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Byung-Chul Han
Transparenzgesellschaft

Byung-Chul Han

TRANSPARENZGESELLSCHAFT

imageMatthes & Seitz Berlin

»Von dem, was die anderen nicht von mir wissen, lebe ich.«
Peter Handke1

POSITIVGESELLSCHAFT

Kein anderes Schlagwort beherrscht heute den öffentlichen Diskurs so sehr wie die Transparenz. Sie wird vor allem im Zusammenhang mit der Informationsfreiheit emphatisch beschworen. Die allgegenwärtige Forderung nach Transparenz, die sich zu deren Fetischisierung und Totalisierung verschärft, geht auf einen Paradigmenwechsel zurück, der sich nicht auf den Bereich der Politik und Wirtschaft begrenzen lässt. Die Gesellschaft der Negativität weicht heute einer Gesellschaft, in der die Negativität zugunsten der Positivität immer weiter abgebaut wird. So manifestiert sich die Transparenzgesellschaft zunächst als eine Positivgesellschaft.

Transparent werden die Dinge, wenn sie jede Negativität abstreifen, wenn sie geglättet und eingeebnet werden, wenn sie sich widerstandslos in glatte Ströme des Kapitals, der Kommunikation und Information einfügen. Transparent werden die Handlungen, wenn sie operational werden, wenn sie sich dem berechen-, steuer- und kontrollierbaren Prozess unterordnen. Transparent wird die Zeit, wenn sie zur Abfolge verfügbarer Gegenwart eingeebnet wird. So wird auch die Zukunft zur optimierten Gegenwart positivisiert. Die transparente Zeit ist eine Zeit ohne Schicksal und Ereignis. Transparent werden die Bilder, wenn sie, von jeder Dramaturgie, Choreografie und Szenografie, von jeder hermeneutischen Tiefe, ja vom Sinn befreit, pornografisch werden. Pornografie ist der unmittelbare Kontakt zwischen Bild und Auge. Transparent werden die Dinge, wenn sie ihre Singularität ablegen und sich ganz in Preis ausdrücken. Das Geld, das alles mit allem vergleichbar macht, schafft jede Inkommensurabilität, jede Singularität der Dinge ab. Die Transparenzgesellschaft ist eine Hölle des Gleichen.

Wer die Transparenz allein auf Korruption und Informationsfreiheit bezieht, verkennt ihre Tragweite. Die Transparenz ist ein systemischer Zwang, der alle gesellschaftlichen Vorgänge erfasst und sie einer tiefgreifenden Veränderung unterwirft. Das gesellschaftliche System setzt heute all seine Prozesse einem Transparenzzwang aus, um sie zu operationalisieren und zu beschleunigen. Der Beschleunigungsdruck geht mit dem Abbau der Negativität einher. Die Kommunikation erreicht dort ihre maximale Geschwindigkeit, wo das Gleiche auf das Gleiche antwortet, wo eine Kettenreaktion des Gleichen stattfindet. Die Negativität der Anders- und Fremdheit oder die Widerständigkeit des Anderen stört und verzögert die glatte Kommunikation des Gleichen. Die Transparenz stabilisiert und beschleunigt das System dadurch, dass sie das Andere oder das Fremde eliminiert. Dieser systemische Zwang macht die Transparenzgesellschaft zu einer gleichgeschalteten Gesellschaft. Darin besteht ihr totalitärer Zug: »Neues Wort für Gleichschaltung: Transparenz2

Die transparente Sprache ist eine formale, ja eine rein maschinelle, operationale Sprache, der jede Ambivalenz fehlt. Schon Humboldt weist auf die fundamentale Intransparenz hin, die der menschlichen Sprache innewohnt: »Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andre [denkt], und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen.« 3 Einer Maschine gliche jene Welt, die nur aus Informationen bestünde und deren störungsfreie Zirkulation Kommunikation hieße. Die Positivgesellschaft wird beherrscht von der »Transparenz und Obszönität der Information in einem Gefüge, in dem es keine Ereignisse mehr gibt«.4 Der Transparenzzwang nivelliert den Menschen selbst zu einem funktionellen Element eines Systems. Darin besteht die Gewalt der Transparenz.

Die menschliche Seele braucht offenbar Sphären, in denen sie bei sich sein kann ohne den Blick des Anderen. Zu ihr gehört eine Impermeabilität. Eine totale Ausleuchtung würde sie ausbrennen und eine besondere Art seelischen Burnouts hervorrufen. Transparent ist nur die Maschine. Spontaneität, Ereignishaftigkeit und Freiheit, die das Leben überhaupt ausmachen, lassen keine Transparenz zu. So schreibt auch Wilhelm von Humboldt über die Sprache: »[E]s kann im Menschen etwas aufsteigen, dessen Grund kein Verstand in den vorhergehenden Zuständen aufzufinden vermag; und man würde […] gerade die geschichtliche Wahrheit ihrer Entstehung und Umänderung verletzen, wenn man die Möglichkeit solcher unerklärbaren Erscheinungen von ihr ausschliessen wollte.« 5

Naiv ist auch die Ideologie der ›Post-Privacy‹. Sie fordert im Namen der Transparenz eine totale Preisgabe der Privatsphäre, die zu einer durchsichtigen Kommunikation führen soll. Sie sitzt gleich mehreren Irrtümern auf. Der Mensch ist nicht einmal sich selbst transparent. Freud zufolge verneint das Ich gerade das, was das Unbewusste schrankenlos bejaht und begehrt. Das »Es« bleibt dem Ich weitgehend verborgen. Durch die menschliche Psyche geht also ein Riss, der das Ich nicht mit sich übereinstimmen lässt. Dieser fundamentale Riss macht die Selbsttransparenz unmöglich. Auch zwischen Personen klafft ein Riss. So lässt sich unmöglich eine interpersonale Transparenz herstellen. Sie ist auch nicht erstrebenswert. Gerade die fehlende Transparenz des Anderen erhält die Beziehung lebendig. Georg Simmel schreibt: »Die bloße Tatsache des absoluten Kennens, des psychologischen Ausgeschöpfthabens ernüchtert uns auch ohne vorhergehenden Rausch, lähmt die Lebendigkeit der Beziehungen […]. Die fruchtbare Tiefe der Beziehungen, die hinter jedem geoffenbarten Letzten noch ein Allerletztes ahnt und ehrt, […] ist nur der Lohn jener Zartheit und Selbstbeherrschung, die auch in dem engsten, den ganzen Menschen umfassenden Verhältnis noch das innere Privateigentum respektiert, die das Recht auf Frage durch das Recht auf Geheimnis begrenzen läßt.« 6 Dem Transparenzzwang fehlt gerade diese »Zartheit«, die nichts anderes bedeutet als die des Respekts vor der nicht vollständig zu eliminierenden Andersheit. Angesichts des Pathos der Transparenz, das die heutige Gesellschaft erfasst, täte es Not, sich im Pathos der Distanz zu üben. Distanz und Scham lassen sich nicht in die beschleunigten Kreisläufe des Kapitals, der Information und der Kommunikation integrieren. So werden alle diskreten Rückzugsräume im Namen der Transparenz beseitigt. Sie werden ausgeleuchtet und ausgebeutet. Die Welt wird dadurch schamloser und nackter.

Auch die Autonomie des einen setzt die Freiheit zum Nicht-Verstehen des anderen voraus. Sennett bemerkt: »Statt einer Gleichheit des Verstehens, einer transparenten Gleichheit, bedeutet Autonomie, daß man akzeptiert, was man im anderen nicht versteht – eine opake Gleichheit.« 7 Eine transparente Beziehung ist außerdem eine tote Relation, der jede Anziehung, jede Lebendigkeit fehlt. Ganz transparent ist nur das Tote. Es wäre eine neue Aufklärung, anzuerkennen, dass es positive, produktive Sphären des menschlichen Daseins und Mitseins gibt, die der Transparenzzwang regelrecht zugrunde richtet. So schreibt auch Nietzsche: »Die neue Aufklärung. […] Es ist nicht genug, daß du einsiehst, in welcher Unwissenheit Mensch und Thier lebt; du mußt auch noch den Willen zur Unwissenheit haben und hinzulernen. Es ist dir nöthig, zu begreifen, daß ohne diese Art Unwissenheit das Leben selber unmöglich wäre, daß sie eine Bedingung ist, unter welcher das Lebendige allein sich erhält und gedeiht.« 8

Mehr an Information führt erwiesenermaßen nicht notwendig zu besseren Entscheidungen.9 Die Intuition etwa transzendiert die verfügbaren Informationen und folgt ihrer eigenen Logik. Durch die wachsende, ja wuchernde Informationsmasse verkümmert heute das höhere Urteilsvermögen. Oft bewirkt ein Weniger an Wissen und Information ein Mehr. Die Negativität des Auslassens und des Vergessens wirkt nicht selten produktiv. Die Transparenzgesellschaft duldet weder Informations- noch Sehlücke. Sowohl das Denken als auch die Inspiration bedarf aber einer Leere. Das Wort Glück rührt im Übrigen von der Lücke her. Auf Mittelhochdeutsch heißt es noch gelücke. So wäre die Gesellschaft, die keine Negativität der Lücke mehr zuließe, eine Gesellschaft ohne Glück. Liebe ohne Sehlücke ist Pornografie. Und ohne Wissenslücke verkommt das Denken zum Rechnen.

Die Positivgesellschaft verabschiedet sich sowohl von der Dialektik als auch von der Hermeneutik. Die Dialektik beruht auf der Negativität. So wendet sich Hegels »Geist« vom Negativen nicht ab, sondern erträgt es und erhält sich in ihm. Die Negativität nährt das »Leben des Geistes«. Das Andere im Selben, das eine Negativspannung erzeugt, erhält den Geist lebendig. Er ist die »Macht« nur, so Hegel, wenn »er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt«.10 Dieses Verweilen ist die »Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt«. Wer sich dagegen nur durch das Positive zappt, ist ohne Geist. Der Geist ist langsam, weil er beim Negativen verweilt und es für sich bearbeitet. Das Transparenzsystem schafft jede Negativität ab, um sich zu beschleunigen. Das Verweilen am Negativen weicht dem Rasen im Positiven.

Die Positivgesellschaft lässt auch keine Negativgefühle zu. So verlernt man mit Leiden und Schmerz umzugehen, ihm Form zu geben. Für Nietzsche verdankt die menschliche Seele ihre Tiefe, Größe und Stärke gerade dem Verweilen am Negativen. Auch der menschliche Geist ist eine Schmerzgeburt: »Jene Spannung der Seele im Unglück, welche ihr die Stärke anzüchtet […], ihre Erfindsamkeit und Tapferkeit im Tragen, Ausharren, Ausdeuten, Ausnützen des Unglücks, und was ihr nur je von Tiefe, Geheimnis, Maske, Geist, List, Grösse geschenkt worden ist: –ist es nicht ihr unter Leiden, unter der Zucht des grossen Leidens geschenkt worden?« 11sans tomber amoureux)!« 12