Maik Albrecht und Frank Rudolph

Gewalt

Selbstschutz gegen Schläger

Mit einem Essay von Norman »Siddhartha« Gerhardt

Palisander

Hinweis: Weder die Autoren noch der Verlag übernehmen Verantwortung für Folgen, die sich aus dem Gebrauch oder dem Missbrauch von Informationen, die in diesem Werk enthalten sind, ergeben können. Sie erinnern des weiteren daran, dass bei der Anwendung sämtlicher in diesem Werk beschriebenen Kampftechniken die jeweiligen landesspezifischen gesetzlichen Bestimmungen unbedingt einzuhalten sind. Es obliegt der Eigenverantwortung des Praktizierenden, sich über diese Bestimmungen ausreichend zu informieren.

Der Verlag dankt Uwe Kramarczyk, Chemnitz, für die fachliche Unterstützung und Beratung bei der Redaktion.

Deutsche Erstausgabe

1. Auflage 2014

© 2014 by Palisander Verlag, Chemnitz

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Anja Elstner unter Verwendung einer Fotografie von Felix Renaud:

»Junger Mann in einem dunklen Tunnel durch einen gewalttätigen Mann ausgeraubt«;

http://de.123rf.com/​profile_frenzelll

Redaktion & Layout: Palisander Verlag

Lektorat: Frank Elstner

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-938305-79-9

www.palisander-verlag.de

Die Autoren

Maik Albrecht, Jahrgang 1981, praktiziert seit mittlerweile zwei Jahrzehnten die verschiedensten östlichen und westlichen Kampfkünste. Mit 20 Jahren ging er nach China und studierte dort chinesische Kampfkunst bei den letzten noch lebenden Meistern des alten Wushu.

2006 gewann er als einziger Ausländer in der chinesischen Profigruppe eine Goldmedaille bei der Wushu-Weltmeisterschaft in Zhengzhou. Im selben Jahr erhielt er den 4. Meistergrad (Wushu Duan) und war zu dieser Zeit der jüngste Ausländer mit einer solch hohen Graduierung. Albrecht besitzt einen Abschluss in Sinologie von der Universität Wuhan, die zu den besten der Welt gehört.

Maik Albrecht ist heute einer der führenden Chinaexperten und Kenner der chinesischen Kampfkünste weltweit. Er trainierte als einer der ersten Ausländer in China sogar Chinesen, unter anderem Mitglieder chinesischer SWAT-Einheiten.

Das ARD hat 2008 einen Dokumentarfilm über sein Leben in China gedreht: »Herr Albrecht macht Wushu – Ein Deutscher kämpft in China.« In China, wo er selbst von den Meistern der alten Generation als Kenner und Könner des Wushu anerkannt wird, gibt es zahlreiche Veröffentlichungen über ihn. 2009 drehte das chinesische Staatsfernsehen eine mehrteilige Dokumentation über sein Leben mit der Kampfkunst.

Maik Albrecht lebt in Wuhan, China. Er ist mit der Tochter seines Shifu (Lehrer-Vater) Li Zhenghua verheiratet.

Frank Rudolph, Jahrgang 1969. Nach mehreren Ausbildungen absolvierte er von 1993 bis 1996 ein Journalistikstudium. Tätigkeit als freier Mitarbeiter bei verschiedenen Zeitungen und Magazinen. Seit 1992 Veröffentlichungen über Philosophie, Geschichte, Kampfkunst und Kultur mit den Schwerpunkten Asien und vergleichende Geschichte. Mehrere Studienreisen führten ihn nach China. Er verfasst Belletristik, Lyrik und Essays, des weiteren Biographien und Fachtexte zu den unterschiedlichsten Themen. Er lebt in Wolfsburg.

Frank Rudolph praktiziert verschiedene europäische und asiatische Kampfkünste. Gemeinsam mit Maik Albrecht gründete er das Albrecht-Rudolph Institute of Martial Arts Research (ARIOMAR).

Maik Albrecht (links) und Frank Rudolph.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Die Autoren

Vorbemerkungen

Das Für und Wider zu diesem Buch

Gedanken zum Thema Selbstschutz

I. Über den Umgang mit Gewalt

Der Stellenwert der Gewalt in der Gesellschaft

»Gewinnen ist eine Angewohnheit«

Das Prinzip der Biene

Kampfgeist

Kein Ausweg als Weg

Das Tier in uns wecken

Chinesische Impressionen

Fürchte nicht den mächtigen, sondern den kleinen Gegner

Das Dao des Cleaners

Gewalt im Alltag

Dominanz

Schicksal und Pflicht

Das Schicksal

Die Pflicht

Kenne die Konsequenzen

II. Der Gewalttäter

Kenne den Gegner

Wie ein Schläger entsteht

Rhetorik und Erscheinungsbild

Aufbau eines Rufes

Aufbau einer Gang

III. Grundlagen des Selbstschutzes

Schütze dich selbst

Zwei Phasen

Vorbeugung

Das Selbstbewusstsein

Das magische Schwert

Die Sprache

Die Mimik

Die Körpersprache

Die eigenen Schwächen und Stärken

Aufmerksamkeit

Defensive Aufmerksamkeit

Offensive Aufmerksamkeit

IV. Der Kampf

Erkenne die Anzeichen

Angriff ist die beste Verteidigung

Chancengleichheit

Vermeide lange Kämpfe

Lerne aus der Geschichte, nicht von Geschichtenerzählern

Die gute Nachricht

Fallen und Finten

Händeschütteln

Etwas fallenlassen

Der Austerntrick

Der Zeigetrick

Der »Schwerhörige«

Verschiedene Gesten

Der Nahbereich

Kämpfen lernen, ohne es zu lernen

Distanzen im Kampf

Der Bodenkampf

Kampf gegen mehrere Gegner

V. Das Training für den Kampf

Die für den Selbstschutz wesentlichen Eigenschaften

Die Grundkomponenten des Trainings

Strategie oder das mentale Training

Die Bedeutung einer guten körperlichen Verfassung

Physisches Training

Kraftaufbau

Training für die Sinne

Die Augen

Die Ohren

Abhärtungstraining

Vorbemerkung

Abhärtungstraining mit Partner

Abhärtungstraining allein

Techniktraining

Technik und Taktik

Techniken für das Agieren

Techniken für das Reagieren

Möglichkeiten des Schlagens, Stoßens, Tretens und Blockierens

Die Hammerfaust

Abwehr bogenförmiger Schläge

Waffen

Der Stock

Schlagverstärker

Das Messer

VI. Zivilcourage – Sollten wir dem anderen helfen?

Drei Optionen

Mögliche Folgen von Zivilcourage

VII. Kampfsport, Kampfkunst und Kampf

Sind Kampfkünste und Selbstverteidigungskurse sinnvoll?

Erfahrung und Können

Das Dilemma der modernen Zeit

Essay: Emotionen – Aggressoren und Warnsysteme

Quellenverzeichnis

Fußnoten

Befasse dich mit der Gewalt, oder die Gewalt befasst sich mit dir.

Vorbemerkungen

Das Für und Wider zu diesem Buch

Dieses Buch wurde in der Absicht verfasst, Menschen, die gegen ihren Willen mit Gewalt konfrontiert werden, Möglichkeiten aufzuzeigen, in einem realen Kampf zu bestehen.

Der amerikanische FBI-Profiler John Douglas1 schrieb in seinem Buch Obsession sehr richtig: »Geradezu jedes Verbrechensopfer, dem ich begegne, und jeder, der durch ein Verbrechen betroffen ist, bestätigt mir, dass er sich sehr schnell gezwungen sah, sich möglichst eingehend mit dem Phänomen der Kriminalität zu beschäftigen, sich über unser Rechtssystem zu informieren und darüber, welche Haltung die Gesellschaft zu Verbrechern und ihren Opfern einnimmt. Wir müssen uns also unbedingt mit fundiertem Wissen wappnen, bevor der Ernstfall eintritt, denn nur mit dem entsprechenden Wissen haben wir gewisse Chancen, unsere Lage zu verbessern. (…) Man muss all seine Anstrengungen nur auf den einen Gedanken richten, nämlich zu überleben

Ein realer Kampf ist immer gewalttätig. Wer sein Leben und seine Gesundheit schützen muss, sollte dies mit aller Macht tun, bis zur letzten Konsequenz. Doch verlieren kann man trotzdem. In einem Kampf ist man immer auf sich allein gestellt. Das Buch ist weder ein Ersatz für die eigenen Bemühungen noch für eigenes Denken. Uns ist auch bewusst, dass die Gefahr besteht, dass potentielle Gewalttäter die hier geschilderten Techniken missbrauchen. Dagegen ist jedoch kein Buch gefeit, das praktisches Wissen über den Kampf vermittelt.

Viele der in diesem Buch beschriebenen und dargestellten Dinge sind nach den Gesetzen der meisten Länder – nicht zuletzt auch nach den deutschen Gesetzen – unter bestimmten Umständen strafbar. Das gilt es zu wissen. Sich selbst schützen kann nur, wer in der Lage ist, die gegen sich ausgeübte Gewalt im Ansatz zu stoppen oder ihr mit überlegener Gewalt zu begegnen.2 Dieser Grundsatz hat sich seit Jahrtausenden bewährt. Was nutzt es, sich brav an Gesetze und gesellschaftlichen Konventionen gehalten zu haben, wenn man tot ist oder für den Rest des Lebens ein Krüppel?

Techniken und Methoden, wie wir Sie Ihnen in diesem Buch vermitteln, sind kein »Spielzeug«. Gehen Sie verantwortungsbewusst damit um. Wir wollen an dieser Stelle betonen, dass es nicht der Sinn des Buches ist, Sie zu ermuntern, das Gelernte um jeden Preis erproben zu wollen. Besteht die Möglichkeit, Gewalt aus dem Weg zu gehen, so nutzen Sie diese unbedingt. Auch Weglaufen vor Gefahr ist nicht im geringsten »unehrenhaft«. Und im Zweifelsfalle ist es immer besser, das »Gesicht« zu verlieren, als das Leben. Es gehört zu den wesentlichen Dingen, die wir Ihnen vermitteln wollen, dass Sie Gefahr bereits im Ansatz erkennen und damit die Möglichkeit haben, angemessen zu reagieren. Aber: Wenn die einzige angemessene Möglichkeit, Gewalt zu begegnen, im Einsatz von eigener Gewalt besteht – also wirklich im äußersten Notfall –, dann müssen Sie dazu in der Lage sein, dies ohne zu zögern und auf effektive Weise zu tun; das heißt, Sie müssen bessere Chancen haben, den Kampf zu gewinnen, als Ihr Gegner. Wie dies zu erreichen ist, stellt ebenfalls einen wesentlichen Bestandteil dieses Buches dar.

An den Beginn der einzelnen Kapitel haben wir Berichte gestellt, die nach verschiedenen Gesichtspunkten, zum Beispiel Zeit, Ort und Intelligenz im Zusammenhang mit Gewalttaten, geordnet sind. Diese Berichte beschreiben reale Verbrechen und sollen Ihnen ein Gefühl dafür vermitteln, wie bedrohlich und unberechenbar unsere Gesellschaft sein kann. Und sie sollen Ihnen klar machen, was passieren kann, wenn Sie sich nicht wehren bzw. wenn Sie unaufmerksam durchs Leben gehen.

Gedanken zum Thema Selbstschutz

Befasse dich mit Gewalt, oder die Gewalt wird sich mit dir befassen. Dieses Leitmotiv unseres Buches ist keineswegs provozierend gemeint, sondern ganz nüchtern und realistisch. Wir huldigen nicht der Gewalt, wir verdammen sie aber auch nicht, denn Gewalt ist Teil unseres Lebens. Gewalt kann unter Umständen die einzige Lösung eines Problems sein.

Die Geschichte hat gezeigt, dass es einzelne Menschen geben kann, die sich der Gewalt konsequent und erfolgreich verweigern. Aber eine Gesellschaft ohne Gewalt hat es nie gegeben.

Viele Menschen – und nicht zuletzt viele Kampfsportler – sind der Ansicht, dass man sich erst wehren sollte, wenn die Gewalt schon zum Ausbruch gekommen ist. Es gilt als unmoralisch, einem Angriff zuvorzukommen, d. h., selbst mit der Gewalt zu beginnen, wenn man ihr nicht aus dem Weg gehen kann. Das ist jedoch eine sehr gefährliche und wenig realistische Sichtweise. Besser ist es, die Gewalt im Ansatz zu stoppen, mit der einzigen Macht, die hierfür taugt: Gewalt.

Für sich anbahnende Gewalt gibt es für gewöhnlich deutliche Anzeichen. Wir werden Ihnen in diesem Buch erläutern, woran Sie erkennen, ob ein Angriff unmittelbar bevorsteht und Sie reagieren müssen. Wenn ein Schläger Sie angreift, kann es bereits zu spät zur Gegenwehr sein. Jegliche Empörung über ein solches Konzept wäre Naivität oder Heuchelei. Die Hunderten Verletzten und Getöteten der letzten Jahre, die allein in Deutschland das Opfer ihres Zauderns, ihres Leichtsinns oder auch ihrer unüberlegten Zivilcourage wurden, sprechen eine eigene Sprache. Die Tatorte liegen in unseren Städten, in unserer Nachbarschaft. Jeder, der nicht bereit ist, in die Opferrolle zu schlüpfen, der nicht Gewalt durch andere erleben möchte, sollte dieses Buch als Kampfansage verstehen. Wir werden uns wehren, mit allen Mitteln!

Wir möchten in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass Gewalt nicht nur im negativen Sinne angewandt werden kann, sondern auch für gute Dinge, den Schutz eines Menschenlebens zum Beispiel. Genau darum geht es uns hier. In der Öffentlichkeit wird Gewalt oft mit Anarchie und Zerstörung gleichgesetzt. Doch eine allzu pazifistische Einstellung nützt häufig nur denen, die sie ausnutzen, um anderen zu schaden. Wenn man Pazifismus aber so versteht, dass man alles tun wird, um den Frieden zu bewahren, schließt dies die Anwendung von Gewalt zwangsläufig mit ein. Würde es wirklich immer ein realistischer Ausweg sein, dass der Klügere in einem Streit nachgibt, hätte Hitler den Krieg gewonnen und die USA hätten Vietnam besetzt. Tibet hat sich klug verhalten … und ist heute ein Teil Chinas. – Der Klügere schützt sein Leben. Nichts anderes hat die Natur für uns vorgesehen.

Terence Hill1 hat einmal gesagt, er halte es für Heuchelei, wenn in einem Film Gewalt dargestellt werde, die Produzenten aber beteuerten, sie seien gegen Gewalt und würden nur zeigen, wie es auf der Welt zugehe. Gewiss hat der Schauspieler nicht unrecht. Es hilft in der Tat niemandem, immer und immer wieder mit Gewaltszenen konfrontiert zu werden. Aber auch die Produzenten liegen nicht falsch. Gewalt ist Teil des Lebens. Unsere Gesellschaft wurde auf Gewalt gegründet und wird durch eine Machtbalance aufrechterhalten. Ob es nötig ist, Gewalt in unzähligen Filmen zu verherrlichen, ist eine andere Frage. Fakt ist jedoch, sie ist faszinierend, und wir alle geraten immer wieder in ihren Bann. Das ist Teil unseres evolutionären Erbes. Wir Menschen bewundern Gewalt, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht. Wir werden von primitivem, instinktivem Verhalten angezogen wie die Motten vom Licht.

Wie ein Kampf verläuft, hängt stets von verschiedenen Faktoren ab. Sein Ausgang kann nicht vorausberechnet werden. Es kann tatsächlich alles geschehen. Selbstschutz ist nicht planbar. Gehen Sie niemals davon aus, dass etwas erwartungsgemäß verläuft. Damit schützen Sie sich vor unangenehmen Überraschungen. Und solche Überraschungen können vielfältig sein. Es ist nicht leicht, alle Unwägbarkeiten im Blick zu behalten. Wenn sich beispielsweise Dritte einmischen, wenn Ihr Gegner die härtesten Schläge unbeeindruckt aufnimmt, oder wenn schwere Verletzungen ins Spiel kommen, egal ob bei Ihnen oder Ihrem Gegner, dann kann man aus dem Gleichgewicht geraten. Sollten Sie in derartigen Situationen Nerven zeigen, kann das den Kampfverlauf zu Ihren Ungunsten beeinflussen. Bei einem harten Gegner beispielsweise sollte man flexibel sein und entweder nachsetzen oder den Kampf abbrechen und fliehen. Wenn Sie einem fixen Plan folgen, sind Sie nicht mehr flexibel. Für Ihren Schutz ist das denkbar ungeeignet. Helmuth von Moltke, einer der größten Feldherren in der deutschen Geschichte, brachte das Problem auf den Punkt: »Kein Plan überlebt die erste Feindberührung«.

Pläne für den Kampfverlauf sind demzufolge unsinnig, nicht jedoch eine planmäßige, systematische Vorbereitung auf die Begegnung mit der Gewalt. Hier müssen Sie im Gegenteil sehr genau sein. Verschließen Sie nicht die Augen vor Gewaltberichten. Spielen Sie Szenarien im Kopf durch, einmal aus der Sicht des Angreifers und einmal aus der Sicht des Opfers. Wenn Sie sich in der Opferrolle nicht wohl fühlen, was anzunehmen ist, dann überlegen Sie sich Strategien, wie Sie dieser Rolle entkommen oder besser gar nicht erst in eine solche hineingeraten.

In diesem Buch erläutern wir verschiedene Strategien und Taktiken für den Selbstschutz. Wir zeigen, was man tun kann und in einigen Fällen auch tun sollte, doch bleibt es Ihnen überlassen, das für Sie Wichtige und Notwendige herauszufiltern. Eines sagen wir aber nachdrücklich: Jede Situation ist anders, und Erfolgsgarantien kann es nicht geben. Der Kampf ist eine sehr dynamische Angelegenheit mit vielen unbekannten Faktoren.

Die Gewalt wird nicht verschwinden, wenn Sie Ihre Augen davor verschließen. Sie ist Teil dieser Welt und ganz sicher ein Teil von uns selbst. Je besser wir sie verstehen, desto besser können wir mit ihr umgehen.

Mabuni Kenei, ein alter Karatemeister, der ein sehr ursprüngliches Karate vertritt, welches als Selbstverteidigungssystem und nicht als Sport betrieben wird, schrieb das Folgende: »Hinsichtlich der Ausbildung kämpferischer Fähigkeiten gibt es häufig Missverständnisse. In Situationen realen Kampfes gerät man im normalen Alltagsleben relativ selten. Dennoch, die Gewalttätigkeit hat in jüngerer Vergangenheit wieder zugenommen. Selbst in Japan, einer der sichersten und diszipliniertesten Gesellschaften der Welt, kam es in den letzten Jahren zunehmend in öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf Straßen zu völlig unprovozierten Angriffen oder zur Eskalation von Konflikten. Man sollte sich demzufolge darauf einstellen, dass man selbst in gewaltsame Auseinandersetzungen einbezogen oder zum Kämpfen gezwungen wird, um Familienmitglieder oder Freunde zu schützen. Der beste Weg, mit solchen Situationen fertig zu werden, war schon immer, dem Angriff des Gegners auszuweichen und ihn daraufhin an empfindlichen Stellen zu treffen, um damit Zeit zu gewinnen und weglaufen zu können. An dieser Stelle muss ich einräumen, dass Meister des Karate, wie ich selbst einer bin, sich Tag für Tag in einem Bujutsu-Karate schulen, das die Grenzen der Selbstverteidigung überschreitet. Und Kampftechniken, die die Grenzen der Selbstverteidigung überschreiten sind, geradeheraus gesagt, Techniken zum Töten von Menschen. Aber man möge dabei bedenken, dass man, wenn man solche Techniken übt, grundsätzlich nichts anderes tut als Soldaten, die sich Tötungstechniken zur Verteidigung ihres Vaterlandes, des Landes ihrer Vorfahren, aneignen. Die Techniken zur ‚minimalen’ Selbstverteidigung, also jene Techniken, die nicht den Tod des Gegners bezwecken, wurden demzufolge aus Techniken zum Töten von Menschen entwickelt.«2 Und an anderer Stelle schrieb er: »Meister Miyahira Masahide, der als Meister des Okinawa-te anerkannt war, soll sich einmal darüber beklagt haben, dass man im Karate trotz langjährigen Trainings nicht zum realen Kampf komme: ‚Ich verstehe nicht, wozu man eigentlich Karate lernt. Das ist doch Vergeudung.’ Wahrscheinlich hatte er selbst gar nicht wahrgenommen, wie sich sein Charakter in der langen Zeit des Studiums entwickelt hatte. Das Ergebnis einer solchen Entwicklung ist stets eine Persönlichkeit, die das Karate gar nicht mehr als Mittel des Kampfes braucht.«3

Es mag auf den ersten Blick paradox klingen, doch ein Mensch, der in dem Sinne trainiert, wie Mabuni es beschreibt – und wie wir es Ihnen in diesem Buch, auch wenn es darin nicht um Karate geht, nahelegen –, wird weniger wahrscheinlich je mit realer Gewalt konfrontiert werden, als ein Mensch, der sich nie ernsthaft mit dem Thema Gewalt befasst hat. Wir werden im Buch noch ausführlich auf die Frage der Opferrolle zu sprechen kommen. An dieser Stelle nur soviel: Jemand, der sich selbst gewohnheitsmäßig als (potentielles) Opfer betrachtet, hat eine bestimmte Ausstrahlung, die Gewalttäter deutlich wahrnehmen können. Schläger suchen bevorzugt nach solchen Menschen. Jemand, der sich nicht als potentielles Opfer empfindet, der selbstsicher auftritt, ohne zu provozieren, wird seltener überfallen werden. Genau das besagt auch das Leitmotiv dieses Buches, das wir an den Anfang dieses Kapitels gestellt haben.

Fallberichte 1 – Ort

Übergriffe können überall stattfinden. Man ist nirgends vollkommen sicher. Daher gibt es keinen Ort, an dem Wachsamkeit nicht angeraten wäre.

2007 – In Aachen stieß ein 33-jähriger Mann eine Frau vor einen heranfahrenden Zug. Diese wurde überrollt und getötet.

2009 – In Wuhan, China, wurde ein Mann auf der Toilette erstochen. Der Täter wartete den Moment ab, in dem sein Opfer wegen der heruntergelassenen Hose nicht fliehen konnte, und stach dann zu.

2009 – In Lengerich, Emsland, griff ein 32-jähriger Mann seine Frau auf der Toilette an. Er brach ihr an der Schüssel die Halswirbel und ertränkte sie dann im Becken.

2010 – Ohne Vorwarnung wurde eine Frau in Frankfurt am Main auf dem U-Bahnsteig von mehreren jungen Männern angegriffen. Sie schlugen erst auf die Frau ein und stießen die 20-jährige dann auf die Gleise. Die Frau überlebte.

2011 – In Sarstedt bei Hannover wurde am Neujahrstag ein 35-jähriger Mann in seinem Auto erschossen. – Die Täter warteten an einer Ampel, bis diese auf Rot schaltete. Dann näherten sie sich dem Wagen und schossen mehrfach durchs Seitenfenster.

2011 – Wegen eines Streits um die Reihenfolge in der Warteschlange vor dem Gemeinschaftsklo erschoss im November in Moskau ein Mann den Freund seines Nachbarn.

I. Über den Umgang mit Gewalt

Der Stellenwert der Gewalt in der Gesellschaft

Es ist interessant zu beobachten, wie sich in der Geschichte der Stellenwert der Gewalt geändert hat, ohne dass sich indes etwas an der allgemeinen Situation geändert hätte. Das fängt im Grunde schon vor den ersten Aufzeichnungen in der Menschheitsgeschichte an. Immer war Gewalt vorhanden und wurde als Mittel zur Problemlösung akzeptiert.

Im indischen Arthashastra, das vor etwa 2300 Jahren geschrieben wurde, geht man soweit, Empfehlungen und Methoden für das Töten der Mitbewerber um die Macht auszusprechen.1 Das betraf auch die eigenen Geschwister. Das hört sich für uns sehr grausam an, gewiss. König Ashoka (ca. 304 - 232 v. Chr.), der sich mittels dieser Methode den Thron des Reiches verschaffte, bereute später seine Taten und wurde einer der friedfertigsten Herrscher der Weltgeschichte. Jedoch versäumte er es nicht, überall mittels Grenzmarken ebenso klar wie drohend darauf hinzuweisen, wo sein Einflussbereich begann.

Das Arthashastra hat viel Ähnlichkeit mit dem chinesischen strategischen Denken einiger Philosophen und Feldherren wie Sūnzǐ (ca. 545 - 470 v. Chr.) oder Cao Cao (ca. 155 - 220), der formulierte: »Betrüge lieber die Welt und die Menschen, als dass die Menschen und die Welt dich betrügen

Auch die berühmten 36 Strategeme (siehe Fußnote 45 auf Seite 52) lassen mitunter Menschenfreundlichkeit vermissen. Sie sind pragmatisch für die Lösung spezieller Probleme ausgelegt. Wenn ein Mensch das Problem ist, wird zur Beseitigung desselben geraten. Jedes Mittel, wenn es denn hilfreich ist, wird empfohlen. Ein alter Spruch aus Europa belegt, wie sehr ein derartiges Denken in der Vergangenheit verbreitet war. Er lautet: »Ist der Mensch die Krankheit, ist der Tod die Medizin

Der Athener Kleon2 sagte treffend: »Es ist unmöglich – und wer es glaubt, ist sehr einfältig –, den Menschen von den Handlungen, zu denen er sich nun einmal von der Natur getrieben fühlt, durch den Druck der Gesetze oder durch andere Schreckmittel abzubringen

Die griechische Schwerathletik und die römische Gladiatur waren alles andere als zimperlich. Der Tod wurde in der Antike immer in Kauf genommen. Bei der Gladiatur war er Teil des Wesens dieser Spiele. Es wurde erwartet, dass ein schlechter Kämpfer mit seinem Blut bezahle. Unterliegen durfte er durchaus ungestraft, wenn er nur tapfer war. Aber wehe ihm, er verstand es nicht, sich zu wehren. Die Römer waren in diesem Punkt sehr entschieden.

Die ritterlichen Zweikämpfe des Mittelalters waren in der Anfangszeit nicht viel friedfertiger als die Gladiatur. Zwar war der Tod von einem der Kämpfer nicht unbedingt beabsichtigt, aber wenn er umkam, dann wurde das gleichmütig in Kauf genommen. Die Krieger des Mittelalters wurden von der Kirche gebremst, aber nur dann, wenn sie ihre Kampfkraft zum eigenen Vergnügen oder zum Schaden der Kurie verschwendeten. Ging es gegen äußere Feinde, besonders gegen Nichtchristen, dann gab es keine Schranken für die Gewalt. Bei der Eroberung Jerusalems 1099 töteten die Kreuzfahrer fast die gesamte Einwohnerschaft. 110 Jahre später, im Jahre 1209, ereignete sich etwas Ähnliches bei den Albigenserkriegen. Nur dass es hier gegen »ketzerische« Christen, die Katharer, ging. Kurz vor der Eroberung der Stadt Béziers wiesen einige Feldherren darauf hin, dass es schwierig werden könnte, zwischen Katholiken und Katharern zu unterscheiden. Daraufhin verkündete der katholische Legat Arnaud Amaury: »Tötet sie alle. Gott wird die Seinen schon erkennen

In der Renaissance blühte der Meuchelmord. Das war keine neue Idee, aber nun löste man häufiger damit Probleme, als durch richterliche Schiedssprüche. Spanier und Italiener perfektionierten den Meuchelmord. Er wurde geradezu zu einer Kunstform erhoben.

Jahrhunderte hindurch wurde das Duell als akzeptable Form der Konfliktlösung betrachtet. Auch wenn diese Duelle nach festen Regeln abliefen und die Duellanten sich höflich zueinander verhielten, so war es doch nur ein Weg, einen Gegner durch Gewalt umzubringen, ohne dabei mit dem Staat in Konflikt zu geraten, der ansonsten Gewalttätigkeit außerhalb von Kriegen verbot.

Heute wird oft heute suggeriert, dass Gewalt keine Lösung für Probleme sei. Der Staat versucht, die Gewalt in der Öffentlichkeit durch massive Überwachung einzudämmen. Ob dies sinnvoll ist, ist zumindest fraglich.3 Wenn es wirklich einmal hart auf hart kommt, dann ist höchstwahrscheinlich niemand da, der Ihnen beistehen wird. – Wehren Sie sich mit allen Mitteln! Es gibt keinen Grund, Schuldgefühle gegenüber einem Angreifer zu empfinden, wenn dieser durch Ihre Notwehrhandlung zu Schaden kommt. Der Angreifer ist derjenige, der für den Kampf verantwortlich ist, niemand sonst.

Wir möchten an dieser Stelle aber nochmals betonen, dass man sich im Klaren darüber sein muss, dass man mit aktivem Selbstschutz leicht in eine rechtliche Grauzone geraten kann. Zwar existiert ein Notwehrparagraph, und selbst die Überschreitung der Notwehr, wenn diese aus Angst oder Verwirrtheit geschieht, wird für gewöhnlich nicht geahndet. Aber niemand kann sich letzten Endes darauf verlassen, dass ein Richter seine Notwehrlage auch als solche anerkennt. Tatsache ist jedoch, dass es unmöglich ist, sich mit Zurückhaltung und Bedenken gegen einen skrupellosen Angreifer zu schützen.

»Gewinnen ist eine Angewohnheit«

Dieser Spruch stammt von Vince Lombardi.1 Er verweist mit knappen Worten auf den Kern der Sache. Gewinnen muss man wollen. Es spielt dabei keine Rolle, ob man einen Kampf am Ende tatsächlich gewinnt oder nicht. Wenn man aber die Möglichkeit eines solchen in Betracht zieht, sollte man auch gewinnen wollen. Ohne diesen unbedingten Willen ist es nicht ratsam, sich auf Gewalt einzulassen. Doch auch wenn Sie bereit sind, sich darauf einzulassen, sollten Sie sich der Gefahren bewusst sein. Es ist immer möglich, dass Sie während eines Kampfes verletzt oder getötet werden. Und auch nach einem erfolgreich bestandenen Kampf drohen unter Umständen große Gefahren: Sie könnten das Opfer eines Racheakts werden, oder Sie werden zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil Sie aus Sicht des Richters unverhältnismäßig auf eine Bedrohung reagiert haben.

Hinzu kommt der Aspekt des Gewissen. Falls Sie gezwungen waren, den Gegner zu töten – selbst wenn das Recht dabei auf Ihrer Seite war –, bleibt abzuwarten, ob Sie damit umzugehen verstehen. Der beste Weg ist und bleibt der, sich, soweit es geht, von körperlicher Gewalt fernzuhalten, obwohl wir fairerweise zugeben müssen, dass man diese Gewalt oft nur verstehen lernt, wenn man sich mit ihr direkt befasst, d. h., wenn man Auseinandersetzungen nicht immer aus dem Weg geht. Doch Gewalt erzeugt grundsätzlich Gegengewalt. Rache und Vergeltung sind starke Motivationen. Und die Situation kann derart eskalieren, dass Sie als Einzelner keinen ausreichend Schutz vor der Gewalt mehr finden können.

Früher, vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, war es oft so, dass Straßenschläger sich nach einem Kampf die Hände reichten. Man sah das Ganze in einem sportlichen Sinne. Von roher Gewalt hatten die Menschen damals mehr als genug. Doch wir sind vergesslich. Bereits in den 60ern nahm man es mit der Fairness nicht mehr so genau. In den letzten Jahren hat die Gewaltbereitschaft potentieller Gewalttäter ein Maß erreicht, das kaum noch steigerbar zu sein scheint.2

Geht es um Gewalt und Gegengewalt, zählt nur noch das Recht des Stärkeren beziehungsweise des Gewalttätigeren. Um sich einen Vorteil zu schaffen, muss man in vielen Fällen einfach zuerst zuschlagen, nachsetzen und alles an Zerstörungskraft auf den Gegner niederprasseln lassen, was in den eigenen Kräften steht, vor allem, wenn man es mit einem offenkundig kampferprobten Gegner zu tun hat. Das bedeutet auch, dass wir im Falle eines Angriffs geistig sofort auf Kampf umschalten.

Im Vorfeld eines Kampfes ist jeder Trick, jede List zulässig. Seien Sie freundlich, verlegen, ängstlich, schüchtern, wenn es Ihrem Ziel, den Konflikt zu gewinnen, dienlich ist. Führen Sie den Gegner mit falschen Emotionen hinters Licht. Die meisten Schläger verwechseln Freundlichkeit mit Schwäche. Dann, wenn es die Situation erfordert, schalten Sie um. Werden Sie rücksichtslos und brutal. Gute Türsteher und erfolgreiche Schläger kennen sich mit den menschlichen Emotionen besser aus als mancher Psychologe. Die alten Chinesen prägten für diese Herangehensweise einen klugen Spruch: »Verstecke das Messer hinter einem Lächeln.« Diese Art des hinterlistigen Kampfes ist tatsächlich uralt. Je rücksichtsloser und hinterlistiger Sie vorzugehen bereit bist, desto freundlicher und bescheidener können und sollten Sie auftreten. Wer häufig mit Gewalt konfrontiert wird, dem gelingt es oftmals nur schwer, die Maske der Freundlichkeit aufzusetzen. Aber eine herausfordernde Haltung bringt einem letztendlich nur umso mehr Herausforderungen ein. Viele Meister der Kampfkünste befanden sich in diesem Dilemma. Sie bauten sich einen Ruf auf, um potentielle Angreifer abzuschrecken und mussten dann oft gerade deswegen kämpfen.

Umgekehrt bedeutet dies auch, sich stets ein gesundes Misstrauen zu bewahren, wenn jemand sich ohne erkennbaren Grund Ihnen gegenüber freundlich und zuvorkommend verhält. Naivität kann in solch einer Situation sehr gefährlich sein. Es kann geschehen, dass auf diese Weise nur Ihre Aufmerksamkeit abgelenkt werden soll, und im nächsten Augenblick sind Sie plötzlich das Opfer eines Raubüberfalls. Viele Diebesbanden gehen so vor.

Im Grunde geht es bei all dem um Anpassungsfähigkeit. Halten Sie sich stets alle Möglichkeiten offen, soweit dies machbar ist. Bleiben Sie so flexibel, wie es geht.

Für Gewalttäter gibt es keine Regeln und Grenzen. Der Kampf mit ihnen kann demzufolge auch nicht wie im Schulunterricht gelehrt werden. Aus diesem Grund funktionieren so viele Kampfsportarten bei einer Schlägerei auf der Straße nur selten. Deren Techniken sind an das Umfeld der Sporthalle angepasst. Sie haben sich im Laufe der Zeit verändert, wurden entschärft und vielfach sogar ästhetischen Vorstellungen unterworfen. Die ursprünglichen Bewegungen der alten Kampfkünste sind hingegen knapp, ohne Schnörkel und nur auf Wirksamkeit ausgerichtet. In der Tat erkennt man zwischen den Kampfbewegungen eines Schlägers und denen eines traditionell ausgebildeten Kampfkünstlers oft keinen Unterschied. Das hat den Vorteil, dass diese natürlichen Bewegungen »leicht zu merken« sind. Sie werden vom Körper als natürlich empfunden, da sie eben nicht künstlich anerzogen wurden. Während eines Kampfes brauchen Sie daher nicht zu überlegen, ob Ihre Technik »korrekt« ist oder nicht. Sie wird funktionieren, wenn Sie gewillt sind, sich zu schützen.

Selbstschutz ist heute genauso notwendig wie vor tausend Jahren. Angegriffen konnte man damals und kann man heute werden. Aber die Bequemlichkeiten und die scheinbare Sicherheit der modernen Zeit lassen uns dies vergessen. Zwar werden wir mit unzähligen Gewaltberichten in den Medien konfrontiert, aber die meisten von uns haben das Gefühl, dass sie so etwas gar nicht betreffen kann. Wir blenden die Gefahr aus oder verharmlosen sie zumindest. Das ist gefährlich, denn wir bereiten uns nicht mehr energisch genug auf einen möglichen Angriff vor. Der Staat, so gut er auch insgesamt für seine Bürger sorgen mag, ist machtlos bei einem gegen Sie gerichteten Angriff. Die Staatsmacht ist nicht da, wenn wir auf offener Straße, bei Tag oder Nacht, angegriffen, schwer verletzt oder getötet werden. Je besser der Staat zu sein scheint und je demokratischer seine Ausrichtung, desto weniger werden Sie vor Übergriffen durch Gewalttäter sicher sein. In autoritären Regimes wirkt die vom Staat ausgeübte Gewalt, die massive Präsenz von Polizei und Militär der Gewalttätigkeit Krimineller wirksamer entgegen, als dies in Demokratien der Fall ist. Doch der Preis für die höhere Sicherheit ist die Beschränkung der persönlichen Freiheiten.

Verlassen Sie sich nur auf sich selbst, wenn es um Ihre Sicherheit geht. – Gewinnen ist eine Angewohnheit … Es liegt vollkommen bei Ihnen, wie Sie mit einer realen Gefahr von Seiten anderer Menschen umgehen. Das Motto für die Art des Kämpfen, die wir für sinnvoll halten, lautet: »Agiere, wenn du kannst; reagiere, wenn du musst.« Beim ersten Anzeichen einer gegen Sie gerichteten Gefahr müssen Sie der Bedrohung zuvorkommen. Lassen Sie sich niemals das Heft aus der Hand nehmen. Ergreifen Sie vor ihrem Kontrahenten die Initiative, machen Sie seine Vorteile zunichte. Es kann natürlich sein, dass ein erheblicher Unterschied in Ihrer Biographie und der Ihres Angreifers existiert. Sie sind vielleicht von Natur aus friedfertig, und das kriminelle Milieu ist Ihnen völlig fremd. Ihr Gegner hat dagegen vielleicht schon Jahre hinter Gittern verbracht. Damit haben Sie wahrscheinlich einen gut motivierten und umfassend trainierten Kämpfer vor sich. Denn das Gefängnis dient vielen Insassen in dieser Hinsicht als »Schule«. Werden sie entlassen, sind sie oft gefährlicher als vorher. Sie sind häufig voll Hass, haben nur wenige Skrupel, aber dafür haben sie viel Erfahrung darin gesammelt, wie sie friedfertige Leute noch besser terrorisieren können als zuvor. Sollten Sie von einem derartigen Zeitgenossen angegriffen werden und bringen nicht die nötige Entschlossenheit zur Gegenwehr mit, dann haben Sie verloren.

Vergessen Sie, wenn Sie bedroht werden, aber jeglichen Vorsatz in Bezug auf Ihre Techniken. Techniken lassen Sie nachdenken. Vergessen Sie auch alles, was Sie über die Verhältnismäßigkeit der Mittel gehört haben.3 Das würde Sie in die Defensive zwingen. Während eines gegen Sie gerichteten Übergriffs haben Sie keine Zeit, über solche Aspekte nachzudenken. Lassen Sie das Tier in sich los. Oder anders ausgedrückt: Ihre Gegengewalt muss die gegen Sie verübte seelische oder körperliche Gewalt noch überbieten.

In einem Kampf auf Leben und Tod können Sie sich keine Skrupel erlauben.4 Aber woher soll man wissen, ob man sich mit allen Mitteln schützen muss oder ob es sich bloß um eine normale Rauferei handelt? Nun, das herauszufinden ist recht einfach. Entweder Sie üben sich im Kämpfen, und wenn Sie das nicht wollen oder können, dann verlassen Sie sich auf Ihre Instinkte. Meist werden Sie damit richtig liegen. Aber um es noch einmal klar auszudrücken, für einen im Kämpfen mehr oder weniger unerfahrenen Menschen kann sich eine bewusste Situationsanalyse fatal auswirken. Die Sekunden, die Sie benötigen, um sich angemessen zu entscheiden, sind vielleicht die letzten Ihres Lebens. Gehen Sie kein Risiko ein. Das heißt zum Beispiel: Greift man Sie mit einem Faustschlag an, kontern Sie mit einem Handkantenschlag auf die Halsschlagadern Ihres Kontrahenten und zwar mit doppelter Wucht und Aggressivität.5 Wer das für übertrieben hält, dem halten wir entgegen, dass der Angriff mittels Faustschlag meist nur der Auftakt ist und dass manche Schläger, wenn sie erst die Oberhand gewonnen haben, eine geradezu unglaubliche Brutalität entwickeln und selbst reglos am Boden liegende Opfer noch mit Fußtritten traktieren, und dies ohne die geringsten Hemmungen. Wenn man die Gewalt nicht im Ansatz neutralisiert, hat man oft keine Chance mehr dazu. Wer will also entscheiden, was für unser eigenes Leben das Beste ist? Das kann niemand, weder ein Richter, noch ein Staatsanwalt oder ein Polizist. Wir persönlich fänden es sehr vermessen, wenn uns jemand vorschreiben wollte, wie und mit welchen Mitteln wir uns verteidigen dürfen. Wenn wir angegriffen werden, dann haben wir jedes natürliche Recht, unser Leben zu schützen. Kommt unser Kontrahent dabei zu Schaden, ist dies nicht unsere Schuld. Er hätte eben seine Finger von uns lassen müssen.

Wir geben zu, dass es im größten Teil der Welt die meiste Zeit über friedlich zugeht. Auch in unserem Land mit seinen über 80 Millionen Einwohnern gibt es verhältnismäßig wenige »Entgleisungen«. Dieser Zustand ist lobenswert, doch trügerisch. Wir verlernen heute im Großen und Ganzen, uns auf uns selbst zu verlassen, auf unsere Sinne und Instinkte zu vertrauen. Es gab sicher nicht viele Zeitpunkte in der Geschichte, in denen wir Kurse und Seminare besuchen konnten und mussten, in denen wir dieses Auf-uns-selbst-vertrauen von Grund auf erlernen müssen. Jahrtausendelang war das eine reine Selbstverständlichkeit. Soldaten, Krieger und auch Jäger der früheren Tage bekamen leicht ein Gespür für die Situation. Sie erkannten Gefahren, ehe sie sich manifestierten. Wir hingegen bekommen kaum noch etwas von dem mit, was sich um uns herum abspielt. Funakoshi Gichin6 sagte einst: »Unglück geschieht immer aus Unachtsamkeit«. Das können wir unterschreiben.

Das Prinzip der Biene

Eine Biene sticht, wenn sie angegriffen wird oder wenn sie sich bedroht fühlt.1 Dass sie dafür sterben muss, ist der Preis, den sie dafür zahlt. Dieses Verhalten ist wirklich interessant, da die meisten wehrfähigen Insekten keinen so hohen Preis für ihre Verteidigung zahlen. Auf den Menschen übertragen heißt das, wir sind friedlich, solange wir nicht bedroht werden. Aber falls man uns angreift, nutzen wir jedes zur Verfügung stehende Mittel zu unserem Schutz, wenn es sein muss, unter Einsatz des eigenen Lebens.

Um sich selbst zu schützen, benötigt man eigentlich keine gezielte Ausbildung. Jeder Mensch hat das Rüstzeug für die Verteidigung und den Angriff von der Natur mitbekommen. Aber aufgrund der vielen Bequemlichkeiten im Alltag hat sich der moderne Mensch vom »Normalfall« weit entfernt. In diversen Selbstverteidigungskursen wird suggeriert, dass jeder, wenn er nur ein paar einfache Tricks lernt, sich wirksam verteidigen könne. Das ist leider ein Wunschtraum.