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Michael und Elisabeth Buback

»DER GENERAL MUSS WEG!«

Siegfried Buback, die RAF und der Staat

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Erste Auflage 2020
© Osburg Verlag Hamburg 2020
www.osburgverlag.de
Alle Rechte vorbehalten,
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sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,
auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Lektorat: Wolf-Rüdiger Osburg
Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg
Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-95510-211-1
eISBN 978-3-95510-219-7

Unseren Enkelkindern gewidmet

Inhalt

Vorwort

Siegfried Buback

Frühe Erinnerungen an den Vater

Kindheit und Jugend

Studium und Krieg

Celle und Lüneburg

Oberstaatsanwalt

Bundesanwalt

Generalbundesanwalt

Attentat und Trauerfeier

Der Prozess gegen Verena Becker – 2010 bis 2012 –

Nach dem Attentat

Vorgeschichte des Prozesses

Anklageschrift und Prozessbeginn

Zeugen aus den früheren Prozessen

Erstmals zum Attentat gehörte Zeugen

Weitere Zeugen und Dokumente

Top-Terroristen der 2. RAF-Generation als Zeugen

Zeugen und Vermerke von Polizei und BKA

Zeugen aus der Bundesanwaltschaft

Zeugen und Unterlagen vom Verfassungsschutz

Richter aus früheren RAF-Verfahren

Unsere Rechtsanwälte

Meine Vernehmung

Günstige Wendung für Verena Becker und ihre Erklärung

Letzte Anträge, Zeugenladungen und verlesene Dokumente

Die Plädoyers

Das mündliche Urteil

Nach dem mündlichen Urteil und Lehren aus dem Prozess

Fotos vom Dienstwagen im BKA

Noch ein Augenzeuge

Ein früherer Mitarbeiter der JVA Bruchsal

Anmerkungen zum schriftlichen Urteil und zugehöriger Revisionsbeschluss

Ist die Aufklärung so schwierig?

»Haag-Mayer-Papiere« und Stefan Wisniewskis Rolle

Überraschende Entdeckung zu den »H.-M.-Papieren«

Strafklage gegen Teilnehmer an RAF-Gesamttreffen

Zusammenarbeits-Richtlinien

Ausspähung von Franz Josef Strauß im Jahre 1977

Das De-Maizière-Buch

Was haben wir gelernt?

Der Münchner NSU-Prozess

Machiavelli wusste es schon

Zeittafeln

Dank

Bildnachweis

Personenverzeichnis

Vorwort

Am 7. April 1977 wurde mein Vater von einem Motorrad aus in seinem Dienstwagen erschossen. Mit ihm starben seine Begleiter Wolfgang Göbel und Georg Wurster. Meine Familie hat sich in den drei Jahrzehnten danach nicht mit dem Attentat und den Tätern befasst. An runden und halbrunden Todestagen gab es ein feierliches Gedenken, und jedes Jahr fand am Tatort eine vom Generalbundesanwalt vorbereitete Kranzniederlegung statt. Durch unser Urvertrauen in die Arbeit der Bundesanwaltschaft und des ihr zuarbeitenden Bundeskriminalamts waren wir überzeugt, dass die Ermittlungen bestmöglich erfolgten. Ende März 2007 teilte mir jedoch das ehemalige RAF-Mitglied Peter-Jürgen Boock mit, die drei einzigen, in den 1980er-Jahren für das Attentat Verurteilten seien an der Tatausführung nicht beteiligt gewesen. Obwohl wir die Nachricht zunächst nicht glauben wollten, nahmen wir den Hinweis ernst. Bei unseren Recherchen stellte sich heraus, dass unsere Erwartung, die Creme der Ermittler werde das Verbrechen aufklären, die Tatsachen ermitteln und alle Beweise und Hinweise prüfen, nicht erfüllt worden war. In dem Buch Der zweite Tod meines Vaters habe ich die Ergebnisse dieser Nachforschungen veröffentlicht. Die Erkenntnisse aus den vielen für uns neuen Informationen wiesen auf das ehemalige RAF-Mitglied Verena Becker als eine der tatverdächtigen Personen hin. Die Veröffentlichung trug vermutlich dazu bei, dass Frau Becker im Jahre 2010 von der Bundesanwaltschaft als Mittäterin angeklagt und die Hauptverhandlung gegen sie vor dem Oberlandesgericht Stuttgart eröffnet wurde.

Für meine Frau, in Vertretung meiner erkrankten Mutter, und mich war es nach den neuen Hinweisen gleichsam eine Verpflichtung, an diesem Prozess als Nebenkläger teilzunehmen. Zunächst hatten wir die Hoffnung, dass die Justiz eine Klärung der Karlsruher Täterschaft in Bezug auf Verena Becker herbeiführen würde, zumal inzwischen viele Augenzeugenangaben und Beweismittel vorlagen. Dies geschah dann aber nicht. Während des Prozesses gewannen wir recht bald den Eindruck, dass es der Bundesanwaltschaft nicht vordringlich um die Klärung der Täterschaft ging.

Der Hauptteil dieses Buchs behandelt den Verlauf und das Ergebnis des Prozesses. Er beruht auf den Protokollen, die meine Frau während der Verhandlung angefertigt hat. In einigen Passagen, die in serifenloser Schrift gesetzt sind und sich somit von dem sonstigen Text abheben, schildert sie ihre persönlichen Eindrücke. Das Buch ermöglicht es, sich ausführlich über diese Hauptverhandlung zu informieren, denn Tonmitschnitte wurden nicht angefertigt. Auch sind Wortprotokolle der Zeugenaussagen nicht vorhanden und Erklärungen vor Gericht sowie die Plädoyers von Anklage und Verteidigung nicht zugänglich.

Der Buchtitel »Der General muss weg!« greift den »Befehl« auf, den die in Stammheim inhaftierten RAF-Führungspersonen angeblich an ihre in Freiheit lebenden Genossen gerichtet haben. Diese sollten den General(bundesanwalt) ausschalten.

Mit dem Wissen, das meine Frau und ich im Prozess über die Justiz, die Ermittler, die Einwirkung staatlicher Stellen und über die Medien erworben haben, vermag ich nicht widerspruchslos das hinzunehmen, was als »Wahrheit« über das Karlsruher Verbrechen und die Attentäter verbreitet wird. Die Wahrheit der Politiker hören wir in offiziellen Erklärungen und die juristische Wahrheit lesen wir in rechtskräftigen Urteilen. Die in den Medien verbreitete Wahrheit bewegt sich meist im engen Bereich zwischen diesen »Wahrheiten«. Als Opferangehöriger, aber auch als Naturwissenschaftler, bin ich ausschließlich an der Wahrheit interessiert, die nicht vom speziellen Blickwinkel und der jeweiligen Interessenlage abhängt und die alle verlässlichen Beobachtungen und Sachbelege berücksichtigt.

Wir Angehörige haben fest an Helmut Schmidt geglaubt, als er am 13. April 1977 in seiner Trauerrede sagte, der Rechtsstaat »weiß sich Siegfried Buback und Wolfgang Göbel und Georg Wurster schuldig, ihre Mörder zu ergreifen und vor Gericht zu stellen.« Aber was geschah danach? Wir wissen jetzt, dass zwar drei Personen zu »lebenslänglich« verurteilt wurden, wissen aber auch, dass keine von ihnen an der unmittelbaren Tatausführung beteiligt war. Auch sind die Urteile widersprüchlich. Knut Folkerts wurde im Jahre 1980 als Karlsruher Mittäter verurteilt. Aus dem Urteil gegen Verena Becker im Jahre 2012 ergibt sich aber, dass Folkerts keines der drei männlichen, am Karlsruher Attentat unmittelbar beteiligten »RAF«-Mitglieder gewesen sein kann.

Erst nach Boocks Information im Jahre 2007 haben wir uns selbst mit dem Karlsruher Verbrechen befasst und Zehntausende Aktenblätter durchgesehen, die wir zunächst zögerlich, aber – als Nebenkläger – dann umfänglich, wenn auch nicht vollständig erhielten. Wir merkten bald, dass den Ermittlern geradezu unglaubliche Unterlassungen und Fehler unterlaufen waren. Warum war die Aufklärung so mangelhaft betrieben worden?

Der Nebel begann sich zu lichten, als im April 2007 vom Spiegel veröffentlicht wurde, dass Verena Becker Informantin des Verfassungsschutzes war. Bereits da wurde mir von einem hervorragenden Kenner der terroristischen Szene gesagt, meine Bemühungen um Aufklärung hätten keine Aussicht auf Erfolg, wenn Geheimdienste involviert seien. Vielmehr würde ich dann marginalisiert und diskreditiert. Im Vertrauen auf die Kraft des Rechtsstaats habe ich diese Warnung nicht ernst genommen. Inzwischen haben meine Frau und ich gelernt, dass bei der Kooperation staatlicher Stellen mit Terroristen vieles, eigentlich fast alles möglich ist.

Wir haben uns entschlossen, in Kapitel 2, dem zentralen Teil dieses Buches, die Hauptverhandlung gegen Verena Becker zu dokumentieren, nicht nur, weil uns das Vorgehen der Justiz überrascht hat, sondern weil die Bearbeitung des Karlsruher Attentats kein Einzelfall zu sein scheint. Von den 34 der RAF zugerechneten Morden ist einzig und allein das Verbrechen an Jürgen Ponto vollständig aufgeklärt, bei dem allerdings kein hoher Ermittlungsaufwand erforderlich war, denn die Ehefrau des Opfers beobachtete Tat und Täter von einem Nebenraum aus. Im Umgang der Justiz mit terroristischen Verbrechen finden sich bei dem ab Mai 2013 u. a. gegen Beate Zschäpe geführten NSU-Prozess, der im abschließenden Kapitel des Buches angesprochen wird, Besonderheiten wie bei dem RAF-Prozess gegen Verena Becker. Dies unterstreicht den exemplarischen Charakter des ausführlich recherchierten »Buback«-Komplexes.

In Kapitel 1 schildern wir Stationen des Lebenswegs und des beruflichen Werdegangs meines Vaters und Kapitel 3 enthält, was wir nach Abschluss der Hauptverhandlung noch erfahren und was wir aus den Geschehnissen gelernt haben.

Michael Buback

2. November 2019

Siegfried Buback

Mein Vater sah seine berufliche Erfüllung darin, Generalbundesanwalt geworden zu sein. Seine Prinzipientreue sowie die Hingabe an seinen Beruf waren vielleicht manchem unheimlich, zumal er »seine« Fälle löste. Aber er war kein Hardliner. Im Nachruf in der Zeit schreibt der frühere Generalbundesanwalt Max Güde, er sei mit dem toten Siegfried Buback darin einig: »Nicht die Härte allein verbürgt den Frieden im Staat, sondern die wohlüberlegte, gleichmäßige Gerechtigkeit.« Die Vorsätze, nach denen mein Vater das Amt des Generalbundesanwalts gerne hätte ausüben wollen, waren für einen weisungsgebundenen politischen Beamten sicherlich nicht umsetzbar. Dennoch nahm er die Aufgabe an. Der Gestaltungsrahmen war dann kleiner und das Ausmaß der Gegenkräfte, die aus oft schwer zu ortender Richtung auf ihn einwirken und ihn bedrohen würden, größer, als er es wohl vermutet hatte. Der Weg, den er einschlug, entsprach seinem Wesen, seiner Herkunft und seinen Überzeugungen. Die Realität zeigte dann, dass er als Generalbundesanwalt fast zwangsläufig in Konfrontationen und Konflikte geriet, die in dieser herausgehobenen Position und in schwieriger Zeit alles andere als harmlos waren.

Frühe Erinnerungen an den Vater

Im Alter von gut zwei Jahren habe ich meinen Vater 1947 zum ersten Mal gesehen. Er war kurz zuvor aus französischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden und besuchte seine Familie in Meißen. Da er seine Ausbildung im Bereich des Oberlandesgerichts Celle rasch fortsetzen wollte, blieb er nicht lange. Als meine Mutter im Jahre 1950 nicht mehr das einzige Familienmitglied mit geregeltem Einkommen war, zog auch sie nach Celle. Meine Eltern holten mich zu sich, nachdem sie eine kleine Wohnung gefunden hatten. Da wir aber zu beengt wohnten, wurde ich 1952 für neun Monate zurück nach Meißen in die Obhut der Großeltern gegeben.

Die gemeinsame Zeit mit meinen Eltern beschränkte sich dann zunächst auf das Jahr 1953. Einiges von dem, was mir bis dahin entgangen war, wurde nachgeholt: Jeden Tag gab es mindestens zwei Mahlzeiten zu dritt und mein Geburtstag wurde mit beiden Eltern gefeiert. An Sommerwochenenden unternahmen wir Ausflüge auf der Aller mit unserem Faltboot, das aber erst nach einstündigem Arbeitseinsatz meines Vaters schwimmfähig war. Manchmal übernachteten wir auf diesen Touren und stellten unser Zelt direkt am Flussrand auf. Im Winter konnte ich auf den Allerwiesen Schlittschuh laufen. Mein Vater schaute meiner Mutter und mir vom sicheren Ufer zu. Er war handwerklich sehr geschickt und erledigte die meisten Reparaturen in der Wohnung selbst. Mit besonderer Hingabe bastelte er an der Märklinbahn. Sie gehörte eigentlich mir, aber jeweils ab Mitte November arbeiteten mein Vater und meine Mutter, sobald ich eingeschlafen war, mit großer Begeisterung, um Streckenabschnitte auf selbst gebauten Stützen hochzulegen oder unter der großen Sperrholzplatte verschwinden zu lassen, sodass viele parallele Gleise entstanden. Bei späteren Probefahrten auf den neuen Strecken fiel mir die Aufgabe zu, nach Entgleisungen an entlegenen Stellen in die Anlage zu steigen und die Züge zu bergen. Es war eine glückliche Zeit für uns drei.

Anfang 1954 wurde mein Vater nach Lüneburg versetzt. Dort kauften meine Eltern ein Einfamilienhaus, in das wir im Februar 1956 umzogen. Es lag direkt am Wald. Meine Mutter bestand auf dem gemeinsamen Joggen frühmorgens: Bei jedem Wetter starteten wir zu dritt zum halbstündigen Morgenlauf. Im November 1957 wurde mein Vater erneut versetzt, diesmal an die Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht, also zurück nach Celle. Noch größer wurde die räumliche Distanz, als er 1959 an die Bundesanwaltschaft abgeordnet wurde. In Erinnerung geblieben sind mir die Sonntagabende, an denen wir ihn zum Nachtzug nach Karlsruhe brachten. Beim Schreiben dieses Textes wird mir wieder bewusst, wie wenig Zeit ich mit ihm verbracht habe. Auch meine Eltern waren die Trennungen leid. Sie wollten deshalb mit dem Umzug in den Süden nicht zu lange warten. Wir zogen bereits 1960 nach Karlsruhe, obwohl mein Vater dort noch keine Planstelle hatte.

Vor den Karlsruher Jahren möchte ich die Kindheit und Jugend meines Vaters schildern, von denen ich von seinem drei Jahre jüngeren Bruder Horst und von meiner Mutter weiß. Neben Informationen aus seiner Personalakte besitze ich zahlreiche Briefe und Vorträge meines Vaters. Was ihn beschäftigte, kann ich auch aus den Alben ablesen, in denen er bis wenige Tage vor seiner Ermordung Zeitungsausschnitte zusammengetragen hat.

Kindheit und Jugend

Am 3. Januar 1920 wurde mein Vater in Wilsdruff bei Meißen geboren. Zur Erinnerung an ihren ein Jahr zuvor an Diphtherie gestorbenen Sohn wählten seine Eltern als ersten Vornamen »Helmut« und als Rufnamen »Siegfried«. Willy Buback, sein Vater, stammte – wie auch seine Mutter – aus einfachen Verhältnissen. Ihre Familien hatten sehr viele Kinder und sehr wenig Geld. Willy Buback arbeitete zunächst als Stadtschreiber in Nossen bei Meißen. Als der Hauptkassierer der Stadt kurz vor Weihnachten erkrankte und der Bürgermeister verzweifelt Ersatz suchte, bot mein Großvater an auszuhelfen. Das gelang ihm so gut, dass ihm der Bürgermeister Unterstützung auf seinem weiteren Berufsweg zusicherte. Kurz darauf forderte ein einflussreicher Bürger aus Siegmar-Schönau, einer Stadt nahe Chemnitz, meinen Großvater auf, sich dort auf die Stelle eines Sparkassenassistenten zu bewerben. Im Oktober 1907 wurde Willy Buback Sparkassen- und danach Gemeindekassen-Kontrolleur. Wie er mir mehrmals erzählte, hatte er bald nach Übernahme der neuen Tätigkeit bemerkt, dass derjenige, der ihn nach Siegmar angeworben hatte, eine erhebliche Steuernachzahlung zu leisten hatte. Mein Großvater schickte seinem Förderer einen Mahnbescheid, worauf dieser kurze Zeit später wutentbrannt ins Rathaus gekommen sei. Gegen den Zorn habe sich mein Großvater mit dem Argument verteidigt, man habe ihn doch eingestellt, weil man ihn für korrekt halte und dieses Vertrauen dürfe er nicht enttäuschen. Im Jahre 1916 wurde mein Großvater Stadtkassierer in Wilsdruff und seit dem 1. April 1923 war er Kassenprüfer im Prüfungsverband Elbtal mit der Dienstbezeichnung Rechnungsdirektor. Später arbeitete er in dieser Funktion beim Landkreis Meißen.

Nach dem Besuch der Grundschule in Wilsdruff wechselte mein Vater 1930 auf das »Franziskaneum« in Meißen, obwohl dies mit einem zeitaufwändigen und anstrengenden Schulweg für den Zehnjährigen verbunden war: zu Fuß zum Bahnhof in Wilsdruff, dann mit der Kleinbahn zum Bahnhof Meißen-Triebischtal und von dort zu Fuß über die Elbe und hinauf zum Gymnasium auf dem Ratsweinberg. Knapp zwei Stunden brauchte er jeweils für Hin- und Rückweg. Zwei Jahre später zog die Familie nach Meißen und der Schulweg verkürzte sich auf 15 Gehminuten. Die Nähe zum Meißner Bahnhof erwies sich als ein Glück für Vater und Sohn, denn am Wochenende fuhren beide so oft wie möglich mit dem Zug nach Dresden ins »Ostragehege«, wo die Fußball-Mannschaft des Dresdner Sportclubs ihre Heimspiele austrug. Für den DSC spielte in den frühen 1930er-Jahren Helmut Schön, mit dem mein Vater ab Mitte der 1970er-Jahre in freundschaftlichem Kontakt stand und der auch an der Trauerfeier am 13. April 1977 teilnahm.

Am Franziskaneum interessierte sich mein Vater sehr für die Klassenkameradin Inge Burghold. Die sportliche Inge, zudem noch die Klassenbeste, gefiel ihm sehr, und das sollte sein Leben lang so bleiben. Zu seinem Leidwesen hielt sich die Gegenliebe zunächst in Grenzen, denn mein Vater war dem sportlichen Mädchen zu rundlich. Er ließ jedoch nicht locker und suchte, wann immer dies möglich war, ihre Nähe. Er holte sie zur Schule ab, brachte sie zurück und blieb noch am Nachmittag, wenn beide die Hausaufgaben erledigten. Hier zeigte sich bereits die Beharrlichkeit, mit der mein Vater seine Ziele unaufgeregt verfolgte. Und er hatte Erfolg! Allmählich erkannten die Klassenkameraden, dass der »Dicke« – das war sein Spitzname – der Freund der trotz ihrer Strebsamkeit sehr beliebten Inge war. Diese Zuneigung fiel auch einem Lehrer auf, als beide während des Unterrichts unter der Bank Händchen hielten. Sie kamen in getrennte Klassen.

Trotz der engen Verbindung während der Schulzeit war es dann kein schneller und direkter Weg, bis Inge überzeugt war, dass der »Dicke« auch auf Dauer der Beste für sie sei. Meine Eltern waren 33 Jahre verheiratet, als mein Vater 1977 ermordet wurde. 35 Jahre lang lebte meine Mutter danach in dem Haus, das sie mit meinem Vater 1974 in Karlsruhe-Neureut gebaut hatte und das sie keinesfalls verlassen wollte. Nach dem Tod ihrer Mutter im Jahre 1996 lebte sie darin allein und in ihren letzten Jahren wurde sie dort rund um die Uhr betreut, bevor sie am 6. September 2012 starb.

Studium und Krieg

Gleich nach dem Abitur, von März bis Oktober 1938, leistete mein Vater Arbeitsdienst. Vom 5. November 1938 bis zum 16. Dezember 1940 studierte er Rechtswissenschaften an der Universität Leipzig, zwei Semester und vier Trimester. In seinem Studienbuch lese ich die Namen bekannter Dozenten, etwa Franz Wieacker. Am 4. Februar 1941 bestand der »Rechtskandidat« Siegfried Buback die 1. Juristische Staatsprüfung beim Prüfungsamt des Oberlandesgerichts Dresden. In dem von ihm begründeten Klassenbrief der Oberprima Ib, der seit 1938 für Jahrzehnte unter den Klassenkamaraden zirkulierte und der ein eindrucksvolles Dokument der Kriegszeit und der Jahre danach ist, schrieb mein Vater, er denke mit Schrecken an die fünfstündige mündliche Prüfung zurück. Das »Wonnegefühl einer abgelegten Prüfung« habe er aber nicht auskosten können: »Im Gegenteil, man goss mir gewissermaßen Eiswasser von hinten in den Hals. Als ich am letzten Prüfungstag nach Hause kam, lag so ein seltsam gefaltetes Papierlein auf dem Schreibtisch, das sehr verdächtig nach Gestellungsbefehl roch. Meine Nase trog mich nicht. Am nächsten Tag 14 Uhr Großenhain.« Bei der Luftnachrichtenkompanie des dortigen Flughafenbereichs wurde mein Vater als Funker ausgebildet und dann nach Neubrandenburg versetzt, wo er selbst Funker unterrichtete. Seine Einheit wurde in ein Luftnachrichten-Regiment übernommen und im Oktober 1942 nach Frankreich verlegt. In der Gegend um Belfort gehörte mein Vater zu einer Bodenorganisation bei der Nachtjagd. Er hat kaum über den Krieg gesprochen, zu sehr hat ihn das Grauen, das er dort erlebt hatte, belastet. Einiges über diese Zeit wissen wir aus dem Brief eines Kriegskameraden an meine Mutter. Es habe bei meinem Vater, dem Unteroffizier, kein Herumbrüllen oder Anschnauzen gegeben. Mein Vater habe einen guten Kontakt zu den »Rekruten« gehabt, die oft Waldarbeiter aus Böhmen waren und vom Alter her seine Väter hätten sein können. Ihnen musste er wöchentlich sechs Stunden Elektrophysik zumuten. Die militärische Situation sei immer schwieriger geworden, vor allem nachdem die Alliierten in der Normandie gelandet waren und die Kompanie die Aufgabe erhielt, an der Burgundischen Pforte den Vormarsch aus dem Rhônetal aufzuhalten. Schlimm sei Nacht für Nacht der Kampf gegen Partisanen gewesen. Die Unterstützung durch die Vorgesetzten habe gefehlt. Eines Tages sei ein General erschienen, habe den Unteroffizieren einen Vortrag über das Durchhalten und das Sterben für das Vaterland gehalten, dann habe er sich wieder in sein Auto gesetzt und sei entschwunden.

Diese Erlebnisse im Krieg haben meinen Vater darin bestärkt, sich anders zu verhalten, falls er in eine leitende Funktion gelangen sollte. Max Güde, der Vorvorgänger im Amt des Generalbundesanwalts, schrieb am 15. April 1977 in der Zeit über meinen Vater: »Seinen Mitarbeitern war er in Treue verbunden, und er hat den Schild der eigenen Verantwortung immer vor sie gehalten.« Dieses gute Verhältnis belegen auch die Zeilen, die er am 23. Dezember 1976 einem kleinen Geschenk für seinen Fahrer Bernd J. beilegte: »Bleiben Sie gesund und fröhlich, dann kann auch das neue Jahr Ihnen keinen Schrecken einjagen. Seien Sie herzlich bedankt für Ihre Betreuung auf vielen weiten und anstrengenden Fahrten. Große Anerkennung gebührt Ihnen für Ihre souveräne Fahrkunst.« Bernd J. hatte am Tag des Attentats Urlaub. Anlässlich des 40-jährigen Gedenkens an die Opfer des Attentats konnte er vor Rührung kaum sprechen, als wir ihn an Episoden mit meinem Vater erinnerten. Den Schlüssel zu dem Auto, in dem mein Vater starb, trägt er noch immer bei sich. Für ihn sprang am 7. April 1977 Wolfgang Göbel ein, der – wie mir dessen Vater später erzählte – gesagt habe: »Für diesen Generalbundesanwalt gehe ich durchs Feuer.« Traurig fügte Vater Göbel hinzu: »So ist es dann ja auch gekommen.«

Am 6. Dezember 1944 wurde mein Vater im Elsass durch einen Schulterschuss verwundet und ins Lazarett nach Budweis gebracht. Als er wieder einsatzbereit war, wurde er zu einer Nachtjagdeinheit nach Norwegen versetzt. Dort war er zuletzt als Leutnant der Reserve im Einsatz. Nach der Kapitulation geriet er in englische Gefangenschaft, wurde im August 1945 nach Bremerhaven transportiert und von den Amerikanern an Frankreich übergeben, im Rahmen des Einsatzes deutscher Kriegsgefangener zum Wiederaufbau. Im Juli 1947 schrieb mein Vater über diese Zeit im Klassenbrief: »Nichts zu essen, keine Post, kein Buch, Lumpen am Leib, keinen Stuhl, keinen Tisch, kein Licht u. s. w. Erst im März 1946 wurde die Angst um die Lieben daheim gemindert. Inge, mein Sohn Michael, unsere Eltern hatten das Schlamassel überlebt, wenn auch unter Verlust des gesamten Eigentums.« Die Not in der Gefangenschaft veranlasste meinen Vater, Verbindung zum Bruder seiner Mutter aufzunehmen, der um 1920 in die Vereinigten Staaten ausgewandert war. Ein Mitgefangener erzählte meinem Onkel, die Gruppe um meinen Vater hätte wohl ohne die Fresspakete aus Amerika nicht überlebt. Am 5. Juni 1947 wurde mein Vater nach Celle entlassen, wo ihm ein Studienkamerad Unterkunft gewährte. In der Meißner Heimat hätte es keine berufliche Zukunft für ihn gegeben.

Celle und Lüneburg

Gleich nach der Ankunft in Celle richtete mein Vater am 12. Juni 1947 ein Gesuch an den Präsidenten des dortigen Oberlandesgerichts und bat um Übernahme in den Vorbereitungsdienst, um seine Ausbildung weiterführen zu können. Die armseligen Lebensverhältnisse störten meinen Vater nicht. Am 4. Juni 1948 beantragte er bei seinem Vorgesetzten die Zuweisung eines Asservat-Fahrrads: Ihm sei ein Zimmer weit außerhalb von Celle zugeteilt worden. Er müsse den Weg zum Dienstort, fast fünf Kilometer, täglich mindestens zweimal zurücklegen. Zum Amtsgericht sei es genauso weit und es seien vier Kilometer zur Bibliothek des Oberlandesgerichts. Der mit den langen Fußwegen verbundene Zeitverlust wiege schwer, da er seine Ausbildung abschließen wolle, um möglichst rasch seine Frau und sein Kind aus Meißen nachholen zu können. Sein Schuhwerk sei so abgelaufen, dass er fast auf Strümpfen laufe. Nach diesem Brief wurde meinem Vater ein eingezogenes Fahrrad zum Schätzpreis überlassen.

Nach dem 2. Juristischen Staatsexamen am 26. Oktober 1950 wurde mein Vater Hilfsrichter an den Amtsgerichten in Achim und Syke sowie am Landgericht Hannover. Danach übte er nur noch staatsanwaltliche Tätigkeiten aus, zunächst in Lüneburg und dann in Celle, wo er am 1. Dezember 1953 zum Staatsanwalt ernannt wurde. In den Dienstzeugnissen lese ich von der großen Gewissenhaftigkeit meines Vaters und von seinem unermüdlichen Fleiß, der ihn in die Lage versetze, teilweise das Doppelte eines normalen Dezernats zu bewältigen. Durch sein freundliches, manchmal geradezu lustiges Wesen sei er überall geschätzt. Sein Temperament trete besonders dann hervor, wenn er meine, dass der Gang eines Verfahrens der menschlichen Seite des Falles nicht hinreichend gerecht werde.

Die sommerlichen Fahrradreisen bedeuteten für meine Eltern Stunden des Glücks. Sie genossen die Zweisamkeit nach vielen Jahren der Trennung. Ihr kleines Zelt stellten sie nach Lust und Laune auf. Die erste Reise startete 1952 in Singen, wohin sie mit dem Zug angereist waren. Ohne Gangschaltung ging es per Rad über Zürich, das Berner Oberland nach Zermatt und über den Furkapass zurück nach Singen. Heute würde eine solche Reise, allerdings mit viel besserem Fahrrad, als besonders trendy bezeichnet werden. Damals wunderten sich die Bekannten, wie man eine solche Strapaze als Urlaub ansehen konnte. Die Wandertouren führten bis auf das 4171 m hohe Breithorn. Bei diesen Reisen konnte der siebenjährige Sohn nicht mit, sodass ich die Sommerferien in Meißen verbrachte, was ich sehr gern tat. Im Sommer 1953 erhielt mein Vater keinen Urlaub. Im darauf folgenden Jahr wählten meine Eltern die Bahnanfahrt nach Salzburg und zurück ging es von Kufstein. Dazwischen lagen 1100 Kilometer mit dem Fahrrad und 200 Kilometer zu Fuß.

Ab Januar 1954 arbeitete mein Vater in Lüneburg bei Oberstaatsanwalt Dr. Erich Topf, wo er ein politisches Dezernat übernehmen sollte. Ihn selbst schreckte diese Arbeit nicht, aber das damit verbundene Vorgehen gegen kommunistische Tarnorganisationen brachte ihn in Gewissenskonflikte: Seine Eltern, sein verheirateter Bruder und seine Schwiegermutter lebten in der »Ostzone« und er befürchtete Schwierigkeiten für sie. Deshalb versuchte er zu erwirken, dass er lediglich das Dezernat übernähme, aber vorerst keine Anklagen verfassen müsse. Das komme gar nicht in Frage, meinte sein Chef, er werde so behandelt wie jeder andere politische Dezernent. Daraufhin wandte sich mein Vater an den Generalstaatsanwalt und an das Niedersächsische Justizministerium. Zusätzlich erkundigte er sich beim damaligen Oberbundesanwalt Carl Wichmann, ob es für ihn eine Verwendung bei der Bundesanwaltschaft gäbe. Tatsächlich erreichte Wichmann 1954 die Abordnung meines Vaters nach Karlsruhe, die aber vom Niedersächsischen Ministerium für Justiz letztlich wegen Personalmangels nicht bewilligt wurde. Man wollte ihn nicht ziehen lassen. Vorgesetzte wiesen meinen Vater darauf hin, dass auch sie Verwandte in der DDR hätten und keine Fälle bekannt geworden seien, bei denen diesen Personen Nachteile entstanden seien. Schließlich willigte er in die Übernahme des politischen Dezernats ein.

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Auf einer Sommerreise

Die Sommerreise 1955 startete in Kitzbühel. Im »Klassenbrief« lese ich: »Beinahe wäre mir auf der Glockner-Straße meine Contaflex abhanden gekommen ›worden‹. Aber mein kriminalistischer Instinkt hat den Täter nach 4 Stunden am Franz-Josefs-Haus finden lassen. Warum soll von dem eigenen Beruf nicht auch mal ein Nutzen ausgehen.« Leider beschreibt mein Vater nicht, wie er diesen Fall aufgeklärt hat. Nach Touren in den Dolomiten folgte das etwa zweitägige Fahrradschieben auf das Stilfser Joch. Auch die Abfahrt bereitete Mühe, da die Bremsen immer wieder an Brunnen gekühlt werden mussten. Über das Engadin und Liechtenstein, wo mein Vater als begeisterter Briefmarkensammler gern haltmachte, fuhren sie zurück nach Friedrichshafen. Im Jahre 1956 fand keine Sommerreise statt, denn meine Eltern besaßen jetzt einen eigenen Garten und freuten sich, darin zu arbeiten.

Im November 1957 wurde mein Vater zurück nach Celle versetzt und dort am 1. Mai 1959 zum Ersten Staatsanwalt ernannt. Einige Monate später erfolgte die Abordnung an die Bundesanwaltschaft. Ihre letzte Sommerreise zu zweit unternahmen meine Eltern 1959. Die »wunderschöne Reise«, wie mein Vater im Reisealbum schrieb, startete in Salzburg. Die Rückfahrt erfolgte über Karlsruhe: »Dann radeln wir durch die Stadt, die vielleicht einmal ›unsere‹ Stadt werden wird.« Im Folgejahr kauften meine Eltern ein Auto und von da an reiste ich mit.

Obwohl meinem Vater die zeitnahe Übernahme als Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof, der damaligen Eingangsstufe, in Aussicht gestellt worden war, ließ die Beförderung lange auf sich warten. Das wesentliche Hindernis bestand darin, dass er im Jahre 1962 in Hamburg die Ermittlungen gegen den Spiegel geleitet hatte. Diese erkennbar schwierige und riskante Aufgabe war keinem Planstellenbeamten der Karlsruher Behörde, sondern ihm, dem aus Niedersachsen abgeordneten »Hilfsbeamten« übertragen worden.

Ein Gutachten aus dem Verteidigungsministerium besagte, der Spiegel-Beitrag »Bedingt abwehrbereit« (41/1962) enthalte Geheimnisse, die den Verdacht des Landesverrats begründeten. Die daraufhin eingeleiteten Ermittlungen wurden heikel, nachdem ein Kollege meines Vaters beim Bonner Spiegel-Büro einen Mann verhaftet hatte, von dem er fälschlicherweise annahm, es sei Rudolf Augstein. Natürlich musste der Mann sofort freigelassen werden. Da es sich aber um einen Spiegel-Mitarbeiter handelte, wurde die Ermittlungsaktion beim Nachrichtenmagazin bekannt. Dies führte zu dem abendlichen Zugriff im Hamburger Pressehaus. Die Maßnahme wurde in den nahezu einmütig die Position des Spiegel vertretenden Medien als »Nacht- und Nebelaktion« bezeichnet. Vor dem Verlagsgebäude schlug meinem Vater der Hass all derjenigen entgegen, die die Pressefreiheit bedroht sahen. Ein weiterer Aspekt erschwerte seine Aufgabe: Da der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein als der FDP nahestehend galt und der damalige Justizminister Wolfgang Stammberger der FDP angehörte, hatte die Leitung der Bundesanwaltschaft den für die Behörde zuständigen Bundesminister nicht von der geplanten Aktion unterrichtet. Meinem Vater widerstrebte dieses Vorgehen. Im Eilbrief vom 24. Oktober 1962 an seinen Vorgesetzten, Bundesanwalt Dr. Albin Kuhn, der den Eingang des Briefs am Nachmittag desselben Tages handschriftlich quittierte, schrieb mein Vater, er »halte die persönliche Unterrichtung des Bundesministers der Justiz für dringend [doppelt unterstrichen] erforderlich, damit der sich hier verstärkende Eindruck, wir seien Hilfsbeamte des Bundesministers der Verteidigung [Franz Josef Strauß] nicht weitere Nahrung erhält.« Mein Vater rechnete wohl damit, dass man ihn für das Vorgehen der Behördenleitung verantwortlich machen könnte, denn er hat das Original seines Schreibens persönlich aufbewahrt.

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Kopie eines Teils des Schreibens von Siegfried Buback an Bundesanwalt Albin Kuhn

Beim Spiegel-Verfahren musste mein Vater erfahren, wie schwer korrektes Vorgehen in hochpolitischem Zusammenhang ist. Einflussreiche Personen versuchen, die Situation aus ihrer Sicht zu interpretieren und unter Berücksichtigung der öffentlichen Meinung zu nutzen. Der mit den Ermittlungen beauftragte Staatsanwalt muss aber seine Pflicht erfüllen und die ihm erteilten Weisungen befolgen. Mein Vater stand ziemlich allein. Niemand wollte gern die Verantwortung für Ermittlungen gegen den Spiegel übernehmen, zumal rasch deutlich wurde, dass das Nachrichtenmagazin nach dem Verfahren mächtiger und auflagenstärker sein würde als zuvor.

Das Vorgehen der Bundesanwaltschaft gegen den Spiegel wurde 1966 vor dem Bundesverfassungsgericht geprüft. Mehrfach fand sich in den Medien die Überschrift: »Spiegel-Prozess mit umgekehrtem Vorzeichen«. Vor dem Bundesverfassungsgericht beschuldigte der Spiegel die Bundesanwaltschaft, verfassungswidrig vorgegangen zu sein. Einer der vier Vertreter des Beschwerdeführers Spiegel-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co war der Freiburger Professor Dr. Horst Ehmke, einige Jahre später selbst, wenn auch nur kurz, Bundesminister der Justiz. Ehmke sagte über das Vorgehen gegen den Spiegel, »es war ein Akt, wenn nicht nackter, so doch notdürftig bekleideter Willkür«. In der dreitägigen Verhandlung spielte die Vernehmung des ehemaligen Staatssekretärs im Verteidigungsministerium, Volkmar Hopf, eine wichtige Rolle. Auch der Chef meines Vaters, Bundesanwalt Kuhn, sagte als Zeuge aus. Dabei kam es zu einem Zwischenfall. Albin Kuhn konnte plötzlich nicht weitersprechen, was sofort für Spekulationen sorgte. In der Abendzeitung stand: »Bundesanwalt Kuhn erlitt Herzattacke«. Später erzählte mein Vater, die Sache sei harmlos gewesen, die Zähne des Bundesanwalts hatten sich gelockert und es musste schnell Abhilfe geschaffen werden. Mein Vater eilte zur Apotheke. Die Verfassungsbeschwerde des Spiegel wurde vom Bundesverfassungsgericht abgewiesen, die Durchsuchung somit nicht beanstandet. Die Entscheidung erfolgte zwar denkbar knapp, aber sie entlastete meinen Vater.

Von Seiten der leitenden Personen beim Spiegel, die meinen Vater vor Ort erlebt hatten, wurden keine Anschuldigungen gegen ihn aufrechterhalten. In einer Hausmitteilung im Spiegel (16/1977) heißt es über meinen Vater, der am 27. Oktober 1962 den Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein verhaftet hatte: »Dem Untersuchungshäftling brachte er meist Bier mit. Zwischen ihm [meinem Vater] und den SPIEGEL-Leuten entwickelte sich ein halb respektvolles, halb gemütliches Gegeneinander.« Verlagsdirektor Becker bescheinigte »ohne Ironie«, Buback arbeitete bis zum Rande physischer Erschöpfung, um die Redaktionsräume freizukriegen. Als das in Beckers Augen spektakuläre und unnütze Verfahren eingestellt wurde, luden Conrad Ahlers und Rudolf Augstein ihren einstigen ›Verfolger‹ zu einem für diesen Fall verabredeten Mittagessen ein. Mein Vater telegrafierte zurück: »Bin nur noch bedingt abwehrbereit«. Im Jahr 1974 gratulierte ihm Rudolf Augstein aus Anlass der Ernennung zum Generalbundesanwalt. Mein Vater bedankte sich und schrieb, er freue sich aufrichtig über diese Glückwünsche. Im seinem Arbeitszimmer fand ich das Buch von David Schoenbaum mit dem Titel Ein Abgrund von Landesverrat, der sich auf Konrad Adenauers Worte im Bundestag bezog. In dieses Buch hat Rudolf Augstein als Widmung geschrieben: »Für Siegfried Buback zur Erinnerung an gemeinsame und schöne Tage« und in Rudolf Augsteins Kondolenzbrief an meine Mutter steht: »In schwierigen Zeiten habe ich Ihren Mann kennen und schätzen gelernt.«

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Rudolf Augsteins Buch-Widmung für Siegfried Buback

Am 25. Oktober 1976 blickte mein Vater in einem Vortrag auf die Arbeit der Bundesanwaltschaft zurück: »Im Oktober 1962 erlebte sie [die Behörde] ihre erste große Konfrontation mit der Presse und anderen politischen Machtfaktoren, war überrascht, wohl auch ein bißchen erschrocken, aber sie blieb gefaßt und ließ sich nicht beirren. Zwar konnte sie ihre Ausgangsposition nicht behaupten und mußte Federn lassen. Es gelang aber nicht, ihr den Makel verfassungswidrigen Handelns anzuhängen.« Dies scheint mir eine sehr ehrliche und zutreffende Einschätzung zu sein.

Meinem Vater, der seit 1959 an die Bundesanwaltschaft abgeordnet war, brachte das Spiegel-Verfahren Nachteile. In der Beurteilung des Generalbundesanwalts vom 17. Oktober 1961 steht zwar, »dass Erster Staatsanwalt Buback sich als ein besonders tüchtiger und befähigter Staatsanwalt bewährt hat. Er ist deshalb ohne Einschränkung für die Stelle eines Oberstaatsanwalts, insbesondere auch bei der Bundesanwaltschaft, als vorzugsweise geeignet zu betrachten.« Aber erst am 6. November 1963 gelangte mein Vater auf die Planstelle eines Oberstaatsanwalts beim BGH. Damit endete seine Zeit als niedersächsischer Beamter. Nun gehörte er zu der Behörde mit der offiziellen Bezeichnung »Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof«. Eine ihrer Aufgaben ist die erstinstanzliche Verfolgung von Straftaten, die gegen die innere sowie äußere Sicherheit der Bundesrepublik gerichtet sind, von terroristischen Verbrechen sowie von Landesverrat und Spionage. Hierbei kann der Generalbundesanwalt das Bundeskriminalamt, die Landeskriminalämter und andere Polizeibehörden mit Ermittlungen beauftragen. Neben weiteren Aufgaben dieser obersten Strafverfolgungsbehörde wirkt der Generalbundesanwalt bei Revisionsverfahren vor Senaten des Bundesgerichtshofs mit.

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Siegfried Buback in der frühen Karlsruher Zeit

Oberstaatsanwalt

Die Familie war glücklich über die Perspektive, längerfristig gemeinsam in Karlsruhe zu leben. Meine Eltern hatten eine Erdgeschoss-Wohnung in Neureut gemietet und durften den großen Garten bewirtschaften. Alle Familienmitglieder konnten ihre Ziele in Karlsruhe mit dem Fahrrad erreichen, mein Vater die Bundesanwaltschaft, meine Mutter die Geschäfte und ich das Gymnasium. Der neue VW-Käfer brachte uns sonntags zum Startpunkt der ausgedehnten Wanderungen im Schwarzwald oder Pfälzer Wald.

In den ersten Karlsruher Jahren habe ich meinen Vater oft in der Behörde besucht. Das Areal des Bundesgerichtshofs war frei zugänglich. Viele Karlsruher liefen oder radelten mitten hindurch. Beim Anblick des heute festungsartig gesicherten Geländes und des Neubaus der Bundesanwaltschaft ist dies kaum noch vorstellbar. Kontrolliert wurden damals nur Besucher, die ein Gebäude betreten wollten. Die Pförtner kannten mich bald, denn ich aß jede Woche einmal mit meinem Vater in der Kantine des BGH. Neben uns und an den Nachbartischen saßen Oberstaatsanwälte und Bundesanwälte, sodass ich im Laufe der Zeit eigentlich alle kannte.

Unter den von meinem Vater in dieser Zeit bearbeiteten Fällen erinnere ich mich besonders an die Aufklärung des Anschlags auf ein Munitionsdepot der Bundeswehr in Lebach, an das Verfahren gegen den Hauptabteilungsleiter Elektronik am Frankfurter Battelle-Institut, Josef Eitzenberger, und an das sog. »Sidewinder«-Verfahren.

Im saarländischen Lebach wurde in der Nacht auf den 20. Januar 1969 ein Munitionsdepot überfallen, ein grausiges Verbrechen, bei dem vier Wachsoldaten ermordet wurden. Mein Vater koordinierte vor Ort die Arbeit von fast 100 Kriminal- und Vollzugsbeamten. Regierungskriminaldirektor Karl Schütz stand als polizeilicher Leiter der Sonderkommission an seiner Seite. Gemeinsam gingen sie Tausenden von Hinweisen nach. Etwa 100 Tage dauerte es, bis der Fall gelöst war und die beiden Täter das Verbrechen gestanden hatten. Mit der Sonderkommission hatte mein Vater ein Schulgebäude bezogen, lebte dort und arbeitete rund um die Uhr. Meine Mutter und ich fuhren an einigen Wochenenden nach Lebach, um ihn wenigstens kurz zu sehen und seine Wäsche auszutauschen.

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Siegfried Buback in Lebach

Es passt zu meinem Vater, dass er die Sonderkommission nicht verlassen wollte, bevor das Verbrechen geklärt war. Jahrzehnte später erzählte mir ein hoher Bundeswehroffizier, in dessen Zuständigkeitsbereich das Lebacher Depot lag, mein Vater habe ihn gleichsam gezwungen, die enorme Menge der dort gelagerten Munition Stück für Stück durchzählen zu lassen, um festzustellen, wie viele Patronen in die Hände der Verbrecher gelangt waren. Trotz der damit verbundenen Mühen hatte diese Gründlichkeit den Offizier offensichtlich beeindruckt. Generalinspekteur Ulrich de Maizière dankte meinem Vater für die genaue Rekonstruktion des Tatgeschehens und schrieb, dies sei eine wertvolle Hilfe, um etwas gegen die schlechte Wachdisziplin in der Bundeswehr zu unternehmen. In Anerkennung seiner Verdienste als Leiter der Lebach-Sonderkommission erhielt mein Vater das Bundesverdienstkreuz »am Bande«, das ihm Justizminister Ehmke überreichte. Auch die ermittelnden Polizisten hätten das Bundesverdienstkreuz verdient, meinten Einzelne. Dies hätte mein Vater sicher gern gesehen, zumal er im Verlaufe der Jahre enge und vertrauensvolle Beziehungen zur fast legendären »Sicherungsgruppe« des Bundeskriminalamts und zu Polizeibeamten der Länder aufgebaut hatte. Aber eine solche Ehrung wäre Sache des Bundesinnenministers gewesen. Ungeachtet dessen zeigte sich auch Karl Schütz über die Ehrung meines Vaters erfreut, denn er gratulierte herzlich. Und als mein Vater Leiter der Karlsruher Behörde wurde, schrieb ihm Karl Schütz, die »Sicherungsgruppe« könne sich nichts Schöneres vorstellen als einen Generalbundesanwalt Buback. Man sei voller Freude und Erwartung. Kriminalisten könnten sich nichts Besseres wünschen, als dass »an die Spitze der höchsten Strafverfolgungsbehörde ein Mann mit reichsten Erfahrungen über die Belange, Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten des unmittelbaren ›Frontbetriebs‹ gestellt wird«.

Im Verfahren gegen Josef Eitzenberger trat 1970 das in meinen Augen in der Bundesanwaltschaft auf dem Gebiet Staatsschutz und Spionage unerreichte Duo Ernst Träger – Siegfried Buback auf. Beide waren Oberstaatsanwälte. Ernst Träger wurde später Bundesverfassungsrichter. Eitzenberger hatte als gebürtiger Österreicher nach dem Zweiten Weltkrieg in Russland gearbeitet, bevor er 1958 die Stelle am Frankfurter Battelle-Institut übernahm. Er war angeklagt, der Sowjetunion fortgesetzt Staatsgeheimnisse verraten zu haben. Der Prozess vor dem 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt fand im 12. Stock des Hessischen Innenministeriums in Wiesbaden statt, da das Gericht dort den besten Schutz vor Abhörmaßnahmen sah. Der Angeklagte verteidigte sich, er habe lediglich wissenschaftliche Fachgespräche mit sowjetischen Kollegen geführt. Als Argument führte er an, auch Bundeskanzler Brandt habe doch als Geheimnisträger in Moskau mit Spitzenpolitikern gesprochen und ihm werde nicht der Vorwurf des Geheimnisverrats gemacht. Vermutlich war mein Vater über diese Äußerung sehr verärgert. Sie veranlasste ihn zu der ironischen Bemerkung: »Hoffentlich weiß der Brandt nicht allzu viel«. Das hatte er zwar leise gesagt, aber Journalisten hatten es gehört. Die Bemerkung wurde publiziert. Generalbundesanwalt Martin verlangte von meinem Vater eine dienstliche Stellungnahme, sah danach aber keinen Anlass für eine Rüge. In der Behörde war man überzeugt, dass mein Vater mit seiner Bemerkung nur aufzeigen wollte, wie abwegig der von Eitzenberger angeführte Vergleich mit Willy Brandt war. Wegen zunehmender Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten geriet der Prozess ins Stocken. Schließlich wurde das Verfahren eingestellt. Allerdings äußerte der Senat, der Tatverdacht gegen Eitzenberger sei so weit erhärtet worden, dass mit seiner Verurteilung wegen Landesverrats zu rechnen gewesen wäre.

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Siegfried Buback und Ernst Träger als Anklagevertreter im »Sidewinder«-Prozess, in dem es gelegentlich recht lustig zuging.

Ebenfalls im Jahre 1970 fand vor dem 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf der Prozess zum Diebstahl einer »Sidewinder«-Rakete statt. Wieder vertraten Ernst Träger und mein Vater die Anklage. In diesem Prozess muss es teils recht amüsant zugegangen sein. Der Vorfall war ja auch kurios: Die drei Angeklagten hatten die Rakete im Jahre 1967 nachts auf dem Bundeswehr-Fliegerhorst in Neuburg an der Donau gestohlen und, da sich die mitgebrachte Sackkarre als zum Transport ungeeignet erwies, auf dem Rücken fortgetragen. Anschließend wurde sie in Einzelteile zerlegt und per Luftfracht nach Moskau verschickt. Nicht einmal dort wollte man das Husarenstück glauben. Selbst der Senatspräsident musste immer wieder lachen und entschuldigte sich bei den Angeklagten mit den Worten, die Sache sei doch zu komisch. Zwei der drei Angeklagten wurden zu vier Jahren Haft, der dritte zu dreieinhalb Jahren verurteilt.

Trotz des hohen dienstlichen Einsatzes meines Vaters dauerte es fast acht Jahre, bis er zum Bundesanwalt befördert wurde. Diese Zeitspanne war enorm, etwa im Vergleich zu derjenigen seines Vorgängers: Ludwig Martin wurde 1951 vom Bundesjustizministerium an die Bundesanwaltschaft abgeordnet, dort bereits fünf Monate später Oberstaatsanwalt und schon 1952 Bundesanwalt. Mein Vater musste sich viel länger gedulden. Er wurde erst am 27. April 1971 Bundesanwalt. Hans Schueler konstatierte am 30. Mai 1974 in der Zeit: »Die bisherige Karriere des neuen Generalbundesanwalts verlief, gemessen an den Erfolgen seiner Arbeit, ungewöhnlich langsam.« Hierzu mag beigetragen haben, dass es damals für Nichtkatholiken eher schwierig war, in der Bundesanwaltschaft befördert zu werden. So nützte es meinem evangelischen Vater auch nichts, dass Generalbundesanwalt Martin 1967 in einem Dienstzeugnis ausführte, mein Vater zeichne sich durch vorbildliches Pflichtgefühl und stete Einsatzbereitschaft aus. »Besonders hervorzuheben sind seine scharfe Beobachtungsgabe und die Selbständigkeit seines Urteils.« Und weiter, er »weiß die Ermittlungen straff und erfolgreich zu führen. Dabei achtet er streng auf die Einhaltung der Verfahrensregeln und die Wahrung der Rechte der Beschuldigten. Einen von ihm als richtig erkannten Standpunkt vertritt der Beamte mit Freimut und Nachdruck, ohne sich jedoch besseren Argumenten zu verschließen.«

Die Begriffe »Freimut« und »Nachdruck« weisen auf Charaktermerkmale meines Vaters hin. Er war nicht der Beamte, der zu allem »Ja und Amen« sagte, sondern er machte seine Gegenvorstellung durchaus deutlich, auch wenn er wusste, dass er sie im Zweifelsfalle nicht gegenüber einem Vorgesetzten würde durchsetzen können. Das Ducken nach oben und Treten nach unten waren seine Sache nicht.

Bundesanwalt

Mit der Beförderung zum Bundesanwalt wurde mein Vater gleichsam offiziell zur »Feuerwehr« der Behörde. Ihm wurde das heikle Ermittlungsverfahren gegen Julius Steiner übertragen, der 1969 über die Landesliste der CDU Baden-Württemberg in den Bundestag gelangt war. Steiner arbeitete, wie man bei Wikipedia nachlesen kann, nach dem Krieg bis 1952 für den französischen Geheimdienst. Dann studierte er Philosophie, Geschichte und Theologie, allerdings ohne Abschluss. Bis 1957 war er für den Verfassungsschutz tätig und danach für den Bundesnachrichtendienst. Bekannt wurde er in Zusammenhang mit dem konstruktiven Misstrauensvotum gegen Willy Brandt am 27. April 1972, durch das Rainer Barzel Bundeskanzler werden wollte. Barzel fehlten dann aber zwei CDU-Stimmen zur absoluten Mehrheit. Steiner erklärte gegenüber dem Spiegel (23/1973), er habe einen weißen Zettel eingeworfen, sich also – obwohl Parteigenosse von Barzel – der Stimme enthalten, da er Brandts Ostpolitik unterstützen wollte. Er behauptete zudem, für diese Stimmenthaltung 50 000 DM vom Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Karl Wienand, erhalten zu haben. Das bestritt Wienand.