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Copyright der eBook-Ausgabe © 2014 bei Hey Publishing GmbH, München

 

Originalausgabe © 1998 by Hamburger Abendblatt in der Reihe Schwarze Hefte erschienen, herausgegeben von Volker Albers

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

Autorenfoto: © privat

ISBN: 978-3-942822-88-6

 

Die dritte Frau ist der vierundzwanzigste Band der Krimireihe hey! shorties. Jede Folge ist in sich abgeschlossen. Eine Auflistung der bereits erschienenen Titel befindet sich am Ende dieses eBooks (bitte hier klicken).

 

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Die dritte Frau

 

Wenn ein Arzt die Schweigepflicht verletzt, muss es schon triftige Gründe dafür geben. Der Umstand, dass ein Mann achtlose Frauen mit dem HI-Virus ansteckt, gehört mit Sicherheit dazu. Da hilft nur eines: die Überweisung des Falles an den Schnüffler seines Vertrauens.

 

»Diese beiden Frauen kennen sich untereinander nicht, soviel ich weiß, aber beide haben ihn im Celius kennengelernt. Das kann bedeuten, dass er hier in der Gegend wohnt. Und es bedeutet vermutlich ein recht aktives …«

»Sexualleben.«

»Ja.«

»Und von Kondomen haben weder er noch diese Mädels je gehört?«

»Du, ich veranstalte normalerweise kein Verhör mit erwachsenen Menschen, denen ich gerade erst erzählen musste, dass sie vermutlich nicht mehr endlos lange leben werden.«

 

Liebe ist immer eine Frage des Vertrauens – vor allem, was die körperliche Liebe betrifft. Wenn dieses Vertrauen missbraucht wird, ist das tragisch. Wenn dieses Vertrauen mit einem heimtückischen Virus verschenkt wird, tödlich. Mit gebotener Eile macht sich Privatdetektiv Victor von Falk auf die Suche nach dem Unbekannten. Denn frisch Verliebte gibt es in Hamburg mehr als genug ...

 

»Die dritte Frau« ist der vierundzwanzigste Band unserer Kurzkrimi-Reihe hey! shorties – blutiger Ernst!

1.

Ich träumte, ich sei tot. Es war ein angenehmer Traum. Ich schwebte frei durch Zeit und Raum, ich hatte keinen Körper und folglich auch keine Sorgen. Mein Bewusstsein pulsierte in einem Lichtschimmer aus wechselnden Farben, und es erklang leise Musik, wie ich sie noch nie gehört hatte, sie war schön, über irdische Begriffe hinaus schön.

Aber dann rief das Leben an. Selbst in meinem verklärten Zustand war mir klar, dass das Menschenleben mich zurückrief, aber ich wollte nichts davon wissen, ich ließ das Telefon weiterklingeln. Aber die Visionen, die reinen, heiligen, waren zerstört. Die Musik verstummte, die Farben wurden blasser, und am Ende war ich nur noch ein halbwacher Mann mit verschwitztem, schlaftrunkenem Leib. Meine Umgebung erschien vor mir in ihrer ganzen Hässlichkeit; ich hätte schon vor Wochen putzen oder zumindest auslüften müssen.

Das Telefon ließ nicht locker, und deshalb nahm ich dann doch ab. »Victor.«

»Von Falk? Victor von Falk?«

Es war eine Frauenstimme. Sie klang wie ein sprudelnder Gebirgsbach im April. Das munterte mich auf, es war nämlich Herbst, fast schon Winter, und der Regen prasselte gegen die Fensterscheiben.

Ich sagte, dass sie ganz recht habe, was meinen Nachnamen betraf.

»Moment bitte, dann reiche ich Sie an Dr. Fris weiter.«

Nein!, dachte ich.

Aber da hatte ich ihn schon an der Strippe. »Vic?«

»Was willst du?«, fragte ich und schaute auf den Wecker. Der zeigte Viertel nach neun, und ich hätte seit einer Viertelstunde im Dienst sein sollen.

»Es ist schon spät«, sagte Fris. »Du hättest schon den ersten Scheckbetrüger des Tages entlarven sollen.«

»Was willst du?«, fragte ich noch einmal.

»Dich daran erinnern, dass du heute einen Termin bei mir hast.«

»Kommt nicht in Frage.«

»Halb elf. Du hast also noch Zeit zum Frühstücken. Wenn du pünktlich bist, kommst du sofort an die Reihe.«

»Hol dich der Teufel«, sagte ich. »Was fehlt mir denn eigentlich?«

»Du hast Probleme mit den Ohren. Deshalb muss ich dir etwas hineinflüstern und sehen, wie du reagierst.«

»Kann das etwas Ernstes sein?«

»Ich bin Arzt, Vic. Ich habe geschworen, den Tod verdammt ernst zu nehmen, und du weißt doch, Versprechen muss man halten.«

»Der Tod ist schön«, sagte ich. »Friedlich und schön und erfüllt von himmlischer Musik.« Er legte auf.

 

Das Innere meines Kühlschranks sah aus wie ein halber Kubikmeter Antarktis. Ich duschte, zog saubere Klamotten an und ging zum Frühstücken zu Max. Die Brötchen waren knusprig, Käse und Schinken wiesen keinerlei Schweißperlen oder Dürreflecken auf, der Kaffee war frisch aufgebrüht. Das weiche Ei lächelte mich gelblich an, nachdem ich ihm den weißen Hut vom Kopf geschlagen hatte. Es war Mittwoch, der 29. Oktober, ein Tag, der nicht gerade günstig angefangen, den ich aber durch die kluge Investition von zehn deutschen Mark ins richtige Gleis gelenkt hatte. Ich bat um ein weiteres Kännchen Kaffee und griff nach meinen Zigaretten.

Um Viertel nach zehn fuhr ich über die Kennedybrücke in Richtung Grindelberg und Hoheluftbrücke, wo Herberts Praxis lag. Vor mir, über Fernsehturm und Unigelände, hing ein grauweißer wässriger Himmel mit einzelnen goldenen Flecken, die mich auf den Gedanken brachten, dass es doch immer Hoffnung gab, dass immer ein Licht unterwegs zu Asphalt und Beton war, damit wir, die wir hier unten unser Leben vergeudeten, den Dreck um uns herum noch klarer sehen konnten. Aber bisher hatte das Sauwetter alles unter Kontrolle. Die Wolken barsten, als ich am Dammtor vorbeikam, der Herr ließ aus einer Überflut den Regen auf Sünder und Gerechte in der Freien und Hansestadt prasseln. Es war ein Tag wie fast alle anderen.

Ich hielt in einer Seitenstraße zum Grindelberg und lief zum Haus, in dem Herberts Praxis lag. Es war ein großes Haus aus der Zeit um die Jahrhundertwende, grauweiß gestrichen. Ein viel zu schönes Haus dafür, dass niemand hier wohnt, dachte ich, als ich an den Messingtafeln in der Eingangshalle vorbeiging. Diese Tafeln erzählten von einem wahren Wirrwarr von Ärzten, überhaupt schienen hier Behandlungen jeglicher Couleur angeboten zu werden. Man konnte bei der Fußpflegerin im Erdgeschoss anfangen und sich durch die verschiedenen Spezialisten nach oben durcharbeiten. Im vierten Stock konnte man sich bei Zahnarzt Draf das Lächeln aufpolieren lassen, man konnte sich bei Frau Cwol ein ganz neues Lächeln holen und schließlich der Psychologin Dr. Agnes Lambert von seiner entsetzlichen Kindheit und seiner Furcht vor dem Erwachsenenleben erzählen. Ich hätte gern gewusst, ob sich alle diese Fachleute untereinander so gut kannten, dass sie eine gemeinsame Weihnachtsfeier veranstalteten. Wenn ja, dann wollte ich Herbert überreden, mir in meiner nächsten Depressionsphase von dieser Weihnachtsfeier zu erzählen.

Herbert hatte seit meinem letzten Besuch eine neue Sprechstundenhilfe angestellt. Sie war groß und dick und rothaarig, ich nahm an, dass sie gern lachte. Missmutige Menschen werden schließlich nur selten mit so tiefen Lachgrübchen geboren. Sie telefonierte gerade, als ich die antiseptische Praxis betrat, aber sie winkte mich mit einer fröhlichen fetten Hand zu sich. Ich setzte mich und beugte meinen Kopf zu ihrer rechten Brust vor, während sie mit ihrer Gebirgsbachstimme einem vermutlich schwerhörigen Herrn Apfelbaum zu erklären versuchte, dass nicht sie versucht habe, ihn von seiner Schuppenflechte zu befreien, sondern Dr. Fris. Auf einem grauen Namensschild stand Sidonie Born. Das beeindruckte mich dermaßen, dass ich mir fast eine Zigarette angezündet hätte. Aber ich drückte dann lieber auf die Telefongabel, als sie noch einmal ihren Spruch über Behandlung und Verantwortung aufsagen wollte.

Sidonie Born bedachte mich mit einem strengen Blick. Sogar Menschen mit kratertiefen Lachgrübchen sind nicht immer zum Scherzen aufgelegt.

»Guter Trick, wenn man den Anrufern dermaßen ausgeliefert ist wie Sie«, sagte ich. »Wenn Sie die Verbindung unterbrechen, während Sie gerade reden, kommt niemand auf die Idee, dass Sie das waren.«

Jetzt lächelte sie, und der Bach gluckste.

Ich reichte ihr die Hand. Ihre war weich und warm und wunderbar. Eine Hand zum Ausruhen, ein Zufluchtsort. »Ich bin Victor von Falk«, sagte ich.

»Hab ich mir gedacht.« Ihre Augen waren groß und grün und blank, und niemand hätte mir einreden können, dass diese Frau in ihrem Leben jemals etwas Böses gesehen hätte. Und wenn doch, dann konnte es keinen großen Eindruck auf sie gemacht haben.

»Wissen Sie, dass Sie mir heute Morgen das Leben gerettet haben?«, fragte ich. Diese Frage kam mir ganz natürlich vor. »Ja, wirklich. Als Sie anriefen, war ich schon auf dem besten Weg zum Jordan.«

»Ich glaube, Sie sollten jetzt hineingehen«, sagte sie und betrachtete züchtig ihren Trauring. »Und bitte, lassen Sie meine Hand los.«

2.

Herberts Sprechzimmer war in hübschem Weiß gehalten. Vor dem Fenster, das mit einem Rollo versehen war, stand ein moderner Schreibtisch aus Stahl und Glas. Auf dem Schreibtisch lagen ein Stethoskop, ein Rezeptblock und zwei Hände.

»Hallo, Vic!«, sagte Herbert. Er schien nicht aufstehen zu wollen. »Setz dich.« Seine große Gestalt strahlte die gleiche Ruhe aus wie die Buddhastatue im Restaurant meines Freundes Ho Li in St. Georg. Zu meiner Linken stand ein offener Glasschrank mit gefährlich aussehenden Teilen aus vernickeltem Stahl, die Tür zum Nebenzimmer war angelehnt. Im Halbdunkel dort drinnen konnte ich einen Stuhl von der Sorte sehen, die jede Frau mit normalem Gefühlsleben hasst wie die Pest.

Ich ließ mich lieber auf einem Stuhl aus Stahl und Plexiglas nieder. »Na, wie läuft der Laden?«

Herbert lachte freudlos und schob langsam seinen Bürosessel zurück, bis er damit gegen die Wand stieß. Dann stand er auf und schaute aus dem Fenster. »Die machen mich verrückt.«

»Wer denn?«

»Die Patienten. Die machen mich einfach verrückt. Manchmal glaube ich, sie wollen mich zu Tode ärgern, und zwar ganz bewusst. Sie rauchen fünfhundert Zigaretten pro Woche und meinen, ich könnte ihnen eine Wunderpille mit Zuckergeschmack verschreiben, wenn ich ihnen erzähle, dass ihnen der Lungenkrebs schon bis zum Hals reicht.«