Andreas H. Schmachtl

Die schönsten Geschichten

vom Heckenrosenweg

Inhalt

Eine nette Vorstellung

Tildas Freiraum

Streithähne

Ruperts schlimmer Tag

Der frühe Vogel … und so weiter

Molly gerät in Schwierigkeiten

Rettet Molly!

Wir demonstrieren!

Tilda, das Ehrenkaninchen

Hörnchen allein zu Haus

Einmal hoch hinaus, bitte!

Ein Leuchtturm-Abenteuer

Alle meine Entchen

Ist da jemand?

Ein Fall für die Wissenschaft

Humphrey zieht ein

Kirschblütenfest

Ein Traum in Holunderblütenweiß

Es war einmal ein Igel

Liebe Tante Emily

Mini-Rupert mal zwei

So schön wie früher

Das Beste zum Schluss

Vorfreude

Pfeilschnell

Zusammenrücken

Wohnungssuche

Alles wie neu

Nestwärme

Hinaus in die Welt

Uralte Pläne

Leuchtturm ahoi

Ausgeheult

Geheimnistuerei

Tief hinab

Eins, zwei, drei und vier

Beerentraum

Held mit Häuschen

Das hält

Waldeslust

Wimpel, ho!

Total benebelt

Zu spät?

Einfach still

Bestrickend

Flughörnchen

Gern geschehen

Eine nette Vorstellung

Schön, dass ihr da seid! Es gibt nämlich jede Menge Neuigkeiten von Tilda Apfelkern zu berichten.

Ihr wisst doch sicher noch, dass die holunderblütenweiße Kirchenmaus in dem kleinen Dorf irgendwo zwischen den Hügeln lebt, oder? Im Heckenrosenweg, direkt am Fuße des Kirchturms, steht Tildas behagliches Häuschen. Dort kocht sie leidenschaftlich gerne Marmeladen, bäckt die herrlichsten Kuchen und lässt beinahe keinen Tag vergehen, an dem sie nicht mindestens ein schönes Tässchen Tee mit ihren Freunden genießt. Also schaut doch ruhig mal bei ihr vorbei. Tilda wird sich sicher sehr freuen, euch zu sehen!

Eines Morgens, es mag jetzt ein paar Wochen her sein, hatte Tilda schon vor Tau und Tag alle Hände voll zu tun. Nun, eigentlich war das für Tilda Apfelkern nichts Neues. Denn wenn sie nicht gerade einem ihrer Freunde bei einer äußerst wichtigen Sache half, wollte sie wenigstens ein bisschen Ordnung in ihrem eigenen Häuschen schaffen.

Aber in diesem Augenblick wartete Tilda nun darauf, dass ihr wunderbarer Hefezopf endlich fertig war. Sie hatte den duftigen Teig vor dem Backen mit Eigelb bestrichen und mit Mandelblättchen bestreut. Schließlich sollte der Zopf nicht nur erstklassig schmecken, sondern er sollte auch so aussehen!

„Gleich werde ich noch drei Gläser frische Kirschmarmelade kochen, den Kartoffelsalat für heute Abend vorbereiten und dann“, sagte Tilda zu Schnecki, „könnten sie eigentlich kommen.“

Schnecki wohnte bei Tilda und war der ruhigste Hausgenosse, den man sich überhaupt nur vorstellen konnte. Ja, und mit „sie“ meinte Tilda natürlich ihre übrigen Freunde – allen voran Igel Rupert. Die zwei kannten sich, ach, schon ewig!

Rupert wohnte unter den knorrigen Wurzeln der mächtigen Eiche direkt gegenüber von Tildas Haus. Und über ihm lebte Edna Eichhorn mit ihren Zwillingen Billy und Benny. Robin Rotkehlchen hatte sein Nest in einem Mauerspalt neben der Kirchenpforte gebaut, und die graue Maus Molly lebte praktischerweise direkt unter dem Postschalter im Dorfladen, sodass sie immer genau berichten konnte, was im kleinen Dorf zwischen den Hügeln Wichtiges passierte.

Aber sagte ich eigentlich schon, warum Tilda ihre Freunde überhaupt eingeladen hatte? Nun, es war allerhöchste Zeit, das Zimmer im ersten Stock gleich rechts auszuräumen und zu renovieren. Und das konnte eine Maus allein natürlich kaum schaffen. Sogar wenn alle mit anfassten, würde das Räumen, Streichen und Putzen vermutlich den ganzen Tag dauern.

Molly klopfte als Erste an Tildas Haustür – und hatte die neueste Zeitung dabei. „Wir können uns praktische Malerhüte daraus basteln“, erklärte sie, nachdem sich die beiden Mäuse begrüßt hatten.

„Wir könnten die Zeitung aber auch erst einmal lesen“, schlug Tilda vor.

„Sicher“, nickte Molly. „Das ginge natürlich auch.“

Und das taten sie, gemütlich bei einer Tasse Tee, bis Robin erschien.

Wie der Blitz flitzten jetzt auch die Hörnchen in bester Laune quer durch den Garten. Nur Rupert … der kam wie immer zu spät. „Entschuldige, meine Liebe“, brummte er verschlafen. „Ich habe wirklich versucht, pünktlich zu sein.“

„Das weiß ich doch, Rupie“, sagte Tilda und reichte ihm erst einmal einen Tee. „Wir haben es ja nicht eilig, oder?“

„Nicht im Mindesten, Tilda“, versicherte Robin. „Für uns alle zusammen ist das bisschen Renovieren doch ein Klacks. Und wir haben sicher noch genügend Zeit für ein herrliches Frühstück.“

„Auf jeden Fall!“, stimmten die anderen zu. Und sie LANGTEN auch ordentlich zu. Im Handumdrehen war der gesamte Hefezopf verdrückt.

„Ehrlich gesagt bin ich nach dem guten Essen viel zu voll zum Renovieren“, gestand Edna.

„Und zu müde“, nickte Rupert. „Schließlich heißt es ja auch: ‚Nach dem Essen sollst du ruhn‘!“

„Na schön“, sagte Tilda. „Dann warten wir eben noch ein Weilchen. Ich könnte euch in der Zwischenzeit erzählen, welche Farben ich mir für das Zimmer ausgedacht habe: Die Wände sollen nämlich efeugrün werden. Nicht lindgrün, versteht ihr? Und die Holztäfelung würde ich mir cremeweiß wünschen.“

„Diese Farbe war wirklich nicht leicht aufzutreiben“, berichtete Molly. „Ihr könnt euch ja nicht vorstellen, wie viele Arten von Weiß es gibt: Schneeweiß, Eierschale oder Federweiß …“ Da Molly im Dorfladen wohnte, wusste sie über derlei Dinge natürlich besonders gut Bescheid. Und so zog beim Plaudern der Vormittag vorüber, ohne dass die Freunde Tildas gemütliche Küche auch nur verlassen hätten.

Gegen Mittag hatte die Sonne dann alle Wolken vom Himmel vertrieben, und Billy und Benny gefiel der Gedanke plötzlich gar nicht mehr, noch länger im Haus zu hocken und womöglich sogar Möbel schleppen zu müssen.

„Geht ruhig spielen“, sagte Edna.

„Ja, und nehmt Schnecki mit“, bat Tilda. „Er scheint sich ein bisschen zu langweilen.“

Damit waren drei der Helfer schon mal verschwunden. Und die übrigen dachten in der Zwischenzeit viel eher an ein schönes Mittagessen als an Tildas cremeweiße Zimmerwände.

„Ich könnte uns schnell ein leichtes Süppchen zaubern“, schlug Tilda vor. „Lasst aber noch ein bisschen Platz.

Schließlich soll es heute Abend noch Kartoffelsalat geben.“ „Oh, den werden wir nach all der Schufterei auch brauchen“, vermutete Rupert.

Aber um es gleich zu sagen: Das Zimmer renovierten die Freunde dann doch erst am nächsten Tag. Doch auch dieser Tag war keineswegs verschwendet gewesen. Immerhin hatten sie alle bei Tilda zusammengesessen, sich gegenseitig Geschichten erzählt und ganz nebenbei Tee und reichlich Gebäck verdrückt. Und das taten die Freunde ohnehin am allerliebsten.

Tildas Freiraum

Wenn man etwas Neues hat, dann möchte man es am liebsten mit seinen besten Freunden teilen und es sofort allen zeigen. Zum Beispiel ein schönes Buch oder eine besonders tolle Kaninchen-Figur.

Und nun stellt euch nur mal vor, wie es Tilda mit ihrem neuen Zimmer ging!

Schön, das Renovieren hatte vielleicht ein bisschen länger gedauert als geplant. Aber schließlich sah das Zimmer ganz genau so aus, wie Tilda es sich vorgestellt und schon lange gewünscht hatte.

Ihr müsst wissen, dass Tildas Häuschen aus wirklich enorm vielen verschiedenen Räumen und Zimmern bestand. Vor Tilda hatten nämlich schon viele, viele Generationen von Apfelkern-Mäusen in dem Haus am Fuße der Kirchenmauer gelebt. Und natürlich hatten es alle so umgebaut und eingerichtet, wie sie es gerade brauchten.

Damit hatte jeder Raum in Tildas Haus seine eigene und meistens recht verworrene Geschichte. Zum Beispiel hatte irgendwer ein Klo am Ende eines sehr langen Korridors angebaut. Der Weg dahin war allerdings so weit, dass Tilda überhaupt erst EINMAL in ihrem ganzen Leben dort gewesen war. Dann gab es noch die hübsche Kammer von Eusebia Maus, die Tilda nur durch einen Zufall beim Frühjahrsputz im letzten Jahr entdeckt und in die sie sich auf der Stelle verliebt hatte. Tildas Küche, ihr Wohnzimmer, ihr Schlafzimmer und sogar das Bad hatte sie schon immer genau so gekannt, wie sie bis heute aussahen.

Und ebendarum fand Tilda es ja auch so unglaublich spannend, EIN Zimmer so einzurichten, wie sie – und nur sie ganz allein – es wollte. Molly hatte natürlich versprochen, Tilda nach dem Renovieren beim Einrichten zu helfen. Und so standen die beiden Mäuse nun Seite an Seite in dem nagelneuen Zimmer.

Molly seufzte leise vor Glück: „Ist es nicht herrlich, wenn alles noch so neu und unbenutzt duftet?“

„Oh ja, und wie, Liebes“, stimmte Tilda zu.

So ein leeres Zimmer war wie ein ganz neuer Anfang. Alles war möglich und kaum etwas unwahrscheinlich. Ja, beinahe konnte Tilda ihren neuen Raum flüstern hören: „Komm schon, lass uns etwas ganz Besonderes aus mir machen.“

Und das wollte Tilda auch sofort tun. Die Frage war nur: Was?

„Hast du dir schon überlegt, wozu du dein neues Zimmer nutzen möchtest?“, fragte Molly, als hätte sie Tildas Gedanken erraten.

„Nun“, gestand Tilda kleinlaut, „eigentlich nicht. Zuerst dachte ich ja, ich könnte ein Schlafzimmer daraus machen. Immerhin war es bisher ja auch eines. Aber …“

„… ein Schlafzimmer hast du schon“, nickte Molly verständnisvoll.

„Eben“, grübelte Tilda. „Wenn man die hübsche Kammer mitzählt, habe ich sogar zwei. Rupert war ja der Meinung, ich könnte eine eigene kleine Bibliothek gebrauchen. Verstehst du? So eine, wie er sie hat.“

„Na klar“, jubelte Molly. „Dann brauchst du jede Menge Regale, einen Sessel zum Lesen, eine Lampe und ein Tischchen vielleicht. Ach ja, und Bücher natürlich. Und davon hast du ja wirklich genug.“

„Das stimmt“, antwortete Tilda. „Aber damit fangen die Probleme auch schon an. Denn meine Sachbücher stehen im Wohnzimmer. Die Geschichten brauche ich natürlich im Schlafzimmer, und meine Kochbücher müssen schon in der Küche bleiben. Streng genommen brauche ich also keine Bibliothek.“

„Hmm … ICH würde ja ein Nähzimmer aus dem Zimmer machen“, schwärmte Molly. Sie war im Handarbeiten nicht zu schlagen und hatte Tilda zur Einweihung ein paar hübsche Gardinen genäht und auch gleich aufgehängt.

„Du könntest aber auch ein Ankleidezimmer daraus machen“, schlug Molly vor.

„Ach, Liebes“, lachte Tilda. „Was soll ich schon groß ankleiden? Schal und Mütze kann ich mir auch im Flur anziehen.“

„Braucht Schnecki vielleicht ein Spielzimmer?“

„Er ist lieber in meiner Nähe.“

„Dann brauchst du sicher ein Arbeitszimmer“, fuhr Molly fort.

„Nun“, sagte Tilda, „streng genommen ist hier im Haus jedes Zimmer mein Arbeitszimmer.“

Noch einmal blickte Tilda sich in dem Raum um. Die Holztäfelung war wunschgemäß cremeweiß, die Wände darüber efeugrün gestrichen. Und die Sonnenstrahlen, die durchs Fenster hereinfielen, ließen die Bodendielen honiggolden glänzen.

Im Grunde, dachte Tilda, hatte sie sich ihr neues Zimmer ganz genau SO vorgestellt. Sie freute sich über Mollys neue Gardinen. Dann würde sie noch ein Bild aufhängen, das ihr besonders gut gefiel, und eine hübsche Lampe aussuchen. Und sonst, dachte Tilda weiter, brauche ich eigentlich nichts.

„Ja, das ist es, Liebes“, verkündete Tilda zufrieden. „Ich werde dieses Zimmer ganz einfach leer lassen. Es ist sozusagen … mein Freiraum!“ „Tilda!“, jubelte Molly entzückt. „Du hast doch immer die besten Ideen!“

Und das stimmte auch. Ein bisschen Freiraum tut wohl jedem von uns gut, nicht wahr? Ja, und nachdem das beschlossen war, holten sich die beiden Freundinnen eine Decke, zwei Kissen, um es sich darauf gemütlich zu machen, und ein Tablett mit Teebechern und Haferflocken-Rosinen-Plätzchen. Sie breiteten die Decke einfach auf dem Fußboden aus und ließen sich dann genüsslich inmitten des warmen Sonnenflecks nieder. Ganz so, als würden sie ein Picknick machen.

So etwas geht natürlich in jedem x-beliebig vollgestellten Zimmer ebenso. Aber in Tildas Freiraum war es wirklich das wunderbarste aller Vergnügen.

Streithähne

Eines Morgens sortierte Tilda Apfelkern ihre Geschirrhandtücher nach heil, kaputt und ganz kaputt. Die Tücher, die noch heil waren, räumte sie fröhlich summend zurück in den Schrank. Die kaputten ließen sich mit ein bisschen Glück sicher noch einmal flicken. Und die ganz kaputten konnte man immerhin noch als Putzlappen verwenden. Gerade nahm Tilda das lavendelfarbene Geschirrtuch in die Hand und beschloss: „Dich werde ich ganz bestimmt nicht aussortieren. Dafür bist du viel zu hübsch“, als sie ein lautes Zetern vor ihrem Haus hörte. Tilda blickte aus dem Fenster, konnte aber zunächst niemanden entdecken. Streng genommen war es ja auch nicht ihre Angelegenheit, wenn sich jemand streiten wollte.

Als aber das Zanken gar nicht aufhörte und sogar noch lauter wurde, ging Tilda doch hinaus. Sie stellte fest, dass sich da zwei Amseln um einen Wurm stritten, den sie unglücklicherweise gleichzeitig aus dem taunassen Gras gezogen hatten. Jede an einem Ende.

Es handelte sich bei den Streithähnen um zwei Amselmännchen, wie Tilda sofort an ihrem tiefschwarzen Gefieder erkannte. Mit ihren leuchtend gelben Schnäbeln sind Amselmännchen im Gegensatz zu den braunen Weibchen recht auffällig – und eben auch schrecklich streitbar. Treffen versehentlich einmal zwei von ihnen aufeinander, fliegen auch schon die Fetzen, wie man so schön sagt.

„Du liebe Güte“, rief Tilda ungehalten. „Was ist denn nun wieder los, hm?“

„Der will MEINEN Wurm klauen!“, zeterte die eine Amsel.

„Wohl kaum!“, entgegnete ihr Gegenüber. „Immerhin habe ICH den Wurm gefunden!“

Tilda konnte die beiden übrigens nur sehr schwer verstehen. Denn da keine von ihnen den Wurm loslassen wollte, bekamen sie die Schnäbel natürlich auch nicht richtig auf.

„Pppph!!!“, machte die erste Amsel empört.

„Selber pppph!“, antwortete die andere, und schon war wieder die schönste Streiterei im Gange.

Tilda blickte verzweifelt von einer zur anderen. Und schließlich wurde es ihr zu bunt.

„Schluss jetzt!“, rief sie so bestimmt, dass die beiden Vögel augenblicklich verstummten. „Schämt ihr euch denn nicht, hier solch einen Krach zu veranstalten? Noch dazu an einem so herrlichen Morgen! Außerdem könntet ihr doch einfach einen zweiten Wurm suchen.“

„Aber dieser hier ist besonders groß“, schnaubte die eine Amsel. „Ich gebe ihn jedenfalls nicht wieder her!“

„Ich erst recht nicht. Darauf kannst du wetten!“, zischte die andere.

Irgendwann guckten die zwei Vögel sogar beleidigt zur Seite und sprachen nicht mehr miteinander. Eine mehr als unangenehme Situation, vor allem für den armen Wurm.

Nun hätte Tilda natürlich einfach wieder ins Haus gehen und mit ihrer Arbeit fortfahren können. Und das hätte eine ganze Reihe anderer Leute sicher auch getan – sollten die beiden Dickköpfe doch sehen, wie sie zurechtkamen! Aber einfach wegzuschauen, wenn irgendwer Hilfe benötigte, kam für Tilda Apfelkern nie und nimmer infrage. Und diese drei hier brauchten hochnotdringlich Hilfe. Das war nicht zu übersehen.

„Also schön“, verkündete sie. „Nehmen wir einmal an, es gäbe tatsächlich nur EINEN solch prachtvollen Wurm in unserem großen Rasen. Und nehmen wir weiter an, dass ihr nicht bis in alle Ewigkeit so hier sitzen bleiben wollt. Dann müssen wir eine Lösung für euer Problem finden, nicht wahr? Und“, Tilda sagte das nicht ohne Stolz, „ganz zufällig könnte ich euch eine solche Lösung anbieten.“

Wortlos, aber ungemein interessiert blickten die Amseln die kleine Maus an.

Darüber war Tilda schon froh, denn jetzt kam im Grunde der schwierigste Teil ihres Plans. Sie musste die Vögel nämlich dazu überreden, den Wurm gleichzeitig loszulassen. Das erklärte sie ihnen und fuhr dann fort: „Ihr zwei würdet eine Reihe kleiner Wettkämpfe miteinander austragen. Natürlich ganz sportlich, hört ihr? Ich will kein Gezanke oder Schnabelpicken erleben. Tja, und der Sieger … bekommt eine Überraschung.“

Merkt ihr, wie ungeheuer klug unsere Tilda sich das ausgedacht hatte? Plötzlich war von dem umstrittenen Wurm gar keine Rede mehr.

Und tatsächlich: Sobald die Amseln ihn losgelassen hatten, stürzte sich der Wurm auf ein geheimes Zeichen von Tilda in den Erdboden hinab, wo er endlich wieder in Sicherheit war.

Die Amseln aber konnten es gar nicht abwarten, Tildas Wettkämpfe zu bestreiten. Jede wollte zeigen, dass sie schneller, geschickter, größer oder schlicht besser war als die andere. Sehr oft geht es bei einem Streit nämlich ganz genau darum.

Also scheuchte Tilda die beiden Vögel um die Wette zum Gartentor und wieder zurück.

Dann sollten sie Kieselsteine auftürmen. Wer in einer bestimmten Zeit den höchsten Turm baute, war der Sieger.

Tilda sang ein kleines Lied. Und genauso lange wie dieses Lied dauerte auch der Wettkampf.

Doch die vielleicht schwerste Prüfung für die beiden Amseln bestand darin, eine rote Blüte aufzutreiben. Das war wirklich nicht ganz einfach, denn immerhin sind die meisten Blüten im Frühjahr gelb, weiß oder blau, manchmal allenfalls rosa. Aber eben nicht rot!

„Dann sucht mal“, verkündete Tilda. Endlich hatte sie einen Augenblick Ruhe und ging zurück ins Haus zu ihren Geschirrtüchern.

Tatsächlich verging eine geraume Weile, bis die Amseln stolz zwei rote Tulpenblüten präsentierten.

„Und wer hat nun gewonnen?“, fragte die erste Amsel.

„Oh, ich denke, es steht wohl Unentschieden“, lachte Tilda. „Ihr bekommt also BEIDE eine Überraschung.“ Froh gelaunt stellte sie den Vögeln einen Teller mit Kuchenkrümeln auf den Rasen in die Sonne, worüber diese sich hungrig und ebenso gut gelaunt hermachten.

Von dem Wurm sprach übrigens zum Glück niemand mehr. Amseln mögen Würmer ja köstlich finden, aber wir alle hätten uns doch auch lieber an Tildas Kuchen gehalten, oder?

Ruperts schlimmer Tag

Wenn ihr irgendwen fragt, welches der schlimmste Tag überhaupt ist, dann wird er euch ziemlich sicher antworten: „Freitag, der Dreizehnte.“ Unser guter alter Rupert hielt allerdings nichts von einem solch abergläubischen Unfug. Vor allem, wenn er sich an den letzten Donnerstag erinnerte. Denn das war der Zwölfte gewesen!

Alles fing morgens damit an, dass Rupert seine Brille nicht finden konnte. Gleich nachdem er den Wecker ausgeschaltet hatte, langte er wie immer zum Nachtschränkchen hinüber und tastete nach der Brille. Aber die war eben nicht da.

„Hm“, grummelte er. Womit er wohl sagen wollte, wie merkwürdig er die ganze Sache fand. Nun, dann musste er sich eben ohne Brille ins Bad vortasten. „Was kann dabei schon groß passieren?“, murmelte er. Ach, hätte er das bloß nicht gesagt! Denn ohne Brille fand er natürlich auch seine Pantoffeln nicht, stolperte also barfuß los … und stieß sich den großen Zeh am Türrahmen an.

Ihr wisst ja, wie fürchterlich DAS wehtun kann.

Im Bad quetschte er dann Sonnencreme statt Zahnpasta auf seine Zahnbürste. Und die spritzte ihm dabei auch noch ins Auge!

Nein, Rupert war wirklich nicht allerbester Laune, als er nach scheinbar endlosem Stolpern, Tasten, Anstoßen und Rumpeln endlich seine Küche erreichte. Wie sollte ein Igel sich unter diesen Umständen bitte schön ein gehaltvolles Frühstück machen?

Ihr müsst nämlich wissen, dass Igel grundsätzlich recht kurzsichtig sind. Aber Rupert war eben UNGEMEIN kurzsichtig. Und darum ohne seine Brille vollkommen aufgeschmissen. Wo steckte sie nur? Rupert konnte sich das wirklich nicht erklären.

Nun, Brille hin oder her: Er brauchte jetzt Frühstück. Und auf eine schöne Tasse Tee würde er unter gar keinen Umständen verzichten. Rupert setzte den Teekessel auf und bestrich seinen Toast mit etwas, das er für Orangenmarmelade hielt. „Uuh!

Die ist aber nicht gut!“, rief er entsetzt. „Die schmeckt ja nach Senf!“ Nun, es war ja auch Senf. Anstelle der üblichen zwei Löffel Zucker häufelte Rupert natürlich Salz in seinen Tee. Und als der bedauernswerte Igel statt in seinen allmorgendlichen Apfel herzhaft in eine Zwiebel biss, hatte er die Nase endgültig voll. „Dann gehe ich eben ohne Frühstück an die Arbeit“, verkündete Rupert trotzig. Denn er hatte sich schon lange vorgenommen, gerade heute auf seinem Acker ein bisschen Ordnung zu schaffen. Solche gemeinen Worte wie „Unkraut“ hätte Rupert übrigens nicht einmal an einem Tag wie heute benutzt. Schließlich waren Vogelmiere, Sauerklee, Ackerwinde und Giersch ohne jeden Zweifel bewundernswerte Pflanzen. Nützlich und auch hübsch. Aber zwischen seinen Möhren und dem jungen Salat hatten sie dennoch nichts verloren. Sie nahmen dem Gemüse nur die Kraft zum Wachsen.

Rupert war sich sicher: Ein erfahrener Gärtner wie er würde wohl auch ohne Brille Nutzpflanzen von Wildkraut unterscheiden können! Und so machte sich der Igel frisch ans Werk. Im Handumdrehen landete auf dem Kompost, was schon bald Kohl oder Salat, Rote Bete oder Kohlrabi hatte werden sollen.

Na also, funktioniert doch prima, dachte Rupert hochzufrieden.

Bis ein befreundeter Zaunkönig im Vorüberfliegen fragte: „Guten Morgen, alter Knabe. Warum rupfst du denn den Löwenzahn so sorgfältig frei?“

„Löwenzahn?“, rief Rupert entsetzt. „Ich dachte, das wäre Rucola!“

Schluss! So konnte das nicht weitergehen. Rupert beschloss, dass er Tilda anrufen und um Hilfe bitten würde. An jedem anderen Tag wäre er natürlich einfach schnell zu ihr hinübergegangen. Aber für jemanden, der kaum mehr als bunte Schatten erkennen konnte, war der Weg einfach viel zu gefährlich.

Sein Telefon fand Rupert allerdings, ohne größere Katastrophen anzurichten. Die folgten erst, als er Tildas Nummer wählte.

„Ja, bitte?“, meldete sich eine vollkommen fremde Stimme am anderen Ende der Leitung. „Tilda, meine Liebe, bist du’s?“, fragte Rupert forsch.

„Nein“, antwortete die Stimme.

„Ja, wer sind Sie denn dann?“, wollte Rupert wissen.

„Mein Name ist Storchschnabel“, antwortete die Stimme. „Josephine Storchschnabel.“

„So, so“, brummte Rupert. „Und sind Sie eine Freundin von Tilda Apfelkern?“

„Nun“, erklärte die Stimme, „eigentlich kenne ich Tilda Apfelkern überhaupt nicht.“ „Und was machen Sie dann an ihrem Telefon, hm?!“, schnaubte Rupert.

„Ich muss doch sehr bitten“, schnaubte nun auch Frau Storchschnabel. „Das ist MEIN Telef…“

In diesem Moment klingelte es glücklicherweise an seiner Haustür. Rupert legte auf und öffnete die Tür. Und da stand Tilda … mit seiner Brille in der Hand!

„Rupie“, sagte Tilda, „wie konntest du DIE denn nur in meinem Wohnzimmer vergessen?“

„Oh, Tilda“, seufzte Rupert. Erleichtert setzte er die Brille auf seine Nase und blickte sich so zufrieden um, als würde er die schöne Welt zum ersten Mal sehen.

„Ich wollte gerade die Zeitung lesen, und da habe ich deine Brille in meinem Sessel entdeckt“, berichtete Tilda. „Zum Glück, bevor ich mich darauf gesetzt habe.“

„Oh, richtig. Der Sessel“, murmelte Rupert und kratzte sich verlegen am Kinn. Gestern Abend hatte er zusammen mit Edna und Tilda ein wenig hübsche Musik gehört. „Irgendwie muss ich wohl eingenickt sein“, erklärte der Igel weiter. „Na ja, und als ich dann nach Hause geschlurft bin, habe ich sicher immer noch halb geschlafen.“

„Nur gut, dass dir dabei nichts zugestoßen ist, Rupie“, schmunzelte Tilda. „Wenn man nicht richtig sieht, können ja die unglaublichsten Sachen geschehen.“

„Na, was du nicht sagst“, räusperte sich Rupert verlegen. Nun, so schnell würde er seine treue alte Brille jedenfalls nicht wieder verlegen.