image

Franz Wauschkuhn

MAX
&
CONSORTEN

Roman

image

Zweite Auflage 2019

© Osburg Verlag Hamburg 2019

www.osburgverlag.de

Alle Rechte vorbehalten,
insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags
sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,
auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Clemens Brunn, Hirschberg

Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-95510-181-7

eISBN 978-3-95510-190-9

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhalt

Prolog

1. Von Schweinen und Menschen

2. Kinder, Kinder …

3. Petz, du hast schon nach mancher Musik getanzt

4. Schieber und Wurstpellen

5. Freunde I

6. Freunde II

7. Geschäfte, Geschäfte

8. Erste Liebe – zweimal

9. Im Garten blüht der Tod

10. Ein neues Baantje

11. Satans Lust

12. Hakenkreuz mit Kaviar

13. Wehtun soll’s

14. Zuflucht und Kindertrost

15. »Mein Pflischt als Franzos«

16. Geschäfte, Geschäfte

17. Verraten und verkauft

18. Von Tieren und Menschen

19. Gottes Mühlen

20. Keiner schaut zu, niemand sieht hin

21. Geschäfte, Geschäfte

22. Windige Nächte

23. Oh, merde

24. Toujours y penser, jamais en parler

25. In jedem Fall hilft Ambiance

26. Nur Mut

27. Die Clique lebt

28. Schafe haben Rituale

29. Verraten und verkauft

30. Gottes Mühlen

Alles auf Anfang

Prolog

»Lass uns hierbleiben.« Anne verschwand im Badezimmer. Nackt reichten der 35-Jährigen die weißblonden Haare bis zum Po. Es hatte ihr noch nie an Selbstbewusstsein gefehlt, schon als Kind. Das Wasser der Dusche klatschte auf die Kacheln. »Du … Es gibt so viel – viel zu viel, wovon ich nichts weiß«, rief sie. Max schwieg. Was wusste er denn? Wusste er wirklich?

Es war sein Wunsch gewesen, ihr die Stadt zu zeigen: sein Amsterdam. Man hatte ihm im Hotel Amstel wieder Zimmer 312 gegeben. Seit jeher faszinierte ihn der Blick über den Fluss auf das Gouden Eeuw – vergangenes Goldenes Zeitalter, längst gefolgt von einer blutigen eisernen Zeit. Und jetzt, nach allem, war er so froh, hier mit ihr zu sein.

Anne schmiegte sich an ihn. Der aufkommende Sturm über dem Ijsselmeer riss den wolkenverhangenen Himmel auf. Je länger sich helle Lücken auftaten, desto klarer schien alles wieder an Kontur zu gewinnen. Kindheit. Liebe. Stürme.

»Ich bin so neugierig. Ich muss alles wissen. Alles. Erzähl weiter«, sagte Anne und kitzelte ihn. Sie lachten und liebten sich.

»Dass uns der Wind wieder zusammengeweht hat«, sagte Max. »Unfassbar.« Und blickte aus dem Fenster hinaus. Als sie geboren wurden, war der große Sturm gerade vorüber gewesen. Am 8. Mai 1945 war der Krieg der Panzer, Bomben und Granaten, also der normale Irrsinn des 20. Jahrhunderts, beendet. Aber war deshalb Ruhe eingekehrt?

Anne war seinem Blick gefolgt. »Komm ins Bett. Lass die Wolken dunkle Wolken sein.«

»Du wolltest doch, dass ich dir erzähle«, entgegnete er.

»Aber jetzt sind sie doch längst weg«, begriff sie. »Die dunklen Wolken.«

»Sie sind niemals ganz weg. Dieser andere Krieg, der in der Gesellschaft, ist immer weitergegangen. Mindestens bis zum 20. Dezember 1963, als die Henker von Auschwitz in Frankfurt ihre Richter fanden. Mindestens.«

Anne starrte zum Fenster hinaus. »Geißel der Menschheit sind weder Hunger noch Krebs, sondern Glaubenseiferer und fanatische Ideologen.«

Max grinste. »Du meinst: die Dummheit.«

»Du blöder, alter Ironese«, drohte sie, lachte, schlug ihm ihr Kopfkissen mehrmals um die Ohren und setzte sich auf ihn.

Tag und Nacht flossen dahin. An jenem Nachmittag in Amsterdam, unter stürmisch wolkenverhangenem Himmel, wurde ihre Tochter gezeugt.

1.Von Schweinen und Menschen

Dürft’ ich einmal sehen

Dein heimliches Walten

Und dann verstehen.

So hebe Du auch mich

vom Staube zu Dir auf,

nur einen Augenblick

zu sehen, wie Du lenkest

aller Welten Lauf,

die Ursache zu sehen

der Dinge sonder Zahl,

Die wunderlich geschehen.

Carl von Linné, Uppsala 1765

Adolf war kein Eber, sondern eine Sau – wie Eva. Aber so hießen die Schweine. Keiner störte sich daran. Die beiden rosigen Säue hausten in zweiter Generation in der Garage. »Kaffeemühlen« nannte man die quadratischen Backsteinhäuser, die während der 1920er Jahre solide für kleineres Geld errichtet worden waren. Obgleich das Haus von Werner und Lydia Lück nach außen Ruhe und Gediegenheit ausströmte, war es innen tagsüber von Kinderlärm, von unentwegtem Auf und Ab auf den Holztreppen erfüllt. Es gab nur drei Ruhepole: ein Herren- und ein Damenzimmer, in das sich Erwachsene und etwaiger Besuch flüchteten, und das Schlafzimmer der Eltern.

Der breitwangigen Köchin Rosi oblag die Kindererziehung, weil die Kindermädchen regelmäßig nach sechs Monaten kündigten. Köchin und Kindermädchen verfügten über winzige Verschläge unter dem blauen Spitzdach. Die waren Tabuzone.

Irgendwie gehörte auch Max Coehn zum lebenden Inventar. »Mäxchen, hier weiß ich dich in bester Obhut«, sagte seine Mutter Babette, die häufig verreiste. Auf ein Kind mehr oder minder kam es bei Lücks nicht an. Max schlief einige Tage – manchmal wurden es mehrere Wochen – im Zimmer der Zwillinge Henning und Rolf auf einer Wolldecke. Die wurde abends auf dem Fußboden ausgebreitet. Im Sommer 1950, als Max fünf geworden war, hatte ihn Dr. Lück aus dem Garten auf die Veranda gerufen und ihm mit seinen fleischigen Fingern das Stethoskop auf Brust und Rücken gesetzt. Er war Lungenfacharzt. Dann hatte er dem Jungen einen Klaps auf den Po versetzt: »Schieb ab, Mäxchen. Alles in Butter.«

Lydia und Babette, die selbst in schlimmster Zeit Kontakt gehalten hatten, waren sich 1928 zum Ball des Studenten-Corps Borussia in Berlin-Mitte begegnet. Die zarte, mit ihren dunklen Augenringen anämisch ausschauende, doch stets elegant auftretende Lydia hatte sich dort in den grobschlächtigen Mediziner aus Ostholstein verliebt, ihn gegen den Willen ihres Vaters, eines erfolgsverwöhnten Berliner Bauunternehmers, geheiratet und nach und nach acht Kinder zur Welt gebracht. »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wird man nie verstehen«, wunderte sich ihre Freundin Babette ein ums andere Mal, wenn sie die weiße, hölzerne Gartentür schloss.

Die Hungerjahre des Ersten Weltkriegs hatten sich Werner Lück ins Gedächtnis gebrannt. Deshalb hatte er im Herbst 1939 unten in der Garage einen Schweinekoben gezimmert: Küchenabfälle, alte Pflaumen, Äpfel, Eicheln und Kastanien gibt’s genug. Zwei Schweine lassen sich davon mästen. Sein DKW-Dreitakter werde ohnehin nicht geklaut. »Benzin ist rationiert. Das kriegt man nur mit Vitamin B.« Lydia hatte ihm nicht widersprochen – das tat sie so gut wie nie –, war in ihr Damenzimmer entschwunden und hatte auf dem Zeichenblock Kostüme entworfen – im Stil von Coco Chanel. Sie hatte den Studiengang Modezeichnen zum Sommersemester 1927 an der Kunsthochschule Berlin begonnen, aber nicht beendet.

Adolf und Eva grunzten und quiekten im Koben so laut, dass sie selbst in den Kinderzimmern des ersten Stocks zu hören waren. Max fand, es seien die lustigsten Schweine der Welt. Öffnete man die Garagentür einen Spalt, grunzten sie freudig Begrüßung, stellten ihre spitzen Ohren auf und blinzelten die Kinder mit ihren wachen blauen Augen erwartungsvoll an. Henning und Rolf, die Zwillinge unter den acht Geschwistern Lück, wedelten häufig die Garagentür hin und her, womit sie Quiekorgien provozierten. Passanten drohten mit dem Zeigefinger.

»Ihr müsst Adolf und Eva in Ruhe lassen, sonst werden sie nie Speck ansetzen«, mahnte die Köchin. »Außerdem kriegen sie Angst vor Willy.« Das war der schwarz-weiße Hirtenhund der Familie, der nie gebürstet wurde. Den Zwillingen zottelte er wie ein Schatten hinterdrein. Als Schweinetrog diente eine verbeulte Kinderwanne aus Zink. Ständig leckte braune Brühe heraus. Eklig fanden das nur die Mädchen. Die Jungen schauten fasziniert zu, wenn Adolf und Eva schmatzend modrige Äpfel, Suppenreste aus der Küche oder Unmengen wässriger Kartoffelschale fraßen.

Auch die Familien der Nachbarschaft aßen immerzu Kartoffeln: Kartoffeln mit Quark, mit Salz, mit Erbsen, mit Tomaten. Bratkartoffeln mit Hering gab es ausnahmslos in den Familien, die im Altonaer Fischereihafen und am Fischmarkt zu tun hatten. Sie galten als privilegiert. Kartoffeln wurden im Garten gezogen, auf Flächen, die vordem als Zierrasen oder Rosenbeet gedient hatten, oder wurden bei Verwandten organisiert. Babette Coehn hielt stets zwei Netze in petto. Hatte sie jemandem ihr Bohnerwachs angedreht und im Flur oder einer Kellerecke eine Kartoffelhorde erspäht, fragte sie: »Ach, sagen Sie, was für eine Sorte? Bintje? Ackersegen? Dürfen wir mal probieren?« Ohne das Ja der Hausfrau abzuwarten, hatte sie blitzschnell ihr Netz gefüllt. Sie sagte: »Seien Sie herzlich bedankt.« Weg war sie.

Ihre eigene Kartoffelhorde war ab März so gut wie leer. Die restlichen Kartoffeln, der eiserne Bestand, fingen unerbittlich an zu keimen. »Ihr Männer könnt Kartoffeln putzen«, sagte Babette zu ihren drei minderjährigen Söhnen. Zuunterst fanden sich wässrige, faulig süßlichen Gestank ausdünstende Kartoffeln, die sofort durchs Kellerfenster in den Garten flogen, wo die Hühner sie auspickten.

»Wenn wir nicht ewig Ratten hätten, hätten wir keine angefressenen Kartoffeln«, schimpfte Babette. Sie bestand darauf, dass ihre Söhne sie Mama nannten: »Mutti klingt abscheulich.«

Die Ratten kamen durchs Küchensiel. Dessen gusseiserne Abdeckung fehlte. Es gab Tage, da sprangen sie aus der Klosettschüssel ins Haus, auch die war früher mit einem Deckel versehen gewesen. Es ist unmöglich, Ratten im Lauf zu erschlagen. Achim und Peter, die älteren Brüder von Max, hatten es ein ums andere Mal versucht. Seither herrschte brüderliche Arbeitsteilung: Hörten sie unter der Kartoffelhorde Ratten nagen, nahm Mäxchen einen Weidenstock, legte sich bäuchlings auf die kalten Bodenfliesen und schlug mit einer dünnen Rute wie wild unter der Horde hin und her.

Anfangs drückte sich die Ratte in die Ecke, dann stieß sie einen kreischenden Laut aus und sprang zum Angriff der Rute entgegen. Darauf musste Max gefasst sein, rasend schnell wieder und wieder nach ihr schlagen. In ihrer Panik stieß die Ratte unter der Horde hervor. Aber da ereilte sie das umgekehrte Ende des Holzschrubbers, mit dem Achim oder Peter gelauert hatten. Die berstenden Knochen knirschten. Mit einem Eimer Wasser wurde das Rattenblut ins Küchensiel geschwemmt. »Das ärgert die anderen Ratten«, wusste Peter.

»Ihr kriegt die Pest, wenn ihr sie anfasst«, hatte Babette gesagt. Aber Mäxchen strich mit dem Zeigefinger jeder Ratte zwischen den Ohren, sobald sie vor ihm lag. Das musste er.

Im Winter warfen die Jungen jeden Kadaver mit der Kehrschaufel in den Ofen. Es roch noch lange. Im Sommer steckten sie die Kadaver in den Mülleimer. Manchen Leuten passierte unversehens das Malheur, vor ihrer Haustür in eine tote Ratte zu treten. Dies Missgeschick ereilte allerdings nur Mitmenschen, die Babette kein Bohnerwachs abkauften. »Bohnerwachs – von ’ner Jiddn!«

Die Zwillinge hatten die Idee: »Wenn Schweine alles fressen, fressen sie auch tote Ratten.« Unglücklicherweise hatte Max an jenem Sommertag nur eine einzige parat. »Wir brauchen aber zwei. Eine für Adolf, die andere für Eva.« So strichen drei Tage dahin, bis die Brüder Coehn die zweite Ratte morgens kurz vor sieben, noch vor dem Gang zur Schule, erlegten. Babette schüttete den Haferbrei gerade aus dem Aluminiumtopf in die Teller, da hatte Max die Ratte zwischen seinem Stuhl und dem Bein des Küchentischs entdeckt. Sie war fett, blickte doof zu ihm hoch und bewegte sich erstaunlich behäbig. Ein leichtes Opfer. Peter schlug von hinten mit dem Schrubber zu. Kein Pieps war zu hören. »Die war trächtig«, sagte Peter, studierte eine Ewigkeit die blutigen Eingeweide und warf sie schließlich durchs geöffnete Souterrainfenster. »Die Katzen freuen sich.« Babette und Achim ließen ihre Teller stehen. Der Haferbrei erkaltete zu Fladen.

Als die Zwillinge und Max die rechte Garagentür öffneten, grunzten die Schweine gut gelaunt. Henning und Rolf ahmten das Grunzen nach und traten vor die Bretter des Kobens. Alles geschah nun blitzschnell: Auf die Schnuten von Adolf und Eva plumpsten die Rattenkadaver. Die Schweine stießen Angstschreie aus und warfen sich panisch gegen die Kobenwand. Die unteren Bretter barsten. Im Nu waren Adolf und Eva auf der Straße.

Die Jungen liefen hinterdrein. Doch das Angstgeschrei der Schweine wurde nur lauter. Sie galoppierten davon, hielten witternd inne und trappelten dann gemächlich werdend von der Anhöhe der Dürerstraße zum S-Bahnhof Othmarschen hinab. »Adolf, Eva«, riefen die Jungen. Ab und an schielte die Sonne zwischen den Wolken hervor. Die Schweine spitzten zwar die Ohren, aber keines schien gehorchen zu wollen. Gehört aber hatten die Kinder in den umliegenden Gärten.

Als die Säue die Bahnunterführung querten und sich daranmachten, die kleine Wiese am Statthalterplatz umzuwühlen, waren es mehr als zwanzig Jungen und Mädchen. Die lachten und schwatzten, während es Henning, Rolf und Max mulmig zumute wurde. »Einkesseln müssen wir sie«, schrie Rolf. Doch das war mit Adolf und Eva nicht zu machen. Sie hoben drohend Kopf und Rüssel, schnauften und liefen stracks auf ein Mädchen mit rotem Pony-Haarschnitt zu. Die Kleine wich entsetzt zurück. Die Säue besannen sich.

Morgens und nachmittags war der Statthalterplatz voller tarnfarbener Tommy-Laster, die Hunderte britischer Besatzungssoldaten vom Feldflugplatz an der Wilhelmshöhe zur S-Bahn brachten. Noch im März 1945 waren dort Abfangjäger der Luftwaffe gestartet. Doch just als die beiden Schweine nun mehreren Hauseingängen ihre Aufwartung machten, waren weder plattschnäuzige Armeelaster noch Privatautos zu sehen. Die Kinder johlten: »Adolf, Eva, Adolf, Eva.« Alte Damen öffneten erbost die Fenster und drohten mit der Polizei. Kein Kind scherte sich darum. Stattdessen versuchten sie, die Schweine am Schwanz zu packen. Die wichen jedoch geschickt aus, tänzelten hin und her, um in einiger Entfernung plötzlich erneut wie angewurzelt stehen zu bleiben. Bis endlich Willy auftauchte. Nie haben ihn die Zwillinge und Max mehr geliebt als damals. Nach Art der Hirtenhunde begann er die Säue zu umkreisen, bellte sie mehrfach mit dem gelassenen Ernst eines Oberlehrers an und trieb sie souverän zurück in die Garage. Der Hund verstellte ihnen weitere Exkursionen.

»Hätten wir Deutschen doch so einen Willy gehabt«, sinnierte die Köchin. Henning und Rolf mussten ihren Eltern haarklein beichten. Sie schrien erbärmlich unterm Rohrstock. Zwei Tage lang konnten sie weder auf einem Stuhl noch auf der Schulbank sitzen. Ihr Vater berichtete beim Abendbrot vom Anruf eines Unbekannten, der gedroht hatte: »Wer den Namen des Führers und der hohen Frau versaut, gehört ins KZ.« Werner Lück hatte ihm lakonisch geantwortet: »Was das Schwein verbrochen hat, müssen die Ferkel büßen.« Das verschwieg er aber, als er die Kinder ermahnte: »Macht das nie, nie wieder! Ich brauch für unsere Praxis Privatpatienten, also Raucher. Also auch Nazis.«

»Wer hat angerufen?«, fragte Heidi beim Abendbrot. Ihre mongoloiden Augen wanderten vom Vater zur Mutter. Sie war im Juli 1943 geboren, pünktlich zur Operation Gomorrha, dem ersten Großangriff der Royal Air Force auf Hamburg. »Heidi hat einen Geburtsschock erlitten, weil es so fürchterlich gerumst hat und die Häuser plötzlich alle schaukelten. Deshalb ist sie nicht so wie ihr«, hieß es. Ihre Geschwister akzeptierten Heidi. Ja, sie hatten sie besonders gern. Heidi verstand Situationskomik und lachte so glucksend, dass sie alle damit ansteckte. Dann lachten plötzlich alle Geschwister. »Seid ihr meschugge?«, stöhnte die Köchin.

Als Babette von der Schweineoper erfuhr, rief sie Max und knallte ihm eine Ohrfeige: »Du sollst keine Ratte anfassen, schon gar nicht in der Hosentasche rumschleppen.« Abends neigte sie sich über sein Kopfkissen und flüsterte in sein schmerzendes Ohr: »Ich hab so gelacht, kleiner Mann. Mach weiter.« Er schlief glücklich ein.

2.Kinder, Kinder …

Dicker legte den Tippeltoppel über die Ritze zwischen Fußweg und Kantstein. Alle Kinder schauten gespannt. Der Tippeltoppel, also ein knapp zwanzig Zentimeter kurzes Aststückchen, das beidseitig konisch zugespitzt wird, fliegt bekanntlich nur weit, sofern er so sacht mit dem Stock hochschleudert wird, dass man in der Luft noch ein-, ja zweimal nachschlagen kann. Diese Geschicklichkeit besaßen Dicker und Max.

»Max, Mäxchen«, rief Babette. Er blickte sich um. Da stand sie zwischen den weißen Pfosten der Gartenpforte. Sie trug ihr blaues Kleid, das mit den großen weißen Punkten. Sie zog es sonntags an, wenn sie ihren Söhnen befahl, mit ihr spazieren zu gehen. Ein anderes Kleid besaß Babette nicht. Eines Morgens, beim Überstreifen, hatte sie gesagt: »Mit den Weibern hier kann ich’s allemal aufnehmen«, hatte sich über Brust und Hüften gestrichen und sich dabei vor ihrem winzigen Schrankspiegel hin und her gewendet.

Max wusste nur zu gut: Sie war ungeduldig – stets – und unberechenbar. Aber schließlich war er als Nächster dran mit dem Tippeltoppel. Auch die anderen Kinder taten, als hätten sie Knetgummi in den Ohren.

»Max«, rief Babette wieder. Es klang schon gereizt. »Wir wollen los!«

»Verzieh dich bloß«, sagte Dicker lässig mit rauer Stimme und der Tippeltoppel flog. Er rannte hinterher, schlug ein-, zwei-, dreimal. Es war die beste Schlagfolge, die er bisher geschafft hatte. Weshalb ihn alle Dicker nannten, wusste niemand, denn Hans Georg, wie er richtig hieß, war ein schlankes, drahtiges Kerlchen. Außerdem war er sehr schlau und zeigte Erwachsenen gegenüber einen ausgesprochenen Charme.

»Du kommst jetzt, aber sofort«, war Babette zu vernehmen. Das klang bereits wie eine Strafandrohung: »Wenn du nicht hörst, sitzt du heut Nachmittag wieder unter der Terrasse!« Stinkig war es dort zwischen feuchtem Bruchholz und den Briketts für die Öfen. Natürlich gab es unter der Terrasse auch Ratten, aber sie nahmen keine Notiz von Max, wenn er dort Strafe absitzen musste. Abwechslung gab’s nur, wenn Dicker leise durch die Rhododendren ans Drahtgitter schlich, hinter dem Max hockte. Mit dem Schuhabsatz drehte Dicker eine kleine Kuhle. Durchs Gitter konnte Max die Murmeln werfen.

»Ja-a«, schrie er und lief Babette entgegen.

»Du darfst dir aussuchen, wohin wir gehen: Zu Großmama oder zum Friedhof?«, sagte sie. Keine Frage: Auf dem Friedhof war es besser. Zwei Reihen hinter Großpapas Grab gab es einen glatten Sandsteintrog, aus dem Leute mit Gießkannen Wasser schöpften. Als Kind konnte man bequem darin baden, wenn das Wetter warm war.

»Zu Großpapa«, sagte Max. Babette umarmte ihn. Weil sie so angenehm duftete, legte er gern den Kopf an ihren Busen. Das Parfüm hieß Robe du soir. Sie sprühte es höchst vorsichtig mit genoppter Gummipumpe aus dem Flakon. Babette hatte es in der Parfümerie an der Esplanade erstanden. Danach hatte Max zwei Stunden beim Frisör auf sie warten müssen, wo ihre rotbraune Haarpracht unter einer riesigen, dröhnenden Haube trocknete. »Sie stehen ab wie ein Wischmopp«, meinte Babette selbstkritisch, als sie wieder auf der Straße stand und sich prüfend im Schaufenster spiegelte. Max nickte. Das war falsch, sie verpasste ihm eine harte Kopfnuss.

In einem der Pakete, die eine alte Dame aus Philadelphia Babette Coehn and sons nach Hamburg schickte, war auch ein Parfümfläschchen gewesen, dessen süßlich schwerer Duft Babette anwiderte. »Das riecht ja, wie Bonbon schmeckt«, stöhnte sie. »Die liebe alte Tucke hat Sinn und Zweck von Parfüm vergessen.« In ihren langen Luftpostbriefen, denen Babette stets ein aktuelles Foto mit den drei Söhnen beilegte, hatte sie sich dennoch artig für die liebe Duftgabe bedankt.

»Dann kannst du ja so bleiben«, entschied Babette und nahm Max bei der Hand. Als sie an den anderen Kindern vorbeigingen, zogen die Grimassen. Max störte das wenig, denn nichts erschien ihm heute verlockender als das Bad im weichen Regenwasser des Trogs. An ihrer Straße standen noch alle weißen Villen, die zwischen 1900 und 1914 erbaut worden waren. »In der Kaiserzeit«, wie Max’ Großmutter stets wiederholte. »Heute kaum vorstellbar: als nur eine einzige Familie ihre Villa bewohnte. In was für grässlichen Zeiten leben wir jetzt? Wildfremde Menschen müssen sich in einer Wohnung miteinander arrangieren. Und das Personal benutzt die gleiche Dusche wie die Herrschaft! Unglaublich.«

Die Engländer hatten glücklicherweise keine Villa in unmittelbarer Umgebung requiriert. Nur jenseits der Stadtbahngleise gen Süden und an der Elbchaussee hatten die Besatzungsoffiziere alles beschlagnahmt.

»Bei uns hier haben die Tommys nichts bombardiert, weil sie die Elbvororte kennen. Sie hatten von vornherein geplant, nach der Besetzung Hamburgs hier zu wohnen«, hatte Onkel Hans gesagt. Er war der Mann von Babettes bester Schulfreundin Käthe. Weil Achim, Peter und Max »Tante Käthe« sagen mussten, war er »Onkel Hans«. Manche Erwachsene meinten, Hans kenne sich gut in der Welt aus, weil er zwei Jahre als Kriegsgefangener in Texas verbracht habe. Viel Weißbrot hatte er dort gegessen und eine entsetzlich süße rote Tomatensoße, die er »Ketchup« nannte. Babette flüsterte mit leisem Lächeln zu ihren Söhnen – sie hielt dabei ihren Zeigefinger vor ihre vollen, geschwungenen Lippen: »Er ist ein ganz, ganz dummer, bescheuerter Nazi – aber harmlos. Total harmlos.«

Max war verwundert. In seiner Vorstellungswelt rangierte die Spezies »Nazi« gleich neben »Tyrannosaurus Rex«. Wie konnte ein Nazi harmlos sein? Über Monate hatte ihn der zähnefletschende Riesensaurier in Angstträumen verfolgt. Eine Zeichnung der Vorzeitbestie war in Band 1911 der Jugendzeitschrift Der gute Kamerad abgebildet. Gewöhnlich blätterte er bei Regenwetter durch die vergilbten Hefte. Da gab es seitenweise über Saurier zu lesen. Aber Max ekelte sich vor ihnen – und so war’s auch mit den Nazis.

Nur neben Lücks Kaffeemühle gab es eine Ruine. Lange Stauden von Trümmerblumen mit weiß-roten Blüten wucherten darin. »Die Leute waren gleich mausetot, durch ’ne Phosphorbombe«, hieß es. Einen Keller mit der Aufschrift »Luftschutz« hatten die Zwillinge und Max nicht entdecken können. Leid taten ihnen die Leute, vor allem das Mädchen, das dort verbrannt war. Manchmal träumte Max, wie sie loderte und gellend schrie. Als Dicker und Max am Mittwoch einen Blumenstrauß in der Ruine gepflückt hatten, wies Babette den Strauß zurück: »Blumen aus einem Bombenkrater – bringt Unglück.« Das hatte Max traurig gemacht. In Wahrheit hatte sie den Strauß der Kinder abgewiesen, weil sie keine Vase besaß.

Doch heute kümmerte Max die Ruine nicht. »Achte auf Glasscherben.« Babette stupste ihn von hinten. »Noch ein Schnitt im Fuß wie neulich und wir müssen zurück nach Hause!« Sie hätte es nicht zu sagen brauchen, weil er sowieso auf Scherben und Dornen achtete. Im Sommer geht man barfuß. Das taten die anderen Kinder auch. Nur Dicker besaß außer Stiefeln noch mehrere Paar Schuhe, neue Sandalen mit Riegel, braune Halbschuhe mit Kreppsohlen. Dicker hatte einen Vater, der mit Ölsardinen handelte und ihm von jeder Reise aus Lissabon oder London ein kleines Spielzeugauto aus Gusseisen mit echten Gummireifen mitbrachte. Manchmal ließ sich Dicker dazu herab, Max mit einem seiner hochglänzend gelackten Autos spielen zu lassen. Aber nur manchmal.

Am Bahrenfelder See war das Ausflugslokal voller Gäste. Ältere Kinder schwammen dort. Max wurde neidisch. »Warum dürfen die da schwimmen?«, fragte er. Babette nahm seine Hand und drückte sie: »Weil die Frauen Sahnekuchen essen, die Männer Bier trinken und dafür bezahlen. So was nennt sich Gartenlokal.« Babette erzählte ihm von der plötzlichen Entstehung des Sees: Als sie in Mäxchens Alter gewesen sei, da habe es in Altona und in allen Elbvororten minutenlanges, dumpfes Donnergrollen gegeben. Dann sei, genau hier in Bahrenfeld, die Erde mindestens dreißig Meter tief weggesackt. Sogar Wissenschaftler vom Kaiser-Wilhelm-Institut seien damals aus Berlin angereist, um das Erdbeben zu ergründen. Der Hamburger Anzeiger und die Norddeutschen Nachrichten hätten tagelang auf der Frontseite vom seltsamen Naturphänomen berichtet. Das riesige Loch habe sich danach allmählich mit Wasser gefüllt. Nun sei es der See. »Geologisch bedeutet das«, erklärte Babette, »dass die Spitze des darunterliegenden unterirdischen Salzstocks eingebrochen ist.« Aber das sagte sie mehr zu sich selbst. Max hatte längst den Sahnekuchen vergessen.

Die Entfernung zum Friedhof war eben die gleiche wie der Weg zu Großmutter. Eine Stunde zu Fuß. Zur »Lutherhöhe« ging’s zwischen Kiefern, Ilex und Rotdorn den Sandweg bergauf. »Das ist der höchste Punkt der Endmoräne aus der Eiszeit. Das müssen Jungs wie du wissen«, sagte Babette. An der neobarocken Backsteinkirche mit dem grünen Kupferturm ging Max rasch vorüber. Er mochte sie nicht, sie sei so düster. Babette schritt hinterdrein, ihre Tennisschuhe hatte sie morgens geweißt.

Beim Kriegen-Spielen schwitzte Max kaum. Aber die Träger seiner Lederhose fühlten sich an den Schultern schon nass an. »Keine Wolke am Himmel«, sagte Babette. »Ist es nicht herrlich in Hamburg?« In der nächsten Sekunde folgte ihre Ermahnung: »Freu dich, dass du rumspringen kannst, andere Kinder hungern im Lager.« Vor der Kirche mündete die gegenläufige Straße in einer Kehre. »Wozu ist dieser große Platz?«, fragte er. »Damit die Hochzeitskutschen hier wenden können, wenn Frauen Männer heiraten.«

»Aber Gras wächst so hoch zwischen den Steinen. Hier ist keine Kutsche gefahren.« Dass die Eisenbänder um die Holzräder der Pferdewagen Gras niederrissen, wusste Max längst, weil er wie andere Kinder dem Bauer Lüdemann beim Heuen geholfen hatte. Babette schwieg eine Weile. »Mein Junge, du weißt doch: Vor fünf Jahren war Krieg. Da haben kaum welche geheiratet und jetzt gibt’s keine Männer mehr.«

»Aber, warum haben Dicker, Henning und Rolf, Dora und Luise … warum haben alle anderen Kinder einen Vater – und ich nicht?«

»Dein Vater war ein Held«, antwortete Babette. Das sagte sie jedes Mal so abweisend, dass Max sie nicht weiter fragen mochte. Ein Held, aber was für ein Held?, dachte er und stolperte. Die griechischen Helden jedenfalls, von denen ihm Großmutter vorlas, mochte er nicht. »Kannst du nicht aufpassen?«, schalt Babette. Sein rechtes Knie blutete. »Zeig her«, sagte sie und hielt sein Bein auf Distanz von ihrem Kleid. »Da sind nur ein paar Steinchen unter der Haut. Das hört gleich auf zu bluten. Zu Hause haben wir Jod. Spring wieder los. Geimpft bist du.«

Sie schritt weiter. Auf der rechten Seite der Straße standen Mehlbeerbäume und Birken, dazwischen spitzgieblige, übermooste Grabsteine. Kleine Steine lagen darauf. »Warum sind so viele Grabsteine umgefallen, Mama?« Der rostige Drahtzaun war löchrig. Es war ein Leichtes, darunter durchzukrabbeln.

»Komm zurück. Du sollst da noch nicht hin.« Die Kaninchen ließen sich durch Max nicht stören. »Aber hier sind Blumen in Stein gemeißelt, in komischer Schrift.« Babette starrte geradeaus, schaute nicht zwischen die Bäume, wo hellgrünes Licht zu Boden fiel. »Du kannst mich mit deiner Fragerei schier rasend machen.« Sie setzte ihre Sonnenbrille auf. »Frag Großmama, sie wird’s dir sagen. Sie kann noch Ladino.« Mehr zu sich selbst: »Wir sind am Leben, merk’s dir!«

»Warum gehen wir nur zu Großpapas Grab?« Max’ Knie schmerzte.

»Weil Großvater ein Grab hat. Im Juli 1928 haben wir ihn noch ordentlich beerdigen können. Ein Grab. Weder dein Vater noch unsere anderen Toten haben eins. Bei Großpapa dürfen wir an alle denken.« Sie zerrte Max unsanft fort.

Großpapas Friedhof hieß Bornkamp. Ob es Bindfäden regnete, stürmte oder sich das Juli-Hoch über der westlichen Ostsee einnistete – die Blumenfrauen standen jedes Wochenende hinter wackeligen Stelltischen vor dem schmiedeeisernen Tor. Sie kamen frühmorgens aus den Vierlanden, auf deren fetten Böden die Nachfahren holländischer Siedler Gemüse und Blumen züchteten. Babette ging vorüber, gleich neben dem Vorplatz in die zweite Reihe. Wenn, dann kaufte Babette nachmittags, ehe die Frauen abräumten. Dann kosteten die Blumen nur noch ein Viertel.

Neben dem Grab, umgrenzt von dunkler Eibenhecke, polierte das blässliche Weib, das stets bei gutem Wetter auftauchte, den glatten schwarzen Stein ihrer Familie. Reden tat sie so gut wie nie. »Die stammt aus Dithmarschen. Moin, moin ist da schon viel zu viel«, sagte Babette halblaut. Die Schweigsame konnte es nicht überhören. Deren kleine Tochter stand unschlüssig daneben, blickte ab und an schüchtern zu Max und Babette, rührte sich aber nicht vom Fleck.

»Willst du mit mir baden?«, fragte Max.

»Wo?«, fragte sie erstaunt. Sie hatte große, dunkle Augen. Ihre Mutter blickte sie missbilligend von der Seite an, schwieg jedoch weiter.

»Ich zeig’s dir.« Der Sandsteintrog am Seitengang war randvoll mit Wasser. Max knöpfte die Lederhose ab, kletterte auf den Rand und sprang hinein. Wasser spritzte, die Kniewunde brannte. »Darfst du das?«, fragte das Mädchen, als er mit dem Kopf wieder auftauchte. Sie wirkte zerbrechlich, beinahe so unterernährt wie Max, eben wie ein Kind der ersten Nachkriegsgeneration. Ihre blonden Haare waren zu Zöpfen geflochten, an deren Ende waren Gummibänder mit roten Marienkäfern aus Bakelit.

»Komm«, rief er, »das ist schön glitschig.« Sie zog ihr Kleid über den Kopf, hängte es sorgsam über einen Taxuszweig, danach ihr weißes Leibchen und die Unterhose. »Ich kann’s auch.« Mit diesem Satz sprang sie in den Trog, schlug aufs Wasser, dass es überschwappte. Keine Spur von Schüchternheit. Sie drückte Max ein paarmal unter Wasser und lachte. Es ist nett mit ihr, dachte er.

»Zwei Nackte, Männlein und Weiblein.« In gehöriger Entfernung stand Babettes jüngste Schwester Ruth. Sie sog an einer Zigarette. »Macht mich nicht nass, ihr Zwerge, keine Umarmung!«

»Ich hab kein Handtuch«, sagte das Mädchen und stieg aus dem Wasser.

»Nackte auf dem Friedhof. Mal was anderes.« Damit schnippte Max’ Tante Asche ab. Sie war deutlich kleiner als Babette, neigte zur Fülle und war ständig neidisch auf sie. Weshalb? Aufgefallen war Max, dass Männer Babette nachschauten, Ruth aber nicht. Sie hatte zwar die gleichen, schön geschwungenen Lippen wie Babette. Das Bordeauxrot ihres Lippenstifts wirkte jedoch indezent, fast ordinär.

»Du – mit Zigarette. Was treibt dich her?«, pfiff Babette sie an.

»Haben sich die Toten beklagt?«, gab ihre Schwester zurück. Weiße Wolken wie Fäden wanderten am Himmel. Max’ Lederhose begann zu scheuern. Das Mädchen hatte ihre rosa Unterhose angezogen und trocknete ihren knochigen Oberkörper. Ihr Brustkorb war flach, schmaler als der von Max.

»Freu dich, wenigstens haben die Gören Spaß«, setzte Ruth nach. Ihre Neffen durften sie keinesfalls Ruth nennen, weil sie unter ihrem Vornamen litt. »Wenn ich solche Zwerge hätte …«, sagte sie, konnte aber ihren Satz nicht beenden, weil Babette dazwischenblaffte: »Hast du aber nicht. Geld für Zigaretten rausfeuern, das kannst du. Ein Vermögen hast du am Schwarzmarkt gelassen.« Der Vorwurf saß. »Rütli«, wie Babette sie hämisch nannte, sog an einer neuen Zigarette und spreizte ihren kleinen Finger ab. Tränen liefen über ihre Wangen. »Heiraten durfte er mich nicht. Ertrunken ist er im Atlantik«, schluchzte sie. »Du lachst über mein Leid. Du bist so abscheulich!«

»Dürfen, durfte nicht. Hätte, hatte nicht. Verliebst dich in einen blutjungen U-Boot-Kapitän. In einen Goi.« Babette wurde niederträchtig, Zornesfalten gruben sich in die gebräunte Stirn. »Hab ich je etwas gedurft? Was ist in Deutschland schon erlaubt? Im Zweifel ist alles verboten. Hast du’s nicht begriffen? Du musst dich entscheiden, du musst was wagen. Liebe, Hingabe kennt kein Gesetz. Mein Mann und dein Geliebter – richtig. Ja, alle sind verreckt, vergast, verbrannt, verhungert. Deiner ist ersoffen. Aber ich … ich hab meine Kinder.«

Babettes Zornesausbruch verblüffte Ruth nur kurz. Sie giftete: »Ja, von wem alles?« Ihr kleines, ovales Gesicht war rot vor Ärger. Das machte sie hässlich. Ruth wandte sich ab und schaute auf die erste Gräberreihe. Die Kinder standen erschrocken zwischen den beiden.

Babette wurde bitterernst »Nichts sag ich euch, weder unserer hohen Frau Mutter und dir erst recht nicht. Da wird gequatscht, ohne Verantwortung. Wenn der Neuaufguss von Adolf kommt, bringt er den kleinen Kerl hier auch noch um. Dass du’s weißt: Sein Vater und ich haben uns geliebt … ein paar Tage im Herbst.«

»Wird’ nicht melodramatisch. Mutter kann’s besser als du«, stichelte Ruth. Sie neigte zu Niveaulosigkeit. »Babette Coehn hat ein drittes Kind und ratet von wem?«

Jetzt wurde Babette verächtlich. »Musst du dich so dümmlich aufführen? Dir fehlt seit jeher Klasse. Schau in den Spiegel: du … mit diesem ordinären Puder.«

Ruth heulte. »Hör auf!« Sie suchte etwas, sich zu setzen. Babettes Zorn verflog, sie spöttelte: »Hol Wasser vom Brunnen, beste aller Schwestern. Sprich: ›Trink. Auch für deine Kamele will ich Wasser schöpfen.‹« Sie hielt inne. »So soll ja unsereins den Geliebten finden. Erzählt das nicht Mosche?«

Max wusste sofort: Es war eine ihrer fiesesten Niederträchtigkeiten. Allemal war es das Gleiche: Wenn Babette ihre jüngste Schwester oder ihre Mutter traf, gab’s Zank: gleich zur Begrüßung oder nach zwei Minuten. Weshalb? Das war völlig egal. Babette machte sich nichts draus. Deshalb nahm sie ihre Schwester in die Arme und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Zusammenhalten.« Sie ironisierte sich selbst: »Mir Jude solde zusammenhalde. Du und isch habbe uns net wegmache lasse, under ’ne Duusche. – Sei stolz, Mädsche, kämpf um dei Glück!«

Die Schweigerin nebenan hatte jedes Wort belauscht. Sie wienerte den Marmor, als gäbe es Preisgeld. Babette hatte sie nicht aus den Augen gelassen. Lauter werdend sagte sie zu Ruth: »Wir müssen noch zu den Großeltern. Da sprießt nichts als Unkraut.« Ruth begriff sofort: »Ja, die Äste über dem Engel mit dem Kreuz sollten wir absägen lassen.« Den Grabplatz verschattete eine gewaltige Trauerbuche, sodass die Junihitze dort erträglicher war. Auf einer kleinen Marmorsäule tanzte eine schlanke Frau aus grüner Bronze. Keineswegs Ausdruck von Trauer.

»In den vierstöckigen Bruchbuden des Gängeviertels am Hafen gab’s keine Treppen«, sagte Babette. »Die waren zu teuer. Arbeiterfamilien hausten dort. Zu den Schlafplätzen musste man an einem langen Tau hochklettern. Hebamme oder Armenarzt taten das auch, wenn eine Frau dort in den Wehen lag. Großpapa hat das noch bis ins Alter von sechsundsiebzig Jahren geschafft. Arztkoffer und heißes Wasser wurden mit Weidenkorb und Eimer an der Seilwinde hochgehievt. Keinen Groschen hat er Armen abgenommen.« Babette lachte. »Betuchte Damen haben ihn geliebt. Von denen hat er was verlangt.«

Den Hintersinn begriff Max nicht. »War Urgroßvater reich?«

»Leute, die viel zu verbergen haben, sind reich. Deine Urgroßeltern waren wohlhabend. Dein Urgroßvater war ›Königlich Dänischer Stadtmedicus‹. Er hatte in Kopenhagen studiert. In Altona fragte keiner, ob man Christ oder Jude war. Nach 1864 verpassten ihm die Preußen den Titel ›Sanitätsrat‹. Der dänischen Krone ist er treu geblieben, nannte sich nach wie vor Stadtmedicus. Ob auf Dänisch, Jiddisch, Platt, Französisch oder Englisch, er verstand sich mit allen.«

Irgendwann hatte sich Achim über seine Mutter mokiert: »Scheint die Sonne, redet unsre alte Dame von Toten.« Er hatte recht, Max fand es aber nicht bemerkenswert: Die Toten der Familie waren stets zugegen – wie die Lebenden. Die Familie Coehn war ein Kosmos, den Babette nicht müde wurde, in die Köpfe ihrer Söhne zu pflanzen: Kapitäne, die zugleich Kaufleute waren, Kopra aus der Südsee holten und Pazifikstürmen trotzten. Nicht zu vergessen: Urgroßmutter, die sich in die Antike verliebt hatte und den familiären Schabbat nach ihrem Gusto reformierte. Großvater, der die elterliche Reederei in Bremerhaven nicht übernehmen mochte, weil es ihm in London besser gefiel. Quicklebendig turnten die Lebenden und die Toten durch Babettes Erzählungen. Die Toten lachten, konnten verliebt sein oder versanken mit ihrem Dreimastschoner vor Den Helder. Natürlich lebte Achims und Peters Vater fort. Der fluchte auf die Nazis: »Das waren vierzehnachtzehn Drückeberger und Schieber. Jetzt sind diese Prolet-Arier zu Frontkämpfern mutiert.« Alle Toten der Familie waren putzmunter. Bis auf Max’ Vater. Das ärgerte ihn.

Babette rupfte Grasbüschel. Der Trockenheit wegen hielten sie zäh im Boden. »Großvater, also dein Urgroßvater, war übrigens ein Nachfolger vom Struensee. Vielleicht der berühmteste Altonaer Stadtmedicus.« Babettes Gedanken flogen. »Ein attraktiver Mann soll Struensee gewesen sein: Charmant und klug, aus Halle an der Saale. Struensee hat die traurige Königin in Kopenhagen von ihrer Kinderlosigkeit geheilt.« Babette richtete sich auf, ein Lächeln umspielte ihre Grübchen: »Darauf haben ihm die Barone den Kopf abgeschlagen. Schade.«

Max fand das verrückt. Aber die Welt der Erwachsenen war voller Widersprüchlichkeiten. Vom Stadtmedicus gab es ein rotbraunes Foto: Da stand Urgroßvater mit vorquellenden Augen, in heller Weste schwitzend, einen Bierseidel in der Linken. »Das war 1852 beim Ärztekongress in Moskau. Russische Ärzte trugen Uniform«, erklärte Babette. Max hatte Urgroßvater dem sympathischen Teil seiner Familie zugeordnet.

»Er hatte doch festgehalten – am alten Glauben? Ist doch nicht konvertiert wie die Übrigen?«, fragte Ruth, indem sie sich an die Grabsäule lehnte. »Weshalb liegt er auf einem lutherischen Friedhof?« Babette strich sich unwirsch übers Gesicht. Mücken. »Was quakst du so laut? Du siehst doch: Zumindest nach seinem Tod mochte er nicht länger in Gesellschaft von Leuten sein, die moderne Medizin ablehnten. Von Leuten, die vergebens auf den Messias hoffen. Verstehst du: Er hielt nichts von Konventionen. Er tat, was er für richtig hielt. Manch Katholik ruht auch in protestantischer Erde.«

Babette war gebückt an der rechten Hecke angelangt. Als sie sich aufrichtete, knarrte es aus dem Untergrund, morsches Holz knackte, im Nu sackte sie in die Erde. Ruth schrie: »Babette«, blieb jedoch wie angewurzelt stehen. Babettes Kopf ragte noch heraus. Einen Wimpernschlag lang meinte Max, Trauer in ihren Augen zu sehen. »Die Toten holen mich«, schimpfte Babette.

Ein Herr mit Schlips und weißem Kragen zwängte sich durch die Hecke. »Würden Sie die Güte haben, mir aus meiner Unpässlichkeit zu helfen? Ich mag noch keinen engen Kontakt mit den Ahnen«, sagte Babette lächelnd.

»Warten Sie. Ich hole eine Schaufel«, sagte der Mann. »Dann krieg ich Sie zur Hüfte frei.«

Gaffer versammelten sich. »Rühr dich nicht«, jammerte Ruth. »Wie auch«, gab ihr Babette aus dem Loch zurück. Sie begann hysterisch zu lachen. »Treten Sie beiseite«, sagte der Mann zu den Gaffern, »sonst brechen noch andere Särge.« Wenige Schaufelwürfe, und Babette konnte aus dem Boden gezogen werden. Sie gab dem Herrn einen Kuss auf die Wange: »Besten Dank. Falls Ihre Vorfahren Sie zu holen gedenken, wird’ ich mich revanchieren.« Das einzige Kleid war hin. Ihr Blick fiel auf die schwarzen Schnürstiefel des Mannes. »Sie haben ja ein Holzbein. War’s im Krieg?«

»Erfroren«, erwiderte der Herr.

Ruth sagte zu Max: »Deine Mama braucht mich nicht.«

Nachts war Babette allein durch die Kornfelder zum Ziegeleiteich am Hemmingstedter Weg gegangen. Im Sommer konnte man sich dort abends ungestört abseifen und schwimmen. Das war angenehmer als im Souterrainzimmer. Der dortige Waschtisch hatte schwarze, lange Risse im Porzellan. Babette mahnte ständig: »Jungs, damit müsst ihr vorsichtig sein.«

3.Petz, du hast schon nach mancher Musik getanzt

Am Montag hatte Max nachmittags Unterricht. Die Kinderkaserne, wie Babette sie nannte, mit ihren spitzen, verzierten Holzgiebeln im sogenannten Schweizer Stil der Jahrhundertwende, ihren kahlen Gängen mit weiß gefliestem Boden und schwarzen Kleiderhaken aus Aluminium als Wandzierde blieb an heißen Augusttagen feucht und kühl. Nur die Böden der Klassenzimmer waren mit schwarzen, geölten Bohlen gedielt. Wer von hinten geschubst wurde, hatte sofort Splitter im Fuß. Babette hielt es für selbstverständlich, dass Max ihr an unterrichtsfreien Vormittagen zur Hand ging: »Wenn du vor der Schule spielst, dreckst du dich nur ein. Mit dreckiger Bluse kannst du nicht zum Unterricht.« Gegen diese Logik gab es nichts einzuwenden. Folglich hatte Max Botengänge zu erledigen. »Spring da schnell hin«, sagte Babette wohl wissend, dass Max Kilometer zu laufen hatte und es keineswegs gewiss war, dass er um Viertel vor zwei rechtzeitig zum Unterricht sein konnte. Doch Babette einen Wunsch abzulehnen, wäre keinem ihrer Söhne in den Sinn gekommen. »Jeder muss seinen Beitrag leisten, Geld zu verdienen. Sonst kommen wir nicht durch«, sagte sie und hob ihre linke Braue. In jenem Frühjahr hatte sie den Verkauf von Bombay Bohnerwachs begonnen. Das stammte selbstverständlich nicht aus Indien, sondern aus einem Keller gleich neben dem Schlachthof an der Schanze, wo Rinder-, Schaf- und Schweinefett abgeschieden wurde und es grässlich stank. »Bombay Bohnerwachs, das klingt nach was«, hatte Babette gesagt. Ihr Vorschlag war für gut befunden worden, weshalb seither ein schwarzer Elefant mit erhobenem Rüssel vom goldfarbenen Dosendeckel trompetete.

»Nach all den Jahren braucht Ihr Parkett verlässliches Bohnerwachs. Ein Strich – und das Holz erstrahlt in diskretem Glanz.« Mit diesem Satz überfiel Babette die Hausfrauen an der geöffneten Tür. Sie hatte Erfolg. Wie Max damals glaubte: riesigen Erfolg. Vielleicht auch, weil der schmächtige Junge neben ihr stand und die Leute mitleidig wurden. »Dies ist etwas ganz Besonderes. Eine brandneue Erfindung aus Gandhis Indien«, fuhr sie fort. »Streubohnerwachs. Das hat’s in Europa noch nicht gegeben.«

Die Szene war dramaturgisch einstudiert: Max hatte seine Mama aufmerksam von unten anzuhimmeln und mit dem Kopf zustimmend zu nicken. »Diese Dose lass ich Ihnen als Probe schon mal hier. Gratis. Sie werden viel davon ordern.« Damit drückte Babette den Frauen den blauen Zettel in die Hand, auf dem sie die Anzahl der Dosen und die unterschiedlichen Duftnoten ankreuzen konnten. Was sie seltsamerweise meist auch taten.

Wurde das Duo hereingebeten, sagte Babette: »Selbst ein kleiner Kerl wie Mäxchen geht mühelos damit um.« Aufs Stichwort zog Max ein dickes grünes Filztuch aus der rechten Tasche seiner Lederhose und verrieb sofort Wachs, wo er Holzparkett erblickte. Alten Damen gefiel das besonders, sie kauften gleich drei Dosen. »Fünfzehn Pfennig haben wir pro Dose über. Das sind 45 Pfennig, mehr als in ein Liter Milch.« Erschien allerdings ein Dienstmädchen – sie trugen weiße Leinenkrönchen –, stieß Babette ihr Mäxchen: »Kehrt, Marsch.« Sie verkaufte in den folgenden drei Jahren einige Zentner Streubohnerwachs. Anfang Juni 1951 hatte sie gesagt: »Ihr drei, hört mal her: In den Sommerferien fahren wir nach Föhr. Zweihundert Mark haben wir.« Vielleicht, so dachte Max, wenn er die gold, grün und rot gelackten Dosen mit dem Elefanten im Netz austrug, könnte man davon länger leben: drei Wochen, vier Wochen. »Für uns«, davon war er fest überzeugt, »gibt es nur ein kurzes Leben.«

Im Winter hatte er Babette im Dunkeln weinen hören: »Wie soll ich die Mäuler stopfen? Du grausiger Gott. Warum hast du mich nicht sterben lassen?« Sie schluchzte, drehte sich ständig, wühlte. Max wusste, sie weinte ins Kissen. Er hatte nicht gemuckst und weiter tief geatmet. Sie sollte nicht wissen, dass er wach war. Ihr Weinen ging ihm nicht aus dem Kopf – genauso wie die Fabel Der Kettenbär, die er auswendig gelernt hatte: »Petz, du hast schon nach mancher Musik getanzt. Sprich, welche von allen gefiel dir am besten«, so sprach der Zigeuner zu seinem Bären. »Herr, ich kann keine hören – vor dem Geklirr meiner Kette«, erwiderte der Bär.

Als sich die Schulklassen am Montag auf dem Hof in Zweierreihe aufgestellt hatten, um in ihre Klassenräume geführt zu werden, sagte Max’ Lehrer: »Frau Seidel wird uns besuchen kommen und mit uns singen. Frau Seidel kommt aus Bayern und hat eine wunderschöne Laute.« Die junge, große Frau mit dichtem, zum Knoten gewundenen schwarzen Haar setzte sich neben dem Lehrerpult auf einen Stuhl und zupfte auf den Saiten. Sie beugte sich in ihrem Dirndl so vor, dass die Kinder die Ansätze ihres festen Busens sehen konnten. Keines lachte.

»Bald gras i am Neckar, bald gras i am Rhein«, sang sie mit voller melodischer Stimme. Dann zupfte sie auf der Laute, blickte kurz ihren Kollegen an. Dann sang die Klasse den Refrain: »Bald hab i a Schätzl, bald bin i allein.« Den Flirt zwischen ihrem blendend aussehenden Klassenlehrer und der jungen Bayerin spürten die Kinder instinktiv. Marie und Ann-Christine, die vor Max in der Bank saßen, tuschelten. Max dachte: Einen Vater zu haben, das wäre schön. Nur so sprechen wie Frau Seidel, das sollte Max’ Mama keinesfalls.

»I werd eich bald als Klassenlehrerin unterrichten, weil euer Herr Lehrer ans Gymnasium soll«, sagte sie. »War wer von eich amol in den Bergen? Da komm i her.« Max hatte Berge auf Ölbildern und ein Alpenpanorama im Abendblatt gesehen. Vom Echo hatte er auch gehört. Aber selbst dort zu sein, das kam ihm fantastisch vor.

»Hot wer a Frogen an mi?«

Nur ein Finger ging zögernd hoch. Es war Sigrid aus der Bellmannstraße, mit der Max jeden Tag den Schulweg ging. »Und wo warst du im Krieg?«, fragte sie.

»Frauen waren nicht im Krieg«, unterbrach sie der Klassenlehrer.

»Doch«, beharrte Sigrid. Das war ganz gegen ihre stille Art.

»Widersprich deinem Lehrer nicht!«, herrschte der die Kleine an.

»Meine Mutter war aber Soldat.« Sigrid schluchzte. »Funkmessausbildung hat sie gemacht in Magdeburg. Sie hat Tommys vom Himmel geholt. Die haben Bomben auf uns geschmissen, meine Schwestern und meinen Opa umgebracht.«

»Nein, zu der Zeit war Frau Seidel nicht hier«, versuchte Lehrer Doestmann abzuwiegeln.

»Na, Mädel, do hast ane anständige Mutta. Auf die kannst stolz san«, sagte die Seidel freundlich. »I war net bei der Flak. Mei Vata hat g’sagt, dass i die Tier hüt’n und deshalb in die Berg blab’n muss. War ja sonst kona da.«

»Ja, seht ihr: Frauen mussten nicht in den Krieg«. Doestmann, für den die Klasse bisher geschwärmt hatte, wurde den Kindern plötzlich fremd.

»Aber meine Mutter war doch Soldat. Sie hat ein Foto davon mit Helm und grauer Uniform«, insistierte Sigrid. Solchen Widerstand hatte Doestmann der Sechsjährigen nicht zugetraut.

»Aber Frauen haben im Krieg weder Uniform noch Abzeichen tragen müssen«, versuchte er das Mädchen zum Schweigen zu bringen. Sigrid schüttelte erneut den Kopf und stierte bekümmert zur Tafel.

Sie tat Max leid, deshalb meldete er sich: »Das stimmt nicht. Meine Großmutter hat ’nen gelben Stern getragen. – Hat sie mir gesagt. Auf allen ihren Mänteln und Jacken. Dann hat’s ihr nicht mehr gefallen und hat’s abgetrennt.«

Frau Seidel schaute Max entsetzt an: »Deine Großmutter lebt?«

»Ja, wieso?«, wunderte er sich. »Sie wohnt am Rathenaupark, hat neulich auf mein Feuerwehrauto getreten. Sie war doch bei meiner Einschulung.«

»Mit Bomben und Abzeichen, das ist nichts für euch Kinder«, mischte sich Doestmann wieder ein.

»Ja, warum lässt’s den Klanen net red’n?«, empörte sich die junge Bayerin.

»Weil er keinen Vater hat und seine Familie um Kopf und Kragen redet.«

»Ist’s mit dene Jude un Mischlinge heuer in Hamburg a noch so?«, fragte sie.

»Ja«, sagte der Lehrer.

Als Max nach Hause kam, hatte Babette Haferflocken gekocht. Es war toll. Sie streute nämlich zwei Teelöffel Zucker drauf, der gleich zerschmolz. Sie fragte ihn, wie es in der Schule gewesen sei. Max erzählte ihr die Sache mit Sigrid und Großmutters Stern. Im gleichen Moment versetzte ihm Babette eine Ohrfeige, dass ihm der Löffel aus dem Mund fiel.