Adam Thirlwell
Der multiple Roman
Vergangene und zukünftige Abenteuer der Romankunst,
verortet auf fast allen Kontinenten, in zehn Sprachen
& mit einem gigantischen Ensemble von Schriftstellern,
Übersetzern & anderen Phantasiewesen
Aus dem Englischen von Hannah Arnold
FISCHER E-Books
Adam Thirlwell,»das Wunderkind der britischen Literatur« (Times Magazine), wurde 1978 geboren und lebt in London. Er war 2003 auf der »Granta’s List of Best young British Novelists« und gewann den Betty-Trask-Award. Seine Romane ›Strategie‹ und ›Flüchtig‹ wurden international hochgelobt.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
Diese vom Autor vollkommen überarbeitete Ausgabe basiert auf dem Titel 'Miss Herbert', erschienen bei Jonathan Cape, London 2007.
© Adam Thirlwell 2013
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402863-7
Oder, anders gesagt, mit den Worten, die François Truffaut für Alfred Hitchcock fand: »Die Kunst, Spannung herzustellen, ist die Kunst, das Publikum so mit einzubeziehen, daß der Zuschauer zum Mitwirkenden wird. In diesem Bereich des Schauspiels ist die Filmkunst keine zweigleisige Wechselwirkung zwischen dem Regisseur und seinem Film, sondern ein Dreierspiel, in dem auch das Publikum dazu angehalten wird mitzumachen.«
»›Um welche Wörter handelt es sich?‹ fragte ich«, schrieb Budgen. Und Joyce antwortete: »›Parfüm der Umarmungen bestürmten ihn alle. Mit gehungertem Fleisch, düster, begehrte er stumm zu bewundern.‹ Sie können selber sehen, auf wie viele verschiedene Weisen es möglich ist, sie anzuordnen.«
Ein Schüler, Boris Furlan, erinnerte sich daran, dass er eine Öllampe beschreiben sollte. Er versuchte es und scheiterte. Sein Lehrer übernahm, und zeigte Furlan mit »Lust am Beschreibens«, wie dieser es nannte, auf welche Weise die Aufgabe zu meistern war.
»Wenn ich ihn sehe, wie er auf der Straße geht, denke ich immer, dass er seine Freizeit eine ganze Freizeit genießt. Niemand erwartet ihn und er will kein Ziel erreichen oder will jemanden treffen. Nein! Er geht, um alleine gelassen zu werden. Auch geht er nicht für Gesundheit. Er geht, weil er von nichts gestoppt wird. Ich glaube, wenn er seinen Weg von einer hohen, großen Mauer versperrt findet, er ist kein bisschen geschockt. Er ändert die Richtung und wenn die neue Richtung auch nicht so klar ist, ändert er sie wieder und geht weiter auf seinen Händen nur die natürlichen Bewegungen des ganzen Körpers, seine Beine arbeiten ohne Mühe seine Schritte zu verlängern oder zu beschleunigen. Nein!«
Was mich an einen weiteren Modernisten mit einer Vorliebe für Ökonomie erinnert: André Breton, der im surrealistischen zwanzigsten Jahrhundert in seinem Manifest des Surrealismus die Romanform wegen ihrer verrückten Fixierung auf Einzelheiten angriff. Vier Jahre später, 1928, veröffentlichte Breton seine experimentelle Erzählung Nadja, in der er den Verlauf einer Amour fou in den Straßen von Paris beschreibt. Und so, seiner Abneigung gegenüber Beschreibungen treu bleibend, fügte Breton einfach Fotos jener Orte in seinen Text ein, die er in Nadja erwähnte. Diese Fotos waren hilfreiche Extras und im Einklang mit Bretons Ablehnung der »moments nuls« in einem Roman. Und das ist natürlich cool: Es ist nur so, dass vor ihm schon Sterne von der Romanform gelangweilt gewesen war.
Aber die naheliegende Geschichte über Saul Steinberg hat überhaupt nichts mit Karikaturen zu tun. Die naheliegende Geschichte spiegelt die Tragik der europäischen Geschichte wider. Steinberg wurde 1914 in Rumänien geboren. 1933 zog er nach Mailand, wo er an der Fakultät für Architektur der Regio Politecnico studierte. 1940 versuchte er ein Visum für die Vereinigten Staaten zu bekommen, um den faschistischen anti-jüdischen Gesetzen zu entkommen, die seit 1938 erlassen wurden. Er schaffte es, über Lissabon ein Visum für die Dominikanische Republik zu bekommen: Aber im September 1940 wurde er von den Portugiesen zurück nach Italien geschickt. Im November lief sein rumänischer Pass aus und er wurde staatenlos. Nachdem er sich in den Wohnungen von Freunden versteckt hatte, und zwischen Mai und Juni 1941 verhaftet und interniert worden war, erreichte Steinberg Lissabon erneut, über Barcelona. Diesmal wurde ihm die Ausreise genehmigt. Im Juli kam er endlich in der Dominikanischen Republik an – und versuchte erneut ein Visum für die USA zu bekommen. Im Mai 1942 gelang ihm dies schließlich. Am 12. Juni 1942 kam er in Miami an und stieg in einen Bus nach New York, wo er im Prinzip den Rest seines Lebens verbrachte.
Oder seine Zeichnung von 1954, »The Line«, wo eine einzige zehn Meter lange Linie Brücke, Schaufenster, Horizont, Decke, Tischkante, »Meniscus« eines Schwimmbads und eine Wäscheleine ist und dann zur Linie selbst wird, die von einer auch mit Linien gezeichneten Hand gezeichnet wird.
Ein Buch, das sich 277 Mal verkaufte. Aber wir müssen uns hier nicht mit Verkaufszahlen abgeben.
Genau wie in Inside a Skinhead geht meine Entdeckung des Filmregisseurs David Fincher mit der Beobachtung einher, dass ein Filmdirektor eine seltsame Art von Autorschaft hat – die »Autorschaft beim Erschaffen eines Moments gegenüber der Autorschaft beim Erfinden einer Figur, gegenüber der Autorschaft beim Formen einer Ansicht davon, wie man etwas am besten beschreibt oder dramatisiert.«
Einen Monat vorher war Barthes von einem Wäschetransporter angefahren worden, als er das Collège verließ – unter dem Arm, so die Legende, eine Dissertation über ›La Mort anonyme‹, die er gerade bewertete. Aber dieses Detail ist, finde ich, zu einfach. Es ist die Essenz des Anekdotischen mit seinen schillernden Details. Und dies ist das Gegenteil des Lebensnahen, des Romanhaften.
»Dass der Schauspieler Trauer darstellen kann beweist die Unzuverlässigkeit des Zeugnisses unserer Sinne«, schrieb Wittgenstein in der gleichen Reihe von Notizbucheinträgen, »aber dass er Trauer darstellen kann beweist gleichzeitig die Wirklichkeit dieser Zeugnisse.«
Und ich hoffe, dass die Léons diesen Tisch eine Weile behielten, denn dann wäre es derselbe, an dem acht Jahre später, im Jahre 1938, Nabokov mit Lucie sitzen sollte –, als sie ihm mit dem Englisch seines ersten direkt auf Englisch, nicht auf Russisch verfassten Romans half, The Real Life of Sebastian Knight / Das wahre Leben des Sebastian Knight, ein Roman, in dem Nabokov sich mit der Idee beschäftigt, dass etwas Wirkliches in mehr als einer Sprache existieren kann.
Und das bedeutet, dass es Mandelstam, genauso wie Fénéon, vor der Art und Weise grauste, wie meist über Literatur geschrieben wurde. Ständig beklagt er sich über einen mangelhaften Wortschatz: »Wieder und wieder wende ich mich an den Leser und bitte ihn, sich etwas ›vorzustellen‹, das heißt ich wende mich an die Analogie, die sich ein einziges Ziel stellt: die Mangelhaftigkeit unseres Definitionssystems wettzumachen.«
1929 machte Igor Stravinsky, ein weiterer Exilant aus dem kommunistischen Russland, in Harvard eine ganz ähnliche Äußerung: »Die bildenden Künste werden uns im Raum vorgestellt. Wir gewinnen einen Gesamteindruck von ihnen, bevor wir nach und nach und in unserem eigenen Tempo Details entdecken. Aber Musik beruht auf zeitlichen Abfolgen, die Geistesgegenwärtigkeit erfordern. Folglich ist Musik eine chronologische Kunst, während die bildenden Künste räumliche Künste sind.«
1832 griff sich Stendhal zufällig sein Vie de Rossini und machte folgende Notiz – »J’avais oublié ceci. Ouvert par hasard le 17 février 1832 à Civ. Very satisfied of the first pages. 1832.« Und noch einmal: »Content after huit ans. 17 févr 1832.«
In Notizen über Stendhal macht der sizilianische Schriftsteller Giuseppe di Lampedusa eine wichtige Beobachtung: »Der Dialog der Personen in Le Rouge et le Noir beruht auf einer derart raffinierten Technik, daß man sie auf den ersten Blick gar nicht bemerkt. Man wird dort vergebens die Fehler zahlreicher Romane suchen (darunter einige der größten!), die darin bestehen, das Innere der Figuren durch ihre Reden offenlegen zu wollen … Es gibt bei ihm keine einzige berühmte Dialogstelle.«
Genauso beschreibt Nabokov in seiner Autobiographie, wie ein Familienfreund, General Kuropatkin, einmal einen Zaubertrick mit Streichhölzern gezeigt hatte. Dann traf Nabokovs Vater fünfzehn Jahre später, als er vor den Bolschewiken floh, den verkleideten Kuropatkin und bat ihn um Feuer: »Was mir gefällt«, fuhr Nabokov fort, »ist die Entwicklung des Steichholzthemas:« »Derlei thematische Muster das Leben hindurch zu verfolgen, sollte, so meine ich, der wahre Zweck einer Autobiographie sein.«
Eine Frau namens Jeanne Le Perthuis des Vauds verlässt das Kloster, in dem sie erzogen wurde, und heiratet einen Mann namens Monsieur le Vicomte de Lamare, dessen Vorname Julien ist. Sie verbringen ihre Flitterwochen in Korsika. Dann leben sie zusammen bei Jeannes Familie in der Normandie – Les Peuples. Dort betrügt Julien Jeanne mit ihrem Dienstmädchen, Rosalie. In der Zwischenzeit bringt Jeanne ein Baby zur Welt, Paul. Julien betrügt Jeanne mit ihrer besten Freundin, der Comtesse de Fourville, deren Ehemann, der Comte de Fourville, ihre Untreue entdeckt und sowohl Julien als auch die Comtesse ermordet. Dann stirbt Jeannes Mutter. Jeannes Sohn Paul verlässt sein Zuhause, häuft riesige Schulden an, und bandelt mit einer Prostituierten an. Er fordert immer mehr Geld. Jeanne ist ruiniert. Dann stirbt Jeannes Vater. Das Dienstmädchen, Rosalie, kehrt zurück, um sich um Jeanne zu kümmern. Pauls Freundin bekommt ein kleines Mädchen und stirbt dann auch. Rosalie reist nach Paris, um das Baby zu holen, damit es bei ihr und Jeanne leben kann.
Und richtig, dies war schon einmal geschehen, in Sankt Petersburg, wo Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Nikolai Gogol seine Geschichte mit dem Titel Nase schrieb (die Saul Steinbergs Lieblingsgeschichte werden sollte), in der er eine Wirklichkeit darstellt, die sich in etwas Seltsames, etwas Traumähnliches verwandelt hatte – wo ein Mann seine Nase verliert und diese Nase dann in Sankt Petersburg herumläuft, als sei nichts passiert. In ihren frühen Fassungen wurde die Erzählung explizit als Traum einer Figur identifiziert: Aber die fertige Fassung enthält keine Hinweise darauf, dass die beschriebene Wirklichkeit von der ontologischen Stabilität eines Traumes sein könnte: die hatte Gogol alle gestrichen.
Nicht, wie Nabokovs fiktiver Schriftsteller, Sebastian Knight, denn der »gehörte zu jener seltenen Sorte von Schriftstellern, die wissen, daß nichts außer der vollkommenen Leistung übrigbleiben darf: dem gedruckten Buch, dessen Vorhandensein sich schlecht mit dem seines spukhaften Zerrbildes verträgt, des ungeschliffenen Manuskripts, das mit seinen Schwächen prahlt, wie ein rachsüchtiges Gespenst den Kopf unter dem Arm trägt …«
Eine von Vladimir Nabokovs Vorlesungen über Don Quixote hieß »Siege und Niederlagen«. Darin beschrieb er genau »vierzig Episoden, in denen Don Quijote als fahrender Ritter agiert«. Und er führte fort: »Wir wollen ihm nunmehr durch diese vierzig Begegnungen folgen. Die meisten von ihnen sind Vermeintlichkeiten. Sie enden entweder mit einem Sieg oder einer Niederlage, wobei der Sieg oftmals ein moralischer ist. Und hinter jeder Vermeintlichkeit steht eine Tatsache. Wir werden im weiteren diese Siege und Niederlagen nach Punkten werten. Das Spiel beginnt. Sehen wir zu, wer es gewinnt: Don Quijote oder seine Gegner.« Es braucht einen Leser wie Nabokov, mit seinem Talent für das Wieder-Lesen, um die Entscheidung zu treffen, eine solche Tabelle aufzustellen: Und es braucht seine Art von Talent, um so ein glückliches Resultat zu erzielen: »Wir haben also einen Endstand von 20:20 oder, gerechnet wie beim Tennis, 6:3, 3:6, 6:4 und 5:7. Allerdings kommt es zur Austragung des fünften Satzes nicht mehr: das Spiel erfährt seinen Abbruch durch den Tod. Nach Treffern gezählt, ist der Stand ausgeglichen – zwanzig Siege, zwanzig Niederlagen. Und auch in jedem der beiden Buchteile haben wir Gleichstand: 13:13 bzw. 7:7. Diese vollkommene Ausgewogenheit von Sieg und Niederlage ist eine wirklich große Überraschung bei etwas, das so sehr nach einem zufällig zusammengestückelten Buch aussieht. Sie verdankt sich einem geheimen Gespür im Zuge der Niederschrift, hervorgegangen aus der alles in Einklang bringenden Intuition des echten Künstlers.«
»Alles oder fast alles, was ich geschrieben habe«, so Tolstoi, »war durch mein Bedürfnis motiviert, eng verstrickte Ideen zusammenzuführen, um mich auszudrücken, aber jede Idee, die notwendigerweise in getrennten Wörtern ausgedrückt wird, verliert ihre Bedeutung und ist verarmt unwahrscheinlich, sobald sie aus dem sie umgebenden Netzwerk entfernt wird.« Und außerdem, diese Worte lege ich Tolstoi in den Mund: »ist das Wichtigste an einem Kunstwerk, dass es eine Art Fokus besitzt – d.h. eine Stelle, an der alle Strahlen zusammentreffen oder von der diese ausgehen. Und diesen Fokus sollte man nicht völlig in Worte fassen können. Diese ist in der Tat das Wichtigste an einem guten Kunstwerk, dass sein grundlegender Inhalt in seiner Gesamtheit nur durch ihn selbst ausgedrückt werden kann.«
Wobei dies Tolstoi gelungen war, wie mir gerade auffällt: In Krieg und Frieden erhob sich die pedantische Figur Berg, »küßte Weras Hand, und legte bei der Gelegenheit eine umgeschlagene Ecke des Teppichs zurecht.«
Und das erinnert mich an John Cage, der in einem Gespräch mit Daniel Charles seine Traumarbeit als einen Wald beschreibt: »Ein Wald hat Bäume, Pilze, Vögel. Es ist möglich, die bestehenden Organisationen zu vermehren. In jedem Fall ergibt das Ganze eine Disorganisation.« Und so, denke ich, kann man auch die Struktur eines Romans beschreiben: Als einen unordentlichen Wald, dessen vielzählige Organisationen nicht anders können, als insgesamt eine hochgradig organisierte Disorganisation zu bilden.
Und so liebt er nicht nur die metaphorische Verwandlung des Alltags, sondern umgekehrt auch die Verwandlung der alltäglichen metaphorischen Handlungen in wörtliche Sätze. In seinem Buch Theorie der Prosa beschrieb der revolutionäre russische Wiktor Schklovski seine Theorie, dass der literarische Stil existierte, um unser Wissen über die Wirklichkeit zu erhöhen: »um uns zu einer ›Vision‹ von diesem Objekt zu bringen, statt nur zu einer reinen ›Anerkennung‹«. Sein Beispiel war Tolstois Beschreibung einer Oper: »Mitten auf der Bühne saßen junge Mädchen in roten Leibchen und weißen Röcken. Ein junges Mädchen, das sehr fett und in weiße Seide gekleidet war, saß getrennt von den anderen auf einer niedrigen Bank, an die von hinten eine grüne Pappe angebracht war. Alle sangen sie etwas.« Dies, schrieb Schklovski, sei die Essenz des Verfremdens. Aber Dickens war schon vor ihm soweit gewesen – verwirrt von der Ontologie der Doppelbesetzung, als er Macbeth im Theatre Royal in Chatham sah: »Viele wundersame Geheimnisse hatte ich in diesem Heiligtum erfahren: nicht zuletzt, dass die Hexen in Macbeth eine furchtbare Ähnlichkeit mit den Thanen und anderen ursprünglichen Einwohnern von Schottland hatten; und dass der gute König Duncan in seinem Grab keine Ruhe fand, sondern es ständig verließ und sich als anderer ausgab.«
Das dann von Henry Fielding übernommen wurde – dessen idealer Roman, den er in seiner Beschreibung so doppelt oxymoronisch definierte: als »komisches episches Gedicht in Prosa«.
Und diese formale Eigenschaft hat einen stofflichen Zwilling: die Auferstehungen von Dickens’ Stil wurden – ab Dombey and Son – durch seine Arbeitsweise hervorgerufen: er benutzte gefaltete Blätter Papier, die er zu diesem Zweck in Abschnitte aufteilte, um seine Fortsetzungsromane mit ihren verschiedenen Teilen und Kapiteln zu konzipieren: auf diese Weise plante er das Ballett seiner Figuren, die Choreographie seiner Handlungen.
»Das einzige, was mir bleibt und mir gehört, ist ein Blatt mit losen Notizen«, so endet Italo Calvinos Aufsatz »La Poubelle Agréée«, den er zwischen 1974 und 1976 in Paris schrieb: »die ich mir während der letzten Jahre unter dem Titel La poubelle agréée gemacht habe, um sie in einem Essay auszuführen: Thema der Reinigung des Abfalls – Wegwerfen ist komplementär zur Aneignung – Inferno einer Welt, in der nichts weggeworfen würde – man ist, was man nicht wegwirft – Identifikation unserer selbst – Müllabfuhr als Autobiographie – Befriedigung durch Konsum – Defäkation – Thema der Stofflichkeit, Selbsterneuerung, bäuerliche Welt – Kochen und Schreiben – Autobiographie als Müllabfuhr – Überlieferung als Bewahrung – und andere Stichworte mehr, deren Stellenwert und Zusammenhang ich nicht mehr rekonstruieren kann: Thema der Erinnerung – Ausstoß der Erinnerung – verlorene Erinnerung – Bewahren und Verlieren dessen, was man verloren hat – was man nicht gehabt hat – was man zu spät gehabt hat – was wir mit uns herumschleppen – was uns nicht gehört – zu leben, ohne etwas mit sich herumzuschleppen (animalisch): man schleppt vielleicht noch mehr mit sich herum – nur für das Werk zu leben: man verliert sich, es kommt zum unbrauchbaren Werk, ich bin nicht mehr da.«
Unser gemeinsamer Freund: »das leblose [London] einem rußigen Gespenste glich, das nicht recht zu wissen schien, ob es sichtbar werden oder unsichtbar bleiben sollte, und daher keins von beiden war.«
Coglionissimo: Rieseneier.
Genau wie am Ende von Ulysses, als Bloom ins Bett geht und über die Untreue seiner Frau Molly nachdenkt. Und »[w]enn er gelächelt hätte«, wird im Roman gefragt, und hier spricht in Wirklichkeit der Infinitiv, »warum hätte er gelächelt?« Und der Infinitiv antwortet sich selber: »Bei dem Gedanken, daß jeder, der hereinkommt, sich einbildet, er sei der erste, der hereinkommt, während er doch immer der letzte einer vorangegangenen Reihe ist, selbst wenn er der erste einer nachfolgenden ist, insofern als sich jeder einbildet, der erste, der letzte, einzige und alleinige zu sein, während er doch weder der erste noch der letzte noch der einzige und alleinige ist in einer Reihe, die im Unendlichen beginnt und ins Unendliche sich fortsetzt.« Und als noch mal nach dem Grund von Blooms Gleichmut gefragt wird, ist die Antwort dieses Mal, dass Mollys Untreue schlichtweg »ebenso natürlich wie alle und jede zu Ausdruck oder Verständnis gelangende natürliche Bestätigung in natürlicher Natur« ist. »Da nicht so katastrophal wie eine kataklysmische Vernichtung des Planeten infolge einer Kollision mit einer erloschenen Sonne.« (Ulysses, S. 930 bzw. S. 932)
»Unzweifelhaft ist die geschlechtliche Liebe«, so Freud in seinem Aufsatz »Bemerkungen über die Übertragungsliebe«, »einer der Hauptinhalte des Lebens … Alle Menschen bis auf wenige verschrobene Fanatiker wissen das und richten ihr Leben danach ein …«.
»– Seh Er nur her! er Schlingel, rief mein Vater und zeigte auf den Maulesel, was er da angestellt hat! – Ich war es nicht, sagte Obadiah. – Woher soll ich das wissen? versetzte mein Vater.«
Der Junge, der sich dazu entscheidet, mit seiner Großmutter zu schlafen, rechtfertigt sich seinem Vater gegenüber mit einem zweifelhaften Argument: »Sie haben, Sir, meiner Mutter beigewohnt, sagte der Bursch’ – warum sollt’ ich nicht Ihrer beiwohnen?«
»Sterne ist der grosse Meister der Zweideutigkeit,« schrieb Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches II – und sagte, Sterne sei »der freieste Schriftsteller«: »Seine Abschweifungen sind zugleich Forterzählungen und Weiterentwicklungen der Geschichte; seine Sentenzen enthalten zugleich eine Ironie auf alles Sentenziöse, sein Widerwille gegen das Ernsthafte ist einem Hange angeknüpft, keine Sache nur flach und äusserlich nehmen zu können. So bringt er bei dem rechten Leser ein Gefühl von Unsicherheit darüber hervor, ob man gehe, stehe oder liege: ein Gefühl, welches dem des Schwebens am verwandtesten ist. Er, der geschmeidigste Autor, teilt auch seinem Leser etwas von dieser Geschmeidigkeit mit.«
In Paris freundete sich Sterne mit Crébillon fils an – dem Autor von eleganten, erotischen, verspielten Kurzromanen. Die beiden wurden so gute Freunde und verstanden die Schreibprojekte des jeweils anderen so gut, dass sie gemeinsam einen geistreichen Plan ausheckten, eines der größten verschollenen Experimente in der Geschichte des Romans: Crébillon sollte in einem Brief die »Unschicklichkeiten von T. Shandy« attackieren, worauf Sterne reagieren sollte, indem er seinerseits »Gegenanschuldigungen ob der Freizügigkeiten« in Crébillons Romanen erhöbe. Die beiden Briefe sollten dann gemeinsam gedruckt und verkauft werden, wobei sich die beiden Verfasser den Gewinn teilen wollten.
Und dieses Thema besitzt ein ganz eigenes Motiv. Während er nämlich versuchte, ein Äquivalent für Sternes englisches Wort hobby-horse zu finden, führte Frénais das französische Wort dada ein – ein Wort, das Richard Huelsenbeck, Hugo Ball und Tristan Tzara 300 Jahre später zufällig in einem französischen Wörterbuch finden sollten, als sie versuchten, ihre polyglotte, internationale Bewegung zu taufen, die besessen war von schlechten Reproduktionen, Verspieltheit, und Defekten: von der absoluten Formlosigkeit.
Wie die winzigen Genauigkeiten, die Eugen Onegin auffallen: »vor Froststaub silbert/sein Biberkragen«; oder »noch liegen die müden Lakaien/auf Pelzen nahe dem Eingang im Schlaf«; oder das Blut, das »dampfend« aus der Wunde floss; oder diese Beschreibung von Eugens Ankleidezimmer, mit ihrer Struktur der Winzigkeiten, der Nützlichkeiten: »Parfums in geschliffenem Kristall,/Kämmchen, kleine Stahlfeilen,/gerade Scheren, gekrümmte/und dreißigerlei Bürsten …« Onegin ist, wie Nabokov auffiel, »ein Mann mit einem Schrank«. Und dies ist ungewöhnlich für eine Figur – dass sie eine Garderobe besitzt. So viele Figuren in der Literatur scheinen auf magische Weise blendend ohne Schrank zurecht zu kommen und ziehen sich aus dem Nichts an. Onegins mit Kleidern gefüllter Schrank ist eine willkommene Erneuerung …
Konkret: mit Hilfe des anglophonen italienischen Romanschriftstellers Francesco Pacifico.
Was »The House Beautiful« betrifft, aus dieser Geschichte entstand der Fortsetzungsroman The Old Things, der zwischen April und Oktober 1896 im Atlantic erschien, und 1897 als The Spoils of Poynton in Buchform. Auch aus einer weiteren jener Geschichten, die James Scudder im März 1895 versprochen hatte, wurde ein Roman: The Awkward Age – »den ich ursprünglich zu schreiben begann, um Ihrer Einladung zu folgen, der aber, wie bald offensichtlich wurde, den von Ihnen vorgegebenen Rahmen unwiderstehlich sprengen würde.«
Später schrieb James über einen anderen Roman, The Golden Bowl: »Die ganze Situation bewegt sich unausweichlich im Kreise – was man einen circulus vitiosus nennen könnte … Die Kreiselbewegung, der circulus vitiosus, entsteht aus aus den Gründen, die jede der Parteien der anderen angibt.«
Genauso, wie der folgender Eintrag im Goncourt Tagebuch für Samstag, den 31. März 1877, nach der Veröffentlichung von Edmond de Goncourts Roman La Fille Élisa: »Ich sah gerade einen großen Buchladen an einem neuen Boulevard, dessen Schaufenster nichts zeigten als La Fille Élisa; jedes einzige von ihnen zeigt den Menschen, die draußen anhalten, meinen Namen, allein meinen Namen.«
Und ich denke an einen Moment in Die Falschmünzer, wo Gide die versteckte Ironie einer Situation erschafft, indem er einen fiktiven Schriftsteller eine Theorie der Liebe in seinem Tagebuch aufschreiben lässt, eine Theorie von den Komplikationen der wahren Gefühle: »Auf dem Gebiete der Empfindungen unterscheidet sich das Wirkliche nicht vom Eingebildeten. Und wenn es genügt, sich einzubilden, daß man liebe, um zu lieben, dann genügt es auch, sich zu sagen, man bilde sich ein zu lieben, wenn man liebt, um sogleich etwas weniger zu lieben …« Und dann ironisiert Gide noch weiter, weil der Schriftsteller hinzufügt: »Durch solche Schlußfolgerungen wird in meinem Buch Monsieur bemüht sein, sich von Madame Z loszumachen …« Denn alle Ideen sind relativ; sie alle werden alle von den Menschen benutzt, um ihre eigenen Gefühle zu bestätigen oder erst zu erschaffen. In Gides Romanen sind Ideen Werkzeuge: sie sind Trickkisten.
Und ich denke zum Beispiel an Stendhals avantgardistische Beschreibung von Waterloo. Es war nicht, wie sein Held Fabrizio dachte, ein romantisches und grandioses Ereignis. Im Gegenteil, Waterloo war das reine Durcheinander. »Der Wachtmeister trat auf Fabrizio zu. In diesem Augenblick hörte unser Held, wie hinter ihm und ganz nahe an seinem Ohr jemand sagte: ›Das ist der einzige Gaul, der noch galoppieren kann.‹ Er fühlte sich an den Beinen gepackt. Während man seinen Körper unter den Armen stützte, hob man ihn aus dem Sattel, zog ihn so über die Kruppe seines Pferdes und ließ ihn dann zur Erde niedergleiten, wo er zu sitzen kam. Der Adjutant ergriff Fabrizios Pferd am Zügel. Der General, dem der Wachtmeister dabei half, stieg auf und ritt im Galopp davon. Die noch übrigen sechs Mann folgten eilends. Fabrizio erhob sich wütend, rannte ihnen nach und schrie: ›Ladri! Ladri!‹ (Diebe! Diebe!) Es wirkte spaßig, wie er mitten auf einem Schlachtfeld Dieben nachlief.« Diese Beschreibung von Waterloo als Chaos ist eine Miniaturversion von Stendhals Roman – die avantgardistische Ironie seiner Komposition. Und das ist genau der Grund, weshalb er Tolstoi gefiel. »Ich verdanke ihm, dass ich den Krieg verstehe. Man denke nur an die Beschreibung der Schlacht zu Waterloo in Die Kartause von Parma. Wer hat vor ihm den Krieg so beschrieben, wie er wirklich ist? Erinnerst du dich daran, wie Fabrice das Schlachtfeld überquert ohne ›eine einzige Sache‹ zu verstehen und wie schlau die Husaren ihn über die Hinterhand seines Pferdes, seines edlen ›Generalspferdes‹ absteigen ließen? Im Kaukasus bestätigte mein Bruder mir, der vor mir Offizier war, dass diese Beschreibungen von Stendhal alle der Wahrheit entsprachen; er liebte den Krieg, war aber keiner jener einfältigen Menschen, die an die Brücke von Arcole glauben. ›All das‹, sagte er mir, ›ist Großtuerei – und im Krieg gibt es keine Großtuerei.‹ Kurze Zeit später musste ich auf der Krim nur um mich blicken, um dies mit eigenen Augen zu sehen. Aber ich wiederhole, bei allem, was ich über den Krieg weiß, war Stendhal mein erster Meister.«
1852, während er Madame Bovary schrieb, wünschte sich Flaubert etwas: »Möge ich wie ein Hund sterben, ehe ich auch nur einen Satz in Eile beende, bevor dieser völlig reif ist.« Dieser Wunsch ist ein Motiv in Flauberts Korrespondenz. 1857, nachdem Madame Bovary Furore gemacht hatte, erzählte er Mademoiselle Leroyer de Chantepie, er sei »fast zu seiner alten Routine zurückgekehrt, die so ereignislos und friedlich ist und die meine Sätze zu Abenteuern werden lässt.« Und zwanzig Jahre später war das Motiv immer noch ein Motiv. »Ich kann mir einfach nicht helfen: sogar wenn ich schwimme, teste ich meine Sätze, ich kann es nicht ändern.«
Man denke nur an Joyces Schüler, Italo Svevo, der sich, als er das Gefühl bekam, er stünde vielleicht kurz vor seinem großen Durchbruch, fragte ob eine Konsequenz seines Ruhms und seines Reichtums vielleicht sein würde, dass er durch sie endlich die Möglichkeit haben würde, die Unreinheiten in seinem Italienisch auszugleichen – denn eine immer wiederkehrende Kritik an seinen Romanen war die Einfachheit ihres Stils. Aber die Originalität von Svevo hat nichts mit seinen stolprigen Sätzen zu tun. Und so hätten diese Überarbeitungen ihn paradoxerweise nur noch stilloser gemacht. Und es war ein Stottern, das teils durch das multinationale Unternehmen bedingt war, das Svevos Heimatstadt war: Triest. Denn Svevos Muttersprache war Tergestino, der triestinische Dialekt. Seine zweite Sprache war Deutsch. Seine dritte Sprache war Italienisch, die Sprache, in der er schrieb. Dies war der Grund, weshalb sein Italienisch für einige Leute das Italienisch eines Verkäufers, eines Buchhalters war –, nicht das eines Literaten. Und so musste der italienische Dichter Eugenio Montale, der Svevos Stil liebte, diesen verteidigen, indem er die Frage erhob, ob das klobige Wirrwarr von Svevos Absatz nicht »die sichere Gegenwart eines Stils« beweise? Und dem schloss er schnell an: »Es ist ein kommerzieller Stil, sicherlich, aber auch der einzige, der mit seinem Charakter harmonieren konnte.« In einem anderen Stück über Svevo beschäftigte sich Montale noch einmal mit diesem Problem von Svevos Sprache, seinem Kauderwelsch-Italienisch. Diesmal bereitete ihm der möglicherweise harmonisierend wirkende Effekt einer gut gemeinten Übersetzung Kopfzerbrechen – »in der sicherlich verloren gehen müsste, was ich die Sklerose seiner Figuren nenne würde«. Stattdessen, argumentierte Montale, waren Svevos Sätze »sowohl aufwendig als auch tiefgründig, kompliziert aber auch frei.« So dass, obwohl ein Übersetzer vielleicht das Gefühl haben mochte, er solle besser »ein paar Kommata einfügen, um einige Anakoluthe auszugleichen«, war Svevos Stil untrennbar mit seinen Fehlern verbunden. Verbesserungen wären nur ungenaue Übersetzungen. Sie wären nicht im Einklang mit der Komödie seiner Sklerose.
Seine Perkeo war 1905 hergestellt worden, er hatte sie während des Zweiten Weltkrieges einigen sowjetischen Soldaten abgekauft. Perkeo war eine deutsche Firma. Und so ergab sich für den tschechischen Schriftsteller ein Problem: eine Perkeo konnte man nur schwer an das komplizierte System der tschechischen Akzente anpassen. Eigentlich konnte man sie überhaupt nicht daran anpassen. Und so schrieb Hrabal alle seine Texte auf Tschechisch aber ohne Akzente, und so war die übersetzte Molly eine Übersetzung …
(Die alltägliche, gierige Präzision von Hrabals Metaphern! Wie ein Heiligenschein – »einen ganz schlichten Kreis, einen violetten Flammenkranz, […] wie die Flamme des leuchtenden Kochers der Marke Primus; oder Frauenhaar in einem Schwimmbecken, »das sich während der kräftigen Arm- und Beinschläge streckte, um für einen Moment gewissermaßen innezuhalten, so daß sich die Spitzen leicht wellten wie Wellblech«).
Aus diesem Grund ist das andere wichtige Motiv in diesem Roman der Aufzug. Wie auch der Schreibtisch taucht er im Haus von Karls Onkel auf: wo es einen Möbelaufzug gibt und daneben einen leerstehenden Personenaufzug. Und als Karl das Haus seines Onkels verlassen hat und das Hotel Occidental in einer Stadt namens Ramses erreicht hat, findet er natürlich Arbeit als Liftjunge – eine Arbeit, die Zugang zu oberen Stockwerken gibt, die für die weniger wohlhabenden Gäste reserviert sind. Ja, das ist Karl: Und Kafka beendet das Kapitel »Im Hotel Occidental« mit diesem Bild von Karl, der sich um vier Uhr morgens ausruht und den Lichtschacht herunterblickt, »der von großen Fenstern der Vorratskammern umgeben war, hinter denen hängende Massen von Bananen im Dunkel gerade noch schimmerten.«
1931, mit 23 Jahren, übersetzte Pavese Sinclair Lewis’ Our Mr Wrenn. Ein Jahr später übersetzte er Melvilles Moby Dick und Dark Laughter von Sherwood Anderson. Zwischen 1935 und 1942 folgten die Übersetzungen von John Dos Passos’ 42nd Parallel, Gertrude Steins Three Lives, Melvilles Benito Cereno und Faulkners The Hamlet. Auch wenn Paveses Englisch, wie das vieler Übersetzer, nicht perfekt war. An Anthony Chiuminatto, der ihm Amerikanisch beigebracht hatte, schrieb Pavese: »Sie haben vielleicht gar keine Vorstellung, wie nützlich mir Ihre kleinen Lektionen in gesprochenem Amerikanisch waren. Ich habe meine Notizen darüber sorgsam aufbewahrt, und so wenige Ausdrücke und Wörter ich auch notieren konnte, ich fühle mich beim Lesen moderner amerikanischer Autoren sicherer …«
»An keiner Stelle darf ein Wort sich einschleichen, das nicht einem Zweck gehorchte, das nicht, mittelbar oder unmittelbar, dazu beitrüge, die vorgesetzte Absicht zu erreichen.«
Und das erinnert mich an Giorgio Agambens grandioses Statement in Der Mensch ohne Inhalt: »Der Bezug von Zeichen und Bezeichnetem erweist sich hier als so unauflöslich mit der Sprache selbst verbunden – denkt man sie metaphysisch als eine phōnē sēmantikē, als Laut plus Bedeutung –, daß jeder Versuch, ihn zu überwinden, ohne zugleich auf das Gebiet der Metaphysik hinüberzuwechseln, hinter seinem Gegenstand zurückbleiben muß.« Aber eigentlich wusste Beckett das auch. Er war ja nicht blöd.
In einem in der Paris Review erschienenen Beitrag über ihre Übersetzung von Flauberts Madame Bovary fügt Lydia Davis noch hinzu: »Für mich hat die Förmlichkeit der französischen Sprache etwas sehr Fesselndes – oder vielleicht fesselt mich auch die Tatsache, dass obwohl das Französische förmlicher ist, weil seine Mittel begrenzt sind oder aus Tradition, die Förmlichkeit dieser Sprache Teil ihres unverwechselbaren Wesens ist, und ich wäre sehr zögerlich, daran etwas zu ändern – selbst wenn eine vergleichliche Förmlichkeit im Englischen nicht wirklich äquivalent ist, sondern noch förmlicher, da unsere Tradition weniger förmlich ist.«
Ein PS an Duthuit im März 1950: »Nie verstand ich so klar, zu welchem Grade die französische Sprache eine Sprache des winzig Kleinen ist, wie jetzt, wenn ich dich lese, nicht mal bei Proust.«
Zuerst war Beckett ganz und gar nicht dieser Meinung. Am 5. Februar 1953 schrieb er an Alexander Trocchi: »Ich habe viel über die Möglichkeit nachgedacht, Molloy ins Englische zu übersetzen und denke, dass wir dieses Projekt im Moment besser aufgeben sollten. Er wird nicht ins Englische gehen. Ich weiß nicht, warum. Er müsste komplett umgedacht und umgeschrieben werden, was wohl leider eine Aufgabe ist, die nur ich unternehmen könnte und die ich grade einfach nicht angehen kann.« Und noch am gleichen Tag schrieb er an Jérôme Lindon, dem er die gleiche Sache erklärte: »Ich müsste der sein, der es täte, auf sehr freie Art und Weise, aber ich kann das im Moment nicht übers Herz bringen. Grob gesagt, ich weiß, dass ich es nicht ertragen könnte, mein Werk von jemand anderem ins Englische übersetzt zu sehen.«
»Das Tragödientheater hat die große moralische Unannehmlichkeit, dem Leben und dem Tod zu viel Bedeutung beizumessen«, schrieb Chamfort im achtzehnten Jahrhundert, in meiner eigenen Übersetzung, in einem einzigen aphoristischen Prosasatz – den Beckett unwiderlegbar in ein unsolides Heroic Couplet umwandelte: »Was muß auch das Trauerspiel so viel Theater machen/Um Leben und Tod und andere Pappenstielsachen …«
1938 schrieb Beckett an George Reavey und fragte ihn um Rat, ob er Sades 120 Days übersetzen solle: »Die Oberfläche ist von unerhörter Obszönität, & nicht einer von 100 wird die Literatur in der Pornographie finden oder unter der Pornographie, geschweige denn eins der Hauptwerke des 18. Jahrhunderts, das es für mich ist.« Und etwas später fügte er hinzu: »Die Obszönität der Oberfläche ist unbeschreiblich. Nichts könnte weniger pornographisch sein. Es erfüllt mich mit einer Art metaphysischer Ekstase.«
Genauso, wie Gustave Flaubert in Konstantinopel seine Grundsätze über die Literatur formuliert hatte – »daß die Dichtung rein subjektiv ist, daß es in der Literatur keine schönen Kunstsujets gibt und Yvetot demnach so gut wie Konstantinopel ist; und daß man infolgedessen ebensogut dieses wie jenes schreiben kann.«
Obwohl ich mich trotzdem auch daran erinnern möchte, dass James Joyce, der Paul Léon als seinen Sekretär ausgab, in einer Antwort auf einen Brief vom 17. September 1932, in dem eine Frau, die nur als H. Romanova bekannt ist – sie arbeitete für die Internationale Vereinigung Revolutionärer Schriftsteller in Moskau – fragte, welche Auswirkungen die Oktoberrevolution auf Joyce als Schriftsteller gehabt habe und was sie ihm als Intellektuellen bedeute, schrieb: »Sehr geehrte Herren, Mr Joyce wünscht, daß ich Ihnen für Ihr Geehrtes vom 17. dieses Monats danke, dem er mit Interesse entnommen hat, daß in Rußland im Oktober 1917 eine Revolution stattgefunden hat. Bei genauerer Überprüfung stellte er jedoch fest, daß die Oktoberrevolution im November desselben Jahres stattgefunden hat. Aufgrund des Wissens, das er bis dato gesammelt hat, ist es für ihn schwierig, die Bedeutung dieses Ereignisses zu ermessen, und er möchte nur sagen, daß die Veränderungen, der Unterschrift ihrer Sekretärin nach zu urteilen, nicht groß sein können. Mit freundlichen Grüßen, Paul Léon.«
Und die Bedingungen für Übersetzungen. Karl Radeks Beitrag hatte den Titel »Die moderne Weltliteratur und die Aufgaben der proletarischen Kunst«. Die Aufgabe der proletarischen Kunst bestand wie sich herausstellte darin, sich streng aus der gegenwärtigen Weltliteratur herauszuhalten – besonders in Hinsicht auf James Joyce: »Gerade weil Joyce kaum übersetzt und in unserem Land fast unbekannt ist, weckt er bei einem Teil unserer Schriftsteller ein morbides Interesse … Dieses Interesse an Joyce ist eine unbewußte Äußerung der Neigung gewisser rechtsgerichteter Autoren, die sich opportunistisch mit der Revolution abgefunden haben, in Wirklichkeit aber ihre Größe nicht begreifen.«
Umgangssprachlich steht »pony« im Amerikanischen für eine wortwörtliche Übersetzung oder die kurze Zusammenfassung eines fremdsprachigen Textes, zum Beispiel als Hilfe für Studenten.
Wenn man diese Listen mit jenen Listen vergleicht, die sich in Gogols Entwürfen finden, dann sticht die Präzision dieser komischen Soundeffekte noch klarer hervor, in Surround-Sound. Beim ersten Trio (Mokia, Sossia und Chosdadat) und dem zweiten Trio (Trefilius, Dula und Barachassius) unterschieden sich die Namen nicht so sehr. Aber das finale Duo bildeten im Entwurf die Namen Pavsikakhy und Frumenty. Und Frumenty ist als Name viel weniger lustig als Vakhtisy – er hat nicht die musikalische Wiederholung, das hässliche Aufeinanderprallen von Konsonanten, die Gogol in seiner Endfassung mit Pavsikakhy und Vakhtisy erreichte: Er ist viel zu normal und zu divers.
Wenn also ein formales Element eines Romans, wie beispielsweise eine Parodie, Teil seines beabsichtigten Effekts ist, dann wird es gleichzeitig Teil des von ihm beabsichtigten Inhalts – und muss daher in einer originalgetreuen Übersetzung nachgebildet werden. Aber sogar dies, was relativ logisch erscheint, wird noch etwas verwirrender: Aus chronologischen Gründen können Probleme mit der Übersetzung eines Effektes entstehen. Den parodistischen Effekt eines Textes zu übersetzen, der dem Leser vor 150 Jahren sehr radikal vorgekommen wäre, mag heute nicht einmal mehr als Effekt auffallen, wenn dieser Effekt mittlerweile völlig in die Geschichte des Romans assimiliert worden ist und dem Leser daher ganz normal oder sogar unspektakulär vorkommt. Was heißt, dass es letztendlich keine Möglichkeit gibt, eine reine Nachbildung anzufertigen. Dies ist nicht einmal möglich, wenn ein Roman sofort übersetzt wird – weil ein Effekt, der in einer Sprache normal ist, in einer anderen zum Beispiel revolutionär erscheinen mag. Sprachen und Literaturen befinden sich oft in ganz verschiedenen Zeitzonen.
Ich denke zurück an das Meer vor einem Sturm:
Wie neidisch war ich auf die Wellen,
die flossen, in ungestümer Folge,
in Liebe sich zu legen ihr zu Füßen!
Wie wünschte ich da, zusammen mit den Wellen
die teuren Füße zu berühren mit den Lippen!
Nein, niemals in den feurigen Tagen
meiner aufbrausenden Jugend
begehrte ich mit solcher Qual
zu kosen die Lippen junger Armiden
oder die Rosen flammender Wangen
oder die Brüste voller Schmachten,
nein, niemals hat die Aufwallung der Leidenschaften
derart zerrissen meine Seele!
Puschkin, Alexander: Eugen Onegin. Ein Versroman. (Aus dem Russischen von Sabine Baumann). Frankfurt am Main (2009): Stroemfeld Verlag. S. 82–3.