Inhalt

Geleitwort

„Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“
(Goethe, Faust I)

Dies ist der Wunsch der jungen Frau, die eines Tages aufbricht, um nichts Geringeres als das in Erfahrung zu bringen.

Am Anfang also war eine Sehnsucht, wie sie tiefer nicht vorstellbar ist. Nicht die Erkenntnis mit den Mitteln des abendländisch definierten Verstandes, der die Möglichkeiten allen Erkennens auf den engen Rahmen eines rationalistischen Weltbildes beschränkt, sollte es sein, sondern ein Erkennen, das die künstliche Trennung von Körper, Geist und Seele einerseits und diejenige von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt andererseits überschreitet. Welterkenntnis wäre Selbsterkenntnis und vice versa.

Und damit wäre es noch nicht zu Ende: Auch das erkennende Ich in seiner grausamen Beschränktheit auf genetische Ausstattung und biographische Fundamente würde sich in diesem unendlich verlockenden Strom des Erkennens auflösen und alle Zweifel über die Natur der Dinge und Wesen hinter sich lassen. Vielleicht ist es ja letztlich dasselbe, was all jene gewollt haben, die sich über die Verlockungen von Macht, Besitz und Geliebtwerden hinaus nach diesem Anderen, Unsagbaren sehnen (nicht wenige von ihnen sogar verzehren): Die Philosophen und Mystiker aller Religionen und Epochen, die nach dem suchten, was in der christlichen Mystik als „unio mystica“, im Zen-Buddhismus als „satori“, im Hinduismus als „moksha“ benannt wird: Der anhaltende Zustand der Erleuchtung. Dass gerade dieses unbändige Wollen sich als größtes Hindernis vor der Erfüllung erweisen wird, ist eines der Paradoxa dieses Weges.

Wie Millionen von jungen Menschen ab Mitte der Sechzigerjahre hat die zwanzigjährige Ulrike genug von dem lauen, für Geist und Seele zerstörerisch scheinenden Leben, das ihre Elterngeneration für sie vorgesehen hat, lässt die deutsche Langeweile zwischen abgeschlossenem Wiederaufbau, unbewältigten Kriegstraumata und beginnender Saturiertheit hinter sich und bricht – nach einem intensiven Umweg als Entwicklungshelferin in Äthiopien – nach Rishikesh im Norden Indiens auf. Meditation, ein Meister mit fantastischem Ruf (die Beatles und andere Prominente werden seinen Namen mit in den Westen tragen), Mantras und Yoga, am allerwichtigsten aber wahrhaftige Hingabe, die die Antwort auf alle Fragen als Lohn verspricht, das ist der Weg, den sie zu gehen versucht und in aller Konsequenz verfolgt. Sie begegnet Menschen, die sie beeindrucken und die die nächsten Schritte befördern.

Ulrike Schrott zeichnet in ihrem Buch die Geschichte ihrer Suche mit Sorgfalt und unnachahmlichem Humor nach, der aber keinen Zweifel an der Tiefe und Ernsthaftigkeit ihres Wegs offen lässt. Doch das zweifelnde, fragende, alles – auch den Meister – und vor allem sich selbst in Frage stellende Ich will nicht zur Ruhe kommen, und ich meine: glücklicherweise.

Dennoch wird hier nicht Bilanz gezogen, sondern der Versuchung einer wütenden Abrechnung widerstanden. Nicht urteilen, sondern wahrnehmen und sich erinnern in aller Bewusstheit darüber, dass „jeder Mensch eine Geschichte erfindet, die er für sein Leben hält“ (Max Frisch), das ist der Tenor dieses Buchs, das, gerade weil es ohne alle Widersprüche einebnenden Urteile auskommt, dem eigenen Nachdenken und Erkennen einen weiten Raum eröffnet. Es wird erzählt, wunderbar lebendig, mit wachem Verstand und mit großer Einfühlung in die junge Frau (und in andere, mit denen sie ein Stück dieses Wegs teilte), die sowohl Euphorie als auch Verzweiflung mit bewundernswerter Hartnäckigkeit durchlebt und auch übersteht.

So formt sich aus den Bruchstücken für die LeserInnen ein vielfältiges Bild des Zeitgeists der Sechziger und Siebziger Jahre, es formt sich auch das Bild eines Menschen, dessen Suchen, Finden, Verlieren und Neufinden (vielleicht sogar: sich neu erfinden) bei aller Einzigartigkeit etwas Exemplarisches bekommt, das berührt. Nicht wenige sind auf diesem Weg zugrunde gegangen, auch das ist etwas, das Ulrike Schrott nüchtern im Blickfeld behält und in ihrem Buch nachzeichnet. Auch die Entwicklung der Nachfolgeorganisation Maharishis wird kritisch beleuchtet. Scheitern aber, dies ist vielleicht eine der Schlussfolgerungen dieses Buchs, ist kein hinreichender Grund, einen großen Versuch, ein großes Wagnis zu diskreditieren. Was ist Scheitern überhaupt, was Gelingen?

In Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ heißt es an einer Stelle: „Ist es möglich (…) dass man noch nichts Wirkliches und Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat? Ist es möglich, dass man Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und dass man die Jahrtausende vergehen hat lassen wie eine Schulpause, in der man sein Butterbrot isst und einen Apfel? Ja, es ist möglich.“

Dieses Buch ist ein wunderbarer Versuch, gerade in aller Nüchternheit und großer, sich selbst wahrhaftig nicht schonender Offenheit, dieser Gefahr nicht zu erliegen.

Gudrun Seidenauer

Prolog

Ich schaute ihn an. Sein Blick war offen, ernst, zugewandt – ein ruhiges Schauen. Nur Kleinkinder hatten mich bisher so angeschaut und verunsichert. Viele Erwachsene sehen sich im Brennpunkt eines derartigen Kinderblickes gezwungen, Grimassen zu schneiden und unsinnige Laute von sich zu geben. Mit allen Mitteln versuchen sie, dem stillen Ernst ein Lachen abzuringen, das seine beunruhigende Tiefe verschleiert. Ich versank in Maharishis Blick wie ein Stein in einem tiefen Brunnen.

Das war Anfang 1970 in Indien. Ich hatte mich mit ca. achtzig Suchenden aus aller Welt in seinem Ashram in Rishikesh eingefunden. Er lag nördlich der Stadt auf einem der letzten Abhänge des Himalayas. Wenn man aus der Lecture Hall trat, öffnete sich der Blick an einem Steilufer über dem flach dahinfließenden Wasser des Ganges, wanderte hinüber zur Stadt und weiter in das trockene Ocker der Ebene, die am Horizont verschwamm. Wir waren Eindringlinge, Unwissende aus dem oberflächlichen Westen. Unter den Kursteilnehmern war kein einziger Inder. Sadhus1 saßen auf der anderen Seite des Ganges am kieselsteinigen Ufer und meditierten so wie wir, oder meditierten wir so wie sie? Wir waren in ihren Augen wahrscheinlich ein Haufen verrückter Hippies, so wie sie damals zu Tausenden auf der Suche nach Erleuchtung nach Indien pilgerten. Ihre Religion, ihre Götterwelt, ihre Riten und Gebräuche waren für uns eine phantastisch bunte Märchenwelt, deren wahren Kern und deren Weisheit es zu entdecken galt. Sie sahen uns kritisch, erstaunt und gelassen zu, wenn wir zum Baden hinunter an ihren heiligen Fluss kamen. Unterhalb des Ashrams hatte die Strömung eine tiefe Mulde ausgeschwemmt, so dass wir tauchen und schwimmen konnten. Wir stürzten uns lachend und lärmend in die Flut. Wir nahmen kein rituelles Bad. Unser Zugeständnis an indische Wertvorstellungen bestand darin, dass Frauen nur züchtig in Punjabis2 gehüllt ins Wasser sprangen. Aus der Pilgerstadt dröhnten heilige Gesänge in fremden Skalen und Rhythmen herüber, unentzifferbares Gedudel in meinen westlichen Ohren.

Ich wollte Maharishi so viel fragen, wollte ihm mein Herz ausschütten, wollte ihn die kryptischen Puzzlesteine, in die mein Leben zerfallen war, zusammenfügen lassen, wollte mich ihm öffnen – so glaubte ich jedenfalls – aber sein Blick wischte alles weg. “I have heard that you were in Ethiopia. Tell me about the country, how are the people there?” Ich war verwirrt, ich wollte nicht über Äthiopien sprechen, das Thema „Entwicklungshilfe“ hatte ich abgehakt – ich stotterte herum und kam mir ziemlich dumm vor. Dann war das Gespräch auch schon vorbei. Als ich im Gehen begriffen war, sagte Maharishi: “People say, it’s too dark in the lecturehall at night. Take care, that there is a candle at each seat tonight.” Ich tauchte noch einmal in seinen Blick, konnte aber nicht erkennen, ob er diese Anweisung ernst meinte. Er wandte sich schon dem Nächsten zu. Ich hatte für den Kurs bezahlt, 2.400 DM genau, inklusive Unterkunft, Verpflegung, Hin- und Rückreise. Das war damals viel Geld für mich. Ich war gekommen, um zu meditieren, um zu lernen. Wieso sollte ich mich um Kerzen kümmern? Ich gehörte nicht zum Personal.

Damals war Maharishi für mich alt, alt an Jahren. Sein ergrauendes Haar fiel lang und leicht gewellt auf seine Schultern. Sein Vollbart war dunkel und wallte nur in der Mitte weiß von seinem Kinn. Er war wohl Anfang sechzig, vielleicht auch etwas jünger. Niemand wusste es so genau. Seine dunkle Haut war glatt und strahlte Wärme aus, die braunen Augen waren klar. Gerüchten zufolge stand in jedem seiner Pässe, die über die Jahrzehnte hinweg ausgestellt worden waren, ein anderes Geburtsdatum. Einmal besuchte Tatwalla Baba, ein Hindu-Heiliger, den Ashram. Bis auf einen Lendenschurz aus Sackleinen war er nackt. Seine Haut war glatt und spannte sich goldbraun über einen aufrechten, muskulösen Körper. Er ging leicht und federnd. Aschfarbene Dreadlocks schleiften einen halben Meter am Boden hinter ihm her, wenn er sie nicht wie einen Turban um den Kopf geschlungen hatte. Ein Kursteilnehmer fragte Tatwalla Baba nach seinem Alter. Maharishi, der Fragen und Antworten ins Hindi übersetzte, wehrte ab: “One does not ask a wave on the ocean, from where it comes.” Es hieß, Tatwalla Baba sei über vierhundert Jahre alt. Ich war fünfundzwanzig nach westlicher Zeitrechnung.

Ich sollte also Kerzen organisieren. Lustlos ging ich zum einzigen Laden im Ashram. Er war nicht weit von der Lecture Hall entfernt, direkt neben dem Speisehaus, und versorgte uns mit allem, was wir brauchten: Toilettenartikel, Schreibutensilien, Räucherstäbchen, Zigaretten und Zünder. Hefte, auf denen Maharishis Ebenbild prangte, gab es umsonst. Ein Amerikaner bediente mich. Dunkle, Beatle-lange Haare umrahmten sein asketisches, glatt rasiertes Gesicht. Er war immer ruhig und freundlich, aber in seinem Blick lag auch Trauer und tiefe Nachdenklichkeit. Ich hatte gehört, dass er ein Jünger Maharishis sei und schon lange hier im Ashram lebte. Trug er deshalb immer einen weißen Punjabi? Weiß war die Farbe Maharishis. Alle seine Dhotis3 waren aus weißer Seide. “Don’t mind, what people tell about us. They say, that we are red or green or yellow, but we know, that we are white.” Ich kaufte sechs weiße Haushaltskerzen und Streichhölzer und ging zurück in die Lecture Hall.

In meiner Erinnerung sehe ich einen weißen, schmucklosen Betonbau, eine rechteckige Schachtel mit Fensterschlitzen. Das üppig wuchernde Grün des Ashrams tauchte seine schlichte Hässlichkeit in ein bewegtes Schattenspiel. Aber selbst diese Erinnerung ist verschwommen, denn meine Aufmerksamkeit galt allein dem Innenraum.

Auf der einen Schmalseite befand sich die Bühne. Darauf stand ein riesiger, mit weißen Seidentüchern verhüllter Sessel. Auf der Sitzfläche lag ein kleines schwarzweißes Fell, möglicherweise von einer Ziege. Auch jetzt saß Maharishi auf diesem Fell und unterhielt sich leise mit einem anderen Kursteilnehmer. Vor der Bühne lag ein Freiraum, auf dem sich bei unseren Treffen all jene einfanden, die es für längere Zeit im Schneider- oder Lotussitz aushalten konnten. Dahinter stieg der Boden in großen Treppen an. Auf den ersten Stufen standen breite Holzsessel mit bequemen Armlehnen, von denen sich die rechte zu einer Schreibfläche ausbauchte. Die hinteren Reihen waren mit normalen Stühlen bestückt. Dort warteten jetzt andere Kursteilnehmer darauf, zum Gespräch mit Maharishi auf die Bühne gerufen zu werden. Er wollte jeden Einzelnen kennenlernen. Hinter seinem Sessel stand in Lebensgröße das Bild von Guru Dev4, seinem Meister. In psychedelischen Farben gemalt, saß er kerzengerade im Lotussitz, sein Blick fixierte den Betrachter, wo immer er stand. Ein Heiligenschein verstärkte den bezwingenden Eindruck. Ich kannte bis dahin nur Darstellungen von christlichen Heiligen. Sie sahen den Betrachter nie an, sondern hielten den Kopf meist züchtig leidend zur Seite geneigt, während die Augen himmelwärts schielten. Manche sahen aus, als würden sie vor Verzückung gleich ohnmächtig werden. Andere waren von irgendwelchen abscheulichen Marterwerkzeugen durchspießt und eiferten dem Vorbild Jesu Christi nach. Sie waren Fleisch gewordener Vorwurf für alle, die es sich im Leben gemütlich einrichten wollten, und verursachten mir Übelkeit. Guru Dev strahlte Stärke, Klarheit und Unverrückbarkeit aus. Nie habe ich Maharishi ohne dieses Bild gesehen. Manchmal stand es klein neben ihm auf dem Tisch. Immer hing es als Medaillon an seiner Mala5 und glitt zusammen mit den dunkelbraunen, runzligen Rudrakshaperlen6 durch seine lockeren Hände. Diese Hände strahlten Wärme aus. Ich sah sie Blumen entgegennehmen und liebevoll vor dem Bild von Guru Dev ablegen, ich sah diese Hände segnen und ruhig im Schoß liegen, ich sah, wie sie sich zur grüßenden Geste vor der Brust zusammenlegten. “Jai Guru Dev!”7 Ich sah nie, dass sie nach etwas griffen.

Ich stand bei den Sesseln der ersten Reihe und fragte mich immer noch, wie ich eine Kerze auf einer lackierten Holzfläche befestigen sollte. Widerwillig träufelte ich Wachs auf das schimmernde Holz und drückte die Kerze halbherzig in den erkaltenden Batzen. Als das Wachs ausgekühlt war, stieß ich zur Probe mit der Hand gegen mein Machwerk. Erwartungsgemäß fiel es um. Ich sah zu Maharishi hinüber. Er war im Gespräch vertieft und kümmerte sich nicht um mich. Niemand kümmerte sich um mich. Ich wusste auch nicht, wen ich fragen sollte. Ich wusste nicht, wer hier für was verantwortlich war. Lächerlich, es war einfach lächerlich – wie sollte man auf diesem glatten Holz eine Kerze befestigen, ganz zu schweigen von den oberen Stühlen, die gar keine Lehnen hatten. Es war eine Schnapsidee. Sicherlich hatte er das nicht ernst gemeint, oder ich hatte mich verhört. Ich schaute noch einmal zu Maharishi. Er machte nicht den Eindruck, als ob er gestört werden wollte. Wie stellte er sich das vor? An jedem Platz eine Kerze! Ich gab auf, entfernte die Spuren meiner Bemühungen, so gut es ging, nahm die Kerzen und ging in mein Zimmer.

Wir waren in Gästehäusern untergebracht, die sich im hinteren Teil des Ashrams an einem Sandweg entlang auffädelten. In jedem wohnten vielleicht zehn Personen. Die Häuser waren aus Zementplatten zusammengeklebte Flachbauten, die in ihrer Schlichtheit etwas Rührendes hatten, als würden sie um Verzeihung bitten, dass es nicht besser gegangen sei. Sie hatten zwei Eingänge, die im Inneren des Hauses durch ein breitgezogenes, viereckiges U miteinander verbunden waren. In der Innenseite des U’s lagen die Toiletten und Duschen, an der Außenseite reihten sich die Zimmer, besser gesagt: die Zellen. Die Fenster hatten weder Scheiben noch Rahmen. Es waren rechteckige Löcher mit Fliegengittern. Beim ersten Regen ergoss sich durch eine dieser Öffnungen ein Sturzbach auf mein Bett, das ich ahnungslos direkt unter meinen Lichtschacht geschoben hatte. Nach der Sintflut rückte ich es so weit in den Raum, dass man gerade noch die zwei Türen öffnen konnte, die mein Zimmer hatte. Die eine befand sich gegenüber vom Fenster auf der Längsseite des Bettes und führte an den Toiletten und Duschen vorbei ins Freie, die andere lag am Fußende des Bettes und führte in ein Eckzimmer des Gästehauses. Dort wohnte Susanne, eine Kursteilnehmerin aus Deutschland: schwarzes langes Haar, helle Augen, klare Gesichtszüge, schlanker Wuchs. Na bravo! Ich hatte ein Durchgangszimmer erwischt. Wie sollte das gehen? Ich war Susanne auf Meditationskursen in Deutschland begegnet, aber ich wusste nichts von ihr. Auch nach diesem dreimonatigen Kurs würde ich nichts von ihr wissen, denn wir alle würden die ganze Zeit nur meditieren, meditieren und noch einmal meditieren. Susanne würde mich dabei stören, stören und noch einmal stören, wenn sie frische Luft schnappen, einen Tee im Speisehaus trinken oder zur Toilette gehen wollte. Sie würde ein ständiges Ärgernis für mich sein. Aber das kam später und es kam anders.

Als ich ankam, war das eiserne, kahle Bettgestell mit Drahtverspannung das einzige Möbelstück in meinen ebenfalls kahlen Betonwänden. Wir mussten alle erst zum Versorgungshaus im westlichen Teil des Ashrams. Dort organisierten wir uns Träger und das Notwendigste zum Überleben: eine Matratze, ein Kissen, mehrere Decken. Ich hatte Glück und erwischte auch einen Stuhl. Schränke gab es nicht. Die Kleider blieben im Koffer. Aber das war kein Problem. Äußerlichkeiten spielten keine Rolle. Wir würden die meiste Zeit die Augen geschlossen haben. Ich ordnete meine Habseligkeiten, meditierte, ging zum Abendessen ins Speisehaus und danach mit den Anderen zur Lecture, die eigentlich nie eine Vorlesung war, sondern ein Vortrag, der sich aus einem freien Frage- und Antwortspiel entwickelte. Manche Fragen beantwortete Maharishi kurz, manche gar nicht. Über andere ließ er sich stundenlang aus, führte unsere Gedanken in einem weiten Kreis durch die Geschichte des Universums zum Ausgangspunkt der Fragestellung zurück. Die geschliffenen Ausführungen waren mit Humor durchsetzt. Das machte sie konsumierbar, ließ sie milder erscheinen, kaschierte ihren abgründigen Ernst und gewann unsere Herzen.

Time is precious. Nothing in the world what so ever is more important than this time of meditation.”Nothing in the world what so ever – kein Freund, kein Geliebter, keine Geschäfte, keine sonstigen Verpflichtungen, keine Verwandten, nicht einmal die eigenen Eltern – nothing in the world what so ever. Er meinte es tatsächlich so und nicht anders. “Don’t write letters.” Das enthob mich meiner Nachrichtenpflicht: „Liebe Mutti, lieber Papi, ich bin gut angekommen. Es geht mir gut, es ist einfach toll hier…“ Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es im Ashram eine Möglichkeit zum Telefonieren gegeben hätte. Während der langen Meditationszeiten durften wir den Ashram – wenn überhaupt – nur mit schriftlicher Erlaubnis von Maharishi verlassen. Ich verließ ihn nie. Time is precious.

Als ich an diesem Abend zur Lecture Hall ging, hatte ich die Kerzen schon wieder vergessen. Ich betrat mit den Anderen den Raum und erstarrte vor einem Lichtermeer. An jedem Platz brannte eine Kerze. Es gab Beifall, Maharishi lachte zufrieden. Brutal hatte jemand große Nägel durch die Schreibflächen der vorderen Sessel gesplittert und Kerzen daraufgespießt, an die Rücklehnen der hinteren Stuhlreihen waren grobe Vierkanthölzer samt Kerzen gehämmert worden. Die Halle war in ein sanftes Licht getaucht. Niemand merkte, wie ich im Erdboden versank. Es traf mich kein vorwurfsvoller und auch kein triumphierender Blick, Maharishi sah mich nicht an. Es schien, als wüsste nur ich allein um mein Versagen.

Jemand anderer hätte in dieser Situation augenblicklich seine Koffer gepackt, hätte einem derartigen Idioten den Rücken gekehrt, der wegen ein paar Kerzen eine komplette Einrichtung ruinieren ließ, der es wagte, ein unerfahrenes Ding aus Deutschland derartig zu demütigen. Jemand anderer hätte mit den Schultern gezuckt – so what? – was hatte dieser Gartenzwerg von Maharishi mit seinen höchstens einssechzig schon zu sagen? Jemand anderer hätte sich möglicherweise gefreut, dass es nun doch gelungen war, jeden Platz mit einer Kerze auszustatten, hätte höchstens beleidigt hinzugefügt, dass er das auf diese Weise auch gekonnt hätte. Jemand anderer hätte vielleicht erkannt, dass es immer mehr Möglichkeiten gibt, als man gemeinhin annimmt, und sich vorgenommen, in Zukunft auch ungewöhnliche Wege in Betracht zu ziehen. Jemand anderer hätte sich geschmeichelt gefühlt, weil Maharishi eine ganze Einrichtung demolieren ließ, um ihm eine Lektion zu erteilen. Aber ich war nicht jemand anderer. Mich traf der helle Schein irgendwo im Zentrum meines Seins. Bis hierher war alles Spielerei gewesen, ein neues Abenteuer, in das ich mich neugierig und Hals über Kopf mit dem mir eigenen uneingeschränkten, hemmungslosen Enthusiasmus gestürzt hatte. Jetzt war ich betroffen. Maharishi hatte mir eine Aufgabe gestellt und ich hatte ihn und die Aufgabe nicht ernst genommen. Das war ein Fehler gewesen – ein kapitaler Fehler. Die Ohrfeige saß. Sein Wille war Gesetz. Ich hatte meine erste Lektion gelernt – nicht ganz, wie sich später herausstellen sollte.

Jetzt, nach fünfunddreißig Jahren, verwundert es mich, dass die Kerzen in Rishikesh nur an diesem einen Abend brannten. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass an den folgenden Abenden leere Nägel nutzlos von den zersplitterten Stuhllehnen in die Höhe spießten. Selbst wenn jemand die Nägel wieder entfernt haben sollte, müsste mir doch wenigstens das ruinierte Holz in Erinnerung sein, aber ich kann mich nicht erinnern.

Ich habe auch nie den deutschen Tischler gefragt, der die hölzernen Sessel extra für den Kurs entworfen und gebaut hatte. Die Zerstörung seines Werkes musste doch für ihn weit schlimmer gewesen sein als für mich, eine Missachtung seiner Kunst, seiner Mühe, seiner liebevollen Hingabe an den Meister. Ich habe auch kein einziges Mal die zersplitterten Armlehnen aus der Nähe angeschaut. Ich habe mich nie davon überzeugt, dass das Lichtermeer keine Halluzination gewesen war. Die ganze Geschichte ist ein kryptisches Puzzleteilchen mehr in meinem Leben. Von Zeit zu Zeit nehme ich es in die Hände, drehe und wende es, sehe es schimmern und weiß nicht, wo es hingehört.

Sie wacht auf. Es ist schon hell. Falls sie geträumt haben sollte, weiß sie es nicht mehr. Sie sollte aufstehen, aber es gibt weder einen Termin, der sie dazu zwingt, noch ein Verlangen, das sie dazu treibt. Sie stützt sich auf, schiebt die Mullgardine zur Seite, und schaut aus dem kleinen Bauernfenster. Die zerfressenen, hohen Tannenwipfel jenseits der Straße sind angezuckert. Der Himmel ist trübe. Sie lässt sich ins Bett zurückfallen und sucht in der Holzdecke nach den vertrauten, astlöcherigen Gesichtern. Sie muss dringend aufs Klo. Sie wälzt sich zur Seite, kippt ihre Unterschenkel aus dem Bett und hebelt den Oberkörper in einem Schwung nach oben. Das schont die Wirbelsäule. Sie bleibt so lange auf der Bettkante sitzen, bis sie den Harndrang unter Kontrolle hat. Dann steht sie vorsichtig auf und schleicht ins angrenzende Bad. Die breiten Dielen geben unter ihrem Gewicht nach und die Kartons auf dem Pinzgauer Bauernschrank wackeln leise. Sie erreicht rechtzeitig die Toilette. Dann putzt sie sich die Zähne, füllt ihre Hände mit kaltem Wasser und wäscht sich das Gesicht. Für mehr Körperpflege ist es ihr im ungeheizten Badezimmer einfach zu kalt. Sie nimmt eine frische Unterhose vom Wäscheständer und geht zurück ins Schlafzimmer. Auf dem Fußboden vor dem Bett liegt ihre Winterkluft: ein BH, eine Trainingshose, ein Troier8, Socken und Filzpantoffeln. Das T-Shirt hat sie über Nacht anbehalten. Sie schlüpft in das Outfit wie in eine zweite Haut, fährt sich mit den Fingern durch das lange, graumelierte Haar, wurstelt es auf dem Hinterkopf zusammen und hält es mit einer Spange fest, die sie auf dem überfüllten Nachttisch findet. Dort müsste auch ihre notdürftig, aber kreativ reparierte Brille liegen, doch die ist mal wieder runtergefallen.

Leise geht sie hinaus. Die niedrige Kirschholztür knarrt, bevor sie knackend ins Schloss fällt. Sie durchquert ihr Arbeitszimmer und startet im Vorbeigehen den PC, der jeden Tag ein bisschen langsamer wird. Kurti, der kastrierte Kater, kommt ihr auf der Treppe entgegen und maunzt. Er wird jetzt so lange um ihre Beine streichen, bis sie ihn füttert. Sie unterdrückt den Brechreiz, als sie das Katzenfutter aus der Dose in sein Schälchen leert. Im Sommer muss er sich seine Mahlzeiten selber fangen.

In der Küche drängen sich schmutziges Geschirr, leere Weinflaschen und Essensreste vom Vorabend auf der Arbeitsfläche aus massivem Birnenholz. Dort steht auch das Minischränkchen an der Wand, in dem sie Marmeladen und Kaffee aufbewahrt und das als Ablage für ihre Tabletten dient: eine für die lahme Schilddrüse und eine halbe für den zu hohen Blutdruck. Mit einem leisen Knacken drückt sie die Pillen aus den Silberkärtchen. Die Blutdrucktablette sieht aus wie ein kleines Herz und hat einen Spalt in der Mitte, damit man sie gut teilen kann. Wie witzig. Wie passend. Sie stellt sich vor, wie diese winzigen zerbrochenen Herzen sich Stück für Stück in ihr zerfleddertes großes Herz einfügen. Zu spät, ihr Lieben, die Wunden sind vernarbt.

Sie setzt sich zum erkalteten Ofen und schlüpft in die bereitgestellten Fellstiefel. Dann nimmt sie die volle Aschenlade heraus und bringt sie zum Misthaufen. Als sie aus der Tür tritt, fliegen die Vögel vom Vogelhaus auf: Meisen, Rotkehlchen, Amseln und Kleiber. Seit zwei Jahren gibt es keine Spatzen mehr. Dafür ist ein ganzer Schwarm rot-schwarz gefiederter Bergfinken da, der auf seiner Reise nach Russland für ein, zwei Wochen ihre Futtermittelkosten in die Höhe treibt.

Der Firnschnee hat eine Haut aus gefrorenem Eis, die hell krachend unter ihren Schritten zersplittert. Grau staubt die Asche auf verrottendes Gemüse. Sie stapft zurück, holt Holz und heizt ein. Dann setzt sie Wasser für den Kaffee auf, räumt den Geschirrspüler aus und wieder ein, entsorgt die Weinflaschen, wäscht die Kochtöpfe ab und deckt den Frühstückstisch mit dem türkisen Gekringel der Gmundner Keramik. Die wirkt immer fröhlich. Sie holt Brot, Butter, Marmelade, Milch und Honig. Manchmal gibt es auch ein Ei oder Obst dazu.

Sie holt die Tageszeitung aus dem amerikanischen Postkasten, der beim Garteneingang auf einem schiefen Stempen steckt. Wieder in der Küche schaut sie nach dem prasselnden Feuer und gießt Kaffee auf. Sie setzt sich an den gedeckten Tisch, füllt ihre Tasse mit dem schwarzen Gebräu, das sie schon als Kind gerne getrunken hat, streicht ein Marmeladenbrot und sucht in der Zeitung nach den Todesanzeigen, unter denen sich meistens das Sudoku befindet. Manchmal vermutet sie hinter dieser Anordnung eine böse Absicht.

Heute findet sie eine auffallende Todesanzeige vor: eine ältere Frau lächelt sie mit geröteten Wangen aus einem Allerweltsfoto an. Daneben stehen die Worte „Ich musste leider gehen.“ Da muss sie selber auch lächeln. Das Sudoku ist heute nicht schwer. Sie trägt die Zahlen ein, deckt ihren Teller ab, nimmt ihre Kaffeetasse, stellt die Luftzufuhr beim Ofen auf die niedrigste Stufe und geht an ihren Computer im ersten Stock. Ihre Partner aus der Scrabble-Liga haben geschrieben. Ein Spiel wird sie verlieren. Das andere Spiel befindet sich in der Endphase. Sie liegen Kopf an Kopf. Alles hängt davon ab, ob sie ihr Ü anbringen kann. Sie überlegt sich ihre nächsten Züge, tippt die Worte in das Spielfeld und schickt sie ab.

Dann öffnet sie die Maharishi-Datei.

1 Heilige

2 Ein Ensemble aus weiter Hose und weitem Hemd, das im Punjab getragen wird

3 Gewickeltes Kleidungsstück der Männer, Pendant zum Sari der Frauen

4 Göttlicher Meister

5 Gebetskette

6 Rudrakshasamen: Tränen von Shiva, mystische Perlen mit Shivas Energie

7 „Es lebe der göttliche Meister“ – gemeint war Maharishis Meister Guru Deva

8 Dicker Seemannspullover

Auf der Suche

I

Meine erste Verbindung zu östlichem Gedankengut ist mir bis heute unerklärlich. Der Vater einer Klassenkameradin war gestorben. Der Tod war plötzlich nicht nur ein Wort, sondern eine Realität, die gefährlich nahe gerückt war. „Ein Mensch wird so oft wiedergeboren, bis er alles verstanden hat“, sagte ich zu einer Freundin, mit der ich mich auf dem Heimweg befand, und drückte damit etwas aus, was für mich, solange ich denken konnte, Teil meines individuellen Selbst- und Weltverständnisses gewesen war, so klar wie die Sonne am Himmel, weshalb ich auch nie mit jemandem darüber gesprochen hatte. Was gab es da noch zu fragen? Es war doch so offensichtlich. Dieses Wissen mutierte zum Glauben, als ich im Gespräch mit meiner Schulfreundin plötzlich über die Tatsache stolperte, dass andere Menschen offensichtlich etwas anderes glaubten. Das war der Beginn meiner religiösen Suche, der Beginn endloser philosophischer Gespräche mit dem Vater meiner Schulfreundin, der mich darüber aufklärte, dass die Vorstellung der Seelenwanderung ein wesentlicher Teil uralter östlicher Religionen sei.

Ich habe immer wieder überlegt, durch wen oder durch welches Buch ich auf diese Gedankengänge gekommen sein könnte, aber ich habe nichts gefunden. Ich bin in der Nachkriegszeit groß geworden. Meine Eltern hatten in Danzig alles verloren und waren vollauf damit beschäftigt, den Verlust der Heimat zu verkraften und eine neue Existenz für ihre fünfköpfige Familie aufzubauen. Sie hatten keine Zeit für religiöse Fragen. Im Bücherschrank meiner Mutter gab es „Und ewig singen die Wälder“ und „Hölle, wo ist dein Sieg?“, aber weit und breit keine einzige religiöse oder philosophische Abhandlung. Mein Vater kannte nur seine Akten. Familiengespräche drehten sich – wenn überhaupt – nur um die Flucht, um die Flucht und noch einmal um die Flucht oder um praktische oder organisatorische Probleme, allenfalls noch um Klatsch und Tratsch: Ach, in Danzig war es so schön. Wenn der Krieg doch nicht gewesen wäre. Ich hatte gedacht, wir können wieder zurück. Sollen wir einen Fernseher anschaffen? Fahren wir am Sonntag an die See? Passt der Pullover zum Kleid? Was soll ich auf dem Geschäftsempfang anziehen? Der Ausschnitt ist zu tief und der Rock ist zu kurz. Tante Emma hat sich aber wieder mal herausgeputzt! Seid still, Papi muss arbeiten!

Meine Eltern waren Weihnachtschristen. Kein Weihnachten ohne „Stille Nacht“ und stille Tränen in den Augen meiner Mutter. Das übrige Jahr war Religion kein Thema. Mein Vater gehörte der Gemeinde der Wissenschaftsgläubigen an und schlief Jahr für Jahr bei der Weihnachtspredigt ein. Während einer dieser obligatorischen, zum weihnachtlichen Familienritual zählenden Gottesdienste donnerte ein zorniger Pfarrer über die eingezogenen Köpfe der übrigen, zahlreich versammelten Weihnachtschristen: „Warum seid ihr denn überhaupt da? Ihr wollt euch doch nur eure weihnachtliche Himbeersauce abholen!“ Da wachte sogar mein Vater auf. „Ich bleibe ja nur Mutti zuliebe in der Kirche.“ Diese Mutti war aber keineswegs tiefgläubig. Sie glaubte in der Manier, wie andere auf Holz klopfen. Unverstandene Fetzen eines wie auch immer zustande gekommenen Kinderglaubens ließen sich auch von der Gewissheit der Vergeblichkeit nicht ausrotten. Unsere Vorfahren waren Calvinisten gewesen. Meine Eltern waren es pro forma auch. Deshalb war ich vom Religionsunterricht befreit. Woher hatte ich also das für mich so selbstverständliche „Wissen“ um die Seelenwanderung?

1965 kam ich in England erneut mit östlichem Gedankengut in Berührung. Ich war gerade einundzwanzig und war von meinen Eltern zum Sprachstudium nach Bournemouth geschickt worden. Meine Tante lud mich nach London ein und stellte mich einer Yogalehrerin vor. Ihr Kleid war leger. Das weiche Material war weit zugeschnitten und umschmeichelte schwingend ihren vollschlanken Körper. Dunkelblonde Locken umrahmten ihr ovales Gesicht und fielen ungezähmt auf die Schultern. Der volle Mund war ungeschminkt, die Augen klar und freundlich. Ich hatte als Teenager noch eng geschnürte Taille, Petticoats und Stöckelschuhe durchlitten, kannte die Frauengeneration meiner Mutter nur in eng sitzenden Kostümen mit hoch geschnalltem Busen und stramm sitzenden Strumpfgürteln, die Haltung in allen Lebenslagen erzwangen. Das dauergewellte Haar dieser Frauen war immer perfekt toupiert, frisiert und unter Spray erstarrt. Ungeschminkt fühlten sie sich nackt. Die Yogalehrerin war für mich wie ein Wesen von einem anderen Stern. Sie erzählte mir von Yogananda.

Ich kaufte mir sein Buch „Autobiographie eines Yogi“ und verschlang es. Es erzählte von Materialisationen und Dematerialisationen, von einem Meister, der schon immer auf Yogananda gewartet hatte, von einem bei seiner Geburt aufgetauchten Amulett und anderen wundersamen Ereignissen, die die mir bekannte Welt auf den Kopf stellten und ans Märchenhafte grenzten. Besiegelt und bekräftigt wurde die Wahrheit des Beschriebenen durch die von mehreren Menschen bezeugte Tatsache, dass der Körper Yoganandas nach seinem Tod über Wochen nicht verweste. Ich sah mich vor eine Entscheidung gestellt: Wenn das, was Yogananda in diesem Buch beschrieb, wahr war, befand ich mich auf dem Holzweg, dann befanden sich alle Menschen, die ich kannte, auf dem Holzweg, egal, ob sie sich auf dem Kapitalisten-, dem Kommunisten-, dem Christen-, dem Karriere-, dem Sozial-, dem Schönheits-, Sport- oder Vergnügungstrip be fanden. Denn wenn Yogananda in diesem Buch die Wahrheit beschrieb, gab es offensichtlich eine Parallelwelt zu der mir bisher bekannten Diesseitigkeit, mit der man Kontakt aufnehmen konnte. Es gab nur eine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden: Ich musste selber Meditationserfahrungen machen.

Da es Yoga und Meditation damals noch nicht in jedem Supermarkt zu kaufen gab und die Yogalehrerein weit weg in London war, entschloss ich mich zu einem Experiment der Marke Eigeninitiative: Ich kaufte mir ein Buch über Meditationstechniken. Darin stand:

Nehmen Sie einen Apfel und legen Sie ihn vor sich hin. Setzen Sie sich in den Schneidersitz, besser noch in den Lotussitz. (Siehe Abbildung Nr.1) Achten Sie darauf, dass Ihre Wirbelsäule gerade aufgerichtet ist und betrachten Sie den Apfel. Prägen Sie sich jede Einzelheit dieses Apfels ein. Nehmen Sie sich Zeit. Wenn Sie glauben, alle Einzelheiten des Apfels zu kennen, schließen Sie die Augen und stellen Sie sich diesen Apfel vor. Denken Sie nur an diesen Apfel, an nichts als an diesen Apfel. Wenn Sie merken, dass Sie sich an eine Rundung, eine Färbung, an den Glanz oder den Stiel des Apfels nicht genau erinnern können, öffnen Sie die Augen und betrachten den Apfel erneut. Dann schließen Sie wieder die Augen und vervollständigen das geistige Bild des Apfels. Wiederholen Sie den Vorgang so lange, bis Sie das vollständige Bild des Apfels unverrückbar vor Ihrem geistigen Auge haben. Denken Sie an nichts anderes als an diesen Apfel. Verweilen Sie bei diesem Bild, nur bei diesem Bild.

Darunter fand ich eine Fußnote: „Es ist möglich, dass Sie Alpträume bekommen werden.“

In den folgenden Tagen verschlang ich regelmäßig meine Beine zum Schneidersitz, da der Lotussitz höhere Mathematik für meine Gelenke war, streckte meine Wirbelsäule und betrachtete einen Apfel, nur diesen Apfel, nichts als diesen Apfel, bis ich glaubte, vorher noch nie einen Apfel gesehen zu haben. Dann schloss ich die Augen und stellte mir diesen Apfel vor, nur diesen Apfel, diesen ganz individuellen etwas schiefen Apfel, nur diesen Apfel, nur diesen Apfel, nur diesen Apfel – und ich bekam Alpträume, nichts als Alpträume. Aber sie hatten keine Ähnlichkeit mit dem immer wiederkehrenden Teppichtraum meiner frühesten Kindheit: Immer wieder hatte ich einen Laden betreten, an dessen Wänden riesige aufgerollte Teppiche lehnten. Plötzlich entrollten sie sich und aus jedem wand sich eine Schlange. Bald bedeckten sie einander umschlingend den ganzen Fußboden. Sie schlossen mich von allen Seiten ein. Ich floh in die Mitte des Raumes, wo sich aus einem Teppich ein Brunnen gebildet hatte. Hilfe suchend beugte ich mich über seinen Rand und schaute durch ein bodenloses Loch in die Schwindel erregende Tiefe des Universums. Hinter mir die Schlangen, vor mir das Nichts – die Panik riss mich jedes Mal ins Wachbewusstsein. Ich wusste: Ich hatte nur geträumt.

Die Apfel-Alpträume hatten eine andere Dimension. Ich kann mich an keinen speziellen Inhalt erinnern, denn es waren nicht die Trauminhalte, die mich in Panik versetzten. Es waren die Zustände, in die ich geriet. Bisher kannte ich wachen, schlafen und träumen. Jetzt erlebte ich Zustände, die irgendwo dazwischen lagen. Manchmal wusste ich nicht mehr, ob ich träumte, schlief oder ob ich wach war, manchmal schien ich neben mir zu liegen. Die Wanderung zwischen den Bewusstseinszuständen nahm bizarre Formen an. Ich bekam es mit der Angst zu tun und brach die Apfel-Meditationen ab. Was blieb, war ein schlummerndes Gefühl, eine vage Gewissheit, dass es eine Dimension gab, die weit über alles hinausging, was ich bisher kannte, eine Zone des Lebens, die mich magisch anzog, die man aber offensichtlich nicht ohne kompetenten Reiseleiter betreten sollte.

Vielleicht hätte ich schon damals begonnen, intensiver auf die Suche zu gehen. Aber ich wurde gerade von meiner ersten, unerfüllbaren, unglücklichen, unschuldig bedingungslosen Liebe geschüttelt. Sie zerfranste mir die Seele, riss mich auf und heilte alle Wunden, raubte mir alle Kraft, beflügelte mich, ließ mir keine Ruhe, jagte mich und lähmte mich, schenkte mir himmelhohe Jauchzer und trieb mich zur Verzweiflung. ‚Dein ist mein Herz! Dein ist mein Herz, und soll es e-he-wi-hig, e-he-wi-hig bla-ha-ha-hahaheiben!’9

Also eigentlich alles ganz normal, aber meine Eltern spielten verrückt, denn als ich geboren wurde, hatte diese meine erste Liebe schon zwei Kinder und als ich Horst 1963 kennenlernte, waren es sechs – das jüngste zehn. Wir waren nicht gesellschaftsfähig. Ich lernte die ungesunde Kunst der Verstellung und kaute die Wahrheit wie Betelblätter. „Wir zeigen ihn wegen Verführung Minderjähriger an!“, drohten meine Eltern. „Dann streite ich alles ab!“, konterte ich. Sie stempelten mich zur Sünderin und ihn zum geilen Hurenbock und schickten mich nach England. Seine Frau wollte sich das Leben nehmen, seine Kinder stellten Abwehrraketen auf. Mein Beziehungsfeld wurde zum Schlachtfeld. Ich floh nach Afrika in die Entwicklungshilfe, genauso wie viele amerikanische Peace Corps Boys vor dem Vietnam-Krieg.

Ich sah mich schon lächelnd mit kleinen Negerlein im Arm, die allesamt glücklich darüber waren, dass ich endlich aus Deutschland gekommen war, um ihren Müttern zu zeigen, wie sie sie ernähren sollten. Alles würde gut werden: Ich würde im Dienst an der Menschheit meine Schuld verbüßen und selig werden. Aber ich hatte keine Ahnung von Kindern, keine Ahnung von Ernährung, keine Ahnung von Müttern, keine Ahnung von Sozialarbeit und keine Ahnung von Afrika. Ich hatte nur ein Jahr holprige Praxis als ungelernte Schreibkraft in der Zentrale des Deutschen Entwicklungsdienstes vorzuweisen, in die ich nach meinem Englandaufenthalt geflohen war. Dennoch schickte diese Organisation mich nach Arba Minch in die Provinz Gemu Gofa im fernsten Äthiopien, um einen Kindergarten aufzubauen. Ich hatte nur meinen Idealismus, meinen Enthusiasmus, große Abenteuerlust, mein Durchhaltevermögen, meine Überheblichkeit und Selbstüberschätzung und die Angst vor dem Stacheldrahtverhau meiner Beziehungen zu Hause. Ich hatte mich blutig losgerissen: Afrika, ich komme!

Heute würde ich auf dem Absatz kehrtmachen, würde die Überforderung sofort und ohne Scham zugeben. Damals dachte ich, ich müsste diese Zeit unbedingt durchstehen, die Aufgabe unbedingt bewältigen, koste es, was es wolle, und es kostete mich viel.

Die Entwicklungshilfe litt damals noch an schweren Kinderkrankheiten, die da waren: ungenügende Projektvorbereitung, Fehlinformationen, Korruption im Gastland, unzureichende Ausbildung der Entwicklungshelfer samt ihren charakterlichen Schwächen. Ich erlebte nur ein einziges wirklich erfolgreiches Projekt: eine Hühnerfarm in der Provinz Gonder. Die Farm wurde von der einheimischen Bevölkerung angenommen und nach entsprechender Einschulung auch selbstständig betrieben. Das brachte dem Dorf relativen Wohlstand. Der Versuch, diesen Erfolg in Arba Minch zu wiederholen, scheiterte an Kommunikationsschwierigkeiten. Nachdem die Ställe gebaut worden waren, sollte der Entwicklungsdienst die Hühner liefern, die Stadt das Futter. Der Entwicklungsdienst bestand darauf, die Hühner erst zu liefern, wenn das Futter da wäre. Die Stadt bestand darauf, das Futter erst zu kaufen, wenn die Hühner da wären. Als ich ankam, zog sich die Debatte schon erfolglos über mehrere Jahre. Schließlich beschlagnahmten die Priester von Arba Minch die Ställe und machten sie zu ihrer komfortablen Wohnstatt. Der Deutsche Entwicklungsdienst konnte einen Teilerfolg verbuchen. Alle anderen Projekte sah ich im äthiopischen Alltag versanden, der da hieß: negge, negge, negge – morgen, morgen, morgen – aber negge kam nie.

Fünfhundert Kilometer südlich von Addis Abeba, mitten im Niemandsland, als ich mich mit Counterparts10 und Behörden in der Stadt der „Vierzig Quellen“11 um einen einzigen Eimer Wasser pro Tag für meinen Kindergarten herumschlug, erreichten mich wieder die Vorstellungen und Praktiken indischer Religion.

Horst schrieb von seiner ältesten Tochter: „Tabea meditiert in Indien in einem Ashram. Sie lässt sich zur Meditationslehrerin ausbilden. Sie empfindet eine tiefe Liebe für die ganze Menschheit.“ Ich schrieb zurück: „Ich kann mir gut vorstellen, dass Tabea in Liebe für die ganze Menschheit zerfließt, wenn sie sich in Indien zurückzieht und sich dem Nichtstun ergibt. Sie soll mich bitte besuchen kommen. Ich wage zu bezweifeln, dass sie angesichts von so viel Dummheit und Korruption, so viel Dreck, Elend, Halsabschneidereien und immerwährenden Scheiterns auch noch von Liebe für die ganze Menschheit erfüllt wäre.“ Er antwortete: „Ich habe auch angefangen zu meditieren. Es tut mir gut. Meine Wunden heilen. Ich gehe nach Indien.“ – Ich war offensichtlich dabei, ihn endgültig zu verlieren. Mein Herz verkrampfte sich und verdrängte, dass ich gerade deshalb nach Afrika gegangen war. Das verstärkte die Krämpfe. Ich verlängerte meinen Vertrag mit dem Deutschen Entwicklungsdienst von zwei auf vier Jahre und ging, sobald ich konnte, auf Heimaturlaub.

Dort scharrte ich wie ein verirrtes Huhn bei allen Verwandten, Freunden und Bekannten nach verloren gegangenen Beziehungen, erzählte immer wieder dieselben Geschichten, erntete ungläubige Blicke und fand nirgendwo ein nahrhaftes Korn für meine Seele. Die Überflussgesellschaft war mir fremd geworden. Schließlich traf ich auch Tabea, die als frisch gebackene Meditationslehrerin aus Indien zurückgekommen war und sich Initiatorin nannte. Ich kannte sie von früher. Sie war zwei Jahre älter als ich und das einzige von Horsts Kindern, das Verständnis für mich gehabt hatte. Sie war mir auch in emotional schwierigsten Zeiten vorurteilslos entgegengekommen. Während ich in England war, hatte sie einen schweren Unfall. Danach litt sie an plötzlichen Lähmungserscheinungen und starken Kopfschmerzen. Durch die Meditation waren diese Beschwerden völlig verschwunden. Ich wurde neugierig und ließ mich von ihr in die Transzendentale Meditation einweisen.

Sie sieht den Schneepflug die einspurige Straße entlang donnern und durch den Wald hindurch entschwinden. Ein dichter Vorhang feiner Schneeflocken bauscht sich fast waagerecht über dem großen Feld, das ihr Grundstück vom Wald trennt. Der vereiste Teich verschwimmt mit der Wiese. An seinem Ufer steht der kleine Pavillon, der im Sommer von Schwarzäugiger Susanne und Hopfen überwuchert wird. Jetzt heben sich seine dünnen Eisenstützen mit ihren Verzierungen zierlich vor der weißen Welt ab, und der eiserne Scherenschnitt von Münchhausen auf der Kanonenkugel, der als Wetterhahn fungiert, schwankt im böigen Westwind, als würde er ihr zuwinken. „Komm, flieg noch einmal mit mir zu den Sternen!“

„Sei still, Lügenbaron! Du bist nie zu den Sternen geflogen, sondern nur zum Mond und jetzt thronst du auf einer umgedrehten Satellitenschüssel, die aufgehört hat, Botschaften aus fremden Welten zu entziffern. Ich werde dich im Sommer besuchen und unter deiner Obhut davon träumen, wie es wäre, wenn ich mich noch einmal auf die Reise zum Mittelpunkt der Welt begeben würde.“

Ihr Nacken schmerzt. Sie kreist die Schultern, lässt den Kopf auf die Brust sinken, hebt ihn und wendet ihn nach rechts und links. Es knackt. Ihre Halsmuskeln sind verspannt. Sie steht auf, um Mittag zu kochen.

II

Alles an Tabea war stark. Sie war groß und schlank. Ihr volles, lackschwarzes Haar sank glatt und glänzend über die kräftigen Schultern und kontrastierte ihren hellen Teint. Schwarze, gerade Augenbrauen unterstrichen den offenen Blick ihrer Husky-Augen. Ein fliehendes Kinn und eine fliehende Stirn betonten die starke Nase. Das einzig Zarte an ihr waren die weichen, fein gezeichneten Lippen, die die kräftigen Zähne zu einer weiteren Überraschung machten. Sie brauchte sich nicht zu schminken. Die Natur hatte ihr genügend eigene Farben geschenkt. Aufrecht und lächelnd erwartete sie mich im Hippie-Look, der so selbstverständlich zu ihr passte wie ein Versace-Kleid zu einem Model. Ihr Seidenpunjabi hatte kräftige Farben. Sie trug mehrere lange Ketten und etliche Armreifen. Ich hatte mitgebracht, worum sie mich gebeten hatte: eine Blume, ein weißes Taschentuch und ein Stück Obst. Ich hatte mich, wie konnte es anders sein, für einen Apfel entschieden. Merkwürdig, was man alles tut, wenn man nicht mehr weiter weiß. Tabea führte mich in ein von Räucherstäbchenschwaden erfülltes Zimmer. Der Anblick, der mich dort erwartete, stellte meine Nackenhaare auf.

Die Calvinisten waren Bilderstürmer. Sie nahmen das zweite Gebot, das die Katholiken aus dem Kanon verbannt hatten, wieder auf. „Du sollst dir kein Gottesbildnis machen, keinerlei Abbild, weder dessen, was oben im Himmel, noch dessen, was unten auf der Erde ist, noch dessen, was in den Wassern unter der Erde ist.“12 Die calvinistische Kirche in Hamburg war dementsprechend schlicht. Es gab keine Bilder, keine Statuen, keine flackernden Lichter und keinen Weihrauch. Es gab keinen Altar und kein Kreuz. Es gab nur einen Abendmahlstisch, an dem normales Weißbrot und Rotwein geteilt und auch als genau solches verzehrt wurden. „Tut dies zu meinem Gedächtnis.“ Es gab keine Wandlung, kein Gebimmel, das die Anwesenheit des Heiligen Geistes signalisierte. Es gab auch keinen heruntergeleierten liturgischen Wechselgesang. Weder standen wir beim Gottesdienst auf, noch knieten wir uns hin. Wir bekreuzigten uns nicht und sprachen noch nicht einmal gemeinsam das Vaterunser. Das Sprechen war dem Pastor vorbehalten. Die Gemeinde betete im Stillen mit oder ließ es auch bleiben. Es gab nur eine Kanzel, harte Bänke und ein donnerndes Orgelspiel, dem der Gesang der Gemeinde brav, aber in angemessenem Abstand folgte. Die Beziehung zu Gott war ganz in den Innenraum verbannt, wo jeder sehen musste, wie er damit fertig wurde.

Jetzt ließ ich mich durch Schwaden duftenden Sandelholzes vor einen Tisch führen, auf dem ein Bild stand, aus dem mir ein gestrenger Inder mit Heiligenschein entgegenblickte. Davor standen auf einem kleinen Messingtablett ein Kerzenhalter, Räucherstäbchen, ein Schälchen mit Wasser, ein Schälchen mit Reis und eine Minisauciere aus Messing, die mit einem grobkörnigen Salz gefüllt war. Wie ich später erfuhr, handelte es sich um Kampfer. Meine Nackenhaare wurden stachelig. Tabea bedeutete mir, mich auf einen der beiden Stühle zu setzen, die vor dem Tisch standen. Sie nahm mein Taschentuch, meine Blumen und den Apfel und wandte sich dem kleinen Altar zu – denn offensichtlich war dies ein Altar, ein Altar, an dem kein Gott sondern ein Mensch angebetet wurde. Augen zu und durch, dachte ich, mitgefangen, mitgehangen. Ich würde es wie die Calvinisten halten, die keine Lust hatten, das Vaterunser mitzubeten – einfach an etwas anderes denken. Was konnte schon Großartiges passieren? Vielleicht nützte es nichts, aber schaden konnte es auch nichts, hörte ich meine Mutter flüstern.