Andreas Eschbach

AQUA

marin

Roman

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1. Auflage 2015
© Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Einbandgestaltung: Frauke Schneider
ISBN 978-3-401-80475-0

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1

Sie warten auf mich, das sehe ich sofort. Wie sie da stehen, am Ende des langen glitzernden Fischbeckens vor Thawte Hall, kann es überhaupt keinen anderen Grund geben.

Am liebsten würde ich mich umdrehen und weglaufen. Alles in mir schreit danach, genau das zu tun. Aber das wäre der größte Fehler, den ich machen könnte, denn dann wüsste Carilja, dass sie mich besiegt hat.

Also gehe ich weiter, als wäre nichts, gehe direkt auf sie und ihr Gefolge zu.

Es ist ein Donnerstag, kurz nach halb elf Uhr – oder 44 Tick, wie man außerhalb unserer Zone sagt. Donnerstag, der 4. November 2151, um exakt zu sein. Der Himmel ist strahlend blau. Es wird ein heißer Tag werden, Vorbote eines grandiosen Sommers, der vor uns liegt. Ein Geruch nach Algen erfüllt die Luft. Vom Hafen her hört man das Quietschen der Ladekräne und die Rufe der Männer, die dort arbeiten, doch in diesem Moment unterstreichen diese Geräusche nur das unnatürliche, bedrohliche Schweigen, dem ich entgegengehe.

In mir verkrampft sich alles. Sie werden gemein zu mir sein, wie immer. Ich weiß noch nicht, was genau mich heute erwartet. Ich weiß nur, dass es mir nicht gefallen wird.

Es gibt keinen anderen Weg, den man nehmen könnte. Das Schulgelände erhebt sich wie eine Trutzburg auf dem Felsvorsprung, der den Hafen vom Stadtstrand trennt, und das Tor ist der einzige Zugang. Das Tor und der Plattenweg dahinter, der zwischen der Strandmauer links und Thawte Hall rechts zum Schulhof führt, wo ich in Sicherheit wäre.

So gehe ich an dem Becken entlang, das mir seit meinem ersten Tag an der Schule unheimlich ist. Ich erspähe eine Gruppe Clownfische darin, rot, schwarz und weiß gestreift, die wirken, als verfolgten sie gespannt, was nun gleich geschehen wird.

Vielleicht geschieht gar nichts. Ich tue so, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, dass Carilja mit ihren ergebenen Freunden hier herumlungert, werfe ihnen nur einen superkurzen Blick zu und versuche, ohne ein Wort an ihnen vorbeizugehen. Wenn ich den Hof erreiche, bin ich gerettet, denn dort sind jetzt gerade alle anderen und auch die Lehrer, die Aufsicht führen.

Aber natürlich klappt das nicht. Carilja stellt sich mir in den Weg und fragt: »Na? Gut geschlafen?«

Was soll ich darauf sagen? Sie fragt das ja nicht, weil sie sich um mein Wohlergehen sorgt – nichts läge ihr ferner –, sondern weil sie und die anderen donnerstags in den ersten drei Stunden Sport haben, und zwar Schwimmen oder irgendetwas anderes, das mit Wasser zu tun hat und von dem ich aus medizinischen Gründen befreit bin. Ich hätte bis zehn Uhr ausschlafen können, wenn ich gewollt hätte. Tatsächlich stehe ich donnerstags aber auf wie jeden Tag und hole in der freien Zeit irgendwelche Lektionen nach. Heute habe ich für den Chinesischtest gelernt, der uns kommende Woche erwartet.

In einem letzten Versuch, der Konfrontation zu entgehen, murmle ich »Ging so« und will mich links an ihr vorbeidrücken.

Sie versperrt mir den Weg ein weiteres Mal. »Bleib gefälligst stehen, wenn ich mit dir rede, Fischgesicht!«

Nicht Saha. Nur die Lehrer nennen mich bei meinem Namen. Meine Schulkameraden nennen mich Fischgesicht.

Falls sie mich überhaupt zur Kenntnis nehmen. Mir ist es lieber, sie tun es nicht.

Ich trete einen Schritt zurück und presse meine Tafel gegen die Brust, obwohl ich natürlich weiß, dass mich das vor nichts schützen wird. Aber ich habe nichts anderes.

Was ist überhaupt los? Warum ausgerechnet heute? Ist Carilja neidisch auf mich, weil ich freihatte und sie nicht? So dumm ist sie nicht, dass sie ein ganzes Schuljahr braucht, um das zu merken.

Zwei der Jungs aus ihrem Gefolge treten neben sie. Brenshaw, ihr Lover. Und Raymond, ihr treuer Diener.

Die anderen umringen mich von hinten. Keine Chance zu entkommen.

»Was willst du?«, frage ich.

Carilja verzieht den Mund. »Was ich will? Dein hässliches Gesicht nicht mehr jeden Tag sehen müssen. Das will ich.«

Wenn irgendjemand anderes das gesagt hätte, es hätte lächerlich geklungen. Aber es ist Carilja Thawte, die das sagt, und deswegen klingt es bedrohlich. Ihr Großvater hat Thawte Hall gestiftet, ihr Vater ist so etwas wie der König von Seahaven, folglich sieht sich Carilja als Kronprinzessin und denkt, dass ihr die Stadt gehört. Mindestens.

»Wenn dir mein Gesicht nicht gefällt«, sage ich trotzdem, »dann schau halt woandershin.«

Carilja ist nicht nur die Tochter reicher Eltern, sie ist auch schön wie ein Engel, mit blonden Haaren bis zur Hüfte und einem Körper, der alle Jungs in den Wahnsinn treibt. Sie war zweimal Schönheitskönigin von Seahaven, und bis auf Weiteres haben andere Mädchen nur dann eine Chance, wenn Carilja nicht antritt.

Das alles lässt ihr Haifischlächeln nur umso bedrohlicher wirken. »Das würde ich ja gern, stell dir vor«, sagt sie. »Aber ich muss einfach zu oft mit dir im selben Raum sein. Und außerdem, wenn ich woandershin schaue, kann es sein, dass ich deine komische Tante sehe.« Sie hebt die Hände und äfft etwas nach, was sie für Gebärdensprache hält.

Sie hat einen wunden Punkt bei mir getroffen, und das weiß sie genau. Ich weiß auch genau, dass sie das weiß, trotzdem kann ich nicht anders, als zu fauchen: »Lass meine Tante aus dem Spiel!«

Sie fuchtelt weiter mit den Händen. Ihr Gefolge lacht. »Normale Leute lassen es reparieren, wenn sie taubstumm sind.«

»Das geht bei meiner Tante nicht«, sage ich, obwohl ich weiß, dass das nicht das Geringste bringen wird. »Ihr fehlen die zugehörigen Nervenbahnen. Es ist ein Geburtsfehler.«

Carilja lässt die Hände sinken. »Oh. Ein Geburtsfehler«, macht sie mich nach. »Die scheinen bei euch in der Familie zu liegen, Geburtsfehler.«

Das Gelächter nimmt zu. Ich weiß immer noch nicht, was das alles soll.

In dem Moment wird Carilja übergangslos ernst. »Pass auf, Fischgesicht«, sagt sie. »Wir werden dieses Problem lösen, und zwar ein für alle Mal.«

Sie zieht ihre Tafel aus der Tasche, sucht etwas darin und macht dann die Wischbewegung in meine Richtung, mit der man Dokumente überträgt. Meine Tafel, die ich immer noch vor die Brust gedrückt halte, gibt jenes klackernde Geräusch von sich, das ihren Eingang anzeigt.

Ich nehme sie herunter und schaue darauf. Carilja hat mir zwei Formulare geschickt.

»Was soll das?«, frage ich.

»Das sind Anmeldeformulare für die Fachschulen in Weipa und Carpentaria«, sagt Carilja. »Man kann nach der zweiten Stufe Aufbauschule abgehen. Das machen viele. Als Qualifikation für eine Fachschule reicht das. Die werden dich nehmen, gute Noten hast du ja.« Sie sagt das geringschätzig, so, als seien gute Noten nichts Wichtiges. Was sie in ihrem Fall ja auch nicht sind. Carilja könnte das ganze Jahr ausschlafen, solange sie will, und würde die Schule trotzdem mit einem Abschluss verlassen, den sie nie im Leben brauchen wird.

»Warum sollte ich das tun?«, frage ich verdutzt. Was Carilja nämlich lässig unterschlägt in ihrer Zukunftsplanung für mich, ist, dass ich mir damit die Chance verbauen würde, je im Leben auf eine Hochschule zu gehen. Das kann man nur, wenn man alle vier Stufen der Aufbauschule absolviert hat.

»Warum du das tun sollst?« Carilja bringt ihr engelhaftes Gesicht dicht vor meines. »Weil ich es dir sage. Weil ich dein Fischgesicht nicht mehr länger sehen will. Weil wir alle dein Fischgesicht nicht länger sehen wollen.« Sie rümpft die Nase. »Weil du dir auf die Weise eine Menge Ärger ersparen wirst.«

Ohne dass ich es kommen sehe, stößt sie mich von sich weg. Ich pralle gegen Raymond, der mich ebenfalls wegstößt, und im Nu werde ich von einem zum anderen gestoßen, ohne dass ich etwas dagegen machen kann. Alle lachen und johlen.

Und dann stolpere ich plötzlich, ist auf einmal kein Boden mehr da, wo ich hintrete. Ich falle, falle ins Leere, falle ins Wasser. In das Wasser, das ich unbedingt meiden muss.

Kalt und nass umschlingt es mich, zerrt mich unbarmherzig in die Tiefe. Der blaue Himmel über mir weicht kochendem Silber, das höhnische Gelächter geht in dumpfem Rauschen und Gluckern unter. Ich kann nicht schwimmen, rudere nur hilflos mit den Armen, spüre Luftblasen aus meinem Mund aufsteigen. Ein jäher Schmerz an meiner Seite, als sei etwas gerissen, lähmt mich, während ich auf den Grund sinke. Über mir sehe ich die wild hin und her zuckenden Konturen von Gestalten, die sich über das Becken beugen – und sich dann abwenden und verschwinden.

Sie lassen mich im Stich. Sie wissen genau, dass ich nicht schwimmen kann, doch es kümmert sie nicht.

Ich sollte Todesangst haben, aber ich habe keine. Mir ist, als könnte ich unter Wasser atmen. Ein paar der Clownfische tauchen vor meinem Gesicht auf und beäugen mich neugierig. Ich will etwas sagen, was eine schlechte Idee ist, denn mit einem Schlag strömt Wasser in meinen Mund und meine Nase, und dann wird alles schwarz um mich herum.

Als ich wieder erwache, liege ich in einem Bett und sehe eine blaue Zimmerdecke über mir. Der Raum ist seltsam kahl, hat Milchglasfenster und kommt mir bekannt vor. Doch es dauert eine Weile, bis mir einfällt, dass dies die Ambulanz ist, in einem Seitenbau von Thawte Hall, vom Hof wie von den Sportanlagen her schnell zu erreichen.

Ich liege unter einer dünnen weißen, chemisch sauber riechenden Decke. Darunter bin ich nackt. Unwillkürlich ziehe ich mir die Decke bis zum Kinn hoch. Wer hat mich ausgezogen? Und wo sind meine Sachen?

Ich suche in meiner Erinnerung, die noch nicht so richtig aufgewacht zu sein scheint. Ich war offenbar bewusstlos, aber ich habe keine Ahnung, wie lange. Außerdem erinnere ich mich daran, wie mich starke Hände packen und emporziehen, wie jemand schreit – ich selbst womöglich – und wie jemand sagt: »Ups, das war wohl zu viel.« Und wie ich erneut in Dunkelheit versinke.

Ich taste mich ab. Alles noch da. Das Laken hat ein paar nasse Stellen und einer meiner Verbände hat sich gelöst. Ich drücke ihn fest, was natürlich keine Lösung ist; ich werde ihn zu Hause erneuern müssen.

Da öffnet sich die Tür. Es ist Doktor Walsh, der seine beträchtliche Gestalt hereinschiebt. Er trägt einen weißen Kittel und lächelt wohlwollend.

»Na, Saha Leeds«, sagt er und schaltet an der Wand über mir irgendein Gerät aus. »Wieder unter den Lebenden?«

Doktor Walsh ist kein besonders guter Arzt, sonst hätte er eine andere Stelle bekommen als diese. Aber er strahlt zuverlässig blendende Laune und Zuversicht aus, was bei fast allem, was an einer Schule passieren kann, heilsam genug ist.

»Wie lange war ich weg?«, frage ich, die Decke immer noch am Kinn.

»Weg?«, fragt er amüsiert. »Du warst nicht weg. Du warst die ganze Zeit hier.«

»Ich meine, wie lange war ich bewusstlos?«

»Du hast nur geschlafen. Ich habe dir ein Beruhigungsmittel gespritzt, auf das du stärker reagiert hast als erwartet.« Er zieht ein Stethoskop aus der Tasche. »Ich hab schon viele aus den Fluten ziehen müssen, aber so viel Wasser wie du hat mir noch niemand über die Schuhe gespuckt, das kann ich dir sagen. Das war richtig beeindruckend.« Er winkt mit seiner fleischigen Hand. »Ich möchte nachsehen, ob etwas dringeblieben ist. Setz dich mal auf.«

»Ich hab nichts an«, erwidere ich mit einer Stimme, die in meinen Ohren kläglich klingt.

»Natürlich nicht«, erwidert Doktor Walsh und die Spitzen seines rotblonden Schnurrbarts zucken amüsiert. »Du warst ja klatschnass. Frau Alvarez hat dich ausgezogen und deine Sachen in den Trockner gesteckt.«

Ich schlucke unbehaglich. »Und wer hat mich gerettet? Herr Alvarez?« Herr und Frau Alvarez sind die Hausmeister der Schule. Beide sind, nun ja, eher unheimliche Erscheinungen. Man möchte ihnen ungern sein Leben verdanken.

Doktor Walsh blinzelt kurz. »Er hat dich herausgezogen. Aber dein Glück war, dass ein Junge gesehen hat, wie du reingefallen bist, und den Notruf ausgelöst hat.«

»Ein Junge?«, hake ich nach. »Wer?«

»Ich hab den Namen vergessen.« Doktor Walsh setzt die Ohrbügel ein. »Darf ich jetzt bitten? Den Rücken.«

Schicksalsergeben setze ich mich auf, mir die Decke vor den Körper haltend, und befolge seine Anweisung, kräftig durch den Mund ein- und auszuatmen. Er hört meine Lungen gründlich ab, was so lange dauert, dass mir von der ganzen Atmerei schwindlig wird. Ich bin erleichtert, als er endlich sagt: »Gut. Alles frei.« Erleichtert vor allem, weil ich ihm nicht auch noch meine Brust entblößen muss.

Wobei es bei mir im Grunde nichts zu sehen gibt. Mein Busen ist nicht der Rede wert, und Tante Mildred meint, wenn er mit sechzehn nicht größer ist, dann wächst er auch nicht mehr wesentlich.

In dem Punkt hat Carilja recht: Ich bin ziemlich hässlich.

Doktor Walsh nimmt die Ohrbügel heraus und tippt auf einen der Sprühverbände, die meinen Oberkörper zieren und jetzt aussehen, als klebten mir lange glasige Würmer auf der Haut. »Das da«, sagt er. »Sind das diese Wunden, die in deinem Attest erwähnt sind?« Er steckt das Stethoskop wieder ein. »Ich habe vorhin deine Akte gelesen.«

Das Thema ist mir unangenehm. Ich wäre auch ohne diese Dinger unansehnlich genug. Ich nicke und sage »Ja«.

»Und die heilen nicht?«, fragt Doktor Walsh neugierig.

»Nein. Ich muss sie nach jedem Duschen mit einem Sprayverband abdecken.« In Wirklichkeit mache ich das nur an den Stellen, an denen er sich löst, denn diese Sprays sind schrecklich teuer.

»Lass mal sehen.«

Widerwillig hebe ich den linken Arm und lüfte die Decke so weit, dass er die ganze Pracht vor sich hat: fünf Schlitze, jeweils zwei Fingerbreiten voneinander entfernt, die sich vom Rücken schräg bis nach vorn ziehen, leicht nach unten gerichtet.

»Auf der anderen Seite sieht es genauso aus«, erkläre ich. »Symmetrisch.«

Tatsächlich dürften meine Brüste gar nicht größer sein, als sie sind, sonst kämen sie mit den Schlitzen in Konflikt. Und wie das dann aussähe, das will ich mir lieber nicht ausmalen.

»Im Attest steht, dass es ein Unfall war«, sagt Doktor Walsh. »Wie muss man sich das vorstellen?«

Ich nutze die Gelegenheit, mich rasch wieder zuzudecken. Ich hasse es, diese alte Geschichte zu erzählen, aber ich muss wohl. »Ich bin als Baby einem Gartenpflegeroboter in die Quere gekommen. Meine Mutter hat mich gerade noch rechtzeitig weggerissen, sonst hätte der mich wahrscheinlich in Scheiben geschnitten.« Ich habe keine wirkliche Erinnerung daran, aber man hat mir das alles so oft erzählt, dass es mir vorkommt, als würde ich mich erinnern. »Der Roboter hatte Klingen aus Kobaltstahl. Verletzungen damit heilen praktisch nicht.«

»Kobaltstahl?«, wiederholt Doktor Walsh beeindruckt. »Das hab ich ja noch nie gehört.« Er lacht gutmütig auf. »Eine faszinierende Geschichte. Hat man denn nie versucht, die Wunden zu vernähen?«

»Doch«, sage ich. Wenn man genau hinschaut, sieht man entlang der Schlitze in meiner Haut feine weiße Punkte, die davon zeugen. »Aber das hat nichts gebracht. Da hat sich dann innen etwas entzündet. Mein Kinderarzt damals hat gemeint, es ist besser, ich mache es so. Mit dem Sprayverband. Und nicht ins Wasser gehen.«

Die Tür öffnet sich erneut. Frau Alvarez kommt herein, hager, lautlos, ganz in wehendes Schwarz gekleidet. Unheimlich eben. Sie bringt meine Sachen, getrocknet und ordentlicher zusammengelegt, als ich es je hinbekäme. Oben auf dem Stapel liegt meine Tafel.

Frau Alvarez bemerkt meinen Blick. »Die lag auch im Becken«, sagt sie mit ihrer dünnen Stimme, die klingt, als hätte sie Stimmbänder aus Eisendraht. »Ich habe sie mitgetrocknet. Sie funktioniert noch.«

»Danke«, murmele ich.

»Wie ist das passiert?«, will sie wissen. Ich sehe Doktor Walsh blinzeln; wahrscheinlich fällt ihm gerade ein, dass er völlig vergessen hat, das zu fragen.

Mir ist das ganz recht. Auf diese Weise habe ich genug Zeit gehabt, mir darüber klar zu werden, dass es vollkommen zwecklos wäre, Carilja Thawte anzuschwärzen. Deswegen sage ich nur: »Ich weiß es nicht mehr. Ich bin halt irgendwie reingefallen.«

»Was heißt irgendwie?«, hakt Doktor Walsh streng nach. »War dir schwindlig? Machst du womöglich eine von diesen Diäten, die gerade in Mode sind?«

»Nein«, versichere ich wahrheitsgemäß. Mir ist völlig klar, dass ich durch Abnehmen nicht schöner werden kann.

»Bestimmt nicht? Das erleben wir hier ständig. Mädchen denken, sie seien zu dick, essen so gut wie nichts mehr und fallen im unpassendsten Moment ohnmächtig um.«

»Meine Tante meint, ich fresse ihr noch die Haare vom Kopf«, behaupte ich.

»Gut«, sagt Doktor Walsh. Er und Frau Alvarez sehen einander an und nicken einträchtig, als müssten sie bekräftigen, wie gut sie das finden. »Dann würde ich mal sagen, wir lassen dich jetzt alleine, damit du dich in Ruhe anziehen kannst. Danach gehst du nach Hause und ruhst dich aus.«

Ich nicke nur. »Heißt das, ich hab Chinesisch und Mathe verpasst?«

Doktor Walsh lächelt so wohlwollend, wie es niemand sonst kann. »Ich habe deine Lehrer über den Unfall informiert und dich entschuldigt. Deswegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«

»Danke«, sage ich und mache mir trotzdem welche.

»Ach ja – falls dir heute Nachmittag schlecht oder schwindlig werden sollte, rufst du mich bitte sofort an. Klar?«

Ich verspreche es, dann gehen die beiden. Im Hinausgehen dreht sich Doktor Walsh noch einmal um und fragt: »Kobalt, richtig?«

»Was?«, erwidere ich verdutzt.

»Es waren Klingen aus Kobaltstahl?«

Ach so. »Ja«, sage ich.

Er nickt, lächelt. »Wieder was gelernt.« Dann zieht er die Tür hinter sich zu.

Es ist kurz vor Schulschluss, als ich das Gelände verlasse. Noch zwei Minuten, ehe sie aus dem Hauptgebäude strömen werden, lachend und schreiend, tausend Schüler, die hier tagsüber zusammengepfercht sind. Viele von ihnen sind mit Fahrrädern oder Swishern da, die in dichten Reihen unter einem Blechdach beim Tor geparkt stehen. Überall in der Stadt werden sie unterwegs sein, schneller als ich, und ich habe keine Lust, auch nur einem von ihnen zu begegnen. Also wende ich mich unmittelbar nach dem Tor nach rechts, steige über die niedrige Brüstung entlang der Strandstraße und schlage mich in das Gestrüpp, das zwischen der Mauer um das Schulgelände und dem Felsabhang zum Stadtstrand hin wächst.

Dort suche ich mir einen Platz, wo man mich nicht sieht und wo ich trotzdem Sicht auf den Strand habe. Ich darf zwar nicht ins Wasser, aber das heißt nicht, dass ich nicht gerne aufs Meer schaue. Das mache ich sogar außerordentlich gerne. Obwohl man mir beigebracht hat, das Meer zu meiden, mag ich es. Zu sehen, wie die Wellen kommen und gehen, und dabei die Brandung zu hören, ist etwas, das eine geradezu magische Wirkung auf mich hat. Es beruhigt meine Seele, und das ist genau das, was ich jetzt brauche.

Ich finde einen Fleck, auf dem ein bisschen Gras wächst und nichts von dem Abfall liegt, den manche trotz ausdrücklichen Verbots über die Mauer werfen, und setze mich hin. Ich merke jetzt erst, dass ich zittere. Der Schock kommt mit Verspätung. Das Entsetzen, dass Carilja und ihr Gefolge mich meinem Schicksal überlassen haben, obwohl sie genau wissen, dass ich nicht schwimmen kann. Wie lässt sich Feindschaft deutlicher demonstrieren? Carilja hätte offensichtlich nichts dagegen, wenn ich tot wäre.

Ich berge meinen Kopf in meine Arme und schließe die Augen. Mein ganzer Körper zittert, und eigentlich warte ich darauf, dass mir die Tränen kommen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich mich nach einer Attacke irgendwo verkrieche und in mich hinein weine. Aber heute passiert das seltsamerweise nicht.

Stattdessen muss ich wieder an den Moment denken, kurz bevor ich unter Wasser das Bewusstsein verloren habe. An den Moment, in dem ich dachte, ich könnte das Wasser atmen. Und daran, dass ich in diesem Moment ganz friedlich war, geradezu heiter. Dass ich das Gefühl hatte, nun könne mir niemand mehr etwas anhaben.

Mir wird unheimlich, als ich daran zurückdenke. War ich dem Tod schon so nahe, dass ich Halluzinationen hatte? Oder habe ich den Tod in diesem Moment womöglich willkommen geheißen? War das so etwas wie ein Ruf? Eine Sehnsucht?

Ich erschrecke über meine eigenen Gedanken, hebe den Kopf und atme scharf ein. Nein! Diesen Weg werde ich auf keinen Fall wählen. Das könnte Carilja so passen.

Ich reibe mir die Augenwinkel, aber da sind immer noch keine Tränen. Stattdessen entdecke ich Doktor Walsh, der beschwingt die Strandstraße hinabspaziert, in seinem leinenweißen Sommeranzug, einen geflochtenen Sonnenhut auf dem Kopf. Doktor Walsh ist nicht verheiratet, und er scheint diesen Zustand zu genießen, wie er überhaupt sein ganzes Leben genießt. Um diese Zeit geht er in seinen Club, wo er jeden Tag zu Mittag isst und sich anschließend eine Zigarre genehmigt, wie man riechen kann, wenn man ihm nachmittags begegnet.

Sein Club ist der Princess Charlotte Club, benannt nach dem alten Namen der Bucht, auf die Seahaven blickt. Früher, als Australien noch ein sogenannter »Staat« war und ein König im fernen England dessen Oberhaupt, hat die Equilibry Bay so geheißen: Princess Charlotte Bay.

Man kann das Clubhaus von hier aus sehen. Es ist ein unscheinbares Gebäude über dem Strand, auf dunklen Stelzen errichtet gegen Fluten, die schon lange nicht mehr kommen. Die Terrasse steht voller Sonnenschirme in den Farben Weiß, Blau und Rot, den Farben der Fahne Großbritanniens. Der Club legt sehr viel Wert auf Traditionspflege. Tradition ist in unserer Zone zwar generell ein großes Thema, aber im Club sind sie regelrecht besessen davon. Das fängt schon damit an, dass das Clubhaus älter ist als die Stadt selbst: Es ist ein ehemaliger Außenposten aus Zeiten, als diese Gegend hier noch Top North Queensland hieß und so gut wie unbewohnt war, ein unwegsames Dschungelgebiet voller Sümpfe und Moskitos. Bevor sich das Klima im letzten Jahrhundert so drastisch gewandelt hat, natürlich.

Ich habe nur eine verschwommene Vorstellung davon, wo Großbritannien überhaupt liegt und wie es aussieht. Das Thema Europa haben wir nur flüchtig behandelt. Mir fällt dazu vor allem ein, dass die Jahreszeiten auf der Nordhalbkugel der Erde genau umgekehrt sein sollen wie bei uns. Dass die Menschen dort im Dezember Winter haben, manche sogar mit Eis und Schnee! Das kommt mir irgendwie unglaublich vor, obwohl ich natürlich schon Fotos davon gesehen habe. Und Sommer ist dort im Juli, wenn hier Regenzeit ist.

Das Clubhaus sieht unscheinbar aus vor dem Hintergrund all der prächtigen, schneeweißen, in der Sonne leuchtenden Villen auf dem Middle Cap, der Landzunge auf der gegenüberliegenden Seite des Stadtstrands, die allgemein nur »der Goldberg« genannt wird und an deren äußerster Spitze das feudale Anwesen der Thawtes liegt. Trotzdem ist der Club das Herz und Zentrum der Gegend, denn eine Villa auf dem Goldberg kann man kaufen, eine Mitgliedschaft im Club nicht: Dafür braucht man Empfehlungen anderer Clubmitglieder. Doktor Walsh ist sehr stolz darauf, zu den Auserwählten zu gehören.

Er ist zwar nicht reich und schön auch nicht, aber er gehört dazu.

Ich gehöre nicht dazu. Nirgends. Das ist mein Problem.

Mittlerweile ist es still geworden. Sie sind alle weg, über dem Schulgelände liegt unwirkliche Ruhe. Mein inneres Zittern ist verschwunden. Ich stehe auf, klopfe mir den Staub von der Hose. Es hat gutgetan, hier zu sitzen, dem Rauschen des Meeres zuzuhören und meinen Gedanken nachzuhängen. Aber jetzt wird es Zeit, nach Hause zu gehen.

2

Tante Mildred wuselt in der Küche herum, als ich ankomme, und ist ganz aufgekratzt vor guter Laune. Ihre Handzeichen sind so wuschig, dass ich sie kaum verstehe.

Heute scheint jeder guter Laune zu sein, nur ich nicht.

Schließlich stampfe ich mit dem Fuß auf und schreie: »Was ist denn los, verdammt?« Sie kann mich zwar nicht hören, aber das Vibrieren des Bodens spürt sie. Sie hält inne, schaut mich an und ich wiederhole mit den Händen: Was ist los?

Ich habe uns Lammbraten gemacht, erklärt Tante Mildred in Gebärdensprache. Mit Kartoffeln und Wildlimonen. Und einen Nachtisch!

Jetzt rieche ich es. Lammbraten? An einem ganz normalen Wochentag? Wir leisten uns selten öfter als ein-, zweimal im Monat Fleisch, und wenn, dann kein Lamm.

Hat jemand Geburtstag?, frage ich.

Tante Mildred schüttelt lächelnd den Kopf. Nein. Aber es gibt etwas zu feiern.

Was denn?

Heute vor sechs Jahren sind wir in Seahaven angekommen.

»Oh«, entfährt es mir. Na großartig. Da hat sich Carilja ja genau den richtigen Tag für ihre Attacke ausgesucht.

Mir graut davor, Tante Mildred zu erzählen, was passiert ist. Irgendwann werde ich es tun müssen, daran führt kein Weg vorbei, denn Frau Alvarez wird sie bestimmt darauf ansprechen, wenn sie sie das nächste Mal sieht. Und das nächste Mal, das kann schon heute Abend sein, wenn meine Tante wieder alle Toiletten der Schule putzt, wie sie es an jedem einzelnen verdammten Wochentag dieser sechs Jahre getan hat.

Aber nicht jetzt. Nicht wenn sie sich gerade so freut.

Weißt du noch?, fängt sie an zu erzählen, als wir am Tisch sitzen. Ihre Finger tanzen geradezu. Wie wir umhergezogen sind? Diese Woche hier, nächste Woche woanders? Du hattest einen Rucksack und ich einen Koffer. Mehr nicht. Du warst in so vielen Schulen, immer nur kurz. Aber du hast trotzdem gute Noten. Ein Wunder.

Ich zucke mit den Schultern. Für mich ist das kein Wunder. Mir ist die Schule nie schwergefallen, und das, was man draußen in den freien Zonen für Unterricht hält, ist nur ein schlechter Witz.

Endlich hebt Tante Mildred den Deckel. Es hat schon gut gerochen, aber es sieht noch besser aus. Sie ist eine tolle Köchin, im Gegensatz zu mir, und vor allem versteht sie es, aus wenig viel zu machen. Der einzige Mangel, den ich erleide, ist der, dass Tante Mildred keinen Fisch mag. Auch keine Krustentiere, keine Algen, keine Muscheln, nichts, was aus dem Meer kommt. Während ich an manchen Tagen sterben könnte für ein gutes Sushi.

Wie immer häuft Tante Mildred mir die größten und besten Stücke auf den Teller. Ich muss irgendwann die Hände über den Teller halten und behaupten, sie wolle mich mästen, damit sie sich auch was nimmt.

Tante Mildred ist zu gut für diese Welt. Das ist ihr Problem.

Außerdem ist sie der einzige Mensch, den ich habe. Der einzige Mensch, der mich so akzeptiert, wie ich bin, und zu dem ich gehöre.

Irgendwie ist es nicht richtig, dass es nach dem, was heute passiert ist, so ein Festessen gibt. Aber ich habe auf einmal Hunger wie ein Bär nach einer Fastenkur. Ich haue rein und esse, und dass mir dabei ein paar Tränen in die Augen steigen, kann ich auf die scharfen Gewürze schieben.

Meine Tante sorgt für mich, seit meine Mutter gestorben ist, also schon ziemlich lange. Wenn ich sie mit einem einzigen Wort beschreiben müsste, würde ich sagen: müde. In jeder xbeliebigen Gruppe von Leuten wäre sie diejenige Frau, die am erschöpftesten aussieht.

Sie ist schlank, fast mager, und nur einen halben Kopf größer als ich. Und ich bin schon nicht besonders groß. Sie trägt ihre Haare mittellang, unauffällig geschnitten und so, dass sie nicht oft zum Friseur muss. Früher waren ihre Haare dunkelbraun, inzwischen ist die Hälfte von ihnen grau. In ihrem Gesicht haben sich tiefe Furchen eingegraben, die nicht mehr verschwinden werden. Sie ist irgendwas in den Vierzigern, aber sie sieht viel älter aus.

Nur in ihren Augen liegt manchmal ein glückliches Leuchten, das sie wieder jung wirken lässt. Jetzt gerade zum Beispiel.

Ihr Trick ist, sich zu weigern, zur Kenntnis zu nehmen, dass die meisten Leute von Seahaven auf sie herabsehen und sie praktisch keine Freunde hat. Was völlig verrückt ist, wenn man drüber nachdenkt: Putzfrauen sind sagenhaft schwer zu finden und sehr begehrt – trotzdem werden sie schlecht bezahlt und schlecht angesehen sind sie außerdem. Und das hier, in Seahaven, mitten in der größten neotraditionalistischen Zone Australiens, wo alle ständig von Menschenwürde, Menschenrechten und vom Leben nach menschlichem Maß schwafeln!

Leute wie wir wohnen natürlich nicht in der Nähe der Strände. Man hält uns abseits, damit die an Reichtum und Schönheit gewöhnten Bürger Seahavens unseren Anblick nicht öfter ertragen müssen als unbedingt erforderlich. Unser Zuhause ist ein keilförmiges Gebiet, das nur »die Siedlung« heißt und aus ein paar Reihen zweistöckiger Billigbauten besteht, versteckt hinter einem Waldstreifen aus Palmen und dichtem Gebüsch. Wir hören den Verkehr auf der Hauptzufahrtstraße. In südlicher Richtung liegt die Kläranlage, was bedeutet, dass man bei Südwind die Fenster geschlossen halten muss, egal wie heiß es ist. Und im Westen trennt uns ein Plastikdrahtzaun vom Naturschutzgebiet, aus dem uns immer wieder mal Ratten, Schlangen und ähnliche Tiere besuchen.

Ich schätze, dass kein einziger meiner Mitschüler je in der Siedlung war. Sie denken alle, es sei schrecklich, hier zu leben. Aber das stimmt nicht, tatsächlich sind die Reihenhäuser ganz gemütlich. Oder können es jedenfalls sein: Tante Mildred hat unsere Wohnung so kuschelig eingerichtet, dass es ohne Schule gar keinen Grund gäbe, sie zu verlassen. Da wir nur zu zweit sind, hat jeder von uns ein eigenes Zimmer. Was will man mehr? Ja, mein Zimmer ist winzig, aber es ist meines, und das allein zählt.

Die Nachbarn sind auch in Ordnung. Wahrscheinlich, weil sie alle in derselben Lage sind wie meine Tante: Hilfskräfte eben, von den Bürgern Seahavens benötigt, aber nicht geschätzt.

Mit Tante Mildreds Job an der Schule hat alles angefangen. Sie hat auf eine Annonce geantwortet und man hat sie engagiert. Die Toiletten zu putzen, das ist eine Arbeit, die sich weder Herr noch Frau Alvarez antun wollen. Solange Tante Mildred das übernimmt, darf ich die Schule besuchen, die als eine der besten gilt. Das ist der Deal.

Außer der Schule hat Tante Mildred noch private Kunden, bei denen sie tagsüber putzt. Donnerstag ist der einzige Tag, an dem sie mittags kocht und ich nicht in der Mensa essen muss, worüber ich heute sehr froh bin.

Ich habe eine neue Kundin, erzählt Tante Mildred, als wir beim Dessert ankommen, Schokoladenpudding. Frau Brenshaw hat sie mir vermittelt, heute Morgen.

Ich muss tief durchatmen. Ja, richtig. Donnerstagvormittag putzt sie immer bei Brenshaws, die eine der größten Villen auf dem Goldberg bewohnen. Tante Mildred ist äußerst begeistert von den Brenshaws. Wie traumhaft deren Anwesen ist. Wie großartig die Aussicht auf beide Strände. Wie gepflegt der Geschmack. Wie vornehm die Umgangsformen.

Die Umgangsformen. Na klar. Jon Brenshaw hat heute zusammen mit fünf anderen eine Mitschülerin, die nicht schwimmen kann, in ein Fischbecken geworfen und sich dann vornehm entfernt. Sehr vornehm.

Ich versuche zu lächeln. Schön.

Sie heißt Nora McKinney. Sie ist neu in Seahaven. Wohnt in der Straße am Stadtpark.

Ich nicke. Sie meint die Julia-Gillard-Road, will sich nur die Mühe mit dem Namen ersparen. Namen muss man buchstabieren, wenn man Handzeichen benutzt, das ist aufwendig.

Sie wird ab Januar die Hafenmeisterei leiten. Stell dir vor – sie spielt Go!

Jetzt verstehe ich ihre Begeisterung. Das chinesische Brettspiel ist Tante Mildreds ganze Leidenschaft. Hast du ihr gesagt, dass du auch Go spielst?

Na klar. Wir haben uns zu einem Spiel verabredet. Samstag.

Toll. Ich freue mich für meine Tante. Vielleicht wird sie damit endlich so etwas wie eine Freundin finden.

Im selben Moment fällt mir Carilja wieder ein. Es ist wie ein Stich in die Seite. Was soll ich nur tun? Seahaven verlassen zu müssen, würde Tante Mildred das Herz brechen, das ist klar. Auf der anderen Seite würde sie mich nie im Leben alleine in eine andere Stadt gehen lassen.

Also muss ich bleiben.

Ich weiß bloß nicht, wie ich die zwei Jahre, die noch vor mir liegen, überstehen soll.

Das Spülen nach dem Essen ist wie immer meine Sache. Tante Mildred würde das zwar auch noch übernehmen, wenn ich sie ließe, aber sie putzt schon genug; das könnte ich nicht mit ansehen. Deswegen tue ich so, als spülte ich rasend gern.

Und das Komische ist: Seit ich angefangen habe, so zu tun, als ob, macht es mir manchmal tatsächlich Spaß.

Heute genieße ich es sogar richtiggehend. Es hat etwas Beruhigendes, Teller, Besteck und Töpfe ins heiße Spülwasser zu tauchen und sauber zu schrubben; man kann dabei in aller Ruhe nachdenken. Und ich habe heute viel nachzudenken. Vor allem, wie ich Tante Mildred die Geschichte mit dem Fischbecken beibringen soll, ohne dass sie ausflippt.

Ich bin gerade an Schmortopf und kratze an festgebrannten Resten herum, als sie in die Küche tritt und erklärt: Ich muss heute früher los. Die Alvarez’ sind heute Nachmittag nicht da. Sie kommen erst morgen früh wieder. Ich muss die Flure und Klassenzimmer mit übernehmen.

Ich streife den Seifenschaum von den Händen und frage zurück: Weg? Wo denn?

Sie besuchen seine Mutter, in Cooktown, glaube ich. Und sie können unter der Woche ja nur donnerstags weg.

Das stimmt. An allen anderen Nachmittagen ist immer etwas, AGs meistens. Doch am Donnerstagnachmittag bleibt die Schule geschlossen. Eine Tradition, deren Herkunft im Dunkeln liegt, die aber trotzdem aufmerksam gepflegt wird. Zur Freude der Schüler.

Alles klar, signalisiere ich. Zwei Gedanken schießen mir durch den Kopf: Erstens, dass Tante Mildred für die zusätzliche Arbeit bestimmt keinen Cent extra bekommen wird. Alle wissen, dass man sie ausnutzen kann, und nutzen sie deshalb aus. Zweitens bin ich erleichtert, weil das bedeutet, dass ich es ihr heute noch nicht sagen muss. Ich rede mir ein, dass das eine glückliche Fügung ist, um ihr nicht die Freude an diesem Jahrestag zu verderben. Aber tief innen weiß ich, dass ich einfach feige bin.

Danach setzt sich Tante Mildred auf die winzige Terrasse vor der Haustüre, in den brüchigen Liegestuhl, den ich voriges Jahr vom Sperrmüll in der Oberstadt gerettet habe. Er füllt den Platz fast vollständig aus. Ich gehe auf mein Zimmer, Hausaufgaben machen.

Ich schalte meine Tafel ein und rufe die Aufgaben ab. In Mathematik haben wir nichts auf, aber Herr Black hat mir eine Notiz eingestellt, welche Kapitel ich lesen soll, um den Stoff von heute nachzuholen. Es geht immer noch um Logarithmen, die habe ich längst kapiert. Das ist in zehn Minuten erledigt.

In Chinesisch dagegen erwartet mich ein ganzer Berg an Aufgaben. Ich seufze. Chinesisch ist eine wichtige Sprache, unerlässlich für Handel, Politik und so weiter, klar. Aber warum machen sie es einem so schwer? Es könnte die einfachste Sprache der Welt sein – eine Sprache, die praktisch ohne Grammatik auskommt –, wären da nicht zwei Dinge: die seltsamen Betonungen der Silben, mit deren Nichtbeherrschung nach fünf Schuljahren wir Frau Chang regelmäßig in den Wahnsinn treiben – ja, und natürlich diese schrecklichen Schriftzeichen. Und die, die wir lernen, sind schon die reformierten! Ich will gar nicht wissen, wie schwierig das alles noch vor hundert Jahren gewesen sein muss.

In den anderen Fächern achte ich darauf, nicht zu gute Noten zu schreiben, um nicht als Streberin zu gelten. Doch in Chinesisch muss ich mich anstrengen. Zu schlechte Noten wären ein Grund, mich von der Schule zu werfen. Und das darf ich Tante Mildred nicht antun.

Aber einen Vorteil hat das Ganze: Die Aufgaben nehmen mich so vollständig in Anspruch, dass ich alles um mich herum vergesse, auch das, was heute Vormittag vorgefallen ist.

Erst als Tante Mildred an der Tür klopft und hereinschaut, schrecke ich hoch. Sie hebt die rechte Hand und signalisiert mir, dass es Zeit für sie ist aufzubrechen.

Alles klar, gebe ich zurück.

Sie lächelt, offenbar immer noch glücklich darüber, schon sechs Jahre in Seahaven zu leben, der Stadt der Schönen und Reichen. Der Stadt, von der Carilja denkt, dass sie ihr allein gehört.

Hast du heute Abend Lust auf eine Partie?, fragt Tante Mildred. Ich muss trainieren für Samstag!

Klar, erwidere ich, obwohl wir beide genau wissen, dass ich kein Gegner für sie bin. Wollte sie wirklich trainieren, würde sie gegen das Go-Programm auf ihrer Tafel spielen.

Als ich unten die Haustüre zufallen höre, spüre ich ein Ziepen an der rechten Seite. Ich hebe das Hemd hoch, um nachzuschauen, und bin irgendwie nicht überrascht, dass sich ein weiterer Sprühverband gelöst hat. Wahrscheinlich gehen sie jetzt der Reihe nach ab. Da hilft nur, zu duschen und alle Verbände zu erneuern, sobald ich wieder trocken bin.

Ich gehe in unser Bad, das so winzig ist wie ein größerer Wandschrank, ziehe mich aus und pule die Verbände ab. Das ziept nicht wie sonst, im Gegenteil, die fleischfarbenen Klebstreifen kommen mir fast von selbst entgegen.

Ich betrachte mich im Spiegel und streiche über die Spalten an meinem Brustkorb. Sie fühlen sich eigentlich gar nicht wie Wunden an. Sie tun nicht weh oder so etwas, und ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass sie je wehgetan hätten. Abgesehen von diesem Versuch damals, sie zuzunähen. Das war wirklich schmerzhaft, auch danach noch, als man die Nähte wieder aufgeschnitten und den Eiter oder was es war, herausgewaschen hatte.

Aber das ist lange her. Damals hat meine Mutter noch gelebt.

Ich betrachte mich im Spiegel und versuche, meine Erinnerung daran, wie meine Mutter ausgesehen hat, mit dem Bild zusammenzubringen, das ich sehe. Ich glaube, ich habe ihre Haare. Sie sind braun und fallen mir locker auf die Schultern, genau wie bei ihr. Außerdem glaube ich, dass ich ihre Augen geerbt habe. Ich erinnere mich an dieses seltsame dunkle Grau, das ich auch habe. Auf den Fotos von ihr sieht man das nicht so genau, aber ich erinnere mich daran.

Aber der Rest? Diese platt gedrückte Nase? Dieser plumpe, muskulöse Körperbau? Inzwischen wüsste ich schon gerne, wen meine Mutter sich damals ausgesucht hat, aber sie hat niemals darüber gesprochen. Auch Tante Mildred, ihre große Schwester, zuckt nur verlegen mit den Schultern, wenn ich nach meinem Vater frage.

Ich trete unter die Dusche, spüle die Schlitze durch und wasche dann den Rest. Das Wasser, das über mein Gesicht läuft, ruft die Erinnerung an heute Morgen wach. Auf einmal ist es wieder ganz stark, dieses Gefühl, ich könnte das Wasser atmen. Ich drehe die Brause ab, steige klatschnass aus der Dusche und lasse das Waschbecken volllaufen, bis an den Rand.

Ich schaue mir im Spiegel noch einmal in die Augen und versuche zu erkennen, ob man mir ansieht, dass ich allmählich durchdrehe. Aber ich sehe aus wie immer.

Dann tauche ich den Kopf ins Becken, so tief es geht. Es läuft über, das Wasser platscht mir auf die Zehen, doch ich kümmere mich nicht darum. Stattdessen versuche ich, unter Wasser zu atmen.

Was natürlich nicht klappt. Das eindringende Wasser beißt in der Nase, erstickt mich halb, und ich komme prustend und keuchend wieder hoch.

Schwer atmend, die Arme auf den Beckenrand gestützt, bleibe ich stehen, bis mir nicht mehr schwindlig ist. Wieso mache ich das? Was ist nur los mit mir?

Ich trockne mich ab, wische den Boden auf. Dann hole ich die Dose mit dem Sprayverband aus der Schublade und verklebe die Schlitze an meinem Oberkörper wieder, ganz besonders sorgfältig.

Am nächsten Morgen steht meine Strategie fest: Ich muss noch unsichtbarer werden als bisher. Ich will so unauffällig werden, dass die anderen ganz vergessen, dass ich überhaupt da bin. Dann kann mir nichts mehr passieren.

Dieses Ziel verfolge ich, seit ich in Seahaven lebe. Mir fällt keine andere Strategie ein. Wenn sie nicht funktioniert, heißt das nur, dass ich sie besser verfolgen muss.

Ich habe ein Bild dafür, wie ich sein möchte: wie Rauch. Ich will mich bewegen wie sacht dahinziehender Rauch, unaufhaltsam, unauffällig, lautlos.

Heute ergänze ich diese Strategie durch den Entschluss, früher zu kommen, vor den anderen. In den oberen Klassen machen sich alle einen Sport daraus, möglichst erst in letzter Minute im Klassenzimmer einzutreffen; das kommt mir entgegen. Heute früh stehe ich schon eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn am Schulgelände, in meiner unauffälligsten grauen Hose und meinem schlabberigsten schwarzen T-Shirt, und warte, bis ein schwatzender, aufgedrehter Pulk Mittelschüler an mir vorbeizieht. Dann trete ich aus dem Schatten der Palme, bei der ich gewartet habe, und folge der Gruppe in ihrem Kielwasser. Ich bin Rauch, ich gleite dahin, niemand nimmt Notiz von mir.

Nachher, im Schulhof, halte ich mich abseits, in den dunklen Ecken. Ich mache keine großen Bewegungen, sage nichts, meide den Augenkontakt mit anderen. Man kommt gut ohne Augenkontakt durch den Tag, man braucht sich nur auf seine Tafel zu konzentrieren. Lehrer sehen das gern.

Allerdings sollte man auch damit nicht auffallen, sonst gilt man als Streber.

Es ist nicht leicht, unsichtbar zu sein.

Aber ich gelange ins Klassenzimmer, ohne dass mich jemand dumm anmacht, ohne dass jemand auch nur etwas zu mir sagt, vielleicht sogar, ohne dass mich jemand zur Kenntnis nimmt. So, wie es sein soll.

Mein Platz ist ganz hinten, außen am Fenster, wo mittags die Sonne hereinknallt und niemand gern sitzen will. Ich bin Rauch, mir macht das nichts.

Freitags haben wir in der ersten Stunde GKG, Gesellschaftskunde und Geschichte, bei Frau Dubois. In den Schulen der neotraditionalistischen Zonen ist es Brauch, jeden Tag zu Beginn der ersten Stunde die Prinzipien des Neotraditionalismus aufzusagen. Die meisten Lehrer erledigen das kurz und schmerzlos, aber Frau Dubois, die ihr Fach sehr ernst nimmt, nimmt es auch mit den Prinzipien sehr genau. Wie nach dem Lehrbuch stellt sie die klassischen Fragen und ruft jeweils einen Schüler auf in der Erwartung, dass der- oder diejenige antwortet wie aus der Pistole geschossen.

»Was ist Tradition?«, beginnt sie in jenem schwülstigpathetischen Ton, in den sie bei dieser Zeremonie immer verfällt. »Moran?«

Tradition ist die Summe aller Erfahrungen einer Kultur. Brant Moran weiß es nicht, stottert rum. Carlene Hardin, die Klassensprecherin, die neben ihm sitzt, hilft ihm aus der Klemme.

»Was heißt es, Tradition zu bewahren? Moreno?« Lisa Moreno antwortet bedächtig, aber korrekt: Nicht die Asche zu hüten, sondern die Flamme zu nähren.

Mich ruft Frau Dubois nicht auf. Sie weiß, dass ich alle Antworten geben kann. Außerdem glaube ich, es irritiert sie, weil man mir dabei wohl anhört, wie scheißegal mir ihre blöden Prinzipien sind.

»Warum müssen wir die Tradition bewahren? Stevenson?« Damit nicht jede Generation alle Fehler von Neuem macht. Lucinda antwortet mit geweiteten Augen. Sie hat immer große Angst, Fehler zu machen.

»Was ist Technik? Linwood?« Teil des menschlichen Lebens, seit der erste Mensch nach einem Stein gegriffen hat. Ich weiß sie alle, die Antworten, die im Lehrbuch stehen, und finde sie alle nichtssagend, belangloses, schwülstiges Blabla. Linwood fällt nur der erste Teil der Antwort ein, vermutlich, weil er noch bekifft ist von gestern Abend.

»Was heißt es, das menschliche Maß zu halten? Orr?« Danilo Orr antwortet endlich so zackig, wie sie es sich wünscht. Danilo befolgt die neotraditionalistische Lehre bis aufs i-Tüpfelchen. Das menschliche Maß ist gehalten, wenn die Technik dem Menschen dient, nicht umgekehrt.

»Wo verläuft die Grenze, ab der Technik uns nicht mehr dient?« Da, wo sie uns verändert, anstatt unser Werkzeug zu sein, damit wir so sein können, wie wir sind.

Meine Gedanken schweifen ab. Ich schaue aus dem Fenster, hinaus aufs Meer. Unser Klassenzimmer liegt im dritten Stock, ganz am vorderen Ende, von wo aus man nicht nur den Goldberg sieht, sondern auch das Westkap, das den Großen Strand auf der anderen Seite begrenzt und gleichzeitig den Beginn des Schutzgebiets markiert.

Und man sieht das Wrack.

So nennen es alle nur: das Wrack. Es hat, nachdem ich in Seahaven angekommen bin, drei Jahre gedauert, ehe ich zum ersten Mal jemanden den Namen des Schiffes sagen hörte: PROGRESS hieß es, ein riesiges kalifornisches Kreuzfahrtschiff, das vor über vierzig Jahren vor Seahaven auf ein Riff gelaufen und gekentert ist. Rund fünfzig Menschen sind dabei ertrunken.

Man hat danach erst einmal gestritten, ob man das Wrack heben kann und wenn ja, wie, und vor allem, wer für die Kosten aufkommen muss. Das zog sich ungefähr zehn Jahre lang hin, lange genug jedenfalls, dass sich der unter Wasser liegende Teil des Schiffes derweil in einen dicht bevölkerten Lebensraum für Korallen und Fische verwandelte. Nach den Regeln der neotraditionalistischen Zonen hieß das, dass das Wrack bleiben musste, wo es war. Seither ist es eine Art Insel aus Stahl, die da draußen vor sich hin rostet, ein riesiger metallener Fels, umschwärmt von Vögeln, die in den bis zu vierzig Meter hoch aufragenden rostigen Überresten brüten und die braunen, zerfallenden Streben vollkacken.

Wenn man allerdings unsere Lehrer reden hört, könnte man meinen, das Schiff sei eigens für uns dort installiert worden, als Mahnmal dafür, wie es einem ergeht, wenn man die Prinzipien des Neotraditionalismus missachtet. Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass ein Lehrer auf das Wrack zeigt und uns daran erinnert, dass das alles nur passiert ist, weil das Schiff übertrieben groß war und von einer lächerlich kleinen Besatzung geführt wurde, die zudem zum Zeitpunkt des Unfalls total zugedröhnt war. Der Kapitän, sein Steuermann und alle anderen hatten ein damals neues Mittel genommen, um ohne Schlaf auszukommen – auf Befehl der Reederei, was ihnen allen eine Gefängnisstrafe erspart hat. Man hatte sie gezwungen, 96-Stunden-Schichten zu arbeiten, nonstop, und dabei waren sie eben durchgedreht.

In den Metropolen, sagt man, werden solche Mittel heutzutage immer noch genommen. Sie sind nur besser geworden. Die Leute drehen nicht mehr durch, und sie können auch hundertzwanzig Stunden am Stück wach sein und arbeiten, wenn es sein muss.

Was mit menschlichem Maß in der Tat nichts mehr zu tun hat.

Frau Dubois lässt immer noch Prinzipien aufsagen. Inzwischen geht es schon darum, welche technischen Mittel abzulehnen sind und warum. Gut, das heißt, das Ende des Rituals ist in Sicht. Judith Cardenas erklärt gerade umständlich, dass technische Implantate und genetische Manipulationen, die nicht zum Ziel haben, Krankheiten zu beseitigen oder zu lindern, explizit verboten sind. Was sie nicht sagt, ist, dass wir aus diesem Grund von Besuchern aus den übrigen Zonen weitgehend verschont bleiben. Wer solche Implantate hat – Brain-Netz-Schnittstellen etwa, Haut-Screens oder was sonst so in den Metropolen gang und gäbe ist, der darf die Grenze erst gar nicht passieren. Das Gleiche gilt für Leute, die mit blauer Haut, Federn statt Haaren oder Katzenohren ankommen.

Drogen sind komplizierter. Alkohol, Tabak und Marihuana gelten als traditionelle Rauschmittel, weil sie die Menschheit seit Jahrtausenden begleiten, und sind deshalb erlaubt, wenn auch nur für Erwachsene. Alle anderen Drogen, insbesondere die synthetischen, sind verboten. Nicht einmal Sensotanks – also die Dinger, in denen der Körper wochenlang liegen kann, während man in virtuellen Räumen unterwegs ist – darf man einführen; man streitet allerdings noch, warum nicht.

Dann ist es endlich überstanden und Frau Dubois wendet sich dem aktuellen Stoff zu. Es geht um die Rolle des Naturschutzes im Neotraditionalismus. Hausaufgabe war, einen Aufsatz darüber zu schreiben, fünfhundert Worte mindestens. Ich habe fünfhundertzwanzig.

Als Frau Dubois die Tafeln abfragt, stellt sie fest, dass Myron Carter nicht einmal zehn Worte geschrieben hat. Die Überschrift und dann nichts mehr.

Das gibt Ärger.

»Jetzt bin ich mal gespannt«, beginnt sie ihre Tirade. Ihr Tonfall hat jenen Klang angenommen, bei dem man besser in Deckung geht. Myron tut nichts dergleichen, sondern lümmelt weiter hinter seinem Tisch, als sei nichts.

»Ich hatte ja gehofft, dass du dich wenigstens zum Ende des Schuljahrs ein bisschen anstrengst. Aber anscheinend war diese Hoffnung vergebens.« Frau Dubois ruft das Protokoll von Myrons Tafel ab. »Schauen wir doch einmal nach: Du bist in der Surf-AG. Das heißt, du hattest am Mittwochnachmittag frei. Und am Donnerstagnachmittag sowieso. Zwei komplette Nachmittage, an denen du etwas hättest schreiben können. Oder wenigstens diktieren, falls dir das Schreiben zu mühsam gewesen wäre. Stattdessen warst du die ganze Zeit am Großen Strand, hast Musik gehört, abends zwei Filme gesehen – und nein, ich frage jetzt nicht ab, welche; das will ich lieber gar nicht wissen. Dein Schulbuch dagegen hast du nur fünf Minuten geöffnet, an deiner Hausaufgabe hast du sagenhafte zwei Minuten lang gearbeitet. Zwei Minuten.« Sie knallt ihre Tafel vor sich auf den Tisch. »Und jetzt sag mir, warum ich dir dafür keine Fehlnote eintragen soll?!«

Doch Myron Carter, der immer von sich behauptet, er sei ein Glückspilz, wird einer Antwort enthoben, denn genau in diesem Moment geht die Tür krachend auf und Frau Van Steen, die Direktorin der Schule, stürmt herein.

Sie ist aufgebracht, das sieht man. Sie ist oft aufgebracht, weswegen sie auch gerne Full Steam genannt wird.