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Jörg Magenau

Christa Wolf

Eine Biographie

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Jörg Magenau

Jörg Magenau wurde 1961 in Ludwigsburg geboren. Er studierte an der FU Berlin Philosophie und Geschichte und arbeitete als Kulturredakteur und Literaturkritiker u.a. für die «FAZ», die «taz» und «Freitag». 1995 wurde er mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet. Jörg Magenau lebt und arbeitet in Berlin, als Autor und Redakteur von «Das Magazin».

Über dieses Buch

Christa Wolf (1929–2011) wuchs in der Zeit des Faschismus auf, ihr Weg ins Erwachsenenleben verlief parallel zum Entstehen einer sozialistischen Gesellschaft in der DDR. Früh wurde sie mit ihren Büchern, Reden und Aufsätzen zu einer moralischen Leitfigur – auch im Westen. Nach der Wende geriet sie jedoch als «Staatsdichterin» in die Kritik. So erzählt diese Biographie nicht nur von einer bedeutenden Autorin, sondern weit mehr: eine deutsch-deutsche Geschichte.

Impressum

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Neuausgabe September 2013

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2013

Copyright © 2002 by Kindler Verlag GmbH, Berlin

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ISBN Printausgabe 978-3-499-61085-1

ISBN E-Book 978-3-644-31041-4

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-31041-4

Von vorn anfangen

«Eine Art Mit-Schrift wäre mein Schreibideal. Ein Griffel folgte möglichst genau der Lebensspur, die Hand, die ihn führte, wäre meine Hand und auch nicht meine Hand, viele und vieles schriebe mit, das Subjektivste und das Objektivste verschränkten sich unauflösbar, ‹wie im Leben›, die Person würde sich unverstellt zeigen, ohne sich zu entblößen, der Blick betroffen, jedoch nicht vom Bodensatz ungeklärter Ressentiments getrübt, nicht kalt, anteilnehmend, so unsentimental wie möglich, verdiente sich so vorurteilsfreie Aufmerksamkeit –»

Christa Wolf 19941

Eine beliebte hypothetische Frage lautet, ob man sich ein anderes Leben gewünscht hätte als das, das man hatte. Es ist ein Gedankenspiel, eine Phantasieflucht, um versuchsweise in andere, glücklichere Rollen zu schlüpfen. Zu verbessern gäbe es immer etwas, und Wünsche, die unerfüllt blieben, gibt es auch. Christa Wolf musste sich in einem Fernsehinterview zu ihrem 70. Geburtstag mit dieser Frage auseinandersetzen, und sie antwortete darauf wie fast alle Menschen mit Nein. So wie es war, so soll es auch gewesen sein – wie sonst? Da saß sie auf einem Gartenstuhl vor ihrem Sommerhaus in Mecklenburg, sehr gelassen, sehr freundlich, ein wenig zerbrechlich wirkend und doch ihrer selbst kraftvoll gewiss. Dieser Frau, das konnte man sehen, war nichts mehr anzuhaben. Wer so viele Angriffe auf die eigene Person und die eigenen Werke in zuverlässiger Regelmäßigkeit überstanden hat, ist nicht so leicht zu erschüttern. Wer so viele Hoffnungen begraben hat, braucht sich auch vor dem eigenen Leben nicht mehr zu fürchten.

Schwerer tat sich Christa Wolf mit der Zusatzfrage, ob sie ihr gelebtes Leben noch einmal genau so leben wollte. Da war ein Erschrecken in ihrem Gesicht zu erkennen, ähnlich dem, das sie einmal bei Anna Seghers als Reaktion auf dieselbe Frage beobachtet hatte. Noch einmal dieses Leben? Noch einmal den Glauben an die sozialistische Utopie? Noch einmal die mühsamen, schmerzhaften Emanzipationsversuche, das Ringen um Freiheit im Schatten der Ideologie? Noch einmal all die zermürbenden Auseinandersetzungen mit Parteibonzen und Ästhetikwächtern? Wieder zurück ins geteilte Deutschland mit Kalten Kriegern hüben und drüben, wo jedes Buch unweigerlich zwischen die Fronten geriet? Christa Wolf antwortete prompt. Ein bisschen klüger, ein bisschen geschickter würde sie im Wiederholungsfall schon gerne sein. Aber dann wäre es ja nicht mehr dasselbe Leben. «Also, es geht nicht», sagte sie pragmatisch. «Man muss das Leben nehmen, das man hat, und versuchen, das Beste daraus zu machen, so lange wie es eben geht.»

Viele würden ebenso antworten. Und doch klingt darin die stets wiederkehrende Grundmelodie dieses Lebens an, lieber am Vertrauten festzuhalten, als den großen Ausbruch zu wagen, und eher das beste Mögliche zu praktizieren, als für das unmögliche Beste alles aufs Spiel zu setzen. Die Biographie Christa Wolfs ist eine Chronik fortgesetzter Verabschiedungen. Sie lässt sich auch als beharrliches Festhalten, als Dabeibleiben oder nur als Dableiben beschreiben. Kontinuität und Brüche bedingen sich gegenseitig. «Ernüchterung» ist der Begriff, der ihr Leben am hartnäckigsten begleitet. Welten liegen zwischen dem sozialistischen Sturm und Drang der Bescheidwisserin der fünfziger Jahre und der vorsichtig gewordenen Siebzigjährigen im Mecklenburger Garten. Die Summe der Niederlagen, Irrtümer und Enttäuschungen ergibt in ihrem Fall kein falsches Leben, sondern ein aufrichtiges.

«Das Leben», sagt Christa Wolf entsagungsvoll, «ist nicht auf ‹Glück› angelegt.»2 Die Erfahrungen der Aufbruchszeit des Sozialismus, die zum Glück geradezu verpflichtete, hinterließ ihr ein Misstrauen gegen allen verordneten Optimismus. Wer Christa Wolf und ihre Werke später zu charakterisieren versuchte, hob gewöhnlich ihren «elegischen Ton» hervor oder bezeichnete sie, wie Marcel Reich-Ranicki es tat, kurz und brutal als «Deutschlands humorloseste Schriftstellerin»3. Dieses Urteil verkennt ihren sublimen, niemals polternden Humor. Ironie ist allerdings nicht ihre Sache. Ihr Schreiben ist dominiert von Trauer, Ernst und Sorge. Der Horizont ihres Schreibens ist jederzeit «Wahrheit», verstanden als ein Zustand subjektiver Wahrhaftigkeit. Vom Glück, das so viele Menschen als persönliches Lebensziel nennen, sagt sie in durchaus marxistischer Tradition: «Glück? Was ist das? Ein Zentralphänomen der Trivialliteratur, dem sie übrigens ihre große Aufmerksamkeit verdankt. In ihren entfremdeten Lebensverhältnissen sehnen sich die Menschen nach ‹Glück› – ganz verständlich. Nur dass diese Sehnsucht sich unter den heutigen gesellschaftlichen Umständen aus der kleinbürgerlichen Moral speist mit ihrer Sucht nach Harmonie und ihrem Geschick, die Konflikte der Realität zu verdrängen.»4

In der Geschichte «Unter den Linden» erzählt Christa Wolf aber doch von einer Begegnung mit dem Glück. Die Erzählung entstand 1969 in einer Phase tiefer Niedergeschlagenheit und Depression. Die Auseinandersetzung mit dem Glück hatte hier eine kathartische Funktion. Sicherheit und die Überwindung der Zweifel erscheinen als Bedingung des Glücks. Am Ende aber gelingt es nur im Traum. Da begegnet der Erzählerin eine junge Frau, die in ihrer Schönheit, Lockerheit und Fröhlichkeit all das repräsentiert, was sie sich immer vergeblich gewünscht hatte. «Nie vorher», heißt es da, «hatte eine Begegnung mich so getroffen. Diese Frau würde niemals vom Glück verlassen sein. Alles, was anderen misslang, würde ihr glücken. Nie, nie konnte sie Gefahr laufen, sich zu verfehlen.»5 Im Erwachen wird der Erzählerin dann klar, dass es sie selbst war, der sie da begegnete, und dass der Sinn dieser «Bestellung» darin lag, sich selbst «wiederzufinden»6.

Die «Schwierigkeit, Ich zu sagen» – so ein zentrales Motiv in ihrem Werk –, ist für einen kurzen, traumhaften Moment aufgehoben. Die Erzählerin ist ganz bei sich: Utopie der Übereinstimmung mit sich selbst. Außerhalb des Traums jedoch kann es eine solche Ankunft beim eigenen Ich nicht geben. Welches «Ich» aus der langen Reihe verschiedener Personen, die eine Biographie ausmachen, wäre dem zugrunde zu legen? Wann ist der Mensch er selbst, wenn er erst aus der Summe seiner sich wandelnden Erscheinungsbilder begreifbar wird? Man kann mit Äußerlichkeiten beginnen, wie es der Schriftstellerkollege und Freund Günter de Bruyn tat, als er 1972 ein Porträt über Christa Wolf schreiben sollte. Wie ein Maler ging er die Aufgabe an und versuchte, das Gesicht zu schildern, dem er die Herkunft aus der Region östlich der Oder ansehen zu können glaubte. «Das Haar ist dunkel. Die Brauen, weil auch dunkel, sind deutlich herausgehoben; tief angesetzt beschatten sie Augen schwer erkennbarer Färbung. Grau, grün, blau, graugrün, graublau? Bezeichnend die Nase: schon vom Ansatz her Tendenzen zur Breite. (…) Passend dazu dann die Flächen, groß, ausgedehnt, die Stirn, die Wangen.»7 Am Ende des Besuches aber resignierte der Porträtist. Er musste erkennen, dass er mehr in dieses Gesicht hineinlas, als sich darin entdecken ließ, dass die Freundlichkeit und die offene Aufnahme, die er bei der Familie Wolf erfuhr, ihn auf sich selbst zurückwarfen. De Bruyn schrieb: «Vor dem Gesicht, das er erforschen wollte, stand er wie vor dem eignen Gewissen. Er kann verstehen, dass mancher das nicht mag. Der wehrt sich dann mit Anschuldigungen – und charakterisiert sich selbst.»8 Also blieb das Porträt Fragment und ist gerade dadurch sprechend. Die emotionale Mischung aus Eingeschüchtertheit, Erleichterung und schließlich Bewunderung, die sich im Besucher einstellte, ist typisch für Begegnungen mit Christa Wolf.

Eine Tendenz zur Gemeindebildung umgibt ihre Person wie ein heiliges Rauschen. Ostdeutsche sehen in ihr eine Fürsprecherin des «Es kann doch nicht alles schlecht gewesen sein»-Bewusstseins, eine Jeanne d’Arc, die das «Recht auf die eigene Biographie» und selbstbewusste Ost-Identität verkörpert. Für Frauen ist sie ein Vorbild selbstverständlichen weiblichen Selbstbewusstseins und Vertreterin einer humaneren, «weiblichen» Rationalität: eine sanfte Feministin. Für die traditionelle Linke ist sie die gelernte Kassandra, deren zuverlässige Warn- und Mahnrufe sich mit reflexhaft düsterem, antikapitalistischem Kopfnicken begleiten lassen. Grün-Alternative finden in ihren Büchern die gesundheitsfördernde Vollkornmischung aus Selbstverwirklichungsbestrebungen, Umweltbewusstsein, Weiblichkeit und Friedenssehnsucht. Für Literaturfreunde ist sie eine Art weiblicher Heinrich Böll des Ostens, in ihrer internationalen Bedeutung und weltweiten Anerkennung unter den deutschen Gegenwartsautoren wohl nur mit Günter Grass zu vergleichen.

Wer Verehrung produziert, produziert zugleich Feindschaft. «Ich bin eine Figur, auf die man vieles projizieren kann», sagte Christa Wolf in einem Gespräch, das ich 1994 für die Wochenzeitung «Freitag» mit ihr führte.9 Da lagen die heftige Debatte um ihre Stasi-Mitarbeit Ende der fünfziger Jahre und ihre Erzählung «Was bleibt» noch nicht weit zurück. Vor 1989 im Westen eher als kritische DDR-Autorin wahrgenommen, galt sie nach der Wende plötzlich als «Staatsdichterin» und Repräsentantin des Systems, für dessen Veränderung sie sich doch eingesetzt hatte. Weil Christa Wolf moralische Integrität und subjektive Aufrichtigkeit nicht nur propagierte, sondern repräsentierte, eignete sie sich so gut für Angriffe, die auf mehr zielten als bloß auf die Literatur. Und umgekehrt schien mit ihrem Bekenntnis, einmal die informelle Mitarbeiterin «Margarete» gewesen zu sein, schlagartig auch ihre Literatur erledigt.

Gerade deshalb lohnt es sich, entlang ihres Lebens die Geschichte der DDR noch einmal zu erzählen: als politische Biographie einer Autorin, die sich in die Kämpfe ihrer Zeit stets eingemischt hat. Ob als mutige Opponentin auf dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965, bei den Protesten gegen die Biermann-Ausbürgerung 1976 oder als Rednerin auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989: Stets war Christa Wolf an exponierter Stelle dabei, auch wenn sie dabei gelegentlich wie in Thomas Brussigs Satire «Helden wie wir» mit der biederen Eislauftrainerin Jutta Müller verwechselt werden konnte. Für Brussig und die jüngere Generation aus der DDR hatte sich ihr vorsichtiges Agieren bereits überlebt. Sie, die mit der DDR nichts mehr zu tun haben wollten, konnten auch mit der Haltung loyaler Dissidenz, die bis zuletzt nicht auf Überwindung, sondern auf die Verbesserung der DDR-Gesellschaft zielte, nichts mehr anfangen.

Mit dem historischen Abstand zu den überhitzten Debatten der Wendezeit sind auch die einfachen Antworten veraltet, die, selbst ideologisch und moralisierend, sich kaum für die lebensweltliche Vielfalt und den Widerspruch zwischen Anpassung und Veränderungswille interessierten. Christa Wolf ist seltsam unbeschadet aus dem Getümmel hervorgegangen. Unbeschadet, aber nicht unberührt: Sich mit ihrer ganzen Person ein- und auszusetzen gehört seit je zu ihren Prinzipien; ihr Schreiben und ihr politisches Handeln sind stets Methoden der Lebensbewältigung, sodass sich «Person» und «öffentliches Wirken», «Leben» und «Schreiben» nicht trennen lassen. Repräsentierte Heiner Müller für viele die kalte, zynische Vernunft des Intellektuellen, so steht Christa Wolf für wärmende Zuwendung und emotionale Fürsorge. Man wird sehen, ob solche Zuschreibungen haltbar sind. Die Funktion als moralische Mutter der Nation hat sie in dem Maße eingebüßt, in dem die hypertrophe Rolle der Schriftsteller und Intellektuellen des Ostens als ersatzweiser Öffentlichkeit und einer Instanz für Trost und Kritik sich historisch erledigt hat. Auch «den Westen» als außen liegenden Verstärker gibt es nicht mehr. Der Resonanzraum des öffentlichen Sprechens ist verschwunden. Doch die Gemeinde blieb.

Als ich Christa Wolf mit dem Plan einer Biographie konfrontierte, lehnte sie höflich, aber bestimmt ab. Dafür sei es noch zu früh, man möge sich doch gedulden, bis sie einmal nicht mehr da sei. Noch habe sie einiges vor und betrachte ihr Leben und ihr Werk nicht als abgeschlossen. Die Erfahrungen, die sie nach der Wende mit der (west)deutschen Öffentlichkeit gemacht hatte, trugen dazu bei, dass ihr bei der Vorstellung einer Biographie unbehaglich wurde. Doch wem ginge es anders? Man muss nicht allzu viel Phantasie aufbringen, um sich vorzustellen, dass es nicht sehr angenehm ist, zum Gegenstand erhoben und zum Objekt gemacht zu werden. Dabei wollte sie gegen einen Autor, der als Westler, als Mann und einer jüngeren Generation zugehörend ihr denkbar fremd gegenübertrat, noch nicht einmal Einwände erheben. Christa Wolf, deren Literatur stets auf die Stärkung des Subjekts gerichtet ist und allen Versuchen entgegenarbeitet, den anderen zum Objekt zu machen, hätte es gerne mit Anna Seghers gehalten und allein das Werk sprechen lassen. Schließlich aber akzeptierte sie, dass sie als wichtige Figur der Zeitgeschichte und als Autorin von überragender Bedeutung auch ein biographisches Interesse ertragen müsse. Und da sie es nicht verhindern könne, wolle sie wenigstens dazu beitragen, dass die Fakten stimmen.

Die Gespräche mit ihr und Gerhard Wolf wurden von Mal zu Mal offener. Bei Kaffee und Keksen saßen wir in ihrem Arbeitszimmer, wo die Fotografien von Heinrich Böll, Friedrich Schlotterbeck, Rosa Luxemburg und der Mutter Herta Ihlenfeld im Bücherregal stehen. Unentwegt klingelte im Flur das unduldsame Telefon: die Töchter, die Enkel, Freunde, Redaktionen. Christa Wolf liebt es, von Menschen und Gesprächen umgeben zu sein. Wenn sie manchmal stöhnt, dass ihr das eigentlich zu viel sei, dann ist das nicht so gemeint. Ohne den Trubel wäre es noch viel schlimmer.

Von der DDR sprach sie in Anekdotenform, manchmal mit einem Kopfschütteln, oft lachend. Das Land, dem die Kämpfe ihres Lebens gegolten haben, lag in weiter Ferne, in tiefer Vergangenheit. In staunenswerter Abgeklärtheit blickte sie darauf zurück. Zur Materialfülle aus Interviews und Briefen, Zeitungsartikeln, Bibliotheken füllender Sekundärliteratur und Archivmaterial, mit denen ich mich beschäftigte, kamen so die Informationen aus erster Hand, Geschichten und Anekdoten, die Christa und Gerhard Wolf zumeist gemeinsam erzählten, indem sie sich dabei immer wieder ins Wort fielen: Lass mich mal erzählen, da warst du doch gar nicht dabei!

Nicht alle Erinnerungen ließen sich eindeutig rekonstruieren. Von manchen Erlebnissen oder Gesprächen blieb Jahrzehnte später nur noch die Atmosphäre übrig oder ein Gefühl. Manchmal widersprachen sich die beiden und gerieten mit der Chronologie der Ereignisse durcheinander. Das bleibt nicht aus nach fünfzig Jahren gemeinsamen Lebens. In ihrer Literatur misstraut Christa Wolf hartnäckig linearen Handlungsabläufen. Erinnerungen sind anarchisch und halten sich nicht an die Chronologie. Jede Gegenwart ist durchsetzt von Vergangenheiten. Eine Biographie muss das Leben trotzdem als Kontinuum erzählen, selbst wenn klar ist, dass es sich dabei um eine Konstruktion handelt. Nicht nur das Werk, auch das Leben handelt mit Fiktionen. So autobiographisch das Material vieler ihrer Bücher ist, so inszeniert und kalkuliert sind manche Äußerungen zur Person in Interviews und Selbstauskünften. Es ist im Nachhinein oft nicht zu entscheiden, was nun als «wahr» genommen werden kann. Im Zweifelsfall steckt die Wahrheit in der Summe der entworfenen Bilder, je widersprüchlicher, umso echter. Die Aufrichtigkeit persönlicher Briefe steht dem wahnhaften Wirklichkeitsfetischismus der Stasi-Akten gegenüber, in denen sich erstaunlich viel Unsinn findet. Die Wolfs haben, als sie 1992 ihre sogenannten «Opfer»-Akten einsehen konnten, einen ganzen Koffer mit Kopien gefüllt, den sie mir zu lesen gaben. Seltsame Situation, als Gast in ihrem Wohnzimmer zu sitzen, dort die Überwachungshinterlassenschaften eines voyeuristischen Staates zu studieren und damit Einblicke in Lebensdetails zu erhalten, die Gästen normalerweise verschlossen bleiben. Manchmal kam Christa Wolf herein, setzte sich dazu und sagte: Scheußlich, was? Es war eine ermüdende Lektüre, bei der in der Fülle der Nebensächlichkeiten rasch der Blick fürs Ganze verloren geht. Das Ganze aber ist: ein exemplarisches deutsches Intellektuellenleben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Erzählungen über die DDR kranken häufig daran, dass sie von ihrem Ende aus erzählt werden und dass das Wissen um das Scheitern des Sozialismus ihnen als Voraussetzung zugrunde gelegt wird. Man muss dennoch, um den Handlungen der in ihre Zeit eingebundenen Personen gerecht zu werden, von vorn und mit offenem Ende erzählen. Noch ist nichts entschieden. Sonst könnten alle Hoffnungen nur falsch gewesen sein. Alle Taten wären immer schon verfehlt, und die, die früher lebten, wären immer die Dummen. Wäre es so, könnte man sich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sparen. Also versuchen wir es und fangen ganz von vorne an.

Goldene Nüsse

Die Pflicht, glücklich zu sein: Kindheit in Landsberg

Im September 1997 besuchte Christa Wolf die polnische Stadt Gorzów Wielkopolski, die einst, als sie am 18. März 1929 hier geboren wurde, Landsberg an der Warthe hieß und zu Deutschland gehörte. Es war nicht der erste Besuch in ihrem Geburtsort nach 1945, doch nie zuvor empfand sie deutlicher, wie stark die emotionale Bindung an den Ort der Kindheit nachgelassen hatte. Die achtundsechzigjährige Schriftstellerin kehrte in eine Stadt zurück, die ihr fremd und seltsam vertraut erschien. Die Brunnenmarie, früher das Landsberger Wahrzeichen und Treffpunkt der Liebespaare, stand plötzlich wieder originalgetreu auf dem Marktplatz, obwohl sie doch in den letzten Kriegsmonaten zerstört worden war. Christa Wolf hatte sie bei früheren Besuchen schmerzlich vermisst, wenn sie auf dem leeren Platz neben der Marienkirche stand, in der sie konfirmiert worden war.

Nun, 1997, saß sie zu einer Lesung auf der Bühne des alten Stadttheaters. Der polnische Staatspräsident persönlich begrüßte sie und freute sich: «Sie gehören ja zu uns.»10 Es gab Rosen, einen Handkuss und eine Plakette. Die roten Plüschsessel im Zuschauerraum waren dieselben wie früher und wirkten ziemlich durchgesessen. Christa Wolf atmete den Staub ein, der in der Luft hing, und erkannte den Geruch wieder, den sie schon als Kind wahrgenommen hatte, als sie in der Vorweihnachtszeit ins Theater kam, um dem Märchen von der Schneekönigin zu lauschen.

Am Ende der Lesung aus «Kindheitsmuster» erhob sich ein Mann, um zu erzählen, wie er ihren Schulweg nachgegangen sei. Ein anderer kam auf die Bühne, um der berühmten Tochter der Stadt eine Tüte mit Nüssen zu überreichen, die er im Hof ihres Elternhauses geerntet habe. Christa Wolf verstand, dass dies ein symbolischer Akt sein müsse, und bedankte sich gerührt, obwohl im Garten ihres Elternhauses nie ein Nussbaum gewesen war. Später, so berichtet sie nicht ohne Humor, habe sie das Geschenk wie «goldene Nüsse aus dem Märchen» mit Andacht gegessen.11 Denn wer weiß, ob der Geschmack der Nüsse nicht doch irgendwie zur Kindheit dazugehört, selbst wenn er sich erst so spät einstellte. Nie wieder, sagte sie im Theater in Gorzów Wielkopolski, habe sie sich irgendwo so zu Hause gefühlt wie hier als Kind.

Was ist Wirklichkeit? Welche Bruchstücke der Erinnerungen – eigene und fremde – sind wahr? Und welche Bilder, auch wenn sie sich im Nachhinein verwandeln, bestimmen doch ein Leben? Zu den prägenden Eindrücken der frühen Jahre gehört zweifellos die karge, flache Landschaft der Region. Der Fluss gehört dazu, die Kiefern, die Seen, der trockene, kontinentale Sommer. Die Trauerweide hinter dem Café im Stadtpark bleibt für sie der schönste Baum auf der Welt. Und Landsberg selbst, diese «mittelgroße, eigentlich eher kleine Stadt jenseits der Oder», gibt mit der nachgemachten deutschen Backsteingotik zeitlebens das «Muster für Städte» vor, auch wenn oder gerade weil dort keine außergewöhnlichen Sehenswürdigkeiten zu entdecken sind. Ein anderer Hintergrund für das eigene Leben wäre für Christa Wolf jedenfalls nicht vorstellbar gewesen.12

Heimat ist ein Geschmack oder ein Gefühl und grundiert alles, was folgt. In ihrem autobiographischen Roman «Kindheitsmuster» ist Christa Wolf diesen Grundierungen nachgegangen. Über keinen anderen Lebensabschnitt hat sie sich ausführlicher geäußert als über diesen, fernstliegenden, wenn auch unter der schützenden Maske der Fiktion und versehen mit der mahnenden Vorbemerkung, alle Figuren und Ereignisse seien Erfindungen der Erzählerin. Das stimmt insofern, als alle Erinnerung mit Erfindung zu tun hat. Es ist falsch, weil der ganze Roman ein Ringen um Aufrichtigkeit demonstriert und stets auch die verschlungene Funktionsweise der Erinnerung selbst in den Blick zu bekommen versucht.

«Das Milieu, das ich in ‹Kindheitsmuster› beschrieben habe, ist authentisch», sagte Christa Wolf einmal, «die äußeren Umstände, unter denen ich aufgewachsen bin, kann man schon daraus abziehen.»13 Das Mädchen, das sie einmal war und das ihr nun in der Erinnerung wiederbegegnete, erschien ihr dabei jedoch so fremd, dass sie ihm einen anderen Namen gab: Nelly Jordan. Nur so, indem sie die eigene Herkunft von sich weghielt, konnte sie sich ihr nähern. Nur so ließen sich Aussagen treffen über die Kindheit im Nationalsozialismus und die Prägungen, die daraus resultierten: eine durchschnittlich angepasste, durchschnittlich glückliche Kindheit in einer durchschnittlichen Provinzstadt in einer außerordentlichen Epoche.

Berühmtheiten hat Landsberg keine vorzuweisen – außer eben Christa Wolf, der man dafür «goldene Nüsse» überreichte. Der Philosoph Friedrich Schleiermacher war einmal kurz zu Besuch, Victor Klemperer wurde hier geboren, die Familie zog aber so früh weg, dass ihm keine persönlichen Erinnerungen an die Stadt an der Warthe blieben. Klemperers Vater war Rabbiner, vielleicht ja in ebenjener Synagoge, an deren Zerstörung Christa Wolf sich in «Kindheitsmuster» erinnert. Keine zehn Jahre alt war Nelly am 9. November 1938, als die Synagoge brannte und es sie dorthin zog, weil sie unbedingt die rauchende Ruine sehen wollte. Zu ihrem Entsetzen kamen Leute aus dem abgebrannten Gebäude, Juden, die versuchten zu retten, was noch zu retten war. Was ein Rabbiner ist, wusste Nelly noch nicht.14

Gottfried Benn war während des Zweiten Weltkrieges als Offizier und Truppenarzt in der damaligen General-von-Strantz-Kaserne stationiert, die Landsberg burgartig überragte. Einhundertsiebenunddreißig Stufen hatte die Treppe, die dort hinaufführte – Benn hat sie gezählt. Für ihn war Landsberg «eine Stadt im Osten». Christa Wolf fand diese geographische Einordnung geradezu lachhaft, als sie in Benns «Roman eines Phänotyps. Landsberger Fragment» darauf stieß. Für sie als Kind begann der Osten weit weg, in Bromberg oder in Königsberg. Die eigene Heimatstadt lag wie jede Heimatstadt im Mittelpunkt der Welt. In «Kindheitsmuster» zitiert sie Benn als Beispiel für den fremden Blick, der Seltsamkeiten entdeckt, die sie nicht wiederzuerkennen vermag: «Straßen, die Hälfte im Grund, die Hälfte auf Hügeln, ungepflastert; einzelne Häuser, an die kein Weg führt, unerfindlich, wie die Bewohner hineingelangen; Zäune wie in Litauen, moosig, niedrig, nass.»15

Die elterliche Wohnung in einem Eckhaus am Sonnenplatz 5 kann Benn damit nicht gemeint haben. Am Neubau in der Soldiner Straße muss es allerdings einen Lattenzaun um den Vorgarten gegeben haben. Noch im Juli 1971, bei der ersten Reise aus der DDR zurück in die polnische Heimatstadt, kann Christa Wolf dessen Reste ausmachen. Am Sonnenplatz unterhielten die Eltern, die Kaufleute Otto und Herta Ihlenfeld, ihr erstes Lebensmittelgeschäft und dekorierten die Schaufenster mit Kathreiner Malzkaffee und Knorr Suppenwürsten. Hier kam 1932 der Bruder Horst zur Welt, von hier aus ging Christa, gerade sechs Jahre alt geworden, Ostern 1935 zum ersten Mal zur Schule, um Lesen und Schreiben zu lernen und den Hitlergruß. Der ging ihr so sehr in Fleisch und Blut über, dass es ihr nach 1945 schwerfiel, «Guten Tag» und «Auf Wiedersehen» zu sagen. Aber auch die Lieder der Zeit – «Vorwärts, vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren, vorwärts, vorwärts, Jugend kennt keine Gefahren» – setzten sich hartnäckig im Gedächtnis fest. «Die Lieder sind das Schlimmste gewesen», sagt die Kinderärztin Vera Brauer aus Christa Wolfs Debüterzählung «Moskauer Novelle» zu ihrem russischen Freund Pawel. «Man vergisst sie so schwer. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn man misstrauisch jeden Ton bewachen muss, der einem von den Lippen will?»16

Der Vater, Otto Ihlenfeld, ist im späteren Urteil der Tochter ein weicher Mensch.17 Weil es die Umstände erforderten, war er schon 1933 in die NSDAP eingetreten oder vielmehr sanft in die Partei hineingeglitten: Der Ruderclub, dem er angehörte, wurde im Zuge der Neuordnung der Sportvereine in die entsprechende NSDAP-Gliederung integriert. Nazis waren die Eltern aber nicht. Die Ihlenfelds gehörten zum aufstrebenden, arbeitsamen Mittelstand und waren in protestantisch geprägtem Ethos darauf bedacht, als ordentliche Mitglieder der Gesellschaft nicht aufzufallen. Die dreißiger Jahre waren für sie Friedensjahre und eine sorglose Zeit des Wohlstands. Das Geschäft ging gut. Man konnte sich eine neue, rotbraune Sesselgarnitur leisten und ein Mende-Radio statt des billigen Volksempfängers – nicht um womöglich nach verbotenen Sendern zu suchen, sondern eher aus Statusgründen. Das Radio holte Max Schmelings Niederlage gegen Joe Louis in die heimische Küche und ließ den Vater fast verzweifeln. Das Geheul des Sportreporters scheint mehr Emotionen aufgewühlt zu haben als das übliche Geschrei der Nazis, das nicht recht in die Behaglichkeit passte. Im Wohnzimmer standen ein schwarzes Buffet, ein Blumenständer, die Anrichte. Die Neubaupläne für die oberhalb der Stadt gelegene Soldiner Straße lehnte die Mutter zunächst als größenwahnsinnig ab. Am 1. September 1936 zog die Familie jedoch ins neue, weiß gestrichene Haus und verlegte auch das Lebensmittelgeschäft hierher. Christa konnte vom Fenster ihres Zimmers aus weit über die ganze Stadt, über die Seen und Wälder der Umgebung blicken.

Eine sehr frühe Erinnerung gilt jenem Tag im Jahr 1934, an dem «der Führer» Landsberg besuchen sollte. Die Geschäfte hatten geschlossen, die Straßenbahn fuhr nicht mehr, auf den Straßen drängte die erwartungsvolle Menge. Hitler kam dann doch nicht, weil er in benachbarten Städten aufgehalten wurde. Dennoch bleibt die allgemeine Erregung ein unauslöschliches Erlebnis. Die Fünfjährige «fühlte, was der Führer war. Der Führer war ein süßer Druck in der Magengegend und ein süßer Klumpen in der Kehle, die sie freiräuspern musste, um mit allen laut nach ihm, dem Führer, zu rufen, wie es ein patrouillierender Lautsprecherwagen dringlich forderte.» Sie verstand nicht, worum es ging und was die Leute miteinander redeten, aber «die Melodie des mächtigen Chors hat sie in sich aufgenommen, der sich durch viele kleine Schreie hineinsteigerte zu dem ungeheuren Schrei, in den er endlich ausbrechen, zu dem er sich endlich vereinigen wollte. Wenn sie auch zugleich ein wenig Angst davor hatte, verlangte es sie doch sehr danach, diesen Schrei zu hören, auch von sich selbst. Wollte wissen, wie man schreien und wie man sich mit allen eins fühlen konnte, wenn man den Führer sah.»18

So verläuft die erste Begegnung mit der Masse als erotisches Erlebnis und Wunsch nach Vereinigung. Darin ist sie jenem ganz anderen Massenereignis vergleichbar, das Christa Wolf am 4. November 1989 als Rednerin vor einer Million Zuhörern auf dem Alexanderplatz sieht. Da steht sie auf dem Podium und spricht über die «Sprache der Wende» und ist überzeugt von der Verbundenheit der Intellektuellen mit dem Volk. Die beiden so gegensätzlichen Erlebnisse markieren den großen historischen Bogen dieser Biographie, eine Bewegung, die von der kollektiven Selbstaufgabe für den Führer bis hin zu jenem kurzen historischen Augenblick reicht, als «das Volk» glaubte, sein Geschick selbst in die Hand nehmen zu können, und die Schriftstellerin sich als dessen Stimme empfand.

Christa Wolf kann sich nicht erinnern, in ihrer Kindheit Menschen getroffen zu haben, die sich kritisch über Hitler oder den Nationalsozialismus geäußert hätten?19 Das stimmt nicht ganz, denn immerhin ist von der Mutter der legendäre Satz «Ich scheiß auf euren Führer» überliefert. Gesprochen wurde er am Abend des 25. August 1939 in Gegenwart des Briefträgers, der Otto Ihlenfeld den Einberufungsbescheid überbrachte. Und im Jahr 1944 erhielt die Mutter Besuch von zwei Herren im Trenchcoat, nachdem sie im Laden, laut und vernehmlich, in Gegenwart mehrerer Kundinnen, die Meinung vertreten hatte, dass der Krieg verloren sei. Die beiden Herren bestellten sie zu einer Aussprache ins Haus der Gestapo, ließen die Angelegenheit aber schließlich auf sich beruhen. Man muss solche verärgerten Äußerungen nicht als Zeichen besonderer Zivilcourage interpretieren, eher entsprachen sie dem pessimistischen Naturell der Mutter, die von Christa Wolf als «Schwarzseherin» und «Kassandra hinterm Ladentisch» beschrieben wird, die eben so ihre «Stimmungen» hatte.20

Sehr bewusst handelte die Mutter allerdings, als sie die Kinder zum Nachhilfeunterricht zu einem Studienrat schickte, der vom Schuldienst suspendiert wurde, weil er angeblich Jude war. Dazu gehörten im Jahr 1942 Mut und eine selbstverständliche humanistische Grundhaltung, die sich gegenüber der nationalsozialistischen Rassenideologie immun zeigte. «Wie eine Löwin» habe ihre Mutter sich für die Kinder geschlagen, wenn es nötig war, «und wir haben sie sehr, sehr geliebt. Sie war streng in dem Sinne, dass sie Grundsätze hatte und auch innerlich als Frau kein leichtes Leben hatte.»21 Sie war selbst so erzogen worden, dass ihr alles Sinnliche als Sünde erschien, und diese Haltung gab sie nun an die Tochter weiter.

Christa wuchs in mildem protestantischem Geist der Rechtschaffenheit auf, wurde jedoch, wie sie rückblickend meint, nicht gerade «überströmend gefühlvoll»22 erzogen: «Ich war ein gut erzogenes, aber aufmüpfiges Kind. Jedenfalls hat meine Mutter mir immer gesagt – ich bin am 18. März, dem Jahrestag der Revolution von 1848 geboren – ‹du bist ein richtiges Revolutionsbaby›, weil ich ganz bestimmte Standpunkte einfach nicht aufgab. Sie hatte mir beigebracht, nicht zu lügen. Und das habe ich eben dann auch nicht gemacht. Das war manchmal sehr anstrengend, für sie und für mich natürlich auch. Aber da war ich vollkommen unbelehrbar. Gott sei Dank ist das bei meinen Töchtern und Enkelkindern nicht so gewesen. Aber ich habe ihnen auch nicht gesagt: Ihr sollt nicht lügen. Ihr dürft eure Mutter nicht anlügen.»23

Militante Ehrlichkeit war das eine, eine Verpflichtung zur Dankbarkeit das andere; Dankbarkeit dafür, es einigermaßen gut zu haben, und folglich die moralische Pflicht, glücklich zu sein. Diese emotionale Grundhaltung der Kindheit sollte lange, vielleicht das ganze Leben lang, nachwirken, entfaltete sich aber besonders prächtig in der Gründungszeit der DDR. Wo bald das Paradies auf Erden etabliert sein würde, wäre es unverzeihlich gewesen, nicht fröhlich zu sein und dankbar dafür, am Aufbau der neuen, besseren Welt mitwirken zu dürfen. Eingeübte Kindheitsmuster: Nirgendwo wird die Verpflichtung aufs Glück deutlicher als an Weihnachten, dem christlichen Fest familiärer Zusammengehörigkeit. Christa erfuhr das, als einmal ein Akkordeon als Hauptgeschenk unter dem Weihnachtsbaum stand. Das Dienstmädchen hatte ihr den schwarzen Kasten, der im Kleiderschrank versteckt worden war, allerdings schon Wochen vorher gezeigt, und eigentlich war ihr längst klar, dass sie gar keine Lust hatte, das Akkordeonspiel zu erlernen. Nun aber musste sie Überraschung vortäuschen und eine Begeisterung heucheln, die direkt und rettungslos in ungeliebten Akkordeonunterricht mündete.24 Dienstag für Dienstag besuchte Christa im Kriegsjahr 1943 eine «mopsgesichtige» Musiklehrerin und stümperte dort mit einiger Mühe Lieder wie «Es hatt’ ein Bauer ein schönes Weib» oder «Lustig ist das Zigeunerleben» auf dem Instrument – protestantische Pflichterfüllung in Dankbarkeit.25

Mit der Kirche als Institution unterhielt die Familie Ihlenfeld jedoch keine ausgeprägte Beziehung, auch wenn Katholizismus irgendwie als «falsch» erschien. Zur Konfirmation im Jahr 1943 schickten die Eltern Christa eher aus Rücksicht auf die Großeltern als aus innerer Überzeugung. Christa war diese Veranstaltung äußerst zuwider. Nur ungern besuchte sie den Konfirmandenunterricht. Mit Ekel betrachtete sie die gefalteten Hände des Pfarrers und verweigerte ihrerseits Händefalten und devotes Kopfsenken beim Gebet. Als die Konfirmanden am Festtag würdevoll Einzug in die Kirche hielten, schnitten sie, hinter dem Altar vor den Blicken des Pfarrers und der Gemeinde geschützt, Grimassen und schüttelten sich in lautlosem Gelächter. Die kirchliche Zeremonie hatte keine tiefere Bedeutung für eine Jugend, die längst den Inszenierungen des Nationalsozialismus verfallen war. Dessen Glaubensartikeln gegenüber hätte man sich ähnliche Respektlosigkeiten nicht erlaubt.

In der Schule lernte Christa Sprüche wie «Seele ist Rasse von innen gesehen. Rasse ist Seele von außen gesehen». Als sie sieben Jahre alt war, hörte sie dort zum ersten Mal das Wort «Konzentrationslager» in der volkstümlichen Variante «Konzertlager». Im Biologiebuch der Oberschülerin waren, wie es üblich war, die Vertreter «niederer Rassen» in abschreckenden Darstellungen abgebildet. Rassenwahn und Prüderie gehörten untrennbar zusammen: Die Biologielehrerin, eine blonde, schüchterne Frau, dozierte ausführlich über den Darwinismus und die naturgewollte Überlegenheit der nordischen Rasse, errötete aber, wenn sie über Pollen und Samen sprechen musste.

Christa Ihlenfeld war eine ordentliche, eifrige Schülerin mit einem Hang zum Strebertum und dem Bedürfnis, die Beste zu sein. In den Anfangskapiteln von «Nachdenken über Christa T.» beschreibt Christa Wolf die Stimmung im Jahr 1944, als Christa Tabbert, die «Neue», in die Klasse kommt und erst einmal mit Missachtung aufgenommen wird. Christa Ihlenfeld war schon seit 1939 Mitglied des BDM, hatte ein Ausbildungslager des Jungmädelbundes in Küstrin absolviert, sich in der Hitler-Jugend bei Gesängen und Geländespielen durch besonderen Eifer hervorgetan und war so zur «Führeranwärterin» herangewachsen, ein Angebot, das sie gegen den Widerstand der Mutter annahm. Besonders lustvoll war der Gebrauch des Wortes «Kameradschaft», das ein Gefühl der Zugehörigkeit versprach. Die Passagen in «Kindheitsmuster», die von diesen Empfindungen handeln, bereiten der erwachsenen Erzählerin vernehmliche Beklemmungen. Hier, wo das Mädchen, das sie «Nelly» nennt, ihr am fremdesten ist, rückt es der Sozialistin, die sich zu Beginn der siebziger Jahre noch als Teil der DDR und einer fortschrittlichen Weltbewegung begreift, zugleich bedrohlich nahe. Irgendwann, heißt es in «Kindheitsmuster», hatte sie verstanden, «dass Gehorchen und Geliebtwerden ein und dasselbe ist». Dazu gehörte auch die Erfahrung, dass man sich «beliebt machen muss, um geliebt zu werden».26

Eine Erziehung, die nicht auf Selbständigkeit, sondern auf Gehorsam zielte, führte dazu, dass allein die Anerkennung durch andere, durch die Autoritäten, das Selbstwertgefühl stabilisierte. So buhlte Christa ganz besonders um die Zuneigung eines Lehrers, der in SA-Uniform erschien. Er unterrichtete ausgerechnet Religion und war der Ansicht, dass auch Jesus Christus, lebte er heute, ein Anhänger des Führers wäre. Um ihm zu gefallen, stimmte Christa ihm zu. Sie glaubte ihm, denn nur so war seine Liebe zu gewinnen. Und doch erinnert sie sich auch an das Gespräch mit Freundin Helga auf dem Schulhof, in dem die beiden Mädchen, etwa zehn Jahre alt, sich kopfschüttelnd darüber verwunderten, dass es so viele Menschen gebe, die eben nicht glaubten, was der Lehrer sagte.27 Es muss ihnen also durchaus bewusst gewesen sein, dass man auch ganz anders denken kann. Das Weltbild war nicht restlos geschlossen.

Den Wunsch, jederzeit geliebt zu werden, hält Christa Wolf für eine generationsspezifische Prägung. 1987, in ihrer Rede zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises, sprach sie vom «Hang zur Ein- und Unterordnung», der ihrer Generation geblieben sei, von «Autoritätsgläubigkeit» und «Angst vor Widerspruch».28 Diese Haltung, so die Schriftstellerin 1988, habe ihre Generation «in eine andere Gesellschaft mit hinübergenommen (von der sie, nebenbei gesagt, sehr gefördert wurde), und von der sich, soweit ich sehen kann, gar nicht so viele Generationsgenossen wirklich frei machen konnten. (…) Meine Generation hat früh eine Ideologie gegen eine andere ausgetauscht, sie ist spät, zögernd, teilweise gar nicht erwachsen geworden, will sagen: reif, autonom. (…) Da ist eine große Unsicherheit, weil die eigene Ablösung von ideologischen Setzungen, intensiven Bindungen an festgelegte Strukturen so wenig gelungen ist.»29

Christa Wolf spricht häufig von ihrer «Generation», wenn sie sich selbst meint. Der Generationsbegriff funktioniert wie eine Hülle, die das eigene Ich als größeres Allgemeines schützend umgibt. Es kräftigt die Stimme, «wir» zu sagen statt «ich». Tatsächlich aber ist Autoritätsgläubigkeit weit weniger generationstypisch, als Christa Wolf behauptet. Unterschiedlich sind bloß die Autoritäten, an die die verschiedenen Generationen sich heften, und damit auch die Schuldhaftigkeit, die sich daraus ergibt. Auch im Nationalsozialismus gab es für Jugendliche andere Optionen als fanatisiertes Mitläufertum, sodass die vereinheitlichende Rede von der «Generationserfahrung» mehr verbirgt als erklärt.

Mit Kunst – vor allem mit Literatur – kam Christa Ihlenfeld von zu Hause aus kaum in Berührung. Im pragmatischen Elternhaus war der Kunstsinn wenig ausgeprägt. Die Vorfahren waren Bauern, Arbeiter, Beamte und Handwerker. Der Großvater mütterlicherseits, pensionierter Reichsbahner, hatte es niemals weiter gebracht als bis zum Fahrkartenknipser und war wegen Trunkenheit frühzeitig aus dem Dienst entlassen worden. Auch wenn sie «den Büchern früh verfallen» war, wusste Christa nicht, was Literatur ist oder sein könnte.30 Wilhelm Busch, der wie in jedem deutschen Wohnzimmer auch in dem der Ihlenfelds mit einer zweibändigen Ausgabe vertreten war, gehörte zu ihrer ständigen Lektüre. Die Todesarten, die in «Max und Moritz» so genüsslich zelebriert werden, zogen sie an und stießen sie ab.31 Karl May fand sie langweilig, sie bevorzugte eher Lessings Theaterstücke – vielleicht ein Hinweis darauf, dass schon die jugendliche Leserin sich weniger für Handlungselemente als für die Intentionen der Figuren interessierte.3233

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Die Bewunderung für die Deutschlehrerin korrespondierte mit den frühen Versuchen zu schreiben; Christa war eine der wenigen, die nicht nur über «Volk ohne Raum», sondern auch über ein eher zartes Thema wie «Der erste Schnee» Aufsätze schreiben konnte. Schreiben entsprach dem kindlichen Wunsch, sich zu verwandeln, eine andere zu sein und die Begrenztheit des eigenen Lebens zu überwinden. Deshalb war auch die verlogene Familien-Idylle nicht falsch, die sie mit Blick auf die liebende Zustimmung der Lehrerin verfasste, sondern der Entwurf eines anderen, geeigneteren Lebens. «Ich habe früh versucht, die Verwandlung zu vollziehen, auf weißem Papier: Der Schmerz über die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit des Lebens ließ sich mildern», erinnert sich Christa Wolf 1965.39 Man muss die kindlichen Versuche nicht zu Anfängen des Schreibens stilisieren. Das Motiv der Verwandlung aber, das ihnen zugrunde liegt, und der Wunsch nach Anerkennung werden für die Schriftstellerin Christa Wolf ein Schreib-Impuls bleiben.