, die in diesem Augenblick dem »Bayerischen Kurier« gegen Steinrück beispringt, tun soll. Wir rieten ihm übereinstimmend: garnichts. – Ich bemühe mich, unter Künstlern, Literaten und geistig interessierten Menschen eine Sympathiekundgebung für Speidel zu inaugurieren. Es ist aber sehr schwer, einen aktiven Menschen zu finden, von dem es ausgehen kann. Ich muß natürlich im Hintergrund bleiben, da sonst die ganze Aktion diskreditiert wäre. Ich will womöglich heute mit Professor v. Stieler sprechen.

 

München, Mittwoch, d. 10. April 1912.

Gestern wurde mein keuscher Wandel wieder einmal anmutig unterbrochen. Mittags kam Emmy, die nach Berlin ans Passagecabaret engagiert ist und von mir Texte zum Singen haben möchte. Ich lag noch im Bett und nahm sie zu mir. Sie ist immer noch reizend in ihrer nackten Hemmungslosigkeit. Während wir noch splitternackt nebeneinander lagen, brachte das Mädchen einen Brief, den ich ihr, da auf Antwort gewartet wurde, vorsichtig durch die Türspalte abnehmen mußte: Von Dr. Emma Gellért. Sie wohne jetzt bei mir nebenan, Akademiestrasse 15, und bitte mich, doch gleich zu ihr zu kommen. Ich schrieb zur Antwort, es sei im Moment unmöglich. Ich käme bestimmt heute um ½ 3. Jetzt muß ich blos schnell essen und dann gleich zu ihr. Mir graut ein wenig. – Gestern nachmittag erschien, von einer Postkarte, die früh ankam annonciert, Pfarrer Vogl. Ich weiß nicht viel mit ihm anzufangen, doch muß ich ihm auch heute wieder einige Abendstunden widmen. Über die Schweizer Verhaftungsgeschichte war er noch nicht orientiert, und nun natürlich sehr erschrocken. Heut ist er bei Meyrink in Starnberg. – Gestern abend war ich, wie täglich, in der Torggelstube (immer in der trügerischen Hoffnung, Consuela Nicoletti zu treffen). Zuerst mit Muhr allein, dann mit Weigert allein. Mit dem ging ich noch ins Café Odeon, wo wir Domino spielten. Nachher kamen noch W. v. Scholz, Steinrück und Dr. Goldschmidt, und zum Schluß begleitete ich Steinrück heim, den die Preßhetze gegen ihn sehr aufregt. Er erzählte mir von seinen Maßnahmen. Ich habe leider auch mit Stieler nichts ausrichten können. Die aktiven Menschen sind in München sehr dünn gesät.

 

München, Donnerstag. d. 11. April 1912.

Morax brachte gestern eine erschütternde Nachricht ins Café. Wilhelm Michels junge Frau, Anita, die frühere Frau von René Prévôt, ist nach ganz kurzer Influenza-Krankheit gestern früh gestorben. Michel soll völlig verzweifelt sein, und als Morax bei ihm war, um ihn und Anita zu dem Cabaret-Abend einzuladen, den er mit Emmy morgen veranstaltet, fassungslos geweint und beinah irre geredet haben. Es ist sehr schlimm für ihn. Vor etwa zwei Jahren ließ er sich von der Mutter seiner sechs Kinder scheiden, die ihn verlassen hatte, um mit Karl Schloß zu leben. Er hatte das Glück, Anita Prévôt zu finden, und sie nahm sich der drei Kinder, die Michel zu sich nehmen mußte, mit rührender Liebe wie eine echte Mutter an. Seit längerer Zeit kränkelte sie schon. Besonders eine mißglückte Geburt hatte ihr übel zugesetzt, und nun stirbt sie dem armen Menschen weg und läßt ihn mit den Krabben allein. Scheußlich! – Und sie war so ein liebes Weib. Ich mochte sie sehr gern, und nun fallen mir allerlei kleine Geschichtchen ein, die mit ihr in Verbindung stehn: als Johannes das Ehepaar Prévôt zu Rebhühnern einlud, und die beiden in Festtoilette in unsre kleine Türkenstrassen-Bude einrückten. Wir hatten an nichts mehr gedacht. Johannes lag im Bett. Ich saß auf einem Stuhl daneben, und wir aßen Frikadellen. – Ich sehe noch, wie Anita damals lachte. Sie konnte sehr herzlich lachen. – Und dann, im vorigen Jahre, jener Simplizissimus-Abend, wo alle angesäuselt und erotisch animiert waren. Ich saß mit dem Arm um Anitas Taille und gab ihr Küsse, und der Ehemann – damals schon Michel – platzte beinahe vor Eifersucht. – Jetzt ist sie tot. Kaum zu fassen. Ich habe an Michel ein paar Worte geschrieben, denen er anmerken wird, daß sie von Herzen kommen.

Gestern nachmittag nach dem kurzen Besuch bei E. G., die sehr zärtlich war, las ich bei Steinebach die Kain-Korrekturen. Nachher saß ich im Café mit Frau Marie Jung, und der verwachsenen, aber sehr reizvollen Frau Hoch. Ich bin in die Jung, trotz ihrer Schwangerschaft, einigermaßen verliebt, was ich ihr auch gestand. Ich fragte sie, ob sie ihren Mann prinzipiell nicht betrüge. Sie erklärte, darin keinerlei Prinzipien zu haben. Als ich ihr dann sagte: »Legen Sie nur erst Ihr Kind ab, nachher fange ich sofort mit Ihnen an«, lachte sie, und sagte weder ja noch nein. Übrigens scheint in ihr die Schwangerschaft einen Zustand absoluter Wurschtigkeit hervorzurufen. Sie sitzt manchmal ganz apathisch da, plötzlich klagt sie über große Schmerzen und spricht Befürchtungen für den Verlauf der Entbindung aus. Dann macht sie wieder märchenhafte Dummheiten. Das Ehepaar hat garkein Geld (ich habe aus meinem Dalles schon mit 5 Mk ausgeholfen). Neulich waren aber etwa 10 Mk da, die sie in Verwahrung hatte. Sie ging fort und kaufte ein silbernes Portemonnaie und noch sonst soviel Kleinigkeiten, die gar keinen Zweck haben, daß sie in den neuen Geldbehälter nichts mehr hineinzustecken hatte. Der Jüngling, der ihr Ehemann ist, scheint Alkoholiker zu sein. Er sagte nur: »Du bist ja verrückt«, als sie mit den Klamotten anrückte. Ein komisches Paar.

Abends war dann der Pfarrer Vogel wieder da. Dr. Ludwig erschien im Caféhaus und lud ihn, mich und Morax zum Abendbrot ein. Dieser Dr. Ludwig mit dem Ziegengesicht, dem Moralknödel und der öligen Menschenliebe geht mir auf alle Nerven. Ich drückte mich mit Morax bald und ging kegeln. Nachher im Bunten Vogel stieß dann mein Anarchismus mit dem Patriotismus des Herrn v. Maaßen zusammen. Wilm und Schwaiger sekundierten ihm, B. v. Jacobi in zurückhaltendem Maße mir. Lahmeyer saß lächelnd dabei. Nachher ging ich mit Maßen[Maaßen] friedlich zusammen fort.

Heut las ich die Kain-Revision, spielte im Stephanie mit einem Russen Schach, begleitete das Puma ein Stück Weges, erledigte einige dringliche Korrespondenzen und will jetzt durch Sturm und Dreck der Torggelstube zuwandern, wo ich hoffe, mit W. v. Scholz über Maßnahmen in der Hoftheater-Affaire verhandeln zu können.

 

München, Freitag, d. 12. April 1912.

Der Abend verlief ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte, und zwar viel angenehmer. Als ich mit dem Einschreiben in dies Heft eben fertig war, kam das Zimmermädchen mit einem Gruß von Frieda Gutwillig und der Anfrage, ob sie mich besuchen dürfe. Sie kam, eben von der Reise zurück, frisch und lustig und ich küßte sie ganz gehörig ab. Ich werde das liebe Mädel wohl bald hinlänglich verliebt haben, und dann – fahr wohl, Jungfernschaft, sofern du noch vorhanden bist. – Ich ging dann zunächst ins Café, wo Emmy mich bestürmte, ich solle sie in den Simpl. begleiten. Sie wollte dort Billets für heut abend kaufen. Morax hat mich gebeten, das Lokal zu schneiden, und obgleich ich seinen ganz persönlichen Konflikt mit dem Wirt keineswegs im Prinzip als Grund zu einem Solidaritätsboykott anerkennen kann, tue ich ihm den Gefallen. So gerieten er und Emmy aneinander, und die bohrende Art von Morax machte mich sehr nervös. Dann hatte ich noch mit Emmy eine Auseinandersetzung über Hardy, der wieder in München herumsteigt und mich ostentativ schneidet, da dann aber Else Kündinger kam, wurde die Stimmung bald friedlicher, und ich ging mit Else und Alva, die noch ins Luitpold wollten, fort, um mich der Torggelstube zuzuwenden. Ecke Odeonsplatz und Briennerstrasse traf ich, die ich in der Torggelstube suchen wollte: Steinrück, v. Scholz und Dr. Goldschmidt. Wir tranken viel guten Wein in der Odeonbar, wohin die Herren mich einluden und blieben unter den unterhaltsamsten Gesprächen bis ½ 3 Uhr dort beieinander. Goldschmidt zahlte. Es war ein netter Abend.

Heute kam ein ausführlicher Brief von Landauer, dem ich zum 7. April, seinem Geburtstage gratuliert hatte. Ich werde den Brief bestimmter Gründe wegen vernichten. Ein Dresdner Kain-Abonnent will meinen Rat. Er hat in einem Hausflur einer Dame unter die Röcke gefaßt und ein Schutzmann hat sich da als Voyeur betätigt. Ich werde dem Manne raten, das Maul zu halten und die Dame nicht auch noch vor andern Staatsgrößen bloszustellen.

Es ist wieder ganz winterlich. Eiskalter Sturm. Dabei will ich jetzt zum Schwabinger Friedhof zur Beerdigung der armen Anita Michel.

 

München, Sonnabend, d. 13. April 1912.

Ich habe noch nicht an vielen Beerdigungen teilgenommen, und empfinde vor der ganzen Kirchhofsatmosphäre ein gewisses Grauen. Nur ein Kirchhof, in dem ringsum kein Mensch zu sehn ist beruhigt mich und ist mir ein lieber Aufenthalt. Wie gern war ich damals in Berlin auf dem alten Friedhof in der Invalidenstrasse, wo man ganz allein sein, unter wundervollen alten Bäumen spazieren gehn und weltentrückt denken konnte. Bei einer Begräbnisfeierlichkeit aber, wo man dadurch, daß Särge noch über der Erde stehn, überlaut an Tod und Trauer gemahnt wird, glaube ich immer, Leichengeruch zu spüren, und es ist mir übel zu Mute. Zum Glück verspätete ich mich gestern und kam auf den Friedhof hinaus, als schon alles vorbei war. Michel war garnicht dabei gewesen. Er soll so erschüttert gewesen sein, daß man ihn gleich heimgebracht hatte. An seiner Stelle machte Anitas erster Mann, Prévôt, die Honneurs. Es war eine scheußliche gedrückte Stimmung. Ich lehnte es ab, mich den Herren, die noch im Auto zu Michel fuhren, anzuschließen. Lieber besuche ich den armen Menschen in diesen Tagen noch, wenn er schon ruhiger ist und zugänglicher. Prévôt, der als Correspondent der »M. N. N.« nach Paris geht, erzählte mir, daß sich Michel ihm anschließen und schon in ganz kurzer Zeit ebenfalls nach Paris übersiedeln werde. Die Kinder werden unter Freunde verteilt.

Im Stephanie saß die junge schwangere Frau, und – ich weiß nicht, wie es kam – plötzlich war sie dabei, mir ihr Herz auszuschütten. Sie klagte sehr über ihren Mann, der alles Geld versaufe und sich überhaupt nicht um sie kümmere. Sie wolle, wenn sie nur das Geld auftreibe, nach Hause, nach Breslau, und sich dann von Jung trennen. Große Tränen standen in ihren Augen, ich hatte das arme Weib wirklich gern, und ich glaube sehr – zumal nach dem Gespräch, das wir heute im Café führten, daß die Freundschaft, die sich da anknüpft, für uns beide ernst werden kann.

Abends war dann die von Morax arrangierte Cabaretunterhaltung, »der grüne Teufel«, in der Schillerstrasse. Es war überraschend hübsch. Viele Leute, meistens Bekannte, die mit Thee bewirtet wurden. Morax trug vor, Emmy, dann auch HardekopfMarinetti