Edition OSTEUROPA 1

Boris Dubin (1947–2014) wollte für Russland das, was Adorno und Horkheimer in Deutschland geleistet haben: Selbstaufklärung. Dubins Schriften weisen Russland den Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, uns klären sie über Russland auf. Als Übersetzer eröffnete Dubin Russland neue Landschaften der Weltliteratur. Der Welt eröffnete er mit seinen soziologischen und kulturwissenschaftlichen Analysen Zugang zu Politik und Gesellschaft in Russland.

Die Herausgeber Manfred Sapper, Volker Weichsel und Olga Radetzkaja sind Redakteure der Zeitschrift OSTEUROPA.

Inhalt

Das Unmögliche leben

Boris Dubin zum Gedenken

Boris Dubin (1946–2014) war ein Phänomen. Seine Vielseitigkeit, Belesenheit und Produktivität suchten ihresgleichen. Er war in der Literatur und der Philologie ebenso zu Hause wie in der Soziologie, der europäischen Zeitgeschichte und der Kulturwissenschaft, in der politischen Ideengeschichte ebenso wie in der Medientheorie.

Die Texte des vorliegenden Bandes entfalten dieses beeindruckende Spektrum. Insbesondere der einleitende Aufsatz „Das andere und das virtuelle Europa“, ist exemplarisch für Dubins Denken, das sich um disziplinäre Grenzen wenig kümmerte: Er deutet die Werke ostmitteleuropäischer Schriftsteller, insbesondere deren Diskussion über „Mitteleuropa“, mit dem soziologischen Instrumentarium der Modernisierungs- und Globalisierungstheorie. Als profunder Kenner der verschiedenen Nationalliteraturen kann Dubin zeigen, wie diese Intellektuellen Anschluss an die westliche Moderne gewinnen wollten und zugleich durch die Reflexion der spezifischen Erfahrungen ihres historischen Raums selbst die Begriffe für eine globale Moderne prägten.

Für Boris Dubin war das Politische ohne dessen kulturelle Voraussetzungen nicht zu verstehen. Dazu passt, dass eine seiner frühesten Leidenschaften der Lyrik galt. Seine ersten Gedichte trug er in einem Underground-Zirkel junger Literaten vor – unter dem Damoklesschwert von Zensur und Repression. Es dauerte nicht lange, bis diese Gruppe von den sowjetischen Behörden aufgelöst wurde. Das schärfte Dubins Bewusstsein für die Bedeutung von Sprache und immunisierte ihn gegen die Zumutungen autoritärer Herrschaft.

Als Übersetzer erschloss Dubin Russland den Zugang zu neuen Bereichen der Weltkultur. Sein Schaffen reicht von französischer Lyrik des Mittelalters und der Renaissance bis zu Essays von Giorgio Agamben, Isaiah Berlin oder Susan Sonntag. Er übersetzte Gedichte und Prosa von Guillaume Apollinaire, Jorge Luis Borges, Emil Cioran, Octavio Paz oder Fernando Pessoa, machte die russischen Leser mit Bruno Schulz bekannt und übertrug mehrere polnische Autoren ins Russische, darunter Czesław Miłosz. Das OEuvre des Übersetzers Dubin ist in Deutschland verständlicherweise unbekannt.

Seine theoretischen Überlegungen zur Kunst des Übersetzens aber sind eine höchst anregende Lektüre, denn Übersetzen ist ein Schlüssel zur Durchdringung der Welt.

Als es dank der Perestrojka möglich wurde, seriöse soziologische Forschung zu betreiben und die Ergebnisse zu publizieren, wurde Dubin zu einem Pionier der empirischen Sozialforschung in Russland. In dem neu gegründeten Meinungsforschungszentrum VCIOM (ab 2003 „Levada-Zentrum“), war er einer der tragenden Pfeiler. An nahezu allen grundlegenden Forschungsprojekten des Zentrums wirkte Dubin maßgeblich mit, so auch an den Untersuchungen der Werte und Normen des Homo Sovieticus. Dieses Projekt, das in seiner theoretischen Fundierung und empirischen Substanz längst aus dem Schatten von Erich Fromms, Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Studien über den autoritären Charakter herausgetreten ist, wird bis heute weitergeführt und liefert überzeugende Erklärungen zur autoritären Herrschaft in Russland und ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen.

Die westliche Soziologie nimmt diese Arbeiten nicht in dem Maße zur Kenntnis, wie es für komparative Analysen notwendig wäre. Dieser mangelnden Rezeption entgegenzuwirken und Dubins Texte einem größeren westlichen Publikum zu erschließen – ähnlich wie er selbst in seinem „Europa“- Aufsatz die Intellektuellen Ostmitteleuropas in die europäische Moderne eingemeindet –, ist eines der Ziele des vorliegenden Bandes.

Wer die Funktion der Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ für das Putinsche Russland verstehen will, kommt an dem Gesellschaftsanalytiker Dubin nicht vorbei. Und wer seine herrschaftssoziologischen Analysen über die frühe Putin-Periode liest, wird beeindruckt sein von der analytischen Schärfe und der Präzision, mit der er die spätere Entwicklung des Regimes vorhersagt.

Der Tod dieses bedeutenden Intellektuellen, der im persönlichen Umgang durch Bescheidenheit, Empathie und menschliche Wärme bestach, hinterlässt eine große Lücke. Als „einer der wenigen, die Kultur global denken konnten“ (Michail Jampol’skij) und als echter Vermittler zwischen verschiedenen intellektuellen Welten ist er kaum zu ersetzen; als Europäer par excellence für ein westliches Publikum noch zu entdecken.

Boris Dubin war vor allem ein leidenschaftlicher Aufklärer – der intellektuellen und persönlichen Freiheit verpflichtet, die keine nationalen Grenzen kennt. In einem Moment großer Entfremdung zwischen Russland und der Europäischen Union, die mit Russlands Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine einsetzte, erinnert sein Werk uns daran, dass es auch ein anderes, besseres Russland gibt.

Manfred Sapper, Volker Weichsel, Olga Radetzkaja

Auf allen Stühlen

Lev Gudkov über Boris Dubin

OSTEUROPA: Was bedeutet für Sie der Tod von Boris Dubin?

Lev Gudkov: Mir fällt es sehr schwer, das in Worte zu fassen. Boris war ein Teil meines Lebens. Wir haben 35 Jahre lang zusammengearbeitet. Das ist mehr als die Hälfte unseres Lebens. Fast die Hälfte seiner und meiner Publikationen haben wir zusammen geschrieben. Wir haben ein gemeinsames Ideenspektrum entwickelt. Daher ist es schwer, meine Arbeit von seiner zu trennen. Das war unser Leben, das waren unsere gemeinsamen Ideen und Entwicklungen.

OSTEUROPA: Wann lernten Sie sich kennen?

Gudkov: Das war 1977. Damals war ich gerade aus dem Institut für wissenschaftliche Information der Gesellschaftswissenschaften (INION), „wegen ideologisch fragwürdiger Tätigkeit“ entlassen worden. Auf Empfehlung des renommierten Soziologen Vladimir Šljapentoch begann ich in der Abteilung für Buchkunde und Leseforschung an der Leninbibliothek zu arbeiten. Dort war auch Boris beschäftigt. Anfangs wollte ich einfach meine Ruhe haben und mich mit Max Weber beschäftigen. Aber die Forschungen dieser Abteilung waren derart interessant, dass wir ein kleines, internes Seminar abhielten.

OSTEUROPA: War das eines der berühmten Seminare von Jurij Levada?

Gudkov: Nein, die hatten ja schon Ende der 1960er Jahre stattgefunden. Aber wir ahmten es in der Tat nach. Wir versuchten, neue soziologische Ansätze mit der Literaturwissenschaft zu verbinden. Alle Daten aus den wichtigsten öffentlichen Bibliotheken der Sowjetunion über die gelesene Literatur liefen in unserer Forschungsabteilung zusammen. Niemand konnte jedoch diesen Datenbestand vernünftig analysieren. Zunächst ergab sich die Frage: Wie analysiert man mit soziologischen Kategorien Literatur und wie durch das Prisma der Literatur auch gesellschaftliche Prozesse? Dafür mussten wir zunächst eine Sprache entwickeln, um literarische Phänomene in soziologische Kategorien zu übersetzen. Das war eine atemberaubende Aufgabe.

OSTEUROPA: Begannen Sie bei null?

Gudkov: Wir mussten uns zunächst den internationalen Forschungsstand zur Literatursoziologie erarbeiten. Da unsere Arbeiten nicht publiziert werden durften, stellten wir die gesamte Struktur der Disziplin in Form eines bibliografischen Verzeichnisses dar und formulierten so das Forschungsfeld. Diese Bibliographie zur Literatursoziologie war die dritte weltweit.1 Wenn es keine oder nicht ausreichende soziologische Forschungen zu einem bestimmten Thema gab, zogen wir Arbeiten zur Hermeneutik und Phänomenologie der Literatur zurate. Wir schufen ein strukturfunktionales Modell der Literatur als soziale Institution, um damit die Gesellschaft und ihre Ideologie zu analysieren. Hier stießen wir erstmals auf das Phänomen der nicht abgeschlossenen, nachholenden Modernisierung und aller damit verbundenen Probleme. Bei dieser Arbeit mit Boris taten sich permanent neue Möglichkeiten auf. Wir hatten den Eindruck, alle 30 Minuten entstehe eine neue Idee.

OSTEUROPA: Von Haus aus waren Sie aber keine Literatursoziologen…

Gudkov: Das stimmt. Boris hatte Philologie an der Moskauer Staatsuniversität (MGU) studiert. Er war also in erster Linie Sprach- und Literaturwissenschaftler, außerdem unterrichtete er Russisch als Fremdsprache. Aber er hatte von Anfang an auch eine ganz andere Seite: Er fing als Dichter in der Underground-Vereinigung SMOG an. Die Abkürzung SMOG hatte viele Bedeutungen, aber am verbreitetsten war Samoe molodoe obščestvo geniev, auf Deutsch „Jüngster Genietrupp aller Zeiten“. Natürlich wurde diese Vereinigung von den Behörden aufgelöst. Um sich keine weiteren Probleme aufzuhalsen, hatte auch Boris eine Stelle an der Leninbibliothek angenommen. Seine Aufgaben dort waren eher technischer Art. Er hatte zunächst vorgehabt, sich den Dingen zu widmen, die ihm persönlich wichtig waren, vor allem dem Übersetzen. Als wir uns kennenlernten, waren seine Übersetzungen von Jorge Luis Borges oder Mark Twains „Der Prinz und der Bettelknabe“ sowie Übertragungen aus der französischen und polnischen Poesie schon bekannt. Dann entstand unser gemeinsames soziologisches Projekt. Und alles kam anders. Ich hatte Journalismus an der MGU studiert und besuchte eine der Vorlesungsreihen von Jurij Levada. Später arbeitete ich in seiner Abteilung und schloss mich dem großen Projekt von Levada an – „Theorien zur Methodologie der Sozialforschung“. Ich bekam ein eigenes Thema zugeteilt: die deutsche Soziologie, unter anderem die Methodologie von Max Weber.

OSTEUROPA: Wann durften Sie denn Ihre erste gemeinsame Arbeit in der Sowjetunion veröffentlichen? War das erst in der Perestrojka?

Gudkov: Nein, bereits zuvor. Unser Projekt zur Literatursoziologie löste heftige Diskussionen aus. In unserer Abteilung in der Leninbibliothek arbeitete Mariėtta Čudakova. Sie war ebenfalls bei ihrer vorherigen Arbeitsstelle rausgeflogen. Nun organisierte sie eine Reihe von Konferenzen, die Tynjanov-Lesungen. Deren Ziel war es, die Arbeiten der russischen Formalisten wiederaufzunehmen, zu denen eben jener Jurij Tynjanov, aber auch so prominente Literaturwissenschaftler wie Boris Ėjchenbaum oder Viktor Šklovskij gehört hatten. Mariėtta lud uns zu diesen ersten und zweiten Tynjanov-Lesungen ein. Wir stellten dort unsere Ideen zur Soziologie der Literatur vor und stießen bei den Philologen und Literaturwissenschaftlern auf Befremden und Ablehnung. So hatten wir etwa eine polemische Diskussion mit Lotman. Gleichwohl war der „Funke übergesprungen“, wie Čudakova es damals ausdrückte. Der Sammelband, der aus den Tynjanov-Lesungen hervorging, war unsere erste Publikation.2

OSTEUROPA: In seinem Nachruf auf Boris Dubin beschreibt Michail Jampol’skij diese Situation, in der Boris Dubin und Sie auf die Literaturwissenschaftler stießen, die alle mit Intertextualität beschäftigt waren. Woher kam diese Ablehnung?

Gudkov: Die Geisteswissenschaften sind in der Regel das Werk Einzelner, das Ergebnis der Kreativität eines Interpreten oder eines Philologen. Die Soziologie befindet sich in einem anderen Stadium. Sie basiert auf der Arbeit in Forschergruppen und verwendet komplexe theoretische und konzeptionelle Modelle. Man kann das mit dem Verhältnis von handwerklicher zur industriellen Produktion vergleichen. In der Soziologie ist die Rolle des Einzelnen, sei es als Erfinder, Entdecker oder als Autor, viel bescheidener. Unsere Arbeit stieß auf Ablehnung, weil unsere Theorie und Herangehensweise als kollektivistisch wahrgenommen wurden. Das Weltbild der Philologie und der Literatur in Russland war im Kern sehr konservativ. Die Aufgabe, ja die Mission der Philologie sei es, den Sinn und die Kultur der russischen Literatur während der sowjetischen Epoche der Repressionen zu erhalten. Daher sah sich jeder Philologe wenn nicht als Genie, dann zumindest als Schriftsteller. Er musste originelle, d.h. auch sprachlich interessante Texte liefern. Das war reine Ideographie. Das passte nicht zu unseren generalisierenden Modellen.

OSTEUROPA: Was bedeutete das für Boris Dubin?

Gudkov: Es wirkte sich unmittelbar auf das Schicksal von Boris und auf seine Rolle aus. Boris hatte nicht nur eigene Ideen. Er war auch in diesem Rahmen ein Übersetzer im höchsten Sinne des Wortes. Er verband unterschiedliche Welten der russischen Gesellschaft und Geisteswissenschaft. Die Ideen, die Zugänge zur Realität und die Interpretationen der Soziologie übertrug er in die Welt der Philologie und der Geisteswissenschaften. Und den ganzen Reichtum kultureller Interpretationen, seine tiefe Kenntnis der Kulturgeschichte und die inhaltliche Vielfalt, die er aus der Literatur kannte, übertrug er in die Soziologie. Insofern spielte er eine einzigartige Vermittlerrolle. Das Leben in der Sowjetunion war ein Leben in geschlossenen Gemeinschaften, die voneinander streng getrennt waren. Darauf basierte auch die Bildung an den Fakultäten der Universitäten. Im Unterschied zum Westen konnte man nicht die Disziplin wechseln oder verschiedene Fächer studieren. So lebten alle in ihren eigenen Käfigen, ohne aus einer Sphäre in die andere zu wechseln. Boris verband die Leute. Das war aus meiner Sicht seine wichtigste Rolle. Bis heute füllt niemand diese Rolle so aus wie er. Deshalb sind viele ihm heute so dankbar.

OSTEUROPA: Was befähigte ihn dazu?

Gudkov: Er war im strengen Sinne kein Soziologe. Die Soziologie als Wissenschaft, die ein neues Instrumentarium und eine neue Vorstellung vom Menschen entwickelt, interessierte ihn nicht. Er nahm das fertige Material. Jurij Levada bedeutete ihm viel mehr: Viele seiner Ideen entstand im Austausch mit Levada, in unserem Freundeskreis, in dem Levada die unbestrittene Autorität war. Diese Ideen entfaltete Boris und reicherte sie mit geisteswissenschaftlichem Material an, das in Russland kaum bekannt war. Boris Dubin beschäftigte sich nicht nur mit Soziologie, sondern auch mit Hermeneutik, Phänomenologie, Kulturgeschichte und vor allem Begriffsgeschichte. In Russland hat es ja keine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem inhaltlichen Kern zentraler Begriffe gegeben. Boris interessierte sich dafür sehr. Für die Philologie und Geisteswissenschaften hat sein Ansatz neue Perspektiven eröffnet, wie man mit dem inhaltlichen Material überhaupt arbeiten kann. Das wurde lange Zeit stur abgelehnt, aber nach 20 Jahren drang es allmählich doch. So wurde Boris für viele Literatur- und Kulturwissenschaftler vielleicht kein Lehrer, aber eine Art Vergil – ein Begleiter in andere Welten.

OSTEUROPA: War er in jeder dieser Welten heimisch und anerkannt, oder war er überall fremd?

Natal’ja Zorkaja, Boris Dubin und Lev Gudkov 1988 bei den 3. Tynjanov-Lesungen in Rēzekne, Lettland

Gudkov: Fremd nicht, aber er gehörte jeder Gruppe nur zum Teil an. Er war weder ein reiner Soziologe, noch voll und ganz Philologe oder Historiker. Die Übersetzer sahen ihn als Übersetzer und Soziologen, unter Philologen galt er als Soziologe und Übersetzer. Für die Soziologen war er auch ein Philologe, vor allem aber ein Mensch von einer beeindruckenden Intelligenz und Urteilskraft. Levada pflegte zu sagen, dass es für uns eine Ehre sei, mit Boris zu arbeiten.

OSTEUROPA: Welcher dieser Boris Dubins war in Russland der bekannteste?

Gudkov: Bis in die 1990er Jahren war es der Übersetzer Dubin. Später war es der Literatursoziologe und Soziologe des Levada-Zentrums. Er war vor allem bekannt als brillanter Analytiker und Kommentator der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, als Autor und Mitarbeiter des Projekts „Homo Sovieticus“ oder wie es bei uns auf Russisch heißt „Sovetskij prostoj čelovek“.3

OSTEUROPA: Dieses Projekt begann mit der Perestrojka. Wie hat sich damals Ihre Arbeit verändert?

Gudkov: Fundamental! Unser letztes Projekt vor der Perestrojka hatte sich der Analyse der Zeitschriftenkultur gewidmet. In der Sowjetunion war die Leserschaft der Zeitungen und der Bücher in öffentlichen Bibliotheken mehr oder weniger erforscht. Es gab aber keine einzige Studie zur Zeitschrift als Medium der Kommunikation zwischen Gruppen. Hier betraten wir Neuland. Wir interessierten uns gerade für die Beziehungen zwischen Gruppen, für die Entstehung sozialer Kommunikation. Wir nahmen die Zeitschrift als Prisma, durch das wir das kulturelle und gesellschaftliche Leben betrachteten. Eine Zeitschrift ist ja wie ein Tagebuch. Gleichzeitig organisiert sie das Kulturleben und strukturiert die Öffentlichkeit. Wir widmeten uns dem Charakter dieser Zeitschriften, untersuchten die Auflage und die Struktur der Abonnements. In der Sowjetunion gab es in erster Linie institutionelle Abonnements. Betriebe und Organisationen bezogen die Zeitschriften. Daneben gab es einige private Abonnements. Zeitschriften genossen also die Unterstützung unterschiedlicher sozialer Gruppen. Mit Hilfe einer Untersuchung der Leserschaft wollten wir sehen, was sich in der Sowjetunion veränderte. Als wir unsere Ergebnisse auf eine Landkarte übertrugen und jedem Gebiet seine eigene politische Zeitschrift oder Literaturzeitschrift zuordneten, hatten wir eine Karte vor uns, auf der – wie sich später herausstellen sollte – alle künftigen ethnopolitischen Spannungen und Nationalitätenkonflikte zu sehen waren. In den Jahren 1985–1987 gewannen die nationalen Eliten der Republiken an Selbstbewusstsein. Dieser Prozess verlief primär über Kommunikationsmittel wie die Literaturzeitschrift in der jeweiligen Nationalsprache. Die Erhöhung der Auflage bedeutete die Erweiterung der Leserschaft und war ein Indikator für die Konsolidierung des nationalen Bewusstseins.

OSTEUROPA: Das heißt, dass etwa die nationale Elite und ein wachsender Teil der Bevölkerung in Litauen in dieser Phase nicht mehr Družba narodov, sondern Kultūros barai lasen?

Gudkov: Ja. Und so war es in jeder Unionsrepublik. Dadurch konnten wir sehen, wo der Druck am stärksten wuchs. In der Ukraine waren die Russifizierung und die Zensur sehr stark, dort wurden diese Medien ganz unterdrückt und private Abonnements sehr eingeschränkt. In Georgien, Armenien und in den baltischen Staaten war die nationale Konsolidierung im Gang.

OSTEUROPA: Das konnten Sie nun veröffentlichen?

Gudkov: Ja, Boris und ich publizierten unsere Arbeiten zur Literatursoziologie, zum Buchmarkt, zur Parteikontrolle im Verlagswesen sofort. Es war die Zeit des Zeitschriftenbooms, der explodierenden Auflagen. Literatur, die nie hatte erscheinen dürfen, wurde nun veröffentlicht. Znamja und Družba narodov, in denen auch wir unsere Studien publizierten, hatten nun eine Auflage von einer Million. Das hat es danach nie mehr gegeben.

OSTEUROPA: Sie wandten sich in dieser Zeit auch anderen Fragen zu.

Gudkov: Für uns begann ein anderes Leben. 1989 führten wir zum ersten Mal eine Umfrage zur KPdSU durch. Wir stellten die bis dahin unerhörte Frage: Braucht man die Partei? Wir wandten uns dem Problem der Bürokratie zu, untersuchten den russischen Nationalismus, interethnische Beziehungen und ethnopolitische Konflikte. Wir entwickelten das Forschungsdesign für den Homo Sovieticus, das Projekt schreiben wir bis heute fort. Das war eine große, systematische Arbeit, völlig neu und ungemein spannend.

OSTEUROPA: Die Perestrojka bedeutete auch eine Öffnung nach außen!

Gudkov: Die Welt hat sich plötzlich geöffnet! Das können Sie sich gar nicht vorstellen! Wir hatten jahrelang, sogar jahrzehntelang in der Bibliothek gesessen. Plötzlich stellten wir fest, dass ein westlicher Autor nicht bloß ein Name, eine Buchstabenkette ist, sondern ein realer Mensch, der laufen und sprechen kann! Das war ein sehr starkes Erlebnis! Vor der Perestrojka war der Westen für uns eine ideale Welt: die Welt der Freiheit. Es war aber auch eine irreale Welt. Noch 1988 durften wir nicht nach Polen. Und dann konnten wir ausreisen und sahen ein anderes Leben. Das war sehr aufregend! Boris reiste nach Frankreich. Er traf sich mit Menschen wie Yves Bonnefoy, deren Werke er übersetzt hatte. Er korrespondierte mit Susan Sonntag, reiste nach Polen, um sich dort mit „seinen“ Autoren auszutauschen. Eine existenzielle Erfahrung!

OSTEUROPA: Ihre soziologischen Forschungen in Russland berührten den Kern der Macht. Haben Sie oder Boris jemals darüber nachgedacht, in die Politik zu gehen oder zumindest das gemacht, was in Deutschland „Politikberatung“ heißt?

Gudkov: Nein, nie. Anfangs hatten wir uns sogar dagegen gewehrt, in der breiten Öffentlichkeit aufzutreten und uns auf aktuelle politische Fragen einzulassen. Wir hatten solch ein breites Spektrum an Forschungsfragen, wissenschaftlichen und publizistischen Aufgaben, dass für die Politik schlicht keine Zeit blieb. 1994 veröffentlichten wir unseren gemeinsamen Band „Literatur als soziale Institution“, 1995 das Buch über die „Intelligencija“, dann in Zusammenarbeit mit Vittorio Strada eine Einführung in die Literatursoziologie.4 Gleichzeitig arbeitete Boris weiter als Übersetzer. Nach Putins Amtsantritt 1999/2000 wurde das politische Feld zunehmend eingeschränkt. So hatten wir immer weniger Möglichkeiten. Wir konnten zwar arbeiten, fühlten uns aber wie in einer Sackgasse. Unsere Arbeit als Soziologe in Russland ähnelt immer stärker der Tätigkeit eines Pathologen. Dieser seziert und untersucht eine Leiche. Wir erforschen eine sterbende Demokratie oder gar eine sterbende Gesellschaft. Das wollte Boris nicht länger. Er konzentrierte sich daher wieder stärker auf die Vermittlung zwischen verschiedenen Welten.

 

1 Kniga, čtenie, biblioteka: Zarubežnye issledovanija po sociologii literatury: Annotirovannyj bibliografičeskij ukazatel za 1940–1980 gg. Sost. L. Gudkov, B. Dubin, A. Rejtblat. Moskva 1982.

2 Tynjanovskij sbornik. Pervye Tynjanovskie čtenija. Riga 1984.

3 Sovetskij prostoj čelovek. Opyt social’nogo portreta na rubeže 90-ch. Moskva 1993. – Deutsch: Jurij Levada: Die Sowjetmenschen. Soziogramm eines Zerfalls. Berlin 1992.

4 Lev Gudkov, Boris Dubin: Literatura kak social’nyj institut. Staťi po sociologii literatury. Moskva 1994. – Lev Gudkov, Boris Dubin: Intelligencija. Zametki o literaturno-političeskich illjuzijach. Mokva 1995. 2-e izdanie, ispravlennoe i dopolnennoe. St. Peterburg 2009. – Lev Gudkov, Boris Dubin, Vittorio Strada: Literatura i obščestvo. Vvedenie v sociologiju literatury. Moskva 1998.

Das „andere“ und das „virtuelle“ Europa

Ostmitteleuropäische Intellektuelle nach 1945

Die Revolutionen in Ostmitteleuropa und der Zerfall der UdSSR lösten ein Gefühl der Freiheit, des Lebens in einer „Welt ohne Grenzen“ aus.5 Die Globalisierung schien nun unaufhaltbar. Allerdings hatte bereits in den viereinhalb Jahrzehnten vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Sturz der kommunistischen Parteiherrschaft in Westeuropa eine Protoglobalisierung in Gestalt einer „Amerikanisierung“ stattgefunden.6 Die politischen und kulturellen Eliten Ostmitteleuropas wurden davon jedoch kaum berührt. Weder begriffen sie die Vereinigten Staaten als Vorbild, noch gewannen sie ihre Identität aus der Abgrenzung von den USA. Es scheint, als habe das Phänomen der Globalisierung, ja bereits das von der westlichen Wissenschaft und Publizistik entwickelte Konzept „Globalisierung“ für die Intellektuellen Ostmitteleuropas bis in die 1980er Jahre keine Rolle gespielt. Doch dies ist nicht ganz richtig.

Globalisierung und Modernisierung

Die meisten gängigen Globalisierungskonzepte betonen die Zweck-Mittel-Rationalität des Verhaltens von Individuen, Gruppen und Gesellschaften sowie kommunikative und organisatorische Aspekte:7 die Zunahme sozialer, kultureller und räumlicher Mobilität; wachsende Informationsströme, die geographische, politische und soziale Grenzen ungehindert überschreiten und lediglich von universalen Rechtsnormen und verallgemeinerten Kommunikationsformen gelenkt werden. Kurz: Es geht um Modernisierungsprozesse.

Nachdem in den am weitesten fortgeschrittenen Staaten mit dem Aufbau einer stabilen demokratischen und marktwirtschaftlichen Ordnung eine bestimmte Phase der Modernisierung zum Abschluss gekommen ist und reflexiv verarbeitet wurde, ist wohl auch jenes axiologisch extrem aufgeladene kulturelle Programm an ein Ende gekommen, das in Europa vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis ungefähr zur Mitte des 20. Jahrhunderts formuliert und entwickelt wurde.

In sozialer Hinsicht meint der Begriff „Modernisierung“ eine ständige Ausdifferenzierung der Handlungsgrundlagen und Handlungsformen sowie der Subsysteme der Ökonomie, der Politik, des Rechts und der Kultur. Ein Aspekt dieser Differenzierung ist die funktionale Teilung in Zentrum und Peripherie einer Gesellschaft, in einer späteren Phase dann in Zentren und Peripherien eines ganzen Systems von Gesellschaften. Damit gehen Spannungen, manchmal sogar symbolische Brüche zwischen diesen Knotenpunkten eines sozialen Systems einher. Betrachtet man diesen Vorgang unter dem Aspekt der „historischen Zeiten“, so bedeutet er eine wachsende Ungleichzeitigkeit verschiedener Handlungsebenen und Handlungstypen.

Hierher rühren Vorstellungen wie die des „Überholens“, der „Rückständigkeit“, der „Verspätung“, sogar der „Rückbewegung“ oder der „Rückkehr“ des Früheren auf der Grundlage des Neuen. Genaugenommen geht es um Rhythmen der Organisation von Handlungen, um Metren der Geschichte. Die Vielzahl der sozialen und kulturellen Räume und Zeiten, ihre inkongruenten, sich teilweise aber überschneidenden und komplex aufeinander bezogenen Grenzen, die Grenzen der individuellen und kollektiven Identität, die eine moderne Gesellschaft konstituieren, fordern zwangsläufig eine Idee, ein Programm, ein kulturelles Projekt, das die zahlreichen komplexen, vorgestellten, auf Konventionen beruhenden individuellen und kollektiven Identitäten zu integrieren vermag. Erst das Zusammenwirken all dieser historischen Umstände hat letztlich auch zur Entstehung einer Schicht von freien, im öffentlichen Raum agierenden Intellektuellen geführt, die dieses Programm formulierten, unterstützten und in gewissem Maße auch realisierten.

In kultureller Hinsicht kann man die Modernisierung in erster Linie als das Problem verstehen, auf der einen Seite symbolische Identifikationsmöglichkeiten herzustellen und auf der anderen Seite neue, verallgemeinerte, „moderne“ Formen der Regulierung des Verhaltens herauszuarbeiten, die jenseits der einen stabilen Tradition, des Rituals oder Brauchs, aber auch der unmittelbar verbindlichen einen Norm liegen. Die intellektuellen Gruppen moderner Gesellschaften übernehmen die Aufgabe, solche Symbole einer individuellen und kollektiven Identität auszuarbeiten, diese in eine Ordnung zu bringen und zum Teil auch zu verbreiten.

Ostmitteleuropa als Laboratorium der Moderne

Die Situation der Intellektuellen in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg kann man als eine Art historisches Laboratorium der Moderne beschreiben, als Enklave der „Rückständigkeit“, einer „verschobenen“ Modernisierung. Die Rede ist von Ländern, die mehrere Jahrhunderte an der Peripherie konkurrierender Imperien wie des Russischen Reiches, Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches lagen, von Orten der Koexistenz und Kollision verschiedener Religionen (Judentum, Islam, östliches und westliches Christentum), von der Region, in der die Anfänge sowohl der zionistischen Bewegung als auch des Chassidismus lagen. Diese Länder brachten im 20. Jahrhundert „autochthone“ autoritäre Regime hervor, waren Opfer zahlreicher militärischer Eroberungen und Umstürze und schließlich Objekt der Expansion der zwei größten totalitären Systeme, des Kommunismus und des Nationalsozialismus. Das zwang die Völker, die Intellektuellen und die Herrschenden zu einem langen (wenn auch nicht so langen wie in der Sowjetunion) Prozess der wechselseitigen Anpassung.

Die intellektuellen Schichten dieser Region sind historisch eng mit der Bürokratie und der Armee verbunden. Sie waren nicht als eigenständige soziale Kräfte entstanden, deren Interaktion und Selbstorganisation „Gesellschaft“ konstituiert, und auch nicht den Prinzipien der ökonomischen Konkurrenz und den Strukturen des Markts verpflichtet. Vielmehr hingen diese Intellektuellen immer vom Staat, vom „höheren Willen“ des Monarchen, des autoritären Führers und der hinter ihm stehenden Gruppen und Cliquen ab. Dieser spezifische soziale Aufbau hatte zur Folge, dass in Ostmitteleuropa erst vergleichsweise spät und unter erschwerten Bedingungen eine Mittelschicht entstand. Deren schwache soziale Position ist eine der Ursachen für die allgemeine politische Instabilität der Region; zudem wirkt sie sich wiederum erschwerend auf die Selbstidentifikation der Intellektuellen aus.

Die Intellektuellen, die der Staat als Schicht überhaupt erst hervorgebracht hatte, wurden zu Fackelträgern der Modernisierungsideen der Herrschenden. Im Zuge der vom Staat initiierten Modernisierung erlangten sie gesellschaftliches Gewicht und wurden zu einer sozialen Kraft. Doch die Spannungen zwischen „alt“ und „neu“, „Tradition“ und „Moderne“, die in allen sich modernisierenden Gesellschaften existieren, wurden in Ostmitteleuropa durch die Nähe zwischen Intellektuellen und Herrschenden noch verstärkt; der Appell an das „Volk“, das die traditionelle Lebensform und das traditionelle Denken verkörperte, geriet in Konflikt mit der „Kultur“, die in vielerlei Hinsicht auf den Westen, auf das „große Europa“ bezogen war. Zum wichtigsten ideologischen und kulturellen Konzept, das diese Spannungen integrieren sollte, wurde die „Nation“.

In dieser Situation wurde für die Intellektuellen die kollektive Selbstverständigung zur zentralen Aufgabe und zu einem ständigen Problem, und die Konstellation der Nachkriegszeit in Ostmitteleuropa perpetuierte diese Entwicklung der vorhergehenden Jahrzehnte, ja verschärfte sie sogar. Die Probleme, Konflikte und Perspektiven einer symbolischen Identifikation „modernen“ Typs wurden hier unter räumlich und zeitlich besonders konzentrierten Bedingungen bearbeitet, in einer geschlossenen Gesellschaft, in einem kulturellen Zwischenraum, in individueller Unfreiheit, in Existenzund Interaktionsformen wie dem „Underground“ oder der Emigration. Es sind zum Teil dieselben Probleme und Perspektiven, die heute als aktuelle Phänomene der Globalisierung bzw. als spontaner Widerstand gegen diese identifiziert werden: Prozesse der Glokalisierung (R. Robertson), der Fragmentierung, der Hybridisierung und Kreolisierung von Kulturen (N. García Canclini, U. Hannerz); das Entstehen einer „nomadischen Identität“ oder Diaspora-Identität (M. Joseph, R. Braidotti), ästhetischer Formen der Repräsentation des Ichs und des „Spielens mit der Sozialität“ (Maffesoli, Welsch).8 Die ostmitteleuropäischen Gesellschaften waren in der Nachkriegszeit in vielerlei Hinsicht durch eine (nach dem Vorbild der Sowjetunion) blockierte Differenzierung gekennzeichnet. Charakteristika solcher Gesellschaften sind eine scharfe Asymmetrie zwischen den Herrschenden und den Beherrschten, eine ständige Opposition von „Staat“ und „Gesellschaft“, von „Macht“ und „Kultur“. Die Blockade von sozialem Fortschritt und kultureller Ausdifferenzierung führte zur Entstehung des Phänomens des „Underground“. Dieser repräsentierte für die Bildungselite eine Art transformierte, kompensatorische Kultur, eine „zweite Kultur“. Lebensweisen, Zugehörigkeitssymbole und Kommunikationsformen, die für diese Schicht von elementarer Bedeutung waren, wurden so aus dem öffentlichen Leben ins Private verdrängt, wo sie entweder überhaupt nicht institutionalisiert wurden oder von außen als „informelle“ oder sogar „illegale“ Institutionen betrachtet wurden (eine Sichtweise, die übrigens auch innerhalb dieser Gemeinschaften angenommen wurde). Im Selbstverständnis der Intellektuellen wurde so ein systematisches Doppeldenken etabliert und verfestigt, eine doppelte Rechnung, eine Spaltung des Lebens in ein offizielles und ein inoffizielles.9 Gleichzeitig sahen sie sich gezwungen, in ihrer Selbstdefinition eher diffuse Konzepte wie das der „Moral“ und wenig rationalisierte Kategorien wie „das rein Menschliche“ zu betonen.

Gewisse Versuche, Formen eines institutionalisierten Lebens unter den Bedingungen des Underground zu schaffen, unternahmen die Dissidenten. Sie operierten mit einem klaren Begriff vom Menschen als „Bürger“, als Subjekt universaler, unveräußerlicher Rechte und Freiheiten und versuchten, soziale Institutionen wie Zeitschriften, Clubs und sogar Universitäten zu gründen und zu etablieren. Da es nur in sehr eingeschränktem Maße möglich war, solche Ideen und Lebensformen zu entwickeln, gingen viele Intellektuelle in die Emigration.

Das Selbstverständnis ostmitteleuropäischer Intellektueller

Die wichtigsten Linien, entlang derer sich das Selbstverständnis ostmitteleuropäischer Intellektueller in der Nachkriegszeit orientiert, verbinden drei neuralgische Punkte: Macht, Nation und Massenkultur. Diese Begriffe stehen für drei soziale Instanzen, zu denen sie Position beziehen mussten: die UdSSR (das Regime, das militärische Gewalt und ideologische Konformität verkörperte), die USA (eine idealisierte Gemeinschaft des Wohlstands und der Ursprung der Massenkultur) sowie die eigene nationale Gemeinschaft als kulturelles Ganzes (in konsequenter und expliziter Abgrenzung zu dem in der Erinnerung lebendigen deutschen Nationalsozialismus und dem offiziellen Nationalismus, der in einigen sowjetischen Satellitenstaaten wie Rumänien, Ungarn und Polen besonders ausgeprägt war10).

Die höchsten Werte und die allgemeinen anthropologischen Vorstellungen der Intellektuellen waren im Großen und Ganzen vom Christentum bestimmt, sei es von Religion und Kirche, oder aber von christlicher Kultur und Tradition, die den Alltag durchdrangen. Der Protestantismus und der Katholizismus gewannen zudem dadurch an Bedeutung, dass sie ein Bindeglied zum „großen Europa“, zum Westen darstellten.11

Gegenüber verschiedenen gedanklichen Adressaten konstruierten die ostmitteleuropäischen Intellektuellen unterschiedliche Projektionen ihrer eigenen sozialen Rolle: Der Intellektuelle als Aufklärer, als Lehrer, als Dissident und Bürgerrechtler, als „Europäer“, als „Opfer“, als „kleiner Mensch“. Entsprechend dem jeweiligen Selbstverständnis wurden auch verschiedene symbolische Codes verwendet und unterschiedliche rhetorische Ressourcen mobilisiert.

Die ostmitteleuropäischen Intellektuellen nahmen überwiegend positiv Bezug auf das „Gemeinsame“; jeden „Elitismus“ oder „Angelismus“, wie Czesław Miłosz es ausdrückte, lehnten sie ab. Sie operierten mit Kollektivbegriffen wie dem „Proletariat“ oder den „Arbeitern“, oder aber der „Nation“, dem „Volk“, der „lokalen Gemeinschaft“ (Region, Dorf, „Provinz“). Allerdings waren die Vorstellungen von Nation und Volk oft auch Teil einer übergreifenden, dualen Identifikationsstruktur nach dem Prinzip von Inklusion/ Exklusion. Bestimmte Lesarten des Kollektiven, des Nationalen wurden für die Intellektuellen daher auch Gegenstand der persönlichen Distanzierung, der moralischen Ablehnung und einer aus Sicht und im Namen des „Einzelnen“ formulierten Kritik. Dies geschah vor allem mit denjenigen Kollektivbegriffen, die in die offizielle Rhetorik eingegangen waren. So wurden beispielsweise nationale Mythen provokativ unterwandert und demonstrativ entweiht, was regelmäßig eine scharfe Reaktion der offiziellen Stellen (wie im Falle der historischen Filme von Andrzej Wajda) oder harsche Kritik von Seiten der Emigration (wie im Falle der grotesken Romane und Dramen von Witold Gombrowicz) hervorrief.

Den axiologischen Gegenpol zu diesen Kollektivbegriffen bildete ein anderes Kollektivum: das Bild vom „Menschen als solchem“, das eine partikulare Selbstabgrenzung prinzipiell ausschließt. In der Literatur findet sich diese Vorstellung etwa in einer so komplexen, kontextabhängigen, mehrdimensionalen und jeder sozialen Konkretion ledigen Figur wie dem „Niemand“ (dem bis zum Äußersten verallgemeinerten „Anderen“) bei Paul Celan wieder, oder in der sozial nicht beglaubigten, scheinbar inexistenten, allegorischen Figur, die Danilo Kiš mit der Kafkaschen Chiffre „K.“ bezeichnet (einer Chiffre, zu der es in diesem Fall keinen Schlüssel gibt).

All diese Sinnebenen stellen verschiedene Aspekte der anthropologischen Konstruktion, des Bilds von der Gesellschaft und vom Menschen dar, die hier zu analytischen Zwecken voneinander getrennt werden. Im Denken, Handeln und Schreiben der Intellektuellen selbst sind sie gewöhnlich miteinander verbunden und aufeinander bezogen, sie stützen und begründen sich wechselseitig. So bringt der polnische Schriftsteller Stanisław Vincenz, dessen Vorfahren aus Frankreich stammten, in seinen mythopoetischen Vorstellungen vom Menschen und der Gesellschaft die huzulischen Hirten und die Chassiden im Schtetl aus seiner Heimat in den Karpaten mit der Vorstellung einer gemeinsamen, von Homer bis zu Dante reichenden europäischen Tradition sowie der Idee eines „Europas der „kleinen Heimatstaaten“ in Verbindung, die dem „Europa der Regionen“ bei Denis de Rougemont und den europäischen Föderalisten nahesteht.12 Diese Vorstellung bewegt sich zwischen dem gerade noch dinglich vorstellbaren Ganzen („die mediterrane Zivilisation“) und dem verschwindend Kleinen, das aber ebenfalls ein dingliches Ganzes darstellt (die Kleinstadt, das Dorf, oder das „Haus“). Wichtig ist, dass beide Ebenen als universal konzipiert werden, dass der Teil ein funktionales Äquivalent des Ganzen darstellt.13

Mit einem „verfehlten“, „falschen“ Begriff des Allgemeinen, Allumfassenden schließlich wurde die als „vulgär“ und „platt“ abgewertete „Massenkultur“ und die negative Kunstfigur des „standardisierten westlichen Menschen“ assoziiert. Czesław Miłosz schrieb deshalb nicht ohne Ironie, dass hinter der „Entlarvung der Massenkultur“ die für den ostmitteleuropäischen Intellektuellen typische „Unterscheidung zwischen der ‚Intelligenz‘ und dem ‚Volk‘“ sowie die Gewohnheit stehe, „immer nur jene gesellschaftlichen Phänomene wahrzunehmen, die systematisch und massenhaft auftreten“ und die in seinen Augen eben deshalb „zu den einzigen Symbolen für die ‚verfaulte Kultur des Westens‘ überhaupt heranwachsen“.14

Im Konzept und in den Figuren der „Staatsmacht“ distanzierten sich die Intellektuellen von den Konnotationen autoritärer Herrschaft, die in den Selbstbeschreibungen der offiziell auftretenden Intellektuellen – als „geistige Führer“ oder „Herrscher der Gedanken“ – auf die eine oder andere Weise mitschwangen. Allgemein war dieses Selbstbild mit früheren Phasen der Modernisierung verbunden, sowie mit der Selbstorganisation in „Strömungen“ oder „Bewegungen“. Das Selbstverständnis der Intellektuellen bildet sich dabei als Resultat eines geistigen Wettkampfs heraus, in dem die Figur des Gegners verdrängt und abgespalten wird. Auf diese Weise entstehen immer allgemeinere, aufeinander bezogene Gestalten des Ich und des Anderen, darunter auch das Ich-als-Anderer (als Unerwünschter etc.).

Die Pluralität und Komplexität der Selbstzuordnungen zeigte sich in Gestalt zahlreicher, einander überschneidender und miteinander verbundener Ebenen der doppelten Identifikation. Zur Selbstverortung im offiziellen sowie im inoffiziellen Wertesystem kam die Positionsbestimmung gegenüber der eigenen nationalkulturellen Gemeinschaft sowie gegenüber Russland (der UdSSR, dem „sozialistischen Lager“), die häufig entlang der Koordinaten West–Ost, Zivilisation–Barbarei verlief.15 Hinzu kam die doppelte Zugehörigkeit zu einem gedachten Europa entsprechend dem schon erwähnten Modell von Exklusion und Inklusion: So wie Westeuropa für die ostmitteleuropäischen Intellektuellen ein „virtuelles Europa“16 war, so war Ostmitteleuropa für sie ebenfalls ein Teil Europas, aber ein besonderer, ein „eigener“, wie er im Titel von Czesław Miłosz’ Buch Rodzinna Europa (Heimat Europa) angesprochen wird.17

Auf diese Weise wurden unterschiedliche Bilder Europas konstruiert, in denen dieses mit verschiedenen kulturellen Symbolen, verschiedenen historischen Epochen und verschiedenen Teilen einer imaginären Landkarte assoziiert war. Es entstanden gleichsam „Reservate“ eines idealtypischen Europäertums: Frankreich im allgemeinen oder auch Österreich-Ungarn zur Zeit der Jahrhundertwende, das Donaubecken oder das Mittelmeergebiet. Auch auf Städte wurden solche Vorstellungen projiziert – auf Hauptstädte wie Prag, Budapest oder Bukarest zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auf kulturelle Zentren wie Lemberg oder Czernowitz in den zwanziger Jahren, und schließlich sogar auf Provinznester wie Kolomea oder Brody.

Mit diesen gedanklichen Räumen korrelierten verschiedene abstrakte Vorstellungen von „dem Westen“ sowie ein ambivalentes Bild von den USA. Einem Europa als Verkörperung kultureller Universalität, wie es die einen evozierten,18 konnten provokativ Bilder eines archaischen, vor- oder sogar achristlichen Europas der Barbaren entgegengestellt werden. Derlei findet sich etwa im Frühwerk von Mircea Eliade oder in verschiedenen ihm nahestehenden traditionalistisch-esoterischen Strömungen, die das Christentum ablehnten, da es das Individuelle zu sehr betone und mit dem Judentum verbunden sei. Man könnte allgemein von gestaffelten Europabildern sprechen, von übereinanderliegenden Kreisen und Ebenen der Selbstreferenz, wobei das Nahe und das Ferne einander bedingen und die „Existenz“ des jeweils anderen erst begründen.

Einen besonderen Bezugspunkt stellte die ostmitteleuropäische Emigration in Westeuropa und im Westen überhaupt dar, ihre verschiedenen Wellen und Generationen, von jenen aus den 1920er und 1930er Jahren bis zu denen, die 1968 oder 1980 ihren Anfang nahmen. Auch der Status der Emigration war jedoch für eine ganze Reihe ostmitteleuropäischer Intellektueller und auch für viele Emigranten selbst keineswegs eindeutig. Dies tritt in der unablässigen Polemik Witold Gombrowicz’ mit dem Typus des polnischen Emigranten, der die Rolle des „tonangebenden Intellektuellen“ beanspruche, und in seinen persönlich und brieflich ausgetragenen Auseinandersetzungen mit Czesław Miłosz ebenso zutage wie in Miłosz’ eigenem Unbehagen über das „Melodrama, die Tragikomödie der Emigranten“, über ihr „Gejammer“ und ihre ewige Hoffnung „auf eine Rückkehr (aber Rückkehr wohin?).“19

Schließlich beziehen sich die ostmitteleuropäischen Intellektuellen seit Mitte der 1960er Jahre und stärker dann in den 1970er Jahren auch auf die sowjetischen Dissidenten und den kulturellen Underground, den Samizdat und die „zweite Kultur“.20 Auch die Russlandbilder, sowohl die des historischen als auch die des aktuellen Russland, vermehren und differenzieren sich somit im Bewusstsein der ostmitteleuropäischen Intellektuellen.21

Die Juden

Was das eigentliche Bild Ostmitteleuropas betrifft, war die symbolische Negativfolie für die ostmitteleuropäischen Intellektuellen die Erinnerung an das nationalsozialistische Deutschland. Mit NS-Deutschland war die Vorstellung einer Staatsmaschine totaler, organisierter Gewalt verbunden; dies war die Zone des Gefährlichen und Unerwünschten im individuellen und kollektiven Bewusstsein. Umgekehrt bildeten die Geschicke der europäischen Juden eine Sphäre symbolischer Anziehung, ja den Inbegriff positiver Identifikation. Die meisten der europäischen Juden waren zu diesem Zeitpunkt bereits im Holocaust ermordet, in den Stalinschen Lagern zermahlen oder in die Emigration getrieben worden, und die Politik der sowjettreuen Regierungen sorgte in den 1960/70er Jahren dafür, dass noch mehr vertrieben wurden. Doch die Verlagerung dieses semantischen Komplexes ins „Gedächtnis“ (und damit die Errichtung einer gedanklichen Barriere, durch die der sich Erinnernde gleichzeitig der Verantwortung enthoben und in sichere Entfernung von den unerträglichsten Tatsachen gebracht war) machte es möglich, die übergreifende historische Erfahrung zu formulieren, symbolisch zu bearbeiten und positiv anzueignen.

Boris Dubin, vermutlich frühe 1980er Jahre

Das verallgemeinerte Bild der ostmitteleuropäischen Juden der Zwischenkriegszeit ist in diesem Zusammenhang von prinzipieller Bedeutung.22 Diese „Figur des Fehlenden“, „Verschwindenden“ oder sogar „Ausgelöschten“ macht das Bild des Opfers zum Dreh- und Angelpunkt der gesamten selbstidentifikatorischen Geschichtskonstruktion ostmitteleuropäischer Intellektueller. Dieser Punkt markiert die „entrückteste“, fernste, symbolische Ebene der Realität, die nur durch vergleichbare Zeichen der Abwesenheit repräsentiert werden kann, durch die Vorahnung eines unausweichlichen Verlustes sowie als Identifikation mit dem Opfer, mit den Gestalten der Toten. Hierher gehört das Bild von „Vilnius, dem untergegangenen Atlantis der Zwischenkriegszeit“ bei Czesław Miłosz, hierher gehört auch die Begründung des Rechts auf poetische Rede durch Appellation an das kollektive „Wir“ all derer, die zu Rauch und Asche wurden, in der Todesfuge und anderen Gedichten Paul Celans. Es geht dabei nicht bloß um Stimmungen, Emotionen, sondern um den normativen Horizont einer Wahrnehmung der eigenen Person und der anderen, der kollektiven Existenz und der gesamten Geschichte im Zeichen des Endes. Miłosz unterstreicht, dass er seinerzeit dieses ständige Gefühl eines Lebens „in einer Welt, die ihrem Ende entgegengeht“, mit in den Westen nahm, wo ringsum „Menschen lebten, denen dieses Gefühl völlig fehlte“.23

In einer ähnlichen eschatologischen Perspektive – die nunmehr das gesamte Europa mit seiner gemeinsamen Geschichte einschloss – sahen später die Intellektuellen des zerfallenden und durch Kriege erschütterten Jugoslawien das Schicksal ihrer Völker. Der Krieg verschärfte diese Sicht, aber das Gefühl des bevorstehenden Endes war ihm vorausgegangen. Danilo Kiš führt eine charakteristische Aussage des slowenischen Schriftstellers und Dramatikers Marjan Rožanc an:

Wir sterben nicht allein, denn beinahe die gesamte barocke Region von Triest bis zum Baltikum […] geht mit uns. Mit uns verschwinden die Kroaten, die Tschechen, die Slowaken, die Ungarn, die Polen. Ich könnte sogar die Bayern hinzufügen. Ja, alle Völker und Nationen, die mit dem unsichtbaren Siegel der mitteleuropäischen Kultur gezeichnet sind. Wir sterben gemeinsam mit den Juden dieser Region, jenen wahren Mitteleuropäern und somit den ersten Opfern, die schon vor langer Zeit in den Krematorien in Rauch verwandelt wurden.24

Geschichte, Sprache und Literatur

Auch die Konstruktion der Geschichte bildete ein komplexes System der Verbindung verschiedener Sinnebenen. Es gab einerseits die offiziell aufgezwungene, ideologisch präparierte „Geschichte der Sieger“, die für die ostmitteleuropäischen Intellektuellen ein Ort der Abstoßung war. Sie umfasste auch hegelianische und marxistische Bedeutungen von Geschichte als „objektive“, über- und unmenschliche Kraft. Einer solchen Geschichte stellte man die „Geschichte der Opfer“ gegenüber und schloss damit in das Bild der Vergangenheit auch die Bedeutungen tödlicher Gefahr und drohender Vernichtung ein (gewissermaßen das Negativ zur Erinnerung an den Holocaust).