Ketil Bjørnstad

Die Welt, die meine war

Die sechziger Jahre

Ketil Bjørnstad

DIE WELT,
DIE MEINE WAR

Die sechziger Jahre

Roman

Aus dem Norwegischen von
Gabriele Haefs, Kerstin Reimers
und Andreas Brunstermann

Osburg Verlag

Inhalt

Vorwort

1960: Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

1961: Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

1962: Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

1963: Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

1964: Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

1965: Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

1966: Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

1967: Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

1968: Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

Kapitel 109

1969: Kapitel 110

Kapitel 111

Kapitel 112

Kapitel 113

Kapitel 114

Kapitel 115

Kapitel 116

Kapitel 117

Kapitel 118

Kapitel 119

Kapitel 120

Kapitel 121

Vorwort

Es gehört zu meinen glücklichsten Kindheitserinnerungen, Mutter unten in Cammermeyers Buchhandlung (die später in Tanum umbenannt wurde) auf Karl Johan zu besuchen. In der Welt der Bücher auf Schatzsuche zu gehen. Ein nagelneues Buch aus dem Bücherregal zu ziehen, daran zu schnuppern und den Geruch von Papier und Druckerschwärze in mich aufzunehmen, behutsam eine Seite nach der anderen umzublättern, um festzustellen, ob das ein Buch für mich sein könnte. Mit Mutter und ihren wunderbaren Kolleginnen zu sprechen, den schönen und witzigen Damen wie Jynge, Krokann und Frau Lorentzen – und den enthusiastischen jungen Herren wie Widmark und Pål Christian. Alle erzählten mir von Büchern, die ich lesen müsste, und das tat auch Kari Forfang Grimnes später, beim Konkurrenten Norli in der Universitetsgate. Und Finn Jan Henrichsen im Bokladen in Homansbyen. Wie Rønnaug und Rolf es jetzt tun, im Buchladen Ark hier in Nordstrand. Bücher, die ich nicht versäumen dürfe. Bücher, die in ihrem eigenen Leben wichtig waren, und die auch in meinem wichtig werden würden. Ich habe euch so vieles zu verdanken!

Jetzt, da Mutter tot ist, kommen diese Erinnerungen näher an mich heran als je zuvor. Wenn ich mit Freunden spreche, wird deutlich, dass diese Erfahrung nur natürlich ist, wenn man älter wird. Man sieht die Vergangenheit in einem anderen Licht. Was früher selbstverständlich war, verwandelt sich in Erkenntnisse oder Geschichten.

Als ich »Mein Weg zu Mozart« schrieb, merkte ich, welche Befreiung es war, zum ersten Mal in einer angenäherten Romanform über mein eigenes Leben zu schreiben. Seit ich in den siebziger Jahren angefangen hatte, Hans Jæger zu lesen, hatte ich das vermutet. Aber worüber sollte ich denn schreiben, damals, als ich mittendrin stand ohne irgendeine Distanz? Zeit gibt Distanz. Aber Zeit gibt auch Nähe. Neue Erkenntnisse. Um ein Lied meines lieben Freundes Ole Paus ein wenig abzuwandeln: »Das hier wird jetzt langsam zu einem Leben, das hier fängt an, einem Roman zu ähneln.«

Die Idee war plötzlich da. Ich dachte an meine eigene Geschichte. Aber ich dachte auch an die Geschehnisse dort draußen in der weiten Welt. Alles, was in diesen Jahren passiert ist, hat dazu beigetragen, mich zu formen, bis heute. In meiner Erinnerung hat jedes Jahrzehnt eine Farbe. Die sechziger Jahre sind gelb. Die siebziger Jahre sind blaugrau. Die achtziger Jahre sind braun. Die neunziger Jahre sind fast weiß. Und die nuller Jahre sind wieder blaugrau, genau wie die siebziger. Während die Jahre von 2010 bis heute … Was, wenn ich über jedes dieser Jahrzehnte einen Roman schriebe, dachte ich. Einen Roman, der eine persönliche Erinnerung und zugleich eine Erzählung über die großen Ereignisse in der Welt und in Norwegen wäre, betrachtet von einem subjektiven Standpunkt aus. Ich habe diese Idee an Freunden und Kollegen getestet. »Das musst du unbedingt«, sagten sie fast einstimmig. »So erinnern wir uns doch an unsere Leben. An das Große und das Kleine, das zu einer einzigen Erinnerung verschmilzt.«

Ich dachte an das Lied »The World I Used To Know« von Rod McKuen. Ich hatte es auf Schallplatte, in der phantastischen Version von Olle Adolphson: »Die Welt, die meine war«. In meiner allerersten Gedichtsammlung, »Alene ut« (Allein aus dem Haus) gibt es ein Gedicht, das so heißt: »Verden som var min.« Natürlich, dachte ich. Hier ist der Titel für meinen Romanzyklus. Etwas, das war, das zugleich aber stark in meiner Erinnerung fortlebt. Jedes Buch der Serie sollte heißen wie das darin beschriebene Jahrzehnt: sechziger Jahre, siebziger Jahre, achtziger Jahre, neunziger Jahre, nuller Jahre, Das letzte Jahrzehnt.

Ich konnte es so deutlich vor mir sehen, als ich mit dem ersten Buch begann. Die sechziger Jahre. Das Jahrzehnt, in dem ich mich langsam von meiner Kindheit losriss. Mein eigener kleiner Kampf um das Dasein, während die großen Ereignisse ihren Lauf nahmen: Der Tod von Camus, die Hinrichtung von Chessman, der U-2-Skandal, die Kubakrise, die Beatles, der Algerienkrieg, Marilyn Monroe, die Kennedy-Morde, der Mord an Martin Luther King, die Rassenunruhen in den USA, der Granatenmann hier in Norwegen, die Hippiezeit, der Vietnamkrieg, alle Filme, die Musik, die Bücher. Die Grenzen, die gesprengt wurden, und die indirekt dafür sorgten, dass ich nach Paris fuhr auf Suche nach der Liebe und nach allem, was nicht von mir erwartet wurde.

Das hier sind die sechziger Jahre. Das gelbe Buch. Das gelbe Haus im Melumvei, in dem ich aufgewachsen bin, ehe wir dann in das grüne Haus draußen in Bærum und noch später in das weiße Haus am Frogner plass zogen. Danach werde ich über die siebziger Jahre und über die große Befreiung im Schatten des Kalten Krieges schreiben, über die falschen und die richtigen Autoritäten, die entscheidende Begegnung mit Ole Paus, mit Liedermachern, Jazzmusikern, Schriftstellern und Malern. Den Weg von der klassischen Musik in der Aula der Universität zu den dunklen Kellern von Club 7, und die Begegnungen mit den Menschen, die in meinem Leben entscheidende Bedeutung gewinnen sollten. Über den neuen Feminismus, den Kampf gegen die EG, die politischen Kriege mit der AKP (m-l) im Zentrum des Sturms. Die Reisen, die Konzerte, die Bücher, das Leben am Meer auf Sandøya vor Tvedestrand. Die Organisation Zukunft in Unseren Händen. Die Zusammenarbeit mit Musikern und Sängern, von Lill Lindfors und Cornelis Vreeswijk bis zu Olle Adolphson und Radka Toneff auf »Leve Patagonia«. Police. New Wave. Den Kampf um Mardøla und gegen den Ausbau des Alta-Flusses. Das Festival auf Kalvøya. Die Musik, die sich veränderte. Danach die achtziger Jahre. Das Jahrzehnt Ronald Reagans. Aber auch das von Kåre Willoch. Die Treholt-Affäre, die großen Friedensdemonstrationen in Europa, den USA und der Sowjetunion. Meine eigenen Reisen nach Japan, New York und San Francisco. Die unangenehme Begegnung mit Mike Tyson vor dem Boxring in Las Vegas. Die Katastrophe von Tschernobyl, die Yuppiezeit, das wachsende Umweltbewusstsein und der Fall der Berliner Mauer. Die neunziger Jahre, als König Olav starb, während Präsident Bush den Golfkrieg startete, als die Sowjetunion sich auflöste, und als auch mein eigenes Leben durch und durch umgeworfen wurde. Die Kritik an der Männerkultur. Die grauenhaften Vergewaltigungen in der Gegend hinter dem Schloss. Der bittere Streit um die EU, der wieder auflebte. Die Begegnungen mit Bangladesh, mit Indien, mit dem Dalai Lama in Dharamsala, während die Angst vor Zukunft und Jahrtausendwechsel in allen Ländern wuchs. Die Jahre in Paris. Die »Reise nach Gallien« während der Fußball-WM mit meiner phantastischen Ehegenossin Jacobsen als Sparringpartnerin. Und danach die beiden letzten Bücher, in denen meine Eltern wieder stark vertreten sein werden, aber auf eine ganz andere Weise als in diesem. Mir ist noch nicht deutlich bewusst, was ich auf persönlicher Ebene aus den Ereignissen der letzten Jahre mitnehmen werde. Die entscheidende Reise nach China, zum Beispiel. Aber ich hoffe, dass die Auswahl an persönlichen Dramen und Ereignissen einen politischen Hintergrund deutlich macht, der für mich immer sichtbarer wird, jetzt, da der Kalte Krieg wieder auflodert und die Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa ertrinken. Beim Schreiben denke ich an die Gemälde von Leonard Rickhard. An seine Fähigkeit, den Menschen in eine Landschaft zu stellen. Ich denke an Camus. An Vonnegut. An Bellow. An die Einsamkeit, die wir alle in uns tragen. An die Gemeinschaft, deren Teil wir zu werden versuchen. Die Geschichten über ein Leben. Die Geschichten über eine Zeit.

Oslo, 7. Mai 2015

Mit freundlichen Grüßen
Ketil Bjørnstad

 

Mit Dank an Kari Spjeldnæs, Øyvind Pharo, Trygve Åslund, Mads Nygaard, Vidar Strøm Fallrø, Mona Ek, Vegard Bye, Even H. Kaalstad, Therese Moe Leiner, Even Råkil, Line Noreng Frost, Anne Margrethe Aandahl Hummelsgaard, Asbjørg Engebø Rystad, Siv Helen Kjelstrup Andersen, Bjørg Ringstad, Siv Kvarekvål, Lilly Anne Hove und viele, viele andere im Aschehoug Forlag.

Besonderer Dank geht an Tine Kjær, Anne Grosvold, Knut Gørvell, Catharina Jacobsen und Tormod Bjørnstad.

1960

1

Als er mehr als fünfzig Jahre später Abschied von ihr nimmt, ist er es selbst, der den letzten Schlüssel zum Raum der Trennung hat. Obwohl es eine junge Schwesternhelferin aus Lettland ist, die ihm die Tür zum Kühlraum der Kapelle im Pflegeheim öffnet. Er ist den ganzen Weg aus China gekommen. Aber er kommt zwei Tage zu spät. Dennoch durfte sie dort liegen bleiben. Seinetwegen. Sie wartet auf ihn, wie sie so oft schon gewartet hat. Sie haben ihr ein weißes Band um das Gesicht geknüpft, damit sich ihr Mund nicht öffnet. Sie sieht aus wie ein Kaninchen im Kindertheater. Dennoch ist sie seine Mutter. Als er sie auf die Stirn küsst, merkt er, dass sie eiskalt ist. Unter den fast geschlossenen Augenlidern ahnt er ihre graublauen Augen. Als ob sie ihn anlächelt. Noch jetzt. Als ob sie zum letzten Mal versucht, seinen Blick zu erwidern.

»Du warst eine gute Mutter«, sagt er endlich, ohne dass die Schwesternhelferin, die sich diskret auf den Gang zurückgezogen hat, es hören kann. Dann küsst er sie ein letztes Mal auf die Stirn. Ein allerletztes Mal. Er merkt, dass von seinem Auge eine Träne fällt und ihre Wange trifft. Die Träne ist so groß, dass sie zu ihrem Mundwinkel rollt, wo sie innehält. Ist seine Mutter eigentlich tiefgefroren, so, wie sie dort liegt? Wird der Tropfen jetzt auch zu Eis werden? Er berührt die Träne, noch ist sie feucht. Er wischt sie mit einem Papiertaschentuch weg, als ob er die Tote trösten wolle.

Trennung ist Erfahrung. Das Erste, was er nach seiner Geburt getan hatte, war zu weinen. In all den Jahren, die darauf folgten, verbarg er das Weinen in sich, als ob es eine Schande wäre. Es war die erste Gefühlsäußerung, die er der Welt gezeigt hatte. Es war auch die tiefste. Diese Gefühle konnten in ihm aufbranden, wenn er an einer Straßenbahnhaltestelle oder auf einem Bootsanleger stand und sich von jemandem verabschieden wollte. Er konnte an die Existenz dieser Gefühle immer dann erinnert werden, wenn ein Flugzeug abhob. Wenn er weinte, nachdem er ein Buch gelesen, ein Theaterstück gesehen oder eine Kinovorstellung besucht hatte, lag das meistens daran, dass Menschen voneinander getrennt worden waren. So war auch das Weinen seiner Tochter, wenn sie sich von einem Menschen, einem Tier oder einem Gegenstand trennen musste, die für sie etwas Besonderes waren.

Eine Welt geht unter, wenn ein Kind geboren wird. Die Welt des Kindes und die der Mutter. Nie mehr wird das Kind später im Leben eine so umschließende Fürsorge erleben. Niemand möchte einen solchen Schutzzustand verlassen. Er wog viereinhalb Kilo, als er den Kampf aufgeben musste, drinnen bleiben zu dürfen, es war an einem Tag Ende April 1952. Der Stichtag war schon um viele Wochen überschritten. Seine erste Erfahrung im Leben war unerwarteter und brutaler als alles, was er später erleben würde. Und obwohl er sich an diesen Augenblick nicht erinnern kann, hat dieses Erlebnis sich in seinem Nervensystem festgesetzt. Seine gesamte Kindheit hindurch und bis weit in seine Jugend hinein konnte er es nicht ertragen, von seiner Mutter verlassen zu werden. Wenn sie kurz zum Einkaufen wegmusste, schloss er die Arme zu einer eisernen Klammer um ihre Oberschenkel, und dabei heulte er so sehr, dass es von den Wänden widerhallte. Einige kurze Sekunden lang konnte sie sich nicht rühren. »Aufhören, Ketil! Aber nun hör doch schon auf! In zehn Minuten bin ich ja schon wieder da!«

Dann ging sie.

Und er stand da in dem dunklen Gang. Er weinte. Die Haustür war abgesperrt, und er hatte keinen Schlüssel. Dann lief er in die Küche, wo er sie durch das Fenster sehen konnte. Er kratzte mit den Nägeln über das Glas. Das muss sie doch hören, dachte er. Er schrie lauter, als er es für möglich gehalten hätte. Aber sie drehte sich nicht um. Sie lief mit ihrem Einkaufskorb in Richtung Randklev. Manchmal stand sein Bruder neben ihm. Gemeinsam konnten sie sehen, wie die Mutter hinter der Kurve verschwand. Dann weinten sie beide.

Oft, wenn ich zurückblicke, denke ich nicht an mich selbst als ich, sondern als er. Zugleich war ich so sehr ich in den Situationen, in denen ich in meiner Erinnerung als er auftrete. Die Erinnerung ist ein eigenes Individuum in meinem Körper. Sie hat dasselbe Bedürfnis nach Schutz wie die Person, die ich ich nenne. Als der große Aufbruch stattfand, war ich zweifellos ich selbst. Aber später dachte ich an mich als er. Es war ein anderer, der das erlebt hatte.

Aber diese Person war auch ich.

Er war ich. Und ich war er.

2

Zu Silvester 1959 hatten sich alle im Melumvei im Wohnzimmer versammelt. Tante Svanhild war auch da. Sie hatte einen Kellerkuchen in einer Brotform mitgebracht. Bis sie geklingelt hatte, hatte der Vater seine Zeitung gelesen. Der Vater hatte gesagt, dieser Abend sei eine Zeitenscheide. Aber der Sohn wusste nicht, was eine Zeitenscheide war. Bei diesem Wort wurde ihm unbehaglich zumute. Weil da offenbar etwas war, das er hinter sich zurücklassen sollte. Er hasste es, etwas wegzuwerfen.

Draußen war finstere Nacht. Aber im Zimmer brannten alle Kerzen, auf den Fensterbänken, auf dem Kaminsims und auf den Tischen. Die Mutter hatte sogar auf den Nähmaschinentisch und neben die Fotografien, die sie retuschierte, Kerzen gestellt. Er fand es schön, dass sie Kerzen so liebte. Sie konnte davon nicht genug bekommen. Und deshalb konnte er das auch nicht. Sie hatten Blätterteigmuscheln mit Fischpudding in Sahnesoße gegessen. Er hatte roten Saft getrunken. Er hätte satt und glücklich sein können, aber er hatte »einen Kloß im Hals«, wie seine Mutter das immer nannte, wenn sie ganz besonders unglücklich war. Er hatte alles ruiniert. Das konnte er sehen. Er sah, wie sie sich zusammenriss. Tante Svanhild war seine Lieblingstante. Sie wohnte in Frogner, in der Gabelsgate, und sie hatte seit vielen Monaten schon Fernsehen, obwohl der norwegische Rundfunk NRK offiziell noch gar nicht sendete. Aber es gab Testprogramme. Die Olympischen Spiele in Rom sollten übertragen werden, und sicher auch die Winterspiele in Squaw Valley. Sogar Finnmark sollte innerhalb weniger Jahre an das Fernsehnetz angeschlossen werden, vielleicht schon 1969. Ihm kam das unendlich weit weg vor. Aber Tante Svanhild versuchte, optimistisch zu wirken, obwohl er sicher war, dass auch sie am liebsten geweint hätte. Sie erzählte davon, dass die Sendemasten von Berg zu Berg aufgestellt werden mussten, durch Gudbrandsdalen und Østerdalen, dann weiter durch Trøndelag, wo es immer wieder zu schrecklichen Erdrutschen kam, ganz zu schweigen von Westnorwegen, zwischen den verschlungenen Fjorden und bei den vielen Schafzüchtern in verdreckten Kleidern, die noch nicht einmal anständig Norwegisch reden gelernt hatten. Sie sprach tapfer über ihre beiden neuen Idole Kari Borg Mannsåker und Erik Diesen, die die Testsendungen moderierten. Sie seien so zuverlässig und ruhig und gebildet, sagte sie. Die Redaktion für Fernsehspiele hatte zudem zehn Schauspieler verpflichtet, und man sollte einen Anspruch auf fünf Minuten Übertragung von Sportveranstaltungen haben, auch wenn der Sportverband überaus skeptisch war.

Er befand sich tief in seinem eigenen Kopf und hätte ihn gern gegen eine Wand geschlagen. Mal um Mal, immer wieder, bis es wehtat. Und selbst dann wäre er noch immer nicht gestraft genug. Warum hatte er das gesagt?

Die Eltern hatten sich gestritten. Es war erst vier Stunden her. Eine ihrer vielen schrecklichen Auseinandersetzungen über Dinge, die er nicht begriff. Ein Essen für Ingenieure. Die vielen dummen Mannsbilder, die die Mutter verachtete. Sie wollte nichts mit ihnen zu tun haben, nicht mit ihnen reden, nicht zwischen ihnen sitzen. Die langweiligen Gespräche über den Ausbau der Wasserkraftwerke, die Frauengeschichten, die immer ein bisschen zu weit gingen. Aquavit und Cognac. Die Mutter wollte das nicht! Damit basta. Ihr Vater war zudem Trinker gewesen. Hatte sich auf einem Kreuzfahrtschiff zu Tode gesoffen. War über Bord gefallen. Der verletzte Ausdruck im Gesicht des Vaters. Die Mutter, die bald in Tränen ausbrechen und sagen würde, sie wolle sich irgendwo ein Zimmer mieten. Wenn sie an diesen Punkt gekommen waren, legte er sich immer mit einem Kissen über dem Kopf auf das Sofa. Dennoch konnte er hören, was sie sagten, oder schrien. »Und dann auch noch Tante Svanhild!« Das hatte die Mutter gesagt, als das Geschrei abgeebbt war. Als sie im Badezimmer stand und versuchte, ihren Zorn wegzuschminken.

»Wir können anrufen und sagen, dass es doch nicht geht«, sagte der Vater. Er war immer loyal, nur dann nicht, wenn es um die Ingenieursfeste ging.

»Nein, das ist unmöglich.« Die Mutter seufzte. Aber er begriff, dass seine Eltern sich wieder versöhnt hatten.

Vielleicht, weil er von der Heftigkeit dieser Streitereien erschüttert war, von den hässlichen Wörtern, die diese gütigen Menschen einander sagen konnten, war ihm fast schwindlig, als er die Türklingel hörte und hinlief, um zu öffnen. Da stand sie. Die Lieblingstante Svanhild. Mit dem schwarzen Pelzmantel, den alle Persianer nannten und von dem er später erfuhr, dass er aus den Fellen neugeborener russischer und afghanischer Karakulschafe zusammengenäht war, von Lämmern, die nur einen Tag alt waren, noch feuchtes Fell hatten, nachdem sie in der beschützenden Feuchtigkeit und Dunkelheit ihrer Mutter gelegen hatten. Aber an diesem letzten Dezembermorgen der fünfziger Jahre war es draußen kalt. Bald würde in Europa ein neuer Kälterekord aufgestellt werden, Tante Svanhild hatte rote Wangen, von der Kälte und weil sie sich so freute, wieder dieses Haus in Røa zu besuchen, wo ihre Lieblingsnichte mit ihrem Mann und den beiden Söhnen wohnte. Sie war keine echte Tante. Sie war Großtante. Die Tante der Mutter. Was für ihn aber keine Rolle spielte. Sie hatte all die guten Seiten der Familie der Mutter. Sie war so sehr eine Tante wie jede andere. Er liebte sie. Warum sollte er sie nicht lieben? Diese besondere Vertraulichkeit, vielleicht, weil sie unverheiratet und allein war. Er war auch unverheiratet und allein. Kein blöder Partner mischte sich ein und bat zu Blaubeerpflücken oder Ingenieursessen. Warum also hatte er das gesagt?

»Mutter und Vater wollten eigentlich nicht, dass du kommst.«

Er merkte, wie ein Ruck durch ihren Leib ging, als sie da in der Tür stand. Sie hatte eine kleine, in Papier gewickelte Blume und die Brotform mit dem Kellerkuchen bei sich. Am dritten Weihnachtstag war sie zweiundsechzig geworden. Genau sein Alter jetzt, da er das alles aufschreibt. Aber damals war er erst sieben. Er hatte nicht geglaubt, dass es möglich wäre, sie zu verletzen. Er war doch ein Kind. Sie war ein erwachsener Mensch. Seine Eltern kamen angestürzt. Der strenge Blick der beiden. Er wand sich.

»Das stimmt nicht. Du weißt, dass das nicht stimmt!«

Aber er sah, dass Tante Svanhild traurig war. Sie glaubte den Eltern nicht.

Alles wurde so traurig. Wie 1954, als der Vater die Sonnenfinsternis gesehen hatte. Er selbst hatte offenbar im Kinderwagen gelegen und zugeschaut. Die Vögel, die aufhörten zu singen. Der Vater, der es mit der Angst zu tun bekam. Die Natur, die starb. Etwas starb in ihm, als er sah, dass Tante Svanhild mit den Tränen kämpfte. War es wirklich so schlimm, was er gesagt hatte? Dann musste sie doch einsam sein. Schrecklich einsam.

Und noch hatten sie viele Stunden vor sich. Es war noch lange, bis die Uhr zwölf schlagen würde. Im Radio hörte er Erik Bye »Anna Lovinda« singen.

»Ihr müsstet euch einen Fernseher anschaffen«, sagte Tante Svanhild. »Bald kommt alles im Fernsehen.«

In einem verstohlenen Augenblick ging er in sein Zimmer und machte kein Licht. Die Luna 3 hatte Bilder von der Rückseite des Mondes gemacht. Dort war alles ganz tot. Kein Mensch war zu sehen, auch wenn viele das geglaubt, gehofft, gefürchtet hatten. »Der Mond schüttelte sich wie eine verwundete Schlange«, hatten irgendwelche Mönche gesagt, vor achthundert Jahren, vermutlich, nachdem sie gesehen hatten, wie ein Meteorit mit gewaltiger Kraft auf den Mond auftraf. Die Menschen hatten sich ihr Teil gedacht, Generationen lang. Und noch wusste man nicht, was da oben vor sich ging. Er hatte »Anna Lovinda« im Kopf, als er am Fenster stand und die Straßenlaternen im Melumvei und die Schneewehen anstarrte. Das Liebeslied. Ein Mensch kniet vor einer Frau, die unter einem Kreuz auf einem Friedhof am Meer in der Nähe von Westport an der Küste von Neu-England liegt und zu Staub geworden ist. »Anna … Anna Lovinda.« Im vergangenen Sommer war er mit Münzen in der Tasche bei Hvalstrand durch den Regen gegangen und hatte sich in das Café geschlichen, wo die Musikbox stand. Anna Lovindas Geschichte, wieder und wieder. Die verzaubernde Melodie. Der Text mit dem melancholischen Sog. »Es kommt ein Schiff mit gelöschten Laternen …« Jetzt stand er am Fenster in seinem Zimmer und dachte, er könnte Tante Svanhild heiraten, wenn er etwas älter wäre. Niemand verstand ihn so, wie sie ihn verstand. Er fand auch, dass er sie verstehen konnte. Deshalb war es so traurig, dass er sie verletzt hatte. Die Liebe war grausam. Anna Lovinda war erst 20, als sie am 12. April 1872 starb. Und schon da war sie Witwe gewesen! Ebenezer Hunt, der Kapitän, war im selben Jahr mit seinem Schiff untergegangen, er war fünfundzwanzig Jahre alt. »Ja, schlaf unter Lilien, Anna Lovinda, schlaf süß unter Lilien und Laub. Ein Wanderer hat heute Abend sein Haupt entblößt. Ein Gedanke kniet vor deinem Staub.«

Er hauchte die Fensterscheibe an. Sofort war sie beschlagen. Er schrieb die Buchstaben S und K. Dann zeichnete er um sie herum ein Herz.

In diesem Moment hörte er den Lärm des Feuerwerks.

Er wischte rasch weg, was er geschrieben hatte. Draußen auf der Straße ging ein junges Mädchen vorüber, ganz allein. Woher kam sie? Wohin wollte sie? Und nun hörte er Rufe aus dem Wohnzimmer. »Ketil, jetzt musst du kommen! Du musst kommen, hörst du?«

Die vielen Raketen, die am Himmel barsten, zischten. Es klingt wie Krieg, dachte er.

Die sechziger Jahre hatten begonnen.

3

Albert Camus, über den der Vater schon so viel gesprochen hat, ist mit Francine und den vierzehn Jahre alten Zwillingen in Lourmarin, einer der schönsten Städte Frankreichs, siebzig Kilometer östlich von Avignon. Der letzte Abend mit den alten Francs. Vom ersten Tag des neuen Jahres an wird ein neuer Franc so viel wert sein wie hundert alte. Als Camus das Haus in der Grand’rue de l’Eglise in Lourmarin gesehen hatte, hatte er gesagt: »Das oder keins.« Da hatten er und Francine gemeinsam schon zwanzig Häuser und Bauernhöfe besichtigt. Er musste mehr als neun Millionen alte Francs bezahlen, und der Freund und Poet René Char hatte lakonisch bemerkt: »Bei solchen Gelegenheiten kann ein Nobelpreis nützlich sein.«

Francine war Pianistin und Mathematikerin. Sie lebten auf einem Grundstück, das früher eine Seidenfarm gewesen war. Ein Geruch nach Wachs. Der Garten breitete sich innerhalb einer niedrigen Ummauerung aus, es gab frischgepflanzte Olivenbäume, Rosen und Rosmarin. Nach all den Jahren der Seitensprünge und nachdem herausgekommen war, dass Camus noch immer eine ernsthafte Beziehung zu der in Spanien geborenen Schauspielerin Maria Casarès unterhielt, hatte Francine resigniert. Den letzten Tag der fünfziger Jahre feierten sie auf althergebrachte provençalische Weise mit dreizehn Desserts, inklusive einer Fougasse, Apfelsinen, Feigen, Mandarinen und Mandeln. Camus hatte zu Francine gesagt: »Du bist meine Schwester, du ähnelst mir, aber seine Schwester sollte man nicht heiraten.«

In letzter Zeit, nachdem er mit einer Art Resignation den Nobelpreis entgegengenommen hatte, hatte er sich in einer existenziellen Krise befunden. Nichts von dem, was er früher gedacht und geschrieben hatte, konnte ihm helfen. Seine jahrelange Behauptung, der Welt fehle es an Sinn und Zusammenhang, war nun eine Wahrheit, von der er hart getroffen wurde. Er konnte nicht wie die Hauptperson in La peste handeln, ohne an die persönlichen Konsequenzen zu denken. Das Gefühl der Entfremdung, über das er in irgendeiner Form fast immer schrieb, verstärkte sich in dieser Zeit, in der er noch immer ein konfliktreiches Privatleben mit mehreren unbeendeten Beziehungen hatte, während er vor allem auf dem neuen Grundstück in der Provence sein wollte. »Ich kann nicht lange mit Menschen zusammenleben. Ich brauche ein wenig Einsamkeit, ein Stück Ewigkeit.« Er arbeitete an dem Roman Le premier homme, der erst fünfundvierzig Jahre später veröffentlicht werden sollte. In seinem Tagebuch schreibt er: »Man kann ein Wesen erobern, weil man selbst erobert worden ist. Und es stimmt, dass ich gerade in diesem Augenblick ein Bedürfnis nach der Zusammengehörigkeit mit jemandem hatte, die du mir geschenkt hast. Und das ist der Grund, aus dem dein Verschwinden mich ebenso verletzt hat wie deine Lüge. Noch einmal eine kurze Zeit des Pessimismus, dann darf das Unglück leuchten: Dann werde ich wieder ich selbst sein.«

Der Neffe seines Verlegers, der linksorientierte Hedonist Michel Gallimard, ist mit seiner ganzen Familie mit von der Partie. Janine, Michel und Anne. Sie sind in einem Facel-Vega HK 500 aus Grasse gekommen. Camus hat Bahnfahrkarten gekauft, um zusammen mit Francine und den Zwillingen zurück nach Paris zu reisen, aber Gallimard überredet ihn, einige Tage später mit ihnen zu fahren. Camus hat eine ganz besondere Beziehung zu Gallimards Tochter, und nachdem Camus’ Familie mit der Bahn losgefahren ist, feiern Camus und die Familie Gallimard den achtzehnten Geburtstag der Tochter mit einem Mittagessen im altmodischen Speisesaal des Hotels Ollier. Das neue Jahrzehnt ist jetzt zwei Tage alt. Camus hat eine Schwäche für Gallimards Hang zu Luxus und Genuss. Zugleich hat er in sein Tagebuch geschrieben: »Jahrelang habe ich mir gewünscht, nach der Moral aller anderen zu leben. Ich habe mir Mühe gegeben, wie alle anderen zu leben, allen anderen zu ähneln. Ich habe gesagt, was gesagt werden musste, um zu vereinen, auch wenn ich mich ausgeschlossen fühlte. Und zum Abschluss von allem kam die Katastrophe. Jetzt irre ich zwischen den Trümmern umher. Ich stehe außerhalb des Gesetzes, bin zerrissen, einsam, und das akzeptiere ich, ich habe mich mit meiner Eigenheit und meinen Schwächen abgefunden. Und ich muss eine Wahrheit neu aufbauen – nachdem ich mein ganzes Leben in einer Art Lüge gelebt habe.«

Am folgenden Tag, dem 3. Januar, schaut der 46 Jahre alte Albert Camus, wie Stephen Bayley berichtet, in der Renault-Werkstatt in Lourmarin vorbei, um für den Besitzer ein Exemplar von »L’étranger« zu signieren. Als Widmung schreibt er: »Für M. Baumas, der dazu beigetragen hat, dass ich so oft in das schöne Lourmarin zurückkehren kann.« Dann geht er zurück zu seinem eigenen Haus, wo der Facel-Vega auf ihn und die Familie Gallimard wartet, die ihren Skye Terrier Floc bei sich hat. Er gibt die Hausschlüssel der Haushälterin Suzanne Ginoux, die erkältet ist, und ermahnt sie: »Passen Sie gut auf sich auf. Ich bleibe eine Woche aus, und wir haben noch immer viel zu erledigen.« Camus half ihr immer, wenn sie die Betten machte. »Das ist viel einfacher, wenn man zu zweit ist«, sagte er, und dann erzählte er ihr über seine Mutter und seine Kindheitserinnerungen aus Algerien: »Sie hat hart gearbeitet.«

Der Wagen, in den Camus nun einsteigt, ist schwarz mit beigen Ledersitzen; ein schönes und außergewöhnlich luxuriöses Auto, das den Konkurrenten Citroën DS weit hinter sich gelassen hat. Hier gab es keinen Kunststoff und keinen leichtfertigen Modernismus, sondern Holz und Leder. Und einen aus den USA importierten Chrysler-V-8-Motor, der dieses Modell zum schnellsten Viersitzer auf der Welt machte. Der Wagen war entworfen worden von Jean Daninos, einem Geschäftsmann, der mit dem Verkauf von Kühlschränken und Autowracks ein Vermögen gemacht hatte. Die englische Autorin Jackie Collins sollte viele Jahre später sagen: »Einen Facel-Vegal zu fahren ist, wie phantastischen Sex zu haben. Man wünscht, dass dieser Augenblick nie ein Ende nimmt.« Aber der Konstrukteur des Wagens war sich auch darüber im Klaren, welche Gefahren damit verbunden sind, ein so schnelles Auto zu fahren: »Seien Sie vorsichtig bei hohem Tempo. Halten Sie das Lenkrad mit beiden Händen, wenn Sie nicht gerade schalten müssen. Halten Sie sich so weit wie möglich zur Mitte der Straße. Fahren Sie unten an einem Abhang nicht zu schnell, und drosseln Sie die Geschwindigkeit, wenn Sie oben ankommen, für den Fall, dass dort ein Auto stehengeblieben ist. Suchen Sie keinen anderen Radiosender. Rauchen Sie nicht.«

Niemand weiß, was Michel Gallimard gemacht hat. Wir wissen nur, dass er schnell gefahren ist. Von Lourmarin nach Paris auf der RN7 und der RN5 sind es etwas weniger als achthundert Kilometer. Eine wunderschöne Autofahrt durch Orange, Avignon, Lyon, Macon, Chalon, Beaune, Saulieu, Avallon, Auxerre, Sens und Fontainebleau, bis man dann endlich Paris erreicht hat. Die Reisegesellschaft aß in Orange zu Mittag. Als es auf den Abend zuging, hielten sie bei Paul Blancs Chapeau Fin bei Thoissey, einem Lokal, das einen Umweg verdiente und im Guide Michelin zwei Sterne hatte. Sie beschlossen zudem, dort zu übernachten, nachdem sie Foie Gras, Hühnerfrikassee mit Pilzen und Crêpes Parmentier verzehrt hatten. Camus trug sich nicht ins Gästebuch des Hotels ein, schrieb seinen Namen jedoch auf die obligatorische Registrierkarte. Später sollte Paul Blanc sich erinnern, dass er während der Nacht zwei Facels auf dem Parkplatz gesehen hatte und dass ihm die beunruhigend abgenutzten Reifen des Wagens von Gallimard aufgefallen waren.

Am nächsten Morgen ging die Fahrt nach Paris weiter. Janine Gallimard sollte später erzählen, dass die Reisegesellschaft sich in ein makabres Gespräch über Einbalsamierung verwickelt hatte. Camus meinte, es könne von Vorteil sein, nach dem Tod einbalsamiert zu werden. »Denn dann könnte ich Janine noch immer in ihrem Wohnzimmer Gesellschaft leisten.«

»Quelle horreur«, hatte Madame Gallimard geantwortet, dann begann ihr Mann, noch schneller zu fahren. Worauf Camus von der Rückbank her rief: »He, mein Freund. Hat es hier jemand eilig?«

Sie hielten zum Mittagessen beim Hotel de Paris et de la Poste in Sens, einem weiteren Restaurant mit zwei Michelin-Sternen, das nur noch anderthalb Stunden von der Hauptstadt entfernt lag. Sie aßen extra blutige Blutwurst, Boudins noirs auf Pommes reinette, und tranken eine Flasche Burgunder. Dann ging es weiter über die langen und fast beängstigend geraden Alleen in Richtung Hauptstadt.

Es nieselte jetzt.

Später sollte sich Janine erinnern, dass sie im Augenblick vor dem Unfall kein Geräusch von dem explodierenden Reifen gehört hatte, wohl aber Michels Ausruf »Merde!« Der Wagen geriet sofort ins Schlingern. Ihre Erinnerung setzte wieder ein, als sie zu sich kam, sie saß auf der Straße im Schlamm und rief vergeblich nach Floc, der für immer verschwunden war.

Der Wagen hatte einen Baum getroffen, dann noch einen, dann hatte er sich überschlagen. Später konnten Pressefotografen bezeugen, dass das Auto eine fünfzig Meter lange Schramme in den Asphalt gezogen hatte. In einem Radius von 150 Metern wurden Wrackteile gefunden. Der Chryslermotor lag auf der anderen Straßenseite, vom Rumpf getrennt. Die Uhr im Armaturenbrett war bei 1.55 stehengeblieben. Ein Lastwagenfahrer, der sich als Zeuge meldete, sagte, er sei unmittelbar vor dem Unfall von Gallimard überholt worden. »Die hatten bestimmt über 150 Stundenkilometer drauf.«

Die beiden Frauen, die auf der Rückbank gesessen hatten, waren unverletzt. Camus dagegen war vom Beifahrersitz gegen das Armaturenbrett und danach mit gebrochenem Genick durch das Plexiglasfenster hinten im Wagen geschleudert worden. Er war sofort tot, die Rettungsmannschaft brauchte zwei Stunden, um die Leiche aus dem Wrack zu bergen, nachdem diese mit dem Kopf unter dem Kofferraum gefunden worden war. Michel Gallimard war bei Bewusstsein und fragte: »Bin ich gefahren?« Er starb fünf Tage später an einer Gehirnblutung.

Der Arzt, der den Totenschein unterzeichnete, hieß Marcel Camus. In Camus’ Koffer befanden sich die dicht beschriebenen 144 Seiten des Manuskriptes von Le premier homme, eine Schulübersetzung von Shakespeares Othello und eine französische Übersetzung von Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft. Dazu die unbenutzte Zugfahrkarte nach Paris.

Bei früheren Gelegenheiten hatte Camus oft gesagt: »Die dümmste Art zu sterben ist durch einen Verkehrsunfall.«

Michel Gallimards alter Lehrer, René Etiemble, untersuchte den Unfall sorgfältig und gründlich auf französische Weise und konnte aus den Wartungsprotokollen für den Wagen entnehmen, dass einer der Hinterreifen schon zweimal eine Panne gehabt hatte. Jean Daninos sagte später, er habe Gallimard davor gewarnt, mit diesen offenkundig abgenutzten Reifen zu fahren. Und Etiemble kam zu dem Schluss, sie seien »in einem Sarg gefahren«.

Eine von Camus’ letzten Tagebucheintragungen lautete: »Ich weiß, dass ich alles getan habe, um dich von mir loszulösen. Ich habe mein Leben lang, sobald ein Mensch mir Zuneigung entgegenbrachte, alles getan, damit er sich zurückzog … Aber seitdem bin ich meinerseits allen entglitten, und irgendwie wollte ich, dass mir alle entglitten.«

Der früher so enge Freund und Widersacher Jean-Paul Sartre schrieb im France-Observateur: »Wir hatten es nicht so leicht, wir beide, aber das hat nichts zu bedeuten. Selbst, einander niemals wieder zu begegnen ist nur eine andere Weise des Zusammenlebens.«

4

Er liegt schon lange still da und wartet, hofft, nicht gesehen zu werden. Er liebt seine Eltern. Betet sie beide auf unterschiedliche Weise an. Dennoch weiß er, dass sie einmal begreifen werden, dass dieses Kind, das er mit seinem launischen Körper darstellt, ein Irrtum war, etwas, das sie vergessen konnten, und das sie vielleicht vergaßen, wenn er still genug war, wenn er zu Hause vorsichtig genug die Türen öffnete und schloss, und wenn er nicht mit ihnen darüber sprach, was in der Schule vor sich ging.

Noch hatten sie nicht begriffen, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Aber er hat es an den Blicken gemerkt. Die ersten Tage und Monate in der Schule waren ebenso licht gewesen wie die rosa Farbe an den Wänden des Klassenzimmers. Er fuhr jeden Morgen gemeinsam mit seinem Bruder mit der Straßenbahn von Røa nach Smestad. Das waren fünf Haltestellen. Und wenn sie bei dem roten Klinkerbau ausstiegen, traf der Bruder Klassenkameraden, während er zumeist allein den Weg hinunter zu den alten Deutschenbaracken ging, in denen die Schule am Smestaddam untergebracht war. Er hatte nicht das Bedürfnis, sich irgendjemandem aufzudrängen. Die Unsichtbarkeit, die er zu Hause anstrebte, versuchte er auch im Klassenzimmer zu erobern. Der sein, der sich niemals zeigte. Der niemals gesehen wurde. Das Sicherste war es, allein zu sein. Dann konnte niemand ihm etwas nachweisen.

Der Lehrer schien aus einer anderen Welt geholt worden zu sein. Mild und energisch. Streng, aber nicht gefährlich. Sowie er die Arme hob, wurde es still. Warum war das so, dass der eine den Zauberstab des Gehorsams in Händen hielt, während andere vergeblich gegen eine Wand aus Lärm die Klasse anschrien?

Eines Tages sprach der Lehrer über das Böse. Das hatten wir in uns.

Ja, dachte er, als er da in seiner Schulbank saß. Es war das Böse, das ihn dazu gebracht hatte, die Menschen zu verletzen, die er liebte. Als Tante Svanhild an jenem Abend zur letzten Straßenbahn nach Hause gegangen war, stand er leer und verzweifelt in der Türöffnung und blickte ihr hinterher. Er wollte nicht, dass sie ging. Er wollte ihr hinterherlaufen, die Arme um sie schlingen und rufen, dass er dumm gewesen sei, dass er nicht wisse, was in ihn gefahren war, dass es auf der ganzen Welt keinen Menschen gebe, den er lieber zu Besuch haben wollte als sie.

»Gesteht!«, sagte der Lehrer.

Ja, dachte er. Aber er sagte nichts. Zu gestehen würde auch bedeuten, sich sichtbar zu machen.

»Denn auch wenn ihr Kinder seid, habt ihr gesündigt«, sagte der Lehrer.

Niemand wollte das erste Geständnis ablegen. Draußen war Winter. Der Schnee türmte sich zu Wehen auf, nur nicht auf der Ullernchaussee, wo Salz gestreut worden war und die Autos vorsichtig in braunem Matsch hin und her fuhren.

Er sehnte sich nach Stille.

Aber in dieser Stille hier konnte er es nicht aushalten. Diese Stille war wie das Geräusch von Metallplatten, die sich ineinander bohrten. Sie war der Schrei, den er immer im Traum hörte, ehe er aufwachte.

Er hob die Hand.

»Ja«, sagte der Lehrer, streng und beifällig zugleich.

Er schaute sich um. Diese vielen Gesichter. Dreißig Kinder in seinem Alter. Aber er dachte nie daran, dass sie Kinder waren. Kluge Gesichter. Freundliche. Gemeine. Geruch und Ausdünstungen der vielen Körper. Ungewaschene Kleider und Pullover, die vage nach Parfüm rochen. Die Schlimmsten unter den Jungs, die nach ranzigem Fett und schalem Zigarettenrauch rochen. Die schönsten Mädchen, die nach Pfirsich und Flieder dufteten.

»Ja?«, wiederholte der Lehrer.

Er starrte das unscheinbarste Mädchen an, die mit den glatten blonden Haaren. Die in Huseby wohnte. Die Hübscheste. Die, die nie ein Wort sagte.

Er hatte sie nie angerührt. »Ich hab sie umgestoßen.«

Sie wurde rot, denn er starrte sie noch immer an. »Du warst gemein zu ihr?«

»Ja, ich habe sie umgestoßen. Auf dem Schulhof. Ich tu das nie wieder.«

»Bitte um Entschuldigung«, sagte der Lehrer. »Entschuldigung«, sagte er.

Sie deutete ein Nicken an und schlug die Augen nieder.

»Gut«, sagte der Lehrer. Er war zufrieden. Er setzte den Unterricht fort. Er hörte nicht, dass die Stille weiterging. Sie wuchs und wuchs. Wurde gewaltig. Dann fing sie an zu zittern.

Die Stille zwischen ihm und ihr.

Er glaubte, alle könnten das hören, noch viele Jahre danach. Aber er bekam sie nie.