Für meine Kinder an der Kand
In Liebe

Ihr seid die Sonne meines Lebens, das Licht in dunkler Nacht und der Grund für jeden neuen Tag.

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1. Auflage November 2016

© 2016 edition riedenburg

Verlagsanschrift Anton-Hochmuth-Straße 8, 5020 Salzburg, Österreich

Internet www.editionriedenburg.at

E-Mail verlag@editionriedenburg.at

Lektorat Dr. phil. Heike Wolter, Regensburg

Bildnachweis Fotos: Sandra Wiedemann

Portrait von Sandra auf Coverrückseite sowie

Sandra und Baby auf S. → Buchblock: © Fotografie Zacherl

Schmetterlinge: © Nelli Valova – Fotolia.com

Zitatnachweis Zitat Seite → unten aus: Marie F. Mongan: Hypnobirthing.

Der natürliche Weg zu einer sicheren, sanften und leichten Geburt. Murnau, 2016. S. →.

Satz und Layout edition riedenburg

Herstellung Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-903085-45-9

Inhalt

Rückblick

Januar 2013. Der erste Monat eines Jahres, das genauso bescheiden begonnen hat, wie das alte zu Ende ging. Nicht für den Rest der Menschheit – der kam sogar ziemlich glimpflich davon. Schließlich hat der lang angepriesene Weltuntergang, der laut Interpretation des Maya-Kalenders für den 21. Dezember 2012 vorgesehen war, gar nicht stattgefunden.

Sehr schön! Also konnten alle, wie gewohnt, gute Vorsätze fürs neue Jahr fassen und eifrig Pläne schmieden. Nur nicht ich. Meine Welt hat aufgehört, sich zu drehen.

An jenem verfluchten Tag, der erst wenige Wochen zurückliegt. Der Tag kurz vor Weihnachten, an dem ich meine ungeborene Tochter zu den Sternen ziehen ließ. Oder genauer gesagt: Sie dorthin schickte. Wir wollen ja immer schön bei der Wahrheit bleiben ...

Ja, ich ließ diese Schwangerschaft vorzeitig beenden. Und das, obwohl ich mir eigentlich nichts sehnlicher gewünscht hatte. Vier Worte waren es, die das, was so schön und hoffnungsvoll begonnen hatte, zu meinem ganz persönlichen Verderben werden ließen. Vier Worte, die meinem glückseligen Zustand den Todesstoß versetzten.

Trisomie dreizehn und nicht lebensfähig.

Peng! Damit war alles besiegelt. Das Schicksal meines ungeborenen Babys – und damit gleichzeitig meines.

Nun gehöre ich also auch zu einem gar nicht mal so kleinen Kreis von Leidensgenossinnen, die alle das gleiche Schicksal teilen: Sternenmamas.

Welch geflügelter Begriff für etwas, das in Wahrheit das absolute Grauen beinhaltet! Sein eigenes Kind zu verlieren ist wahrscheinlich das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren kann. Es selbst so entschieden zu haben, stellt vielleicht noch eine minimale Steigerung dar.

Hinter mir liegt die schwerste Zeit meines Lebens: erste Verdachtsmomente während der Routineuntersuchung bei meiner Frauenärztin; Weiterüberweisung zur Pränataldiagnostik; die unfassbare Diagnose; eine Woche voller Selbstvorwürfe, Zweifel, Fragen und Gewissenskonflikte; schließlich dann der Schwangerschaftsabbruch; die stille Geburt; die Beerdigung meines Wunschkindes.

Vor mir liegt der Rest meines Lebens, von dem ich noch keine Ahnung habe, wie ich ihn meistern soll. Nun, da scheinbar alles vorbei ist, fängt es in Wahrheit doch erst richtig an! Im Moment stehe ich ganz am Anfang eines Trauerprozesses, der wohl sehr, sehr lange dauern wird. Vielleicht sogar ein ganzes Leben lang?

Wie kann man klarkommen mit dem, was ich erlebt habe? Wie schafft man es, im Alltag wieder Fuß zu fassen? Wird man irgendwann nicht mehr nur funktionieren, sondern auch wieder richtig leben können? Fragen, auf die ich keine Antworten habe. Fragen, von denen ich nie dachte, sie mir jemals stellen zu müssen. Fragen, auf die mich niemand vorbereitet hat. Doch nun ist es geschehen. Ich ließ es geschehen.

Meine Tochter ist gegangen und hat dabei ein großes Stück meines Herzens mitgenommen. Einen dunklen Fleck auf meiner Seele hinterlassend und die Angst, ihn nie wieder loszuwerden.

„Narben auf dem Körper sind ein Zeichen, dass man gelebt hat, Narben auf der Seele sind ein Zeichen, dass man geliebt hat.“

So lautet ein Zitat unbekannter Herkunft, das ich einst im Internet gefunden habe. „Schönen Dank auch!“, denke ich bitter. Vielleicht wäre es da ja gleich besser, überhaupt nicht zu lieben?! Was habe ich denn nun von dieser Liebe? Alles, was mir von meinem geliebten Kind geblieben ist, sind unglaubliche Traurigkeit, Leere – und Einsamkeit.

Nein, ich bin nicht alleine. Da sind mein Mann René und unser zweijähriger Sohn Niklas. Mit ihnen habe ich bereits meine eigene, kleine Familie. Trotzdem fühle ich mich einsam. Gefangen in mir – in einer Welt, die nur noch aus Trauer zu bestehen scheint. Und ich habe absolut keinen Plan, wie ich aus diesem tiefen Loch jemals wieder herauskommen soll.

Doch! Eine Idee habe ich. Etwas, von dem ich hoffe, dass es mir wenigstens ein kleines Stück weit bei der Verarbeitung des Erlebten helfen kann: Ich will alles aufschreiben! Das habe ich bereits beschlossen, als ich gerade mitten in dem ganzen Alptraum steckte. Während der Einleitung der stillen Geburt im Krankenhaus.

Weil ich meine Gedanken und Gefühle schon von jeher am besten schriftlich ausdrücken kann.

Weil ich hoffe, das Schreiben könnte eine Art „Therapie“ für mich darstellen und mir den Gang zum Psychologen ersparen, den mir viele empfohlen haben.

Weil ich „der Welt da draußen“ unser Schicksal und die Beweggründe für den Schwangerschaftsabbruch mitteilen will.

Weil das Schreiben schon immer meine Leidenschaft war und ich stets davon geträumt habe, eine„echte“ Autorin zu werden.

Und genau das tue ich jetzt auch. Ich schreibe.

In Trauer erstarrt

Oft kommt es mir so vor, als würde meine Welt stillstehen. Es fühlt sich an, als hätte mir irgendjemand ein Mittel gespritzt, das mich regelrecht lähmt.

Meine Bewegungen langsam und schwerfällig werden lässt – mich selbst antriebslos. Nichts scheint mehr von Bedeutung zu sein. Nichts, außer diesem furchtbaren Verlust, der mein ganzes Denken und Fühlen einnimmt, neben dem alles Andere verblasst. Ich lebe nicht mehr, sondern funktioniere nur noch. Schleppe mich von trostlosem Tag zu noch trostloserem Tag – krampfhaft bemüht, unserem zweijährigen Sohn Normalität vorzugaukeln.

Nach außen hin bin ich die ihm vertraute Mama geblieben. Innerlich aber fühle ich mich nur noch leer. Tot. Wie mein Kind.

Das ewig kalte, trübe Winterwetter trägt noch seinen Teil dazu bei. Schlecht fürs Gemüt. Trostlos. Oft bin ich froh, dass ich mich nicht in einem Angestelltenverhältnis befinde. Kein Arbeitsplatz wartet auf mich, an den ich am Tag X zurück muss. Zwar ist da meine selbstständige Tätigkeit. Doch die habe ich auf ein absolutes Minimum heruntergefahren. Ich kümmere mich nur notgedrungen um die Anliegen der wenigen Kunden, die sich bei mir melden. Von selbst aktiv zu werden und Termine zu vereinbaren – dazu kann ich mich einfach nicht aufraffen. Was hätte es auch für einen Sinn? Mein Kopf ist nicht frei, ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen. Wie sollte ich in meinem Zustand ein solides Beratungsgespräch führen?

Da verbringe ich meine Tage doch lieber vor dem Laptop! Klicke mich durch Foren mit Schicksalsgenossinnen. Suche stundenlang in Onlineshops nach passendem Grabschmuck. Sehr oft gehe ich auch hin – zu Angel Marie auf den Friedhof. Nahezu jeden Tag. Unser Sohn Niklas ist meistens dabei. Er lernt sehr schnell, dass wir dort „unseren Engel“ besuchen. Inwieweit er dabei aber einen Zusammenhang zu dem Baby herstellt, das bis vor Kurzem noch in meinem Bauch gewohnt hat? Ich weiß es nicht.

Unermüdlich wühle ich an der letzten Ruhestätte unserer Tochter immer wieder im Schnee. Grabe die Deko-Artikel aus, platziere sie neu. Besonders das schöne weiße Herz, das mit kleinen Kunstrosen besetzt ist und die Aufschrift

Angel Marie

~ Immer in unseren Herzen ~

21. 12. 2012

trägt. Die Leute sollen doch wissen, wer hier begraben liegt!

Merkwürdigerweise fühle ich den erlittenen Verlust besonders deutlich, wenn wir spazieren sind. Mein Mann und ich, Niklas in unserer Mitte. Eigentlich doch dieselbe Konstellation wie immer. Anders ist das Bild, das wir bei unseren Dorfrunden abgaben, noch nie gewesen. Unsere Tochter war ja noch gar nicht sichtbar – und doch war sie da! In meiner Vorstellung habe ich mir bereits alles ganz genau ausgemalt. Sah uns Kinderwagen schiebend durch unsere kleine Ortschaft flanieren. Die Eltern glückselig strahlend, den großen Bruder aufgeregt nebenher springend.

Das alles wird nun nicht mehr so eintreten. Stattdessen schleichen wir mit gesenkten Köpfen durchs Dorf. Hoffen, von mitleidigen und neugierigen Blicken verschont zu bleiben.

Immer öfter spüre ich auch Neid in mir. Nicht auf Paare, die ein Kind haben. Ein Kind gönne ich jedem von ganzen Herzen – immerhin bin ich selbst damit gesegnet. Aber zwei? Die perfekte vierköpfige Familie? Oft sogar noch mit dem Idealbild des Geschwister-Pärchens? So viele Leute kenne ich, bei denen es genau so ist. Da kommt gleich wieder dieses dumpfe, nagende Gefühl in mir auf. Ein Gefühl, das mich langsam von innen aufzufressen droht.

Warum die? Warum wir nicht? Was haben wir falsch gemacht, dass uns genommen wurde, was wir uns mehr als alles andere auf der Welt gewünscht hatten? Nicht große Besitztümer, dicke Autos, ein Leben in Reichtum – nein! Nur das ganz „normale“, bescheidene Familienglück hätte es sein sollen ... wie bei Millionen anderer Menschen auch. Aber anscheinend war sogar das noch zu viel verlangt ...

Bei aller Bitterkeit und Verzweiflung wird mir aber eines Tages auch klar, dass ich auf keinen Fall einen elementaren Fehler machen darf. Anlass dafür ist, dass ich mich plötzlich – scheinbar zufällig (an Zufälle glaube ich schon lange nicht mehr) – an eine sehr spezielle Erfahrung erinnere, die ich vor etlichen Jahren einmal machen durfte. Damals nahm ich an einem Wochenendseminar mit dem Inhalt „Systemische Familienaufstellung nach Bert Hellinger“ teil.

Die Grundidee dahinter ist, dass Angehörige einer Familie – egal ob noch am Leben oder bereits verstorben – miteinander „verstrickt“ sind. Es kann daher passieren, dass Familienmitglieder unbewusst das Schicksal einzelner Verwandter „übernehmen“ möchten und diese Tatsache negative Auswirkungen – wie beispielsweise Krankheiten – auf ihr eigenes Leben hat. Wer seine Familienkonstellation vom Therapeuten analysieren und danach Verstrickungen entsprechend auflösen lassen möchte, wählt aus den übrigen Seminarteilnehmern vermeintlich willkürlich Personen aus, die dann für die jeweiligen Verwandten als„Stellvertreter“ aufgestellt werden.

Für mich war das Ganze damals recht suspekt, bis ich dann selbst ausgewählt wurde und die Tochter eines Paares „darstellte“, das ihren Sohn im frühen Kindesalter verloren hatte. Seitdem verharrten sie völlig in ihrer Trauer, lebten sich komplett auseinander und ließen ihre Tochter emotional„verhungern“.

Bis heute bekomme ich noch Gänsehaut, wenn ich daran zurückdenke, welche realen und greifbaren Gefühle plötzlich in mir aufkamen, obwohl ich diese Leute doch noch nie zuvor gesehen hatte und nichts über ihre Geschichte wusste. Zwar war ich während der Aufstellung die ganze Zeit „klar im Kopf“ und wusste ganz genau, dass ich in Wahrheit ich selbst bin und nicht diese Tochter des Paares. Trotzdem fühlte ich die Emotionen der besagten Person hautnah nach, als wären es meine eigenen.

Ich war einerseits tieftraurig, andererseits aber auch wütend. Und verständnislos.

„Warum?“, habe ich mich in dieser Rolle immer wieder gefragt. „Warum trauern meine Eltern denn nur endlos um meinen Bruder? Wieso ist ihnen diese Trauer wichtiger als ich? Er ist tot – aber ich bin doch noch da! Warum sehen sie mich denn gar nicht? Reiche ich ihnen nicht?“

Es kann doch wirklich kein Zufall sein, dass ich ausgerechnet jetzt, in dieser schlimmen Phase, an das Seminar denken muss, das mehr als zehn Jahre zurückliegt. Viel wahrscheinlicher finde ich den Gedanken, dass es eine Art Ermahnung an mich sein soll. So schlimm dieser Verlust auch ist und so sehr ich darunter noch lange Zeit darunter leiden werde: Auf keinen Fall darf ich mich so in meine Trauer hineinsteigern, dass ich darüber meinen Sohn im Leben„vergesse“!

Ich beschließe, sogar das genaue Gegenteil zu machen: All die Liebe, die ich eigentlich für Angel Marie „reserviert“ hatte, aber nun nicht mehr an ihr ausleben kann – diese ganze Liebe werde ich nun Niklas zuteil werden lassen! Somit wird der Kleine künftig mit„doppelter Liebe“ förmlich überschüttet werden.

Erzwungene Auszeit

Ich verabscheue es, dass mein Bauch plötzlich wieder leer ist. Hasse es, auf einen Schlag nicht mehr schwanger zu sein. Hatte ich doch auch gar keine Zeit, mich darauf vorzubereiten. Eigentlich wären mir noch vierzehn Wochen Schwangerschaft „zugestanden“ – und hinterher ein putzmunteres Baby im Arm!

Stattdessen ist dieser Zustand, den ich so sehr genossen habe, jetzt von heute auf morgen einfach so vorbei. Ohne Happy End. Alles vergebens. Einschließlich der sieben Kilo Mehrgewicht, die von nun an zu meinen treuen Begleitern werden.

Es macht mich schier wahnsinnig, dass ich mit weiterer Familienplanung jetzt eine Pause machen muss. Am liebsten würde ich sofort wieder „nachlegen“, einen neuen Versuch starten. Doch das ist unmöglich! Mein Körper ist ja noch voll im „Schwangeren-Modus“ und daher noch lange nicht bereit dazu – von meiner Seele ganz zu schweigen.

Mir ist klar, dass es vernünftiger wäre, wenn ich erst einmal zur Ruhe kommen und versuchen würde, das Geschehene zu verarbeiten, anstatt sofort an ein neues Baby zu denken. Meine Hebamme Claudia, die kurz nach der stillen Geburt einmal zum Gespräch bei uns war, hat uns sogar empfohlen, ein Jahr Pause einzulegen – mindestens aber bis zum Ende des „regulären“ Wochenbettes zu warten, also bis Juni. Dies sei nach den Gesichtspunkten der chinesischen Medizin sinnvoll. Wenn man zu schnell wieder schwanger würde, wäre nämlich die Gefahr einer Fehlgeburt auch größer.

Scheiß auf die Chinesen! Für meinen Mann und mich war sofort klar, dass das nicht infrage kommt. Wir wollen es einfach darauf ankommen lassen und hoffen, möglichst schnell wieder eine Seele anzuziehen. Am liebsten die unserer verlorenen Tochter. Nach dem furchtbaren Verlust jetzt auch noch verhüten zu müssen, obwohl ich mir doch sehnlichst ein Baby wünsche, käme mir außerdem wie eine zusätzliche Strafe vor.

Ich vertraue auf meinen Körper, der bisher in Schwangerschaften alles richtig gemacht hat. Alles, bis auf eine „kleine“ Ausnahme in der letzten, ein winziger Fehler bei der Trennung der Chromosomenpaare, der Auslöser des ganzen folgenden Dramas war. Mein Körper wird wissen, wann er so weit ist, wieder ein Baby in sich heranwachsen zu lassen. Doch, wie lange es wohl dauern wird, bis wieder der „Normalzustand“ hergestellt ist und ich damit überhaupt erst bei Null anfangen kann? Ich mag gar nicht darüber nachdenken!

Wenn es dann endlich so weit ist, doch wieder den ganzen Zirkus von vorne, von dem ich dachte, ihn endgültig hinter mir zu haben: Warten auf den Eisprung, Sex nach Terminplan, warten und hoffen bis zum „Nicht-Mens-Tag“, Enttäuschung durch den negativen Schwangerschaftstest beziehungsweise das Einsetzen der Periode, Hoffnung schöpfen für den neuen Zyklus.

Bei der Vorstellung könnte ich kotzen! Es ist so ungerecht! Unser Niklas sollte doch ein Geschwisterchen bekommen – eine kleine, süße Schwester. Und das ohne großen Altersunterschied.

Meinen Bruder und mich trennen stolze zehn Jahre, wodurch wir als Geschwister nicht allzu eng „zusammenwuchsen“. Kein Wunder: Als er noch die Grundschule besuchte, war ich bereits von zu Hause ausgezogen und bekam von seiner Entwicklung nicht mehr viel mit. Das wünsche ich mir für meine Kinder anders. Sie sollen gemeinsam aufwachsen können und im besten Fall zusammenhalten wie Pech und Schwefel.

Unser Timing dafür war perfekt. So kurz vor der Erreichung dieses Zieles standen wir schon. Bei der „planmäßigen“ Geburt unserer Tochter wäre Niklas genau zweieinhalb Jahre alt gewesen.

Doch das Schicksal hatte es längst anders entschieden und warf uns in der Familienplanung meilenweit zurück. Jetzt stehe ich da und kann absolut nichts tun, außer abzuwarten.

Dabei hab ich das permanente Gefühl, dass die Zeit mir davonläuft. Meine biologische Uhr tickt. Im Sommer werde ich 35 – der Beginn des „kritischen“ Alters, ab dem man automatisch als Risikoschwangere eingestuft wird. Was bei mir mit meiner Vorgeschichte jetzt ja ohnehin zwangsläufig der Fall wäre. Und Niklas wird auch immer älter – mit jedem Tag, der ungenutzt verstreicht.

Wer weiß, wann ich nach der stillen Geburt überhaupt wieder fruchtbar sein werde? Wer weiß, wie viele Zyklen es dauert, bis sich eine befruchtete Eizelle erfolgreich einnistet? Und auch während der Schwangerschaft kann doch noch so viel schiefgehen, wie ich aus eigener, trauriger Erfahrung weiß.

Eine Frau aus der näheren Umgebung bestätigt mir das, als wir uns eines Tages beim Spaziergang begegnen und über unsere„Sternenkinder“ reden. Angeblich kommen laut Aussage ihrer Hebamme auf jedes Kind, das gesund zur Welt kommt, im Durchschnitt drei Verluste. Na wunderbar! Nachdem ich bereits einen gesunden Sohn habe, aber bisher „nur“ ein Baby verlor, kann ich mir ausrechnen, was mir noch blüht ...

Andererseits gibt es doch auch genügend Frauen, die überhaupt keine Fehlgeburt erleiden müssen und einfach nur ihre Wunschkinder bekommen – oder etwa nicht? Mir bleibt also nur zu hoffen, dass ich nicht jede Statistik erfüllen muss. Ansonsten wäre es wohl besser, die Flinte gleich ins Korn zu werfen. Noch einmal so etwas zu erleben, würde ich echt nicht packen!

Aber Aufgeben ist keine Option – zumindest nicht für mich. Niklas soll sein versprochenes Geschwisterchen bekommen. Und ich? Ich hoffe, dass eine neue Schwangerschaft mich trösten kann und es schafft, mich aus dem tiefen Loch herauszuholen, in dem ich mich im Moment befinde. Die Leere und die Trauer aufzufüllen mit neuer Hoffnung und Vorfreude. Den Schockzustand zu beenden. Das Erlebte ertragbar zu machen und mich mit dem Schicksal zu versöhnen – zumindest ein Stück weit.

Es ist unvorstellbar für mich, dass diese Erfahrung die letzte sein könnte, die ich in Bezug auf das Kinderkriegen mache. Das darf einfach nicht passieren, sonst würde ich wahnsinnig werden! Mit so einem Erlebnis kann man das Thema unmöglich abschließen. Da muss noch etwas anderes, Besseres nachkommen!

Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist – so heißt es doch immer. Eben. Am schönsten – und nicht am allerschlimmsten!

Neben meinen „irdischen“ Beweggründen für eine baldige Folgeschwangerschaft habe ich noch ein Motiv. Eines, das viel wichtiger ist als alle anderen. Nicht nur in diesem Leben, sondern für die Ewigkeit. Weil davon mein Seelenheil abhängt.

Hoffnung auf Absolution

Längst hat sich in meinem Kopf eine fixe Idee entwickelt: Eine neue, glücklich endende Schwangerschaft wird für mich Zeichen dafür sein, dass der Himmel und besonders Angel Marie mir meine Entscheidung zum Abbruch nicht nachtragen. Leider musste ich mich dazu nämlich entschließen, ohnef beide zuvor nach ihrem Einverständnis fragen zu können. Das heißt: Gefragt habe ich natürlich schon, ohne jedoch eine wirkliche Antwort darauf zu bekommen.

Diese Tatsache ist es, die mich nach wie vor am meisten fertigmacht. Wie kann ich sicher sein, dass es wirklich die richtige Entscheidung war? Wurde nicht in Wahrheit etwas ganz Anderes von mir erwartet?

Um diese quälende Frage nicht mit ins Grab nehmen zu müssen, habe ich mir die Logik mit der Folgeschwangerschaft zurechtgelegt. Klingt doch auch irgendwie einleuchtend, oder? Wieso sollte Gott mir ein weiteres Kind anvertrauen, wenn ich mich durch den Schwangerschaftsabbruch zur hoffnungslosen Sünderin gemacht hätte, für die es keine Rettung mehr gibt?

Ich bin mir allerdings bewusst, dass diese Schlussfolgerung ein ziemliches Spiel mit dem Feuer ist. Immerhin besteht die Möglichkeit, dass bei der Ausschabung nach der stillen Geburt gepfuscht wurde und ich dadurch gar nicht mehr schwanger werden kann. Oder meine Seele ist zu„kaputt“, um eine erneute Schwangerschaft zuzulassen. Oder ... oder ... oder ... Gründe für unerfüllten Kinderwunsch gibt es ja leider mehr als genug.

Was also, wenn es überhaupt nicht mehr klappt? In solch einem Fall würde ich bis an mein Lebensende in dem Glauben herumlaufen, dass es für meine Seele keine Rettung gibt. Aber da muss ich wohl durch! Wie sonst soll ich wissen, ob „die da oben“ mir verziehen haben oder es – im besten Fall – gar nichts zu verzeihen gibt?

Wieder und wieder hadere ich mit dem Schicksal, das mir so eine schwere Aufgabe zu lösen gab. Mir eine Frage stellte, die man doch eigentlich gar nicht beantworten kann. Sicher – in der Bibel gibt es eine klare Aussage dazu. Eines der zehn Gebote.

Du sollst nicht töten.

Daran habe ich mich auch immer gehalten, mochte nicht einmal eine Fliege erschlagen. Und meine schlimmste Angst war es, jemals – beispielsweise durch einen Verkehrsunfall – Schuld am Tod eines anderen Menschen zu sein. Jetzt ist genau das passiert. Zu allem Übel kommt noch, dass ich nicht irgendeinen Menschen auf dem Gewissen habe, sondern meine eigene Tochter.

Aber ist die Sachlage in unserem Fall nicht eine völlig andere? Schließlich ließ ich nur das, was ohnehin unausweichlich war, etwas beschleunigen. Und das aus gutem Grund! Es war der verzweifelte Versuch, das Leid sämtlicher Beteiligter möglichst gering zu halten, uns allen unnötige Schmerzen zu ersparen.

In„guten“ Momenten leuchtet mir das vollkommen ein. Da weiß ich wieder genau, warum ich so entschieden habe – und dass ich noch einmal alles ganz genauso machen würde.

Doch es gibt auch viele dunkle Stunden. Dann zermartere ich mir das Hirn über das Geschehene.

Hatte ich wirklich das Recht dazu? War es richtig, den unweigerlich bevorstehenden Abschied zu beschleunigen? Meiner Tochter die wenige Zeit, die ihr vergönnt war, noch zu verkürzen?

Wieder und wieder dieselben Fragen, auf die ich einfach keine Antworten finde. Verzweifelt suche ich nach Argumenten, die meinen Entschluss rechtfertigen und mein Gewissen erleichtern sollen. Ergreife dabei dankbar jeden Strohhalm, der sich mir bietet.

Darum ist es längst zu einer Art Sucht geworden, mich mit anderen Frauen auszutauschen, ihnen meine Geschichte zu erzählen. Immer und immer wieder. In der Hoffnung auf Verständnis. Nein, mehr als das. Auf Zustimmung. Das Gefühl vermittelt zu bekommen, richtig gehandelt zu haben. Die verzweifelt herbeigesehnte Absolution.

Am leichtesten fällt mir dieser Austausch im Internet. Dort ist alles so schön anonym, und es wäre weit weniger schlimm, wenn mich jemand tatsächlich für mein Handeln verurteilen würde. Außerdem konnte ich meine Gefühle schon immer viel besser in Schriftform wiedergeben als mündlich.

Doch auch, wenn sich im „echten Leben“ die Gelegenheit zum Gespräch ergibt, ergreife ich diese meist gerne. So wie heute, an diesem sonnigen Tag Mitte Januar. Nachmittags gehe ich mit Niklas spazieren. Dabei läuft mir zufällig Lara über den Weg, eine Bekannte aus dem Dorf. Ihre Tochter Sophia ist ungefähr im gleichen Alter wie mein Sohn, weshalb wir uns ab und zu treffen, damit die Kleinen miteinander spielen können.

Beim letzten Mal musste ich ihr absagen. Unser Treffen wäre nämlich im Dezember gewesen – wenige Tage nach dem Termin bei der Pränataldiagnostik, als mein Mann und ich die furchtbare Wahrheit über unsere ungeborene Tochter erfahren hatten. Seitdem ist es zwischen uns zu keinem Gespräch mehr gekommen. Lara weiß also noch nichts Genaues, hat aber natürlich längst mitbekommen, dass ich mein Baby verloren habe. Die Nachrichtenzentrale in unserem kleinen Dorf funktioniert nämlich hervorragend.

Als wir einige Meter zusammen gegangen sind, fragt Lara mich etwas befangen: „Was ist denn passiert?“ Mein Stichwort! Leicht stockend fange ich an zu erzählen, doch dann sprudeln die Worte immer schneller und schneller aus mir heraus. Es tut so gut, mir alles von der Seele zu reden. Lara scheint nicht wirklich zu wissen, was sie erwidern soll angesichts des ganzen Grauens, das ich ihr schildere. Aber sie hört mir geduldig zu, wofür ich ihr sehr dankbar bin. Wie selbstverständlich führt unser Weg uns schließlich zum Friedhof, wo wir gemeinsam Angel Maries Grab besuchen. Anschließend begleiten Lara und ihre Tochter uns heim.

Nachdem wir uns verabschiedet haben, muss ich noch lange über unser Gespräch nachdenken.

Ich bin Lara dankbar, dass sie mir zugehört hat und ich ihr mein Herz ausschütten durfte. Sie hat mir das Gefühl gegeben, dass sie die Entscheidung, die ich schweren Herzens getroffen habe, nachvollziehen kann. Sehr wichtig für mein strapaziertes Seelenheil!

Aber das reicht mir noch nicht. Abends beschließe ich, „noch einen nachzulegen“. Ich will ganz sichergehen, dass sie mich versteht. Die Ausweglosigkeit meiner Lage erkennt. Auf keinen Fall denkt, ich hätte diese Entscheidung leichtfertig getroffen. Also setze ich mich an den Laptop und schreibe ihr eine E-Mail.

Liebe Lara!

Hier noch was zum Lesen (falls es Dich näher interessiert). Ist aber nichts für schwache Nerven.

Danke nochmal für das Gespräch heut. Hat mir echt gut getan.

Bis bald!

Liebe Grüße. Sandra

Danach heißt es abwarten. Wieder und wieder schaue ich an diesem Abend in meinem Mailprogramm, ob eine Antwort von Lara gekommen ist. Hat sie am Ende nun doch eine schlechte Meinung von mir? Verurteilt sie mich für mein Handeln? Endlich! Gespannt klicke ich auf „Öffnen“ und sauge mit den Augen jedes Wort von ihr auf.

Liebe Sandra,

ich habe mir die Links durchgelesen und angeschaut. Ich bin echt geschockt – nicht wegen der Fotos, sondern wegen der Erfahrungsberichte. Es ist so furchtbar! Man kann es nicht annähernd nachfühlen. Ich glaube, ihr habt die richtige Entscheidung getroffen – es wäre vermutlich alles noch viel tragischer gekommen, als es eh schon ist. Die kleinen Mäuse ein halbes Jahr oder so bei sich zu haben und dann geht es ihnen plötzlich schlecht und sie sterben. Es gibt doch nichts Schlimmeres. Ich denke an euch und an Marie und schicke euch ganz viel Kraft! Melde dich, wenn du was brauchst,

Lara

„Na also!“, denke ich beruhigt. „Von wegen verurteilen! Sie ist auch der Meinung, dass ich mich richtig entschieden habe.“ Doch beinahe sofort meldet sich wieder die „böse“ Stimme in meinem Kopf – die es in schöner Regelmäßigkeit darauf anlegt, meinen Gewissensbissen neue Nahrung zuzuführen. „Moment! Wie war noch gleich der genaue Wortlaut in der Mail?“

Ich glaube, ihr habt die richtige Entscheidung getroffen.

Glauben heißt nicht wissen ... Das bedeutet doch, Lara ist sich gar nicht sicher! Doch wie sollte sie auch – als Außenstehende, die sich überhaupt nicht in eine solche Lage hineinversetzen kann? Wir sind uns ja selbst nicht sicher. Uns bleibt nur die verzweifelte Hoffnung, dass unsere Entscheidung die richtige war. Dass sie im Sinne unserer Tochter war. Um das mit Sicherheit feststellen zu können, brauche ich meine persönliche Absolution: Ich muss so schnell wie möglich wieder schwanger werden! Beim nächsten Mal aber dann mit Happy End.

In die Irre geführt

Wenige Wochen nach der stillen Geburt habe ich berechtigten Grund zur Hoffnung. Anzeichen! Ein Spannungsgefühl seitlich an den Brüsten, unterhalb der Achselhöhle. Ein Ziehen in der Leiste, das auf eine Dehnung der Mutterbänder hindeuten könnte. Es fühlt sich genauso an wie damals in der Frühschwangerschaft mit Angel Marie. Bereits vier Tage nach der Befruchtung hatte ich die ersten Anzeichen gespürt und darum trotz anfänglich negativem Frühtest das untrügliche Gefühl, schwanger zu sein.