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2. AuflageNovember 2018
© 2015-2018edition riedenburg
VerlagsanschriftAnton-Hochmuth-Straße 8, 5020 Salzburg, Österreich
Internetwww.editionriedenburg.at
E-Mailverlag@editionriedenburg.at
AutorGottlieb Eder, Uttendorf
LektoratDr. Heike Wolter, Regensburg
BildnachweisCover: © Vector Tradition - Fotolia.com
Dino-Briefmarke © rook76 - Fotolia.com
Schamanen-Fotos auf S. 165 © Ingo Striek
Sämtliche andere Fotografien © Gottlieb Eder
Satz und Layoutedition riedenburg
HerstellungBooks on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-9908-2012-4

Inhalt

Anreise

„Das Glück ist ein Schmetterling. Jag ihm nach, und er entwischt dir. Setz dich hin, und er lässt sich auf deiner Schulter nieder.“ Diese Weisheit stammt von Anthony de Mello. Während ich darüber nachdenke, wie ich mich meinem mongolischen Schmetterling nähere, startet das Flugzeug.

Mein Fensterplatz macht mir nach dem Schließen des Sitzgurtes erst einmal die Unsicherheit technischer Flügel bewusst. Hoffnungsvoll rotieren die Turbinen, aber die blockierten Räder verhindern das Abheben. Unruhe löst das Warten nicht nur in meinem Kopfe aus. Viel Zeit verstreicht, ehe sich das verantwortliche Team zur Aufklärung der Passagiere durchringt. Ein massiver Brandherd bedroht eine Frachtmaschine im Anflug. Sämtliche Feuerwehren werden zur Rettung der Maschine an den Pistenrand dirigiert. Die Notsituation bedingt, dass jede Starterlaubnis rigoros verweigert wird.

Wenige Minuten später schiebt sich ein Fahrzeug mit einem auffallend großen Buckel am Bug, ähnlich der hohen Stirn von Delphinen, in den Blickwinkel meines Bullauges. Immens ist der Aufmarsch an zuckenden Blaulichtern. Vom Rumpf verhüllt sind die Feuerzungen. Dunkle Rauchschwaden dringen in Schüben aus einer undefinierbaren Stelle der Metallhaut. Näher rücken die Löschfahrzeuge dem Qualm. Allmählich legt sich sanft die Dämmerung über das Areal und verschmilzt mit dem Pulsieren der Rauchwolken. Viele gleißende Scheinwerfer ersetzen das weichende Naturlicht. Sie sorgen für ein fast taghelles Ausleuchten des Unfallortes.

Eine geschlagene halbe Stunde später kündigt der Pilot einen weiteren Aufschub des Startrituals an. Doch geduldig und mit Verständnis harren wir Fluggäste auf das erlösende Vibrieren der Triebwerke. Im Schneckentempo rollt unsere Maschine zu einer freigegebenen Startbahn und steht mit elf weiteren Flugzeugen im Halbkreis aufgereiht im Stau. Exakt im Intervall von zwei Minuten entlässt der Tower die Flugzeuge in den düsteren Himmel. Sanft kupiert ist die satte Wolkendecke. Sie erinnert mich an eine unendlich weitläufige „Buckelpiste“ auf nicht präparierten Skiabfahrten. Das zarte Himmelslicht betont eine Flanke der Formation. Abgrenzender Schatten nistet in den Mulden. Grautöne vernetzen den Kontrast. Am fernen Horizont schließt waagrecht ein Regenbogen an, der sich mit blassen Spektralfarben in das Blau des Firmaments verabschiedet.

Angesichts der Reisenden sinniere ich weiter: Das Halten von Hühnern in Legebatterien ist verboten. Dem durchschnittlich beleibten Menschen in Normalgröße jedoch muten die Flugzeugbauer erhebliche Belastungen auf Langstreckenflügen zu. Wirtschaftliche Interessen bestimmen den Abstand zwischen den Sitzreihen. Geld kommt vor Gesundheit. Gewitzte Reisende verstauen ihr Handgepäck im unbescheidenen Ausmaß von Koffern oder bauchigen Taschen rasch in der Ablage über den Köpfen. Platzmangel führt regelmäßig dazu, dass die Letzten ihre Utensilien mit Aufwand unter den Sitz quetschen müssen und sich so der eigenen Fußfreiheit berauben.

Neben mir in den Sitz hat der Prototyp eines Sumoringers seine Masse gezwängt. Er müsste wohl seine muskulösen Arme in die Höhe strecken, um mein Revier nicht in Beschlag zu nehmen. Ohne Gewissensbisse rammt er mir den Ellbogen in die Rippen und fällt alsbald in einen entspannten Schlaf. Meinen Widerstand scheint er nicht zu spüren. Sein Gaumensegel rasselt mit dem Sound der Turbinen um die Wette. Übergriffig behindert der Koloss meine Entfaltungsmöglichkeiten. Unbehaglich wärmend wirkt sein Körperkontakt. Auch die verströmten Pheromone sind kein Fest für meine Nase. Eingeengt finde ich kaum Platz zum Atmen.

Als Nächstes beschäftigt eine verpfuschte Vorsorge bezüglich möglicher Venenprobleme meine Gedanken. In bunten Bildern geistert die Panne vor meinen Augen. Vorbeugen ist ja bekanntlich besser als heilen. Das führte mich zwecks Informationsbeschaffung in die Ordination: „In deinem Alter und mit den frisch operierten Krampfadern“, meint ehrlich besorgt mein beratender Hausarzt und Freund, „würde ich auf jeden Fall der Gefahr einer Venenthrombose vorbeugen.“ Zur Verstärkung seiner Worte drückt er mir den Befund eines Berufskollegen in das Gewissen. Auf einem Langstreckenflug hatte den Mann eine Lungenembolie mit Komplikationen erwischt. Ausgelöst durch eine Thrombose des gesamten Beines. Verunsichert leiste ich mir gerne die kostbaren Spritzen. Der Anschauungsunterricht bezüglich der Nadelsetzung erweitert mein bescheidenes medizinisches Basiswissen. Versorgt mit einer minimalen Reiseapotheke verlasse ich beschwingt die Praxis.

Verdammter Yakmist! Ungeübt im Umgang mit Nadeln und Spritzen, vermurkse ich im schummrigen Licht des Klos ein erhebliches Volumen der Thromboseinfusion. Angesichts des langen Stechapparates quetsche ich eine dicke Gewebefalte auf dem linken Oberschenkel zusammen. Neuerlich ramme ich mir, diesmal mit mehr Mut, die Nadel bis zum Anschlag in das Fleisch und injiziere den Rest der Lösung. Total verunsichert durch die nicht einschätzbare Vergeudung der Vorbeugung suche ich das Erste-Hilfe-Zentrum auf. Geduldig hört sich die Frau mein Klagelied an und verweist mich zur Apotheke. Ohne Rezept verweigert mir die Belegschaft den Wunsch nach einer Ersatzspritze. Eine Schachtel voll Tabletten gegen Kopfschmerzen ist ihr alternativer Vorschlag.

Mein konfuser Adrenalinspiegel beschert mir chaotische Bocksprünge. Eigentlich liegen mir Reisen und Fliegen im Blut. Alpenrundflüge zu besonderen Anlässen haben schon vor Jahrzehnten für Respekt gegenüber der Naturkulisse gesorgt. Aus der Sicht der Adler genieße ich das phantastische Profil der Erdkruste. Euphorische Schwingungen bereitet mir der Tiefblick aus dem Fenster. Platt die Nase an die vibrierende Scheibe gedrückt, sauge ich die Eindrücke der vorbeihuschenden Landschaft wie ein Schwamm auf. Und nun die keimende Angst, das Unruhegefühl, das allmählich den ganzen Körper als Resonanzkasten missbraucht.

Ich leide nicht an Übelkeit und kalten Händen. Weder zittern die Fingerspitzen noch peinigen mich kalte Schweißausbrüche als Symptome einer bis dato unbekannten Flugunruhe. Nie wäre ich vorher auf die Idee gekommen, mich durch die Einnahme von dämpfenden Beruhigungsmitteln oder hochprozentigen Flüssigkeiten zu betäuben. Leider schleicht eine gedankliche Serie von fürchterlichen Unglücksfällen wie Gift durch mein Blut. Das Ausgeliefertsein gegenüber der Crew und der Technik über den Wolken kurbelt die Hirngespinste an. Unerklärlich ist mir diese fremde Facette meines Wesens. Statistiken sind ein ausgezeichnetes Placebo, aber sie betäuben nicht meine Sorge.

Verflixt, warum müssen auch innerhalb von wenigen Wochen vor Antritt meiner ersehnten Mongoleireise zwei Airbusmaschinen von den Radarschirmen verschwinden. Mongolia Airlines – mit dem stilisierten Pferdekopf samt wehender Mähne als Logo – fliegt auch mit dem Flugzeugtyp und erzeugt das Zirkulieren der schwarzen Gedankenblitze. Mein Verstand kämpft mit Tricks der Logik gegen das Kribbeln im Bauch. Eine gewisse Müdigkeit gewinnt allmählich Oberhand. Beruhigend wirkt die Monotonie der Triebwerke.

Mit keiner Silbe hat meine Reiseagentur den Zwischenstopp in der russischen Hauptstadt erwähnt. Auf jeden Fall ist der unerwartete Zeitvertreib gesund für die Durchblutung meiner Füße. Das Stundenmaß verliert ohnehin mit Annäherung an das Zentralland des asiatischen Kontinents an Bedeutung. Entschleunigung ist kein abgeschlecktes Modewort, sondern bewährte Lebenspraxis. Statt gebuchtem Direktflug entpuppt sich „Midnight in Moskau“ als übliche Schikane. Billig tanken ist der Hauptgrund. Vorgeschoben wird der Aspekt der Reinlichkeit.

Ein Trupp der Putzbrigade – nach dem umständlichen Verlassen sämtlicher Passagiere samt ihrem Besitz – kämpft sich durch die Sitzreihen. Jedes Gepäckstück wird neuerlich vom missmutig gelaunten Personal auf verbotene Utensilien durchleuchtet. Geldbeutel, Hosengürtel und Armbanduhr folgen im abgetakelten Plastikkorb auf den Transportrollen.

Nach dem Durchschreiten der Kontrollpforte fühlt sich eine niedere Charge mit dem Habitus eines Generals berufen, uns Touristen, Geschäftsleuten, heimkehrenden Studierenden oder Europäern in Begleitung bildhübscher Mongolinnen eine gelbe Kunststoffkarte mit dem Aufdruck „Transit“ in die Hand zu drücken. Akribisch belauern uns die Uniformierten, derweil wir im Schneckentempo zum Zeittotschlagen in einen Kreisverkehr geschickt werden. Quengelnde Kinder oder Menschen mit lautem Organ ziehen sofort strafende Blicke der bekappten Beamten auf sich.

In der Männertoilette steht das Wasser bis zum Türanschlag. Ekelhaft verschmutzt sind die meisten Kabinen. Aus den offenen Müllkübeln stinken die benutzten Papiere. Bunt durchgemischt ist das Publikum.

Der Zufall führt mich in die Fänge eines gesprächigen Herrn. Aus heiterem Himmel quatscht mich der Mann mit einem unüberhörbaren sächsischen Dialekt an. „Sind Sie geschäftlich unterwegs?“, bohrt er mir eine Frage ohne Umschweife ins Hirn. Ohne meine Antwort abzuwarten, stellt er mir seine charmante Begleiterin mit dem mandeläugigen Kleinkind auf dem Arm vor und ergänzt redselig: „Ich mache Urlaub bei meinen Verwandten und freue mich auf das Jurtenleben. Drei Wochen lang.“

„Nach der Frist“, unterbreche ich spitzbübisch, „wird Ihre mongolische Sippe wohl froh sein, wenn Sie wieder die Heimreise antreten.“ Mit meiner leichtfertigen Feststellung hüpfe ich beidbeinig in die fette Yakmilch und reize seinen Unmut.

Lauter wird sein Ton, aber nicht unfreundlicher. „Sie haben recht, in meiner Heimat wären die Leute mit Sicherheit genervt, aber in der Mongolei hat die Gastfreundschaft einen sehr hohen Stellenwert. Ich könnte ohne Schwierigkeiten gar drei Monate lang bei meiner neuen Familie bleiben. Sie würden beim Abschied trotzdem Tränen vergießen.“

Nach dem Einsammeln des Transitstreifens – er fungiert quasi als Platzhalter – und der oberflächlich scheinenden Überprüfung der Listen tauchen ein paar neue Gesichter auf. Sie füllen die restlichen Sitzlücken auf. Aufgescheucht räumen Nutznießende der ersten Etappe widerwillig ihre bequemen Doppelplätze. Fünf Stunden und vierzig Minuten währt der von wenigen Turbulenzen geschüttelte Flug bis zum Zielflughafen Chingis Khan in Ulan Batar. Die Zeitverschiebung frisst insgesamt exakt sechs Stunden. Verrückt tickt die biologische Uhr.

Unbelästigt durch die Zollbehörde schreite ich in die Halle. Im Schlepp meine unförmige Outdoortasche. Prall gestopft mit dem Notwendigsten zur Fliegenfischerei, Altkleidern im wasserdichten Rollsack und einer Isoliermatte samt Schlafsack. Die Gewichtsbeschränkung auf den Inlandsflügen macht erfinderisch und reduziert überflüssigen Kram. Mein Empfangskomitee hat sich überraschend vom versprochenen Dolmetscher in ein jugendliches Frauenpaar verwandelt. Absolut kein Fehler, denn mir ist ohnehin die Gesellschaft weiblicher Wesen angenehmer. Ihr Mitteilungsbedürfnis ist eine Quelle sprudelnder Informationen. Auch haben Frauen, zumindest bilde ich es mir ein, ein geziemend feineres Gespür für Sitten und Bräuche.

Per Mail hat mir mein Organisator den perfekten Service für meine gewünschten Kulturtage zugesichert und über das Vermittlungsnetz seiner mongolischen Ehefrau abgewickelt. Offenbar erfolgreich. Gemeinsam halten die exotischen Schönheiten einen Karton mit meinem Namenszug über ihren Köpfen und weisen mir den Weg durch die wartende Menge. Höchstpersönlich übernimmt die Managerin der aufstrebenden Reiseagentur den Taxidienst, um mich, den scheinbar potenten Dollarkunden, sicher mit ihrem wuchtigen Landcruiser ins Hotel zu bringen. Ihre Freundin verdient ihr Geld im Sprachinstitut und spricht fast akzentfreies Deutsch. Gemäß der Abmachung kümmert sie sich in den nächsten Tagen um mein Wohlergehen im Lande der Nomaden.

Immer noch zermürbt vom Fleischberg meines Sitzanrainers und seiner akustischen Präsenz – meine hinterhältig gesetzten Berührungen seiner isolierenden Fettringe zeigten kaum Veränderungen der Lautstärke –, registriere ich auf der Fahrt zum Hotel für mich ein gänzlich neues Weltbild.

Filzbedeckte Jurten, kreisrund und in der Farbe der Fettschwanzschafe, mit rostigem Kaminrohr im Zentrum der Kuppel, ziehen meine Blicke magisch an. In unmittelbarer Nachbarschaft steht stets ein rustikales Holzhaus als Zweitwohnsitz. Ein ideales Quartier für die Sommermonate. Rost und großflächige Flicken bilden einem Tarnkleid gleich das Blechdach. Eingefriedet ist das Grundstück mit einem mannshohen Lattenzaun. Die fast obligatorische Satellitenschüssel reicht mit ihrem dominanten Durchmesser auf Augenhöhe des Türstockes. Das private Areal ist bar jeglicher schmückender Stauden und Blumen. Brauchbares, Gerümpel und angehäufte Altlasten sowie Berge von Kunststoffmüll garnieren den wenig fruchtbaren Steppenboden. Kettenhunde bewachen den Privatbesitz.

Kartoffeln oder Gemüse sind der Hirtenkultur noch fremd. Es braucht wohl noch reichlich Überzeugungsarbeit der neuen Generation von einheimischen Medizinern, um den Wert von gesunden Ballaststoffen und Vitaminen aus dem eigenen biologischen Anbau ins Bewusstsein zu rücken. Schwer haben es die Produkte des Gartenbaues, sich auf der frisch initiierten „Grünen Woche“ im September gegen die ungebrochene Lust an fettem Hammelfleisch zu bewähren. Zudem kämpfen die einheimischen Bauern mit ihren Erzeugnissen gegen die Billigschwemme aus China an. Der Prozess des Umdenkens gärt langsam. Ihre Reifezeit braucht die Wertschätzung eigener Produkte.

Ein Grauschleier mit schwefelgelben Schichten lastet als Dunstglocke über den Vororten der Seminomadensiedlungen. Es stinkt. Die Luft kratzt im Hals. Mit Genuss täglich eine halbe Schachtel Zigaretten zu inhalieren scheint gesünder zu sein, als die mit winzigen Rußpartikelchen belastete Luft zu atmen.

Drei Kohlekraftwerke, informiert mich meine vermittelnde Dolmetscherin, erzeugen die notwendige Energie. Sie pusten rücksichtslos Abgase aus den filterlosen Schloten. An windstillen Tagen hustet das gemeine Volk im Umkreis der Anlagen. Atemwegserkrankungen und Lungenkrebs nehmen rapide zu. Betroffen sind vor allem Kinder und alte Menschen. Der Feinstaub ist sogar in den Blutgefäßen nachweisbar und entzündet die Wände. Zahnlos sind die Gesetze zum Schutz der Menschen und der Umwelt. Grenzwerte existieren nicht. Für die Betreiber zählt unterm Strich nur der Gewinn, die Güte der Luft belastet sie wenig.

Geschäftstüchtige Chinesen und Koreaner gehen nicht nur wegen der akuten Schweine- oder Vogelgrippe gerne mit Schutzmasken ihrer Wege.

Erlebnishotel

Die schmalbrüstige Schwingtüre verteidigt den Weg zur Rezeption. Der Hausmeister, falls es überhaupt einen gibt, muss an Tinnitus leiden. Er hört das jämmerliche Seufzen des Einganges nicht. Prompt verkeile ich mich mit der überlangen Reisetasche zwischen den pendelnden Elementen. Mein Auftritt erheitert drei junge Menschen, die im Foyer auf Arbeit warten. Sie vertreiben sich den Dienst mit Fernsehen. Meine Reservierung hat perfekt geklappt. Gänzlich unwichtig scheint der Blick in meinen Pass zu sein. Der Lift ist leider ein Opfer des akuten Stromausfalles. Mit dem Zimmerschlüssel in der Hand kämpfe ich mich bis zum obersten Geschoss des Gebäudes durch. Tasche und Rucksack scheinen mit jedem Stockwerk an Gewicht zuzulegen. Feudal ist das Stiegenhaus mit dekorativen Marmorplatten gestaltet.

Nach dem Prinzip des Tausendfüßlers führen mich schließlich viele Schritte schwitzend zum Ziel. Die halblauten Flüche am Flur der letzten Etage hätte ich mir sparen können, denn nachträglich erfahre ich, dass in der Mongolei bereits das Parterre als erstes Stockwerk gilt.

Meine Vorbenutzer des Zimmers stufe ich spontan als Liebhaber von Rauchwaren ein. Mit Nikotin geschwängert ist die Luft. Die Tapeten, die am Stoß in Form von Wellen und Blasen ihr altersbedingtes Eigenleben entwickeln, sind mittlerweile imprägniert. An der schlecht isolierten Außenwand kräuseln sie sich wie Schafwolle. Ein protziges Profil einer Kunststoffleiste bildet den Übergang zum Plafond. Unprofessionell täuscht das Material edlen Stuck vor. Der vergilbte Vorhang ist an manchen Stellen eingerissen. Schlapp hängen die Fetzen gleich halbgeöffneten Türen eines Adventkalenders in den Raum. Die Löcher lenken den Blick auf die schmutzigen Fenster.

Im Bad finde ich die Brille der Toilette zersplittert vor. Sie erfordert den sorgsamen Umgang bei Sitzungen. Ausgerissen ist die Befestigung der Deckenverkleidung. Einschließlich der Abschlussleiste schwebt sie nur mehr windschief als Dekoration am Plafond. Ich fühle mich von dem massiven Planquadrat über meinem Kopf bedroht. Verunsichert meide ich jede Erschütterung in der Nasszelle. Auch die sorgfältig geschlichteten Handtücher zeigen ihr persönliches Gesicht. Undefinierbare Flecken schmücken die Webstruktur.

Im Stiegenhaus erwische ich zufällig eine Reinigungskraft. Trotz sprachlicher Gräben fasst sie den Mut, mich in mein Zimmer zu begleiten. Der Lokalaugenschein in der desolaten Nasszelle – ich möchte bei der Abreise nicht für die Mängel haften – entlockt ihr ein hohes Kichern. Ihr Verständnis ist mir ein kleines Trinkgeld wert. Gewissenhaft betrachtet und wendet sie mehrmals das Geldstück. Irritiert reicht mir die Frau die Euromünze zurück. Offensichtlich ist das Personal nur an Dollars, in Noten, interessiert.

Ein Fensterflügel ist auf Dauer mit seinem Stock durch massive Schrauben verbunden, aber der zweite lässt sich öffnen. Es gelingt mir von meinem Ausblick zur Straße hin nicht, einige Quadratmeter mit unversehrter Asphaltdecke zu entdecken. Risse, Sprünge und Löcher prägen das Antlitz des Belages. Ein Netz von Bitumenfugen überzieht die Oberfläche. Unglaublich verworfen sind die Platten der häufig gepflasterten Gehwege. Offene Schächte, halbfertige Baustellen und zwischengelagerte Baumaterialien zwingen zur kreativen Fortbewegung der Fußgänger nach stadtüblicher Lebensart. Geduld und Umwege sind Normalität.

Auffallend viele hübsche Frauen präsentieren sich eingehüllt in westliche Mode. Geschickt staksen sie mit hohen Absätzen über das Chaos der Wege. In der elegant abgewinkelten Hand tragen sie für jeden Passanten sichtbar das neueste Handymodell als Statussymbol. Vereinzelt mischt gar ein sturer Reiter das Bild im Verkehrsgewühl auf. Trotz der Überschwemmung mit Produkten aus China findet das Rad als Fortbewegungsmittel offenbar noch keinen Anklang. Hässliche Plattenarchitektur – ganz nach russischem Vorbild – säumt die unebenen Straßen. Üblich ist es noch immer, dass angehende Ingenieure in Moskau studieren. Sie fügen sich der Gehirnwäsche hinsichtlich des bevorzugten Baustils.

Bald verdrängt aufkommender Wind die Dunstglocke. Rasch ersetzen bleigraue Gewitterwolken den Smog über der pulsierenden Stadt. Orkanartige Windstöße sorgen für den raschen Luftaustausch in meinem balkonlosen Zimmer. Die Zugluft rüttelt an der abgesperrten Türe. Vom losen Müllhaufen hinter dem Haus holt sich der Sturm ein Leergebinde. Im wilden Tanz jagt er die Flaschen polternd über den holprigen Boden. Mit Behagen, so erscheint es mir zumindest, laufen die Menschen ohne Panik im prasselnden Niederschlag ihre Wege. Regen ist der Segen für das Weideland und reinigt die Luft. Das Wasser von der Haut abzuschirmen wäre bloß ein Frevel. Seltenheitswert hat die Sichtung eines Regenschirmes von meinem touristischen Hochstand aus.

Unentwegt treibt die junge Generation der mongolischen Bevölkerung ihre symbolische Pferdeherde, im kompakten Allradauto manifestiert, über die Rumpelpisten. Unbegreiflich ist für mich ihre wilde Leidenschaft zum Hupen. Das Klangbild der akustischen Warnung reicht von Pferdegewieher ähnlichen Geräuschen über Folgetonserien bis zum Sound eines Nebelhorns. Normale Töne, nach Machart des Herstellers, sind lahme Ohrwürmer. Sie erregen kaum Beachtung. Jede Veränderung im Verkehrsfluss, die Verminderung der Geschwindigkeit zwecks Parkplatzsuche, Ausparken, banales Abbiegen oder Überholen reizt wie selbstverständlich zur Betätigung der Schallquelle. Der Lärm verdichtet sich durch die ungewöhnlichen Frequenzen zur ungesunden Klangmeile. Für westliche Gehörschnecken ist die Geräuschkulisse mehr als gewöhnungsbedürftig.

Stinknormal ist es, dass abenteuerlustige und geschäftstüchtige Männer per Flug nach Deutschland reisen und gebrauchte Markenautos kaufen. Im Kofferraum liegen – quasi als blinde Passagiere – alkoholische Getränke und Zigarettenstangen bereit. Die Mitbringsel lösen im stillen Einvernehmen die Probleme bei den nicht ausbleibenden Straßenkontrollen in Russland. Geschenke erleichtern und beschleunigen die Grenzübertritte. Erreichen die Helden unfallfrei im Konvoi ihre Heimat, finden die Luxusschlitten rasch neue Liebhaber. Der Gewinn ist beträchtlich.

Mein Körper sehnt sich nach der Strapaze der langwierigen Anreise nach waagerechtem Ausstrecken. Der Geist ist hingegen aufgewühlt. Die Fülle der Eindrücke lässt nicht locker. Nur wenige Stunden bleiben mir zur Regeneration, bevor mich die Dolmetscherin zur Stadtexkursion samt Besuch der wenigen Sehenswürdigkeiten erwartet. Dunkle Haufenwolken drängen sich über der Hauptstadt zusammen. Ihre Reibungsenergie entlädt sich mit rasanten Blitzfolgen. Krachend schmettert die vom Blitz erwärmte Luft wieder zusammen und das Rumoren des Unwetters erschwert die Erholung.

Eine halbe „Schlafmütze“ voll liege ich wegen eines Buchungsfehlers im falschen Bett. Höflich werde ich zwecks Umquartierung aufgescheucht. Durch den Umzug verbessert sich der Ausguck, dafür lärmt der Verkehr tief unter meinem Fenster auf einer zweispurigen Stadtautobahn vorbei.

Moderne Glaspaläste schießen frech neben faden Bauten in die Höhe. Weit überragen sie die trostlosen Nachbarn mit ihren zerbröselnden Fassaden. Zahlreiche Baukräne bestätigen den Aufbruch. Auch der Zweck des Wohnungsbedarfs kann die hässliche Plattenarchitektur nicht heiligen. Pure Not an bewohnbarer Fläche und die hohen Zimmerpreise zwingen die Bewohner zum kreativen Auslagern ihrer Besitztümer auf die winzigen Balkone. Auf den Flanken der umgebenden Hügel finden die Zuwandernden billigen Platz und triste Verhältnisse. Geduldet auf dem Magergürtel rund um die städtischen Betonklötze.

Rund siebzig Prozent der Menschen der Millionenstadt Ulan Bator hausen in den Vororten als sesshafte Halbnomaden. Strom sorgt für den Luxus von Licht, Rundfunk und Fernsehen. Abwasserkanäle sind hingegen noch ferne Utopien. Auch fließt kein Wasser bequem aus dem geöffneten Hahn, sondern muss noch zu Fuß in voluminösen Milchkannen von öffentlichen Zapfstellen abgeholt werden. Altmodische Kinderwägen tragen das Gewicht. Der Raubbau an Brennholz verzehrt wie Feuer jegliche Vegetation.

Der Geschäftsführer des Hotels stammt aus Korea. Ein Einheimischer bekleidet den Vizeposten. Jede Gelegenheit packt der strebsame Mongole beim Schopf, um seine Deutschkenntnisse mit meiner Hilfe aufzuwerten. Ständig taucht er mit einem charmanten Lächeln und einer Liste mit wichtigen Phrasen auf. Mit Vergnügen darf ich Sinn, Wortstellung und Rechtschreibung korrigieren. Er will weg, um sich selbst, in gehobener Position, zu verwirklichen. Er liebt sein Land, beteuert er immer wieder. Nur zeitlich begrenzt sei die Flucht aus der Heimat.

Beim Abendessen im Hotel beobachte ich von meinem Sitzplatz, einer Theaterloge gleich, eine chinesische Großfamilie beim Festschmaus. Eine Familienfeier scheint der Anlass des kulinarischen Treffens zu sein. Die Kinder lümmeln mehr auf der Tischplatte als auf den zugewiesenen Sesseln. Auf einer großen, drehbaren Holzscheibe reihen sich dicht gedrängt die Köstlichkeiten für den asiatischen Gaumen. Mit Geschick schlürfen die Leute auch glitschige Speisen mit Hilfe der Stäbchen lautstark in den saugenden Mund. Geflügel und Fisch sind nicht in mundgerechte Portionen zerwirkt. Mit geübter Beweglichkeit des Kauapparates und geschürzten Lippen lutschen sie das Fleisch von den Knochen oder filigranen Gräten. Kaum einer legt die abgenagten Skelettteile mit den Stäbchen oder Fingern auf die Ablage zurück. Mit der Zielsicherheit eines Lamas spucken sie die schwer verdaulichen Reste neben ihre Teller. Rülpsen und Schmatzen untermalen als akustische Beweise die Zufriedenheit.

Die rechte Zubereitung des Mahles trifft den Geschmack der Leute. Vorwiegend Grüner Tee fördert die Speichelproduktion. Er erleichtert die Gleitfähigkeit des Gekauten. Immer wieder wird lautstark nach Nachschub verlangt. Im Laufe des Festmahles häufen sich neben den Tellern, je nach Treffsicherheit, die Knöchelchen, Rippen und zierlichen Gräten. Die Berge verraten die Vorlieben der Genießerin oder des Genießers.

Mit ersichtlichem Wohlbefinden knabbern die Glücklichen an den Hautlappen der Scharrfüße. Begehrt sind die Krallen der Hühner. Zum Gaudium der Gesellschaft rotiert auf dem Drehtablett ein gegarter Kopf eines Federviehs. Eine Roulette-Kugel wird mit den Augen wohl nicht kritischer auf ihrem Weg verfolgt als der kreisende Schädel. Reibungsverluste bremsen rasch die Rotation. Die Peilung des Schnabels löst stets Heiterkeit aus. Unverständliche Diskussionen folgen. Nicht die Auswahl einer Zeche zahlenden Person oder das Opfer für die finanzielle Tilgung der nächsten alkoholischen Runde steht vermutlich zur Debatte, sondern die oder der Glückliche muss der Tafelrunde ein Lied vortragen. Vielleicht ist gerade der Mangel an Sangeskunst, das Unvermögen, wohlklingende Töne zu erzeugen, eine geschätzte Mutprobe. Verkehrt proportional ernten gerade die fiesesten Sänger den kräftigsten Beifall.

Ulan Bator

„Hur daruulsan Hurmastin elch!“

„Du musst ein guter Mann sein“, sagt meine Dolmetscherin in der Lounge des Hotels mir ernsthaft ins Gesicht. „Warum?“, frage ich verdutzt und schüttle ungläubig den Kopf. Lapidar antwortet sie mir: „Mein Vater behauptet es. Du hast den ersehnten Regen mitgebracht.“

Tatsächlich schüttet es in Strömen seit unserem Zusammentreffen.

„Er hat in Moskau studiert“, meint sie stolz. „Nun ist er ein führender Kopf im Projektteam zur Nutzung der Windkraft. Erneuerbaren Energien gehört die Zukunft, auch im dünn besiedelten Steppenland. Jede Abschaltung eines Kohlekraftwerkes bringt spürbare Luftverbesserung. Wir ersticken im Smog.“

Am einzigen Tischchen im Eingangsbereich besprechen wir meine Besichtigungswünsche. Zwecks Entschärfung des Zungenbrechers darf ich meine Dolmetscherin ab sofort mit ihrem Kosenamen „Santchi“ ansprechen. Sie unterrichtet am Sprachinstitut Lernwillige in Englisch und Deutsch. Die unbefriedigende Wirtschaftslage treibt die Leute zur Fortbildung. Englisch nimmt ungefährdet den ersten Rang ein. Russisch und Chinesisch jucken die Jugend herzlich wenig, außer sie planen, später in Moskau oder Peking zu studieren.

Mit Genuss stapft Santchi baren Hauptes durch die dicht fallenden Regentropfen. Ich hingegen ziehe mir die Kapuze über den schütteren Haarbestand und marschiere an der Seite der jugendlichen Begleiterin. Der böige Wind beschleunigt die Verdunstung auf der Haut. Er entzieht meinem Körper Wärme. Eine Erkältung kann ich absolut nicht brauchen. Bis zum Hals schließe ich den Reißverschluss.

Die Mongolen zeigen absolut keine Begehrlichkeiten hinsichtlich Badevergnügungen. Auffallend ist jedoch, dass die Menschen heftigen Güssen trotzen und ihre Arbeit unbeirrt im Freien verrichten. Gut, die rabenschwarze, dichte Haarpracht der Einheimischen ersetzt ohnehin eine Kopfbedeckung. Regenschirme oder wasserdichte Jacken sind keine Marktlücken. Eher ein lächerliches Textil zur Abschirmung des kostbaren Nasses. Der Niederschlag lässt das Gras wachsen. Er mästet die Herden. Er bindet den Staub und die ätzende Luft. Und das Grundwasser bekommt Nachschub.

Vom Kopf bis zu den nassen Füßen werden wir als ungleiches Paar gemustert. Das weibliche Geschlecht taxiert ungeniert mein Aussehen. Offensichtlich grübeln die Frauen über meine finanzielle Potenz. Standhaft kreuze ich die optische Klinge. Oft ertappe ich mich bei einem Schmunzeln, wenn sich hin und wieder meine Augen auf das offenherzige Dekolleté senken. Die hübschen Mongolinnen verstehen es trefflich, ihre Reize einzusetzen. Mit verächtlichen Blicken strafen hingegen die Männer unseren Altersunterschied. Das Selbstbewusstsein meiner Mittlerin zwischen den konträren Welten und ihre sprachliche Kompetenz irritieren die Leute beim Vorbeigehen. Sie verstehen die eigene Landesfrau nicht. Nach dem Passieren verdrehen sie noch viele Schritte weiter ihre Köpfe.

Eine Hymne auf Menschen, die per Fuß eine Stadt erobern. Die angepasste Geschwindigkeit erlaubt zweckmäßige Wahlmöglichkeiten. Umständliche Umgehungen oder mutige Sprünge über die wachsenden Pfützen stehen zur Auswahl. Statt im Kanalgitter unterirdisch abzufließen, drückt es in den tiefsten Stadtlagen die nasse Pracht aus den Schächten. Auf nur feuchten Abschnitten oder erhabenen Gehwegen bleibt genug Freiraum für die Begutachtung der sozialistischen Plattenbauten. Prächtige Fassaden von Jugendstilhäusern habe ich ohnehin nicht erwartet, aber die präsentierte Aneinanderreihung von Hässlichkeit muss ich erst schlucken. Der ansatzlose Übergang zur Jurtensiedlung ist ein faszinierender Kontrast. Kaum ein Fremder kann sich dem einzigartigen Flair und dem Anblick der Armut entziehen.

Die intimen Häuschen der Plumpskloanlagen fristen ihr stinkendes Dasein unmittelbar am Grenzzaun. Ohne Kanalanschluss zersetzen sich mit Hilfe der Fliegen, Maden, Pilze und Bakterien die Fäkalien in den privaten Senkgruben. Sie werden weder entleert noch abgepumpt, sondern nach Erreichen des Stauziels einfach und billig mit Erde überhäuft. Rasch um ein Planquadrat versetzt das Hüttchen, läuft das Geschäft mit der Schwerkraft wieder weiter. Kontaminiert ist das Erdreich und verseucht das Sickerwasser bei heftigen Niederschlägen. Ein paar Schafe oder Ziegen sind vierbeinige Verbindungsglieder zu den nomadischen Wurzeln. Die runden Filzzelte neben den erbärmlich wirkenden Hütten sind nur durch eine Straßenbreite von den faden Wohnsilos getrennt. Der Asphalt fehlt auf den holprigen Wegen. Öffentliche Wasserzapfstellen versorgen zu einem hohen Prozentsatz die Selbstabholer mit Brauchwasser. Auch Dreck und tiefe Spurrillen beweisen die geringe Wertschätzung der Stadtverwaltung gegenüber den unerwünschten Zugewanderten.

Urplötzlich springen mich ums Zauneck zwei verwahrloste Knaben wie Flöhe an. Ihr Gewand ist einige Nummern zu groß. Ob sie in die Kleider hineinwachsen oder schon vorher sterben, das weiß ich nicht. Schmutz versiegelt die sichtbare Haut. Santchi vertreibt sie mit scharfen Worten, ehe sie überhaupt die Hand ausstrecken und den Bettelauftrag erfüllen können. Eingeschüchtert verschwinden die bedauernswerten Geschöpfe aus unserem Gesichtsfeld.

Tausende Minderjährige wie diese Jungen machen um die Schulgebäude einen weiten Bogen. Ohne offizielle Registrierung fallen sie durch den ohnehin weitmaschigen Rost der staatlichen Gesundheits- und Sozialversorgung. Sie wühlen sich als billige Arbeitskräfte wie die Maulwürfe in die goldhaltige Erde, arbeiten als Verkäufer und Lastenträger auf dem Schwarzmarkt oder betteln. Stehlen und das Veräußern von Diebesgut reichen gerade zum Überleben. Als schwächste Glieder der Gesellschaft sind sie schutzlos gewissenlosen Erwachsenen ausgeliefert. In der Not bieten sie sexuelle Dienste an und sind häufig Opfer von Missbrauch. Viele ziehen sich in den knochenharten Wintermonaten in die „Menschenlöcher“ zurück. Die Schächte der Kanalanlagen sind ihr Zuhause. Um nicht zu erfrieren, nehmen sie Hunger, Dunkelheit und Gestank als nächtliche Begleiter mit in das Loch. Hunderte Waisenkinder hausen den Ratten gleich mitten im Zentrum Ulan Bators. Die Gesellschaft zeigt nur wenig Mitgefühl.

Das Elend der Kinder spült mir eine Information ins Bewusstsein. „Santchi, was hältst du von der Initiative, deine Hauptstadt mit Computern zu überschwemmen? Den Förderern und Geldgebern schwebt vor, dass jeder Schüler in Ulan Bator einen Laptop samt Internetanschluss erhält und somit mit fremden Kulturen kommunizieren kann.“

Mit Entsetzen schüttelt meine Dolmetscherin das Haupt. Sie hat von diesem Größenwahn noch keine Silbe gehört. Auf der Stelle ist sie verärgert. „Wir brauchen keine Computer. Überall fehlt Geld. Es gibt weder ein Hilfsprogramm, um die Ärmsten mit einer täglichen Mahlzeit zu versorgen, noch gerechte Studienbeihilfen. Viele Frauen gehen auf den Straßenstrich. Nur so können sie sich das Wohnen leisten. Überhaupt ist das Einkommen zu gering.“ Ulan Bator, übersetzt so viel wie „Roter Held“, ist die aktuelle Gelddrehscheibe. Die Weltbank hat einen Narren an dem boomenden Staat in Zentralasien gefressen. Umgerechnet auf die geringe Einwohnerzahl, zieht das Steppenland die höchsten finanziellen Entwicklungshilfen ins Land.

Nur drei Millionen Menschen verteilen sich auf eine Riesenfläche, die meine Alpenrepublik Österreich locker zwanzigmal schluckt. Statistisch betrachtet beträgt die Bevölkerungsdichte nur knapp zwei Menschen pro Quadratkilometer. Wobei rund ein Drittel der Staatsbürger in der Hauptstadt gemeldet ist.

Baukräne prägen das Bild. Die Rohbauten der geplanten Hochhäuser überwuchern die tristen Plattengebäude. Transparente Glaspaläste strahlen, einem Bergkristall gleich, inmitten von trübem, schmutziggrauem Muttergestein. Reich ist das Land an ergiebigen Erzvorkommen. Unentwegt locken die moderaten Steuersätze ausländische Firmen an. Korruption beschleunigt das Geschäft. Zeit ist pures Geld. Es ist ein Leichtes, die notwendigen Schürfrechte und Lizenzen für den Abbau von Kohle, Gold oder Uran von der Regierung zu erhalten. Fremde Konzerne kümmern sich einen Dreck um die Ausbildung einheimischer Facharbeiter. Die Ausbeutung der billigen Hilfskräfte ist offensichtlich. Analphabeten schwitzen für Hungerlöhne. Horrend klettern die Kosten für Büroräume im Zentrum in die Höhe. Für mehrköpfige Familien sind Zweizimmerwohnungen erstrebenswerter Luxus und sie stolpern in die Schuldenfalle.