Über das Buch:
Endlich erfüllt sich alles, wovon Katy und Dayne so lange geträumt haben: Sie sind glücklich verlobt und planen ihr gemeinsames Leben in Bloomington. Endlich scheint sich ihre Liebe zum Guten zu wenden. Doch ein schrecklicher Autounfall verändert alles. Dass Dayne überlebt, ist schon ein Wunder. Aber wird er jemals aus dem Koma erwachen? Wird er wieder gesund werden?
John Baxter und seine Kinder bangen nicht nur um Daynes Leben, sondern sehen sich unvermutet auch im grellen Licht der Öffentlichkeit. Durch den Unfall ist ihre Verbindung zu Dayne bekannt geworden – und nicht allen gefällt es, dass ihr Privatleben plötzlich in den Klatschblättern ausgebreitet wird. Kann es unter diesen Voraussetzungen jemals eine Zukunft für Dayne und Katy in Bloomington geben?

Über die Autorin:
Karen Kingsbury war Journalistin bei der Los Angeles Times. Seit einiger Zeit widmet sie sich ganz dem Schreiben christlicher Romane. Sie lebt mit ihrem Mann, 3 eigenen und 3 adoptierten Kindern in Washington.

Kapitel 8

Luke Baxter war nicht sicher, was schlimmer war, die Hitze oder die Feuchtigkeit. Aber das war eigentlich auch egal. Er und seine Frau, Reagan, hatten sich einen schlechten Nachmittag für einen Spaziergang im Central Park mit ihren Kindern ausgesucht. Sie hatten inzwischen einen Zwillingskinderwagen gekauft: mit einem Platz für Malin, die ein knappes Jahr alt war, und einem Sitz hinter ihr für den dreijährigen Tommy, der nach ungefähr zehn Minuten vom Laufen müde wurde.

Es war vier Uhr nachmittags an diesem letzten Samstag im Juli, und Tommy war vor einer halben Stunde eingeschlafen. Sie hatten ihre übliche Route eingeschlagen, in südlicher Richtung durch den Park zum Teich und Zoo, an den Pferdekutschen und den Straßenkünstlern und Hotdogverkäufern vorbei und wieder zurück. Sie befanden sich auf dem Rückweg und gingen langsamer als gewöhnlich. Der Weg war mit Touristen überfüllt, die ein lästiges Hindernis für die gelegentlichen Jogger oder Walker darstellten, die so mutig waren, an einem Sommerwochenende im Central Park Sport treiben zu wollen.

Seit fünf Minuten hatte keiner von ihnen ein Wort gesagt. Luke schob den Kinderwagen genauso energisch vorwärts, wie er gern alles andere in ihrem Leben vorangebracht hätte. Die Ergebnisse seines Juraexamens, seine erste richtige Anstellung als Anwalt in seiner Kanzlei, eine eigene Wohnung für Reagan, sich und die Kinder, damit sie aus der Wohnung von Reagans Mutter in Manhattan ausziehen könnten. Einfach alles.

Er warf einen Blick auf seine Frau, den sie aber nicht bemerkte. Reagan sah müde aus. Ihre blonden Haare waren zu einem strengen Pferdeschwanz nach hinten gebunden, unter den Augen hatte sie dunkle Ringe. Das war normal, wenn man kleine Kinder hatte. Luke war auch müde.

Reagan nahm ihre Wasserflasche aus der Halterung neben dem Kinderwagengriff und trank einen langen Schluck. Sie brach als Erste das Schweigen. „Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?“

Luke kniff die Augen zusammen und ging weiter. „Ja.“ Er dehnte seinen Hals, zuerst nach rechts, dann nach links. Warum musste sie das fragen? Jedes Mal, wenn sie in letzter Zeit zusammen waren, stellte Reagan die gleiche Frage. Er beschleunigte sein Tempo. Vielleicht war es nicht die Hitze und die Feuchtigkeit. Vielleicht lag die dichte, erstickende Wolke nur an der Spannung zwischen ihnen. Wenigstens hatte er das Gefühl, dass ihre Beziehung angespannt war. Er würde gern näher bei Bloomington wohnen. Wenigstens hatte er das gewollt, bevor er erfahren hatte, dass Dayne dorthin ziehen würde.

Er schaute durch die Bäume und erhaschte einen Blick auf einen Wolkenkratzer mit Wohnungen. Es war einer von vielen Wolkenkratzern, die den Park säumten. Er sah ähnlich aus wie das Gebäude, in dem er und Reagan und die Kinder immer noch bei Reagans Mutter wohnten. Sie war eine freundliche Frau, und sie meinte es nur gut. Aber was war er für ein Ehemann, wenn er sich nach über zwei Jahren Ehe immer noch keine eigene Wohnung für seine Frau und seine Kinder leisten konnte?

Reagans Mutter hatte neulich eine Andeutung in diese Richtung gemacht. „Wie lief das Juraexamen, Luke?“ Sie deckte den Tisch und zog die Brauen leicht in die Höhe. Diese kleine Bewegung hatte gleichzeitig ihre Müdigkeit und ihre Zweifel verraten.

„Es lief gut.“ Er fühlte, wie Reagan ihn von der anderen Seite der Küche aus anschaute. Jetzt, da er mit dem Studium fertig war und das Examen gemacht hatte, schienen beide Frauen den Atem anzuhalten, als hinge sein ganzer Wert davon ab, ob er diese eine Prüfung bestanden hatte. „Ich glaube, ich habe bestanden. Aber die Ergebnisse erfahre ich erst im November.“

Sie lächelte, aber ihr Lächeln erreichte nicht ihre Augen.

Die Erinnerungen an dieses Gespräch verblassten. Er massierte die Muskeln in seinem Nacken. So viel Spannung. Sollte er sich jetzt, da das Examen hinter ihm lag, nicht besser fühlen? Malin rührte sich und ihr Schnuller fiel aus dem Kinderwagen. Er blieb stehen, während Reagan neben ihm wartete. Luke hob den Schnuller auf und wischte ihn an seiner Hose ab. Dann gab er ihn wieder seiner Tochter. Da zwei Kinder ihre ganze Freizeit mit Beschlag belegten, waren die Tage, an denen sie einen schmutzigen Schnuller abgewaschen hatten, längst vorbei.

Luke erinnerte sich an sein Gespräch mit Ashley am Donnerstagabend. Er hatte im Wohnzimmer ihrer Wohnung in Manhattan gesessen. „Danke, dass du zurückrufst. Ich dachte nicht, dass du die Zeit dafür finden würdest.“

Ashley hatte gezögert, und als sie sprach, hatte Verwirrung in ihrer Stimme mitgeschwungen. „Stimmt etwas nicht, Luke? Hast du etwas, von dem ich nichts weiß?“ Sie lachte kurz und traurig. „Ich habe den Eindruck, dass du jedes Mal, wenn wir in letzter Zeit miteinander sprechen, sauer bist. Sauer auf Papa oder sauer wegen der vielen Zeit, die dich dein Jurastudium kostet. Sogar sauer auf mich.“

„Mir geht es gut.“ Er wollte nicht über seine Wut sprechen. Er wollte über Dayne Matthews sprechen. Den Wunderknaben. Das älteste Baxterkind. Den ältesten Sohn. Seinen Bruder. Und wie es kam, dass Luke über Nacht nur noch ein Name in einer Liste war. Brooke, Kari, Ashley, Erin und Luke. Die anderen Baxtergeschwister. Die nicht so berühmten Kinder von John und Elizabeth Baxter.

Ashley hatte wegen ihres Treffens mit Katy Hart und Dayne aufgeregt geklungen. „Wenn das Haus renoviert ist, wird es ein Traumhaus sein. Das schönste Haus am ganzen See.“

„Ja. Wunderbar. Er kann es sich bestimmt leisten.“

Sie versteckte ihren Schock nicht. „Luke Baxter! Was ist in dich gefahren?“

Er hatte versucht, es ihr zu erklären. Dayne hatte ihn seit dem Prozess in Los Angeles nicht angerufen, er hatte nicht einmal bestätigt, dass sie Brüder waren, dass alles wirklich stimmte. Stattdessen lief alles nur über seinen Vater und Ashley. Dayne hatte mit seinen Dreharbeiten alle Hände voll zu tun, und Luke hatte mit dem Lernen fürs Examen alle Hände voll zu tun gehabt. Vielleicht war das sein Problem. Die beiden hatten noch nicht miteinander gesprochen. Vielleicht hatte die Unruhe, die in Luke wütete, aber auch überhaupt nichts mit Dayne zu tun.

Außerhalb des Parks fuhr ein Auto in der Fifth Avenue mit laut aufgedrehter Stereoanlage vorbei. Der dröhnende Bass rüttelte seinen Körper auf und erinnerte ihn daran, dass Teile seines Herzens leer waren.

Reagan versuchte es erneut. „Bleibt es bei den Plänen für Thanksgiving?“

Er zuckte mit den Achseln. „Wenn ich mir freinehmen kann.“

„Du arbeitest in einer Anwaltskanzlei.“ Reagan klang ungeduldig. „Am Thanksgivingwochenende arbeitet kein einziger Anwalt in New York City. Natürlich kannst du dir freinehmen.“

„Vielleicht.“

Sie blieb stehen, atmete scharf aus und schaute ihn an. „Wir sind verheiratet, oder?“

Luke blieb einen Meter vor ihr stehen. Wenn sie hier im Central Park einen Streit vom Zaun brechen wollte, sollte ihm das recht sein. Dann würden sie eben hier streiten. „Ja, und?“

„Das heißt, dass ich von dir abhängig bin.“ Sie erhob die Stimme, nicht so laut, dass sie schrie, aber sie sprach deutlich lauter als vorher. Ein paar Leute, die an ihnen vorübergingen, schauten sie an. Sie deutete auf den Kinderwagen. „Tommy und Malin sind auf dich angewiesen.“ Sie trat einen Schritt näher. „Und in den letzten Wochen haben wir von dir nicht mehr als knappe, einsilbige Antworten bekommen.“ Sie schien zu merken, wo sie waren und was für eine Szene sie gerade machte. Sie senkte die Stimme zu einem Zischen. „Warum lässt du mich nicht an dich heran, Luke?“ Sie breitete die Finger über ihrem Herz aus. „Ich liebe dich, oder hast du das vergessen?“

Luke steckte die Hände in seine Hosentaschen und starrte auf den Boden. „Setzen wir uns.“

Reagan wartete einen Moment, wahrscheinlich, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. „Gut.“

Er schob den Kinderwagen zu einer leeren Bank, die ein wenig abseits vom Gehweg stand. Luke schaute hinein. Tommy und Malin schliefen. Er stellte den Wagen ab und setzte sich. Reagan ließ sich neben ihm nieder. Eine lange Weile schaute er sie nur an, betrachtete ihr Gesicht und ihre müden Augen. So hatte sie früher nie ausgesehen. Damals, als sie noch in Bloomington gewohnt hatten und das Leben ausgesehen hatte, als würde alles perfekt wie im Märchen werden. „Es ist schwer, nicht wahr?“

„Ja.“ Sie schaute ihre Hände an. „Schwerer, als ich dachte.“

Luke hob den Blick zu den Bäumen, er kniff die Augen zusammen und versuchte, sich an diese längst vergangenen Tagen zu erinnern. Damals, bevor Reagans Vater beim Einsturz des World Trade Centers starb. Bevor Reagan schwanger wurde und nach New York City zog. Bevor sein Leben davon aufgezehrt wurde, winzige Facetten des Rechtswesens zu studieren und abwechselnd mit Reagan die ganze Nacht wach bleiben zu müssen, weil Malin Koliken hatte. Bevor Windeln und Milchflaschen ihr Leben bestimmt hatten.

Bevor Dayne Matthews in ihr Leben getreten war.

Er schaute Reagan an. „Bei meinen Eltern sah es immer so einfach aus. Liebe und Lachen, Spaß und gemeinsame Familienessen, ein Fest nach dem anderen. Jahr für Jahr.“

„Hmm.“ Sie wahrte den Abstand zwischen ihnen. „Bei meinen auch. Und sie konnten sich nicht ins gemachte Nest setzen.“

Neue Wut stieg in ihm auf. „Siehst du? Da ist es schon wieder.“ Er winkte mit der Hand ab und gab es auf, ihr erklären zu wollen, wie es ihm ging. „Vergiss es einfach, Reagan.“ Er wollte aufstehen. „Du unterstellst es mir jedes Mal. Du gibst mir das Gefühl, ein Schmarotzer zu sein.“

„Warte.“ Sie schaute ihn reumütig an und legte die Hand auf sein Knie. „Bleib hier, Luke. Es tut mir leid. So habe ich es nicht gemeint.“

Er knirschte mit den Zähnen und setzte sich wieder. „Es ist egal, wie du es gemeint hast. Du sprichst es immer wieder an. Du hast es satt, bei deiner Mutter zu wohnen, du willst deine eigene Wohnung haben, du kannst es nicht erwarten, dass ich einen richtigen Job habe.“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Das ist auch nicht nötig.“ Er lehnte sich an die Holzbank zurück. „Es schwingt immer mit, wenn wir miteinander sprechen.“ Statt Wut klang nun Resignation in seiner Stimme. „Ich kenne dich. Ich kann es in deiner Stimme hören.“

Zehn oder mehr Kinder in roten T-Shirts kamen auf Fahrrädern an. Sie lachten und sangen etwas Undefinierbares über Fußball.

Reagan wartete, bis sie vorbei waren. „Ich kenne dich auch, Luke. Hier geht es nicht nur um mich oder um deine Arbeit. Es geht um Dayne Matthews.“ Sie zögerte. „Habe ich recht?“

Er wollte sie anschreien, er wollte ihr sagen, dass es nichts mit
Dayne zu tun habe. Es ging um sie beide und wie sie es geschafft hatten, nach nur zweieinhalb Jahren Ehe in eine solche Situation zu geraten. Er öffnete den Mund, aber die Worte kamen nicht über seine Lippen. Langsam beugte er sich vor und stützte die Ellbogen auf seine Knie. Er schaute auf den Boden und atmete lange und mühsam ein. „Vielleicht.“

Die Stimmen der Menschen um sie herum und der Verkehrslärm auf der Straße traten in den Hintergrund.

„Luke …“ Reagans Stimme wurde weicher. „Sprich mit mir.“

„Es ist falsch; das ist alles.“ Er hob leicht das Kinn und sprach weiter. „Mein ganzes Leben lang war ich der einzige Sohn, und dann verändert ein einziges Telefongespräch alles.“

„Alles?“

„Ja.“ Er schaute ihr in die Augen. „Alle reden nur von Dayne, und jetzt …“ Seine Gefühle schnürten ihm fast die Kehle zu und er hatte Mühe zu sprechen. Er schaute auf den Boden zwischen seinen Füßen und hustete. Als er sich wieder besser im Griff hatte, beendete er seinen Satz. „Jetzt zieht Dayne nach Bloomington, und ich kann mir lebhaft vorstellen, wie das wird.“ Er richtete sich auf, umklammerte die Kante der Bank und drehte sich zu Reagan herum. „Dayne und mein Vater kommen sich näher, sie holen die verlorene Zeit nach, während ich hier in New York sitze und versuche, unseren Lebensunterhalt zu verdienen.“

Sie legte die Hand auf seine.

„So …“ Er deutete zu dem Menschengedränge auf dem Gehweg und den Wolkenkratzern und auch auf sie. „So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt, Reagan.“ Er biss die Zähne zusammen und hatte Mühe, seine Gefühle zu beherrschen. „Ich wollte ein paar Erfahrungen in der Großstadt sammeln und dann eine Frau finden und mit ihr nach Bloomington ziehen. Danach wollte ich Kinder bekommen.“ Tränen traten in seine Augen, als er sie anschaute. „Und meine Mutter sollte da sein und meine Kinder lieben und die beste Großmutter der Welt für sie sein.“

Der plötzliche Schmerz in ihren Augen war so stark, dass ihm der Atem stockte. „Das ist es? Du hast dir dein Leben anders vorgestellt?“ Sie stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Weißt du was? Ich habe mir meines auch anders vorgestellt.“ Sie stieß ein künstliches Lachen aus und drehte ihm abrupt den Rücken zu. Dann wirbelte sie genauso schnell wieder zu ihm herum und schaute ihn direkt an. „Ich war früher einmal Sportlerin, weißt du noch? Ich wollte während des Studiums Sport machen und ein Sportstipendium bekommen. Ich wollte im Marketing oder in der Werbung arbeiten oder Radioreporterin werden.“ Sie sprach nicht laut, aber ihr Tonfall war lauter als ein Schreien. „Danach wollte ich einen Mann heiraten, der weiß, was er im Leben will.“ Sie brach ab und schaute ihn vielsagend an. „Dann, irgendwann später, wollte ich mit ihm eine Familie gründen und bei den Kindern zu Hause bleiben.“

Er ließ den Kopf hängen. Sie hatte ihren Standpunkt klargemacht. Er verdiente als Anwaltsassistent so wenig, dass sie gezwungen war, einige Stunden in der Woche als Sekretärin zu arbeiten, damit sie genug Geld hatten, um ihren Anteil an den Lebenshaltungskosten aufzubringen. Ihre Mutter zahlte immer noch die ganze Miete, sonst könnten sie es sich nicht leisten, in Manhattan zu wohnen. Sie mussten aber in Manhattan wohnen, weil sich Lukes Kanzlei hier befand. Und es war eine gute Kanzlei. Sie hatte Lukes Jurastudium finanziert und war Mitglied von Meritas, der angesehensten Juristenvereinigung der Welt.

Doch Reagan war noch nicht fertig. „Geh und lass weiter den Kopf hängen. Aber wage es nicht, mir vorzujammern, wie dein Leben hätte sein sollen.“ Sie beugte sich ein wenig näher zu ihm vor. „Du kannst immer noch deinen Traum verwirklichen. Du kannst ein großer Anwalt werden.“ Sie war noch nie so wütend gewesen. „Aber was ist mit mir? Hast du dich schon jemals so weit von deinem Selbstmitleid gelöst und dir diese Frage gestellt?“ Sie drehte ihm wieder den Rücken zu und packte den Kinderwagen. „Wir sehen uns zu Hause.“ Sie marschierte los, ohne sich umzusehen.

Luke dachte daran, ihr nachzulaufen, aber ihm fehlte die nötige Energie. Außerdem war es zu heiß und zu schwül. Er schloss die Augen und lehnte sich zurück. Alles lief schief. Sie hatten einen einzigen Fehler gemacht. Sie hatten am 10. September 2001 der Versuchung nachgegeben. Am Tag vor dem Terrorangriff auf das World Trade Center. Und jetzt bezahlten sie teuer dafür. Er hatte viel verloren, und sie hatte viel verloren, und selbst jetzt sahen sie noch kein Licht am Ende des Tunnels. Er musste noch vier Monate warten, bis er seine Examensergebnisse erfuhr. Und falls er bestanden hatte, würde es danach noch einmal einen Monat dauern, bis er sein erstes volles Gehalt von der Kanzlei bekäme. Es dauerte mindestens noch ein Jahr, bis er ein regelmäßiges Einkommen hätte, das es ihnen ermöglichen würde, sich eine eigene Wohnung zu leisten. Ein ganzes Jahr, in dem Reagans Mutter die Brauen in die Höhe zog und sich fragte, wann ihr Schwiegersohn es endlich schaffen würde, selbst für ihre Tochter und ihre Enkelkinder zu sorgen.

In derselben Zeit verdiente Dayne Matthews … wie viel, zehn Millionen Dollar pro Film? Vielleicht auch fünfzehn? Drei Filme im Jahr. Bei diesen Zahlen wurde einem schwindelig. Kein Wunder, dass sein Vater stolz auf Dayne war und es nicht erwarten konnte, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Sein Vater ließ sich natürlich nicht von solchen Zahlen beeindrucken, aber Dayne war eindeutig erfolgreich. Er hinterließ in ihrer Familie schon jetzt einen so starken Eindruck, dass seine Schwestern praktisch vergessen hatten, dass es Luke überhaupt gab. Sogar Ashley, die Schwester, der er immer am nächsten gestanden hatte. Fast immer. Abgesehen von den Jahren, nachdem sie schwanger aus Paris zurückgekommen war. Aber seit den Terrorangriffen auf New York waren sie sich so nahe gewesen wie nie zuvor.

Bis Dayne aufgetaucht war.

Luke stand auf und schlenderte langsam weiter. Wozu sollte er sich beeilen? Reagan war mit den Kindern bereits zu Hause, wärmte für Malin eine Flasche auf und bereitete das Essen für die übrige Familie vor. Ihre Abneigung ihm gegenüber hielt nach einem solchen Gespräch wie dem heutigen noch lange an und würde die Luft in der Wohnung verderben und ihn fast ersticken und ihn ständig daran erinnern, dass er und Reagan nie das Leben führen würden, das sie sich beide unabhängig voneinander erträumt hatten.

Er wollte gerade die Straße überqueren, als er die neue Kanzleisekretärin bemerkte. Sie joggte in seine Richtung. Er fühlte sich zu ihr hingezogen. Sie war groß, hatte dunkle Haare und war höchstens einundzwanzig oder zweiundzwanzig. Hannah, oder? Hieß sie nicht so? Sie trug rosa Nylonshorts und ein eng anliegendes T-Shirt. Er verlangsamte seine Schritte.

Alle Männer in der Kanzlei sprachen über sie, dass sie unnahbar sei und dass sie selbst in einer Stadt wie New York City durch ihre Schönheit auffiel. Luke schluckte schwer und warf einen Blick auf den Laternenpfahl rechts vor sich, an dem er abbiegen müsste. Doch im nächsten Moment schaute er wieder Hannah an.

Sie bemerkte ihn erst, als sie ein paar Meter vor ihm stand. Ihre Augen leuchteten auf und sie blieb stehen. „Hallo …“

„Hallo.“ Luke zwang sich, seinen Blick auf ihr Gesicht zu konzentrieren. „Sie gehören zu den Tapferen, ja? Sie joggen am Wochenende, wenn die ganzen Touristen hier unterwegs sind.“

Ihre Stirn war vom Laufen feucht. Sie wischte mit dem Handrücken darüber und lachte. „Wahrscheinlich.“ Sie schaute auf ihre Uhr. „Ich habe heute Abend Chorprobe in der Gemeinde, und morgen habe ich keine Zeit. Wir singen in beiden Gottesdiensten.“ Sie lächelte ihn scheu an. „Seit ich in der Kanzlei arbeite, komme ich kaum noch zum Laufen.“

Er hielt ihr die Hand hin. „Ich bin Luke. Ich weiß nicht, ob ich mich Ihnen schon offiziell vorgestellt habe.“

Sie lächelte. „Ich weiß, wer Sie sind.“ Sie schüttelte seine Hand, hielt sie aber nicht länger fest, als angemessen war. „Ich bin Hannah. Schön, Sie offiziell kennenzulernen.“

Ohne nachzudenken, trat er einen Schritt zurück. Er hatte mehr als einmal bemerkt, dass sie ihn angeschaut hatte, seit sie in der Kanzlei arbeitete, und jedes Mal hatten sie sich angelächelt. Wenn er seinen Stuhl ans hintere Ende seines Schreibtisches schob und sich nach links beugte, konnte er sie an ihrem Schreibtisch sehen. Als seine Tür einmal offen gestanden hatte, hatte er gehört, wie Hannahs Kollegin sagte, dass der Assistent, der wie Dayne Matthews aussehe, Luke Baxter sei. Hannahs Wangen hatten danach zehn Minuten lang geglüht. Aber etwas in ihren Augen hatte ihm immer verraten, dass sie nicht auf der Suche nach einer Affäre oder einem Mann war, mit dem sie flirten wollte. Jetzt wusste er den Grund dafür. Sie gehörte zu den guten Mädchen. Zu den Frauen, die er vielleicht gefragt hätte, ob sie mit ihm ausgehen wollte, wenn sein ganzes Leben nicht schon festgelegt gewesen wäre. „Also, dann …“ Er trat noch einen Schritt zurück. „Dann will ich Sie nicht länger aufhalten.“

„Luke …“

Er blieb stehen.

„Sind Sie verheiratet?“ Sie hatte große, wunderschöne Augen. Augen, in denen ein Mann sich verlieren konnte.

„Ja.“ Er spürte ein Unbehagen, das er bis jetzt nicht gekannt hatte. Irgendwie wusste er, dass seine Absichten Hannah gegenüber von Anfang an nicht richtig gewesen waren.

Etwas veränderte sich in ihren Augen. Vielleicht lag es daran, dass sie eine Mauer hochzog. „Ich war mir nicht ganz sicher.“ Kein sichtliches Bedauern, keine Neugier, ob Luke glücklich verheiratet sei. Kein Wort über seine Ähnlichkeit mit Dayne Matthews, dem Filmstar. Nur eine geschlossene Tür. Punkt. Sie wischte sich wieder über die Stirn und verzog die Lippen zu einem höflichen Lächeln. „Bis nächste Woche im Büro.“ Damit lief sie weiter.

Luke wurde erst jetzt bewusst, dass er den Atem angehalten hatte. Er atmete aus und schlug den Weg ein, der ihn nach Hause bringen würde. Bei jedem Schritt pochte sein Herz kräftig in seiner Brust, schalt ihn, warnte ihn, schrie ihn an. Nicht weil er etwas Falsches getan hätte oder Hannah auch nur den leisesten Anlass gegeben hätte zu glauben, dass er unanständige Absichten hätte. Er hatte ihr nicht zugezwinkert und kein Wort über seine Eheprobleme verloren, und er hatte sie überhaupt nichts Persönliches gefragt. Er hatte nichts unternommen, das ihr das Gefühl gegeben hätte, er wolle eine Affäre mit ihr beginnen.

Nein, sein Herz pochte aus einem anderen Grund. Weil er an einem schwülen, heißen Samstagnachmittag ein paar Minuten lang etwas getan hatte, das er sich nie zugetraut hätte.

Er hatte so etwas in Erwägung gezogen.

Kapitel 9

Jenny Flanigan rührte mit einem Pfannenwender durch eine Pfanne mit Rühreiern, als Bailey die Treppe herabgestürmt kam. Es war schon Ende August, und in einer halben Stunde mussten sie zum Teenagercamp des christlichen Kindertheaters aufbrechen. Es war das erste Mal, dass Bailey und Connor gemeinsam daran teilnehmen konnten.

„Ich habe nichts Gelbes!“, rief Bailey verzweifelt. Sie lief durch die Küche in den Waschraum im Keller. „Ich bin im gelben Team, und ich habe kein einziges gelbes T-Shirt!“

„Bailey, warte!“ Connor stürzte ebenfalls die Treppe hinab. „Ich habe die Verkleidungskiste gefunden. Darin ist jede Menge gelbes Zeug.“

„Wirklich?“ Sie wirbelte herum, raste durch die Küche zurück und hinter ihm wieder die Treppe hinauf.

Im selben Augenblick kam Katy um die Ecke. „Unglaublich.“ Sie grinste Jenny an. „Ich bin tatsächlich vor Bailey mit dem Packen fertig.“

„Ja, aber deine Teamfarbe ist Blau.“ Jenny schmunzelte. „Fast alles, was du hast, ist blau.“

„Das stimmt natürlich“, lachte Katy. Sie holte eine Packung Toastbrot aus dem Kühlschrank. „Ich streiche die Brote.“

„Danke.“

Wie immer würden die Jugendlichen, wenn sie im Teenagercamp eintrafen, zu ihren Teams stoßen. Dann wäre die ganze Woche von Spielen, Bibelstunden und anstrengenden Theaterproben geprägt. Am Ende der Woche würden sie eine verkürzte Version eines Broadwaymusicals aufführen. Dieses Jahr stand The Wiz – Das zauberhafte Land auf dem Programm. Jenny hatte mit Bailey und Connor über das Casting gesprochen, wie sie es vor jeder neuen Produktion des christlichen Kindertheaters tat. Nur weil Katy bei ihnen wohnte, bedeutete das nicht, dass die beiden bessere Chancen auf eine Hauptrolle hätten. Und eine Statistenrolle machte manchmal sogar mehr Spaß als eine Hauptrolle. Keines ihrer ältesten Kinder schien sich wegen des Castings große Sorgen zu machen.

Jenny drehte die Eier um und teilte sie mit dem Pfannenwender. Dann stellte sie die Herdplatte ab. Ihre Küchenspüle befand sich unter einem riesigen Fenster, das einen herrlichen Blick auf den Garten hinter dem Haus bot. Sie spähte hinaus und lächelte. Jim und ihre vier jüngeren Söhne arbeiteten an einem alten Pavillon, den Jim schon immer restaurieren wollte, seit sie hier eingezogen waren. Gestern hatte Jim dann tatsächlich das nötige Material besorgt: Farbe, Dachschindeln, ein paar Bretter und eine große Schachtel Nägel. Die Jungen hatten sehr früh mit der Arbeit begonnen, da es einer der heißesten Tage dieses Sommers werden sollte.

Jenny legte den Kopf schief und betrachtete ihren Mann, der ihre Söhne bei der Arbeit anwies. Jeder von ihnen bearbeitete mit Sandpapier einen Teil des Geländers, das den unteren Teil des Pavillons umgab.

Du bist so gut, dass du Jim etwas zu tun gibst, Herr. Danke.

Erst gestern Abend war Jim wieder unruhig gewesen und hatte die Anfragen von einem halben Dutzend Profifootballmannschaften durchgesehen, die ihn gern einstellen würden. Um diese Jahreszeit lief immer die gleiche Routine ab. NFL-Mannschaften auf der Suche nach einem neuen Trainer gingen die Listen mit den Trainern durch, die früher in der NFL gearbeitet hatten, jetzt aber anderen Tätigkeiten nachgingen oder arbeitslos waren, und erkundigten sich, wer Interesse an einem Job bei ihnen hatte.

Jedes Jahr wurden die Angebote verlockender.

„Es wäre gut für die Jungen, wenn sie Profifootball aus nächster Nähe erleben könnten“, hatte Jim zu ihr gesagt. „Sie interessieren sich alle für Football.“

„Connor nicht.“

Jim hatte einen Moment geschwiegen. „Nein. Connor nicht.“

„Schatz …“ Sie sprach dieses Thema sehr vorsichtig an. „Bailey und Connor würde ohne das christliche Kindertheater ein wichtiger Teil in ihrem Leben fehlen, und wir wissen beide, dass es nur eine Handvoll Bundesstaaten gibt, die diese Programme anbieten.“

„Ich weiß.“

„Connor hat noch fünf Schuljahre vor sich. Dann können wir darüber sprechen, einverstanden?“

Er kniff die Augen zusammen. „Es ist nur so, dass die anderen Jungen davon begeistert wären.“

„Sie sind auch von dem begeistert, was du jetzt machst.“ Sie achtete darauf, dass ihr Tonfall sanft blieb. „Hast du sie an deiner Seitenlinie beobachtet, Jim? Clear Creek High ist für sie das Größte, und du bist ihr größter Held.“

Er lächelte. „Das ist es nicht …“

„Ich weiß.“ Sie hatte ihn auf die Wange geküsst. „Eines Tages wirst du wieder in der NFL trainieren. Und wir werden uns von Bloomington verabschieden und mit Begeisterung etwas Neues beginnen.“ Sie küsste ihn wieder. „Nur nicht jetzt, okay?“

Die Aufregung in seinen Augen war ein wenig verblasst. „Okay.“

Aber als sie am nächsten Morgen aufgewacht war, hatte Jenny gespürt, dass es für Jim dieses Mal schwerer war als sonst, den Profimannschaften abzusagen. Deshalb war das Pavillonprojekt eine gute Ablenkung. Wieder sah sie zu Jim hinaus. Wenige Sekunden später hörte sie, dass jemand die Küche betrat, und drehte sich um.

Cody Coleman winkte ihr und Katy zu. „Wie geht es den Damen an diesem wunderschönen Morgen?“

„Wir sind leicht gestresst.“ Katy hatte zwölf Toastbrote gestrichen. Sie blickte nicht auf, und ihre nächste Bemerkung richtete sich an Jenny. „Die Jungen haben noch nicht gegessen, stimmt’s?“

„Stimmt.“ Jenny musste sich beherrschen, um nicht breit zu grinsen. Katy verstand es gut, Cody keine Hoffnung zu machen. Sie hatte Jenny anvertraut, dass ihr Codys Flirtversuche auf die Nerven gingen. Jenny hatte ihr versprochen, Jim zu bitten, mit dem jungen Mann über sein Verhalten zu sprechen. „Und …“ Jenny trocknete sich die Hände an einem Küchenhandtuch ab. „Wie laufen die Hochzeitsvorbereitungen?“

Cody schnalzte die Zunge. „Jetzt geht das schon wieder los.“ Er baute sich ein paar Meter vor Katy auf. „Wie kannst du Dayne Matthews heiraten …“ Er schlug sich auf die Brust. „Wenn du mich haben könntest?“

Katy nahm ihren Teller und setzte sich mit mehreren leeren Stühlen zwischen ihr und Cody an den Tisch. „Das kann man sich wirklich kaum vorstellen.“

Cody zuckte die Achseln und nahm sich einen Teller. „Wie du willst. Falls es schiefläuft, ich warte auf dich.“

Bailey kam wieder die Treppe herunter, dicht gefolgt von Connor. Sie hatten Schlafsäcke über den Schultern hängen und zogen Reisetaschen hinter sich her. „Die Verkleidungskiste war meine Rettung!“ Bailey stellte ihre Sachen am Fußende der Treppe ab und eilte in die Küche. „Connor ist brillant.“

„Ja, aber jetzt hat sie bessere Sachen für die Farbwettkämpfe als ich.“ Er verzog das Gesicht. „Weil ich den Mund nicht halten kann.“

Bailey legte ihr Handy auf die Arbeitsplatte und holte sich einen Teller voll mit Rührei. „Wir dürfen nicht als Letzte im Camp ankommen. Sonst bekomme ich das schlechteste Bett.“

Cody legte seine Gabel hin. „Ihr zwei verbreitet eine ganz schöne Hektik.“ Er grinste Katy an. „Ich dachte immer, das Camp würde Spaß machen.“

In diesem Moment kam Jim durch die Hintertür, dicht gefolgt von seinen vier jüngeren Söhnen, und hörte Codys Bemerkung. „Spaß? Machst du Witze?“ Er schmunzelte. „Nächste Woche beginnt das Training mit zwei Einheiten am Tag, Coleman. Warten wir ab, ob du dann immer noch von Spaß sprichst.“

Cody seufzte laut. Er schaute Connor an. „Mir geht es wie dir. Ich kann den Mund auch nicht halten.“

Jenny lehnte sich an die Küchenspüle und betrachtete ihre Familie. Die Jungen schaufelten ihre Teller mit Eiern voll, und Bailey und Connor waren in ein Gespräch über die Spiele vertieft, die bei den Theatercamps am häufigsten gespielt wurden. Jenny lächelte. Ihr Zuhause war voll fröhlicher Stimmen und Kinder, und es herrschte mehr Liebe, als sie sich früher hätte erträumen können.

Sie legte ihr Geschirrtuch weg, ging um die Arbeitsplatte herum und baute sich zwischen ihren zwei ältesten Kindern auf. „Zahnbürsten?“

„Eingepackt“, antworteten Bailey und Connor wie aus einem Mund.

„Schlafanzüge?“

„Eingepackt.“ Der Tonfall in ihren Stimmen verriet, dass sie diese Abfrage, ob sie die nötigsten Sachen eingepackt hatten, gewohnt waren.

„Bibeln?“

„Natürlich.“ Connor hob den Finger und lächelte sie an. „Ich gewinne diesmal den Schwertkampf.“

„Das kann er vergessen.“ Bailey drehte sich um und schaute Katy vielsagend an. „Neue gewinnen den Schwertkampf nie.“

„Schwertkampf?“ Cody schluckte seine Eier hinunter. Er zog neugierig die Brauen in die Höhe. „Kann mir jemand verraten, was das heißt? Ich dachte, ihr fahrt in ein Theatercamp.“

Jim lachte. Er nahm seinen Teller und setzte sich neben seinen Footballspieler. „Christliche Gruppen haben diese Wettbewerbe. Es geht darum, wer einen Bibelvers als Erster findet. Es heißt schon immer Schwertkampf, so lange ich zurückdenken kann.“

„Ach.“ Cody nahm einen Bissen von seinem Toast.

„Ich schätze, es ist gut, dass Papa bei seiner Footballmannschaft keinen Schwertkampf durchführt.“ Bailey hob das Kinn und warf Cody einen hochnäsigen Blick zu. „Sonst würdest du von morgens bis abends Strafrunden drehen.“

„Bailey.“ Jennys warnender Tonfall blieb ruhig. Aber sie verstand ihre Tochter. Hinter Baileys Aussage steckte mehr als nur die Absicht, Cody ein wenig aufzuziehen. Seit Cody Katy seine Aufmerksamkeit schenkte, war Bailey gereizt. Die Pfeile, die sie in Codys Richtung abschoss, kamen ständig. Jenny wartete, bis Bailey sie anschaute, und ermahnte sie mit einem vielsagenden Blick: „Sei nett.“

„Ja, sei nett.“ Cody beugte sich um Jim herum und zeigte Bailey die Zunge. „Nicht jeder hat seine Sommerferien in christlichen Camps verbracht, okay?“

Bailey schaute Cody finster an und zeigte ihm ebenfalls die Zunge.

Bevor Jenny mit ihrer Checkliste weitermachen konnte, erwachte Baileys Handy mit einem lauten Lied als Klingelton zum Leben. Bailey nahm das Telefon und eilte ins Esszimmer, um ungestört telefonieren zu können.

Jenny wäre ihr am liebsten gefolgt, um ihre Seite des Gesprächs zu hören, aber sie unterließ es. In letzter Zeit rief Bryan Smythe häufig an und überschüttete Bailey mit blumigen Komplimenten und scheinbar tiefsinnigen Aussagen. Gestern Abend war Jenny nach seinem Anruf zu Bailey ins Zimmer gekommen. Sie hatte auf ihrem Bett gesessen. Jim hatte sich im Wohnzimmer mit den Jungen über das Sportprogramm im Herbst unterhalten und darüber, ob sie Fußball oder Football spielen wollten.

„Ich bin so durcheinander.“ Baileys Schultern waren nach vorne gesackt. „Ich bin mit Tanner zusammen, und ich mag ihn immer noch. Ich mag ihn seit der vierten Klasse. Aber jedes Mal, wenn wir uns unterhalten, warte ich darauf, dass er mich nach dem Tanzen oder dem Theater fragt. Nach etwas, das mich interessiert.“

„Hmm.“ Jenny wollte ihre Tochter nicht beeinflussen. Aber sie musste ihr helfen, das ganze Bild zu sehen. „Tanner hat dich noch nie tanzen gesehen, Schatz. Er war noch nie bei deinen Aufführungen.“

„Genau.“ Bailey atmete tief aus.

„Aber … du hast ihn auch noch nie zu einer Aufführung eingeladen.“ Jenny ließ sich im Schneidersitz auf dem Bett nieder und stützte den Ellbogen auf ihr Knie. „Richtig?“

„Natürlich nicht.“ Bailey hatte sie entsetzt angeschaut. „Es wäre mir total peinlich, wenn Tanner im Publikum säße. Er ist es gewohnt, mich als Cheerleader zu sehen und nicht in einer Rolle auf der Bühne.“

„Okay, ich will damit ja nur sagen, dass du ihn nicht verurteilen kannst, weil er dich nicht nach dem Tanzen und Theaterspielen fragt, wenn du ihm bis jetzt keine Chance gegeben hast, diesen Teil deines Lebens kennenzulernen.“

Ihre Tochter fuhr mit den Fingern über das Bettlaken zwischen ihnen. „Das stimmt.“

„Und was bringt dich jetzt so durcheinander?“

Bailey hob das Kinn. „Bryan.“

„Bryan Smythe vom christlichen Kindertheater?“

„Ja.“ Ihre Stimme hatte einen verträumten Unterton angenommen. „Er ist groß und dunkelhaarig und hat breite Schultern. Und niemand kann so singen wie Bryan. Niemand.“

„Er hat dich wieder angerufen, nicht wahr?“

„Ja.“ Sie spielte mit dem Ring an ihrer linken Hand, den Jenny und Jim ihr zum dreizehnten Geburtstag geschenkt hatten und der ihre Entschlossenheit symbolisierte, mit Sex bis zur Ehe zu warten. „Tim Reed flirtet mit jedem Mädchen, das ihm über den Weg läuft, aber Bryan … Bryan ist verrückt nach mir, Mama.“

Jenny zwang sich, nicht vorschnell zu reagieren. Sie genoss diese Gespräche mit Bailey, und sie durfte keine übereilten Schlussfolgerungen ziehen. Aber Jenny hatte den Eindruck, dass irgendetwas an Bryan Smythe nicht echt war. „Was hat er gesagt?“

„Er hat gefragt, ob ich immer noch mit Tanner zusammen bin, und ich habe Ja gesagt. Dann hat er mir gesagt, dass mir eines Tages, selbst wenn er darauf sehr lange warten müsste, schon die Augen aufgehen würden.“

„Die Augen aufgehen?“

„Du weißt schon, dass ich Tanner den Laufpass gebe und mit ihm zusammen sein will. Er hat gesagt, dass er auf mich warten würde …“ Ihre Augen wurden ganz groß. „… weil er mich heiraten würde, und dann würde ich für immer zu ihm gehören.“ Sie beugte sich vor und ihre Stimme klang ganz aufgeregt. „Ist das nicht unglaublich?“

Jenny verzog das Gesicht. Am liebsten hätte sie ihrer Tochter gesagt, dass das ganze Gerede lächerlich war. Bailey und die Jungen, die sie kannte, waren alle noch zu jung, um über etwas so Wichtiges zu sprechen. Aber wenn Bailey das alles für wichtig hielt, war Jenny klug genug, ihr es nicht ausreden zu wollen. Sie musste das Gespräch ernst nehmen. „Tanner den Laufpass geben? Ich weiß nicht. Irgendwie klingt das sehr grausam, Schatz.“

„Ich weiß.“ Sie richtete sich auf und wirkte jetzt wieder ernster. „Das waren auch Bryans Worte und nicht meine. Ich will damit ja nur sagen: Wenigstens bemüht er sich um mich. Meine Gespräche mit Tanner sind so … ich weiß nicht … so einfältig. ‚Wie läuft es beim Baseball?‘ – ‚Gut.‘ – ‚Wie geht es deiner Familie?‘ –‚Bestens.‘“ Sie stöhnte. „Wo bleibt seine Leidenschaft? Manchmal könnte man meinen, er wäre eine Schlaftablette.“

Jennys Erinnerung an das Gespräch von gestern Abend verblasste, als Bailey in die Küche zurücktanzte. Ihre Augen strahlten und sie wirkte wie aufgedreht. Sie schaute Katy an. „Bryan fährt auch ins Theatercamp. Anscheinend hat er sich in letzter Minute angemeldet.“

„Gut.“ Katy stand auf und spülte ihren Teller in der Spüle. „Je mehr Jungen wir haben, umso besser wird die Aufführung.“ Sie schaute Bailey und Connor über die Schulter an. „Ich denke, wir haben eine gute Besetzung.“

„Na toll“, murmelte Connor. „Tim und Bryan im selben Stück? Das war’s mit meiner Chance auf eine Hauptrolle.“

Katy tat, als höre sie ihn nicht, aber Jenny mischte sich ein: „Das ist die falsche Einstellung, mein Sohn.“

Connor nahm seine Worte schnell zurück. „Ich weiß. Tut mir leid.“ Er leerte seinen Teller, spülte ihn und stellte ihn in die Spülmaschine. Seine Stimmung verbesserte sich schnell wieder. „Du hast recht. Jeder kann eine gute Rolle bekommen.“

„Genau!“ Katy nahm ihren Koffer und Schlafsack. „Wir bringen die Sachen ins Auto.“

„In fünf Minuten können wir fahren.“ Jenny schaute ihnen nach, als sie ihre Sachen nahmen und zur Garage hinausgingen.

Cody war auch mit dem Essen fertig und ging in sein Zimmer im Untergeschoss. „Das Training beginnt um zehn, oder, Trainer?“, rief er über die Schulter.

„Für dich um zehn und um zwei, Coleman. Du kannst schon ab dieser Woche zweimal täglich trainieren.“

„Iiih.“ Er verschwand auf dem Flur und in seinem Zimmer.

Jenny trat hinter Jim und legte die Arme um seine Schultern. „Geht es dir gut?“

Er drehte sich auf seinem Stuhl zu ihr herum. „Wegen des Trainings?“

„Ja.“ Jenny warf einen Blick auf die Jungen. Sie diskutierten am anderen Ende der Arbeitsplatte, wer die meisten Brote gegessen hatte. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Mann. „Ziehst du es ernsthaft in Erwägung, dieses Jahr schon in die NFL zurückzukehren?“

„Nein. Du hast recht. Die Kinder brauchen Stabilität. Ich werde bis zum nächsten Sommer keinen Gedanken mehr darauf verwenden, okay?“

Jenny befiel eine Kombination aus Erleichterung und Besorgnis. Sie versuchte, sich nichts davon anmerken zu lassen. Nur noch ein Jahr in Bloomington? Sie liebte diese Stadt, die Arbeit im Kindertheater und ihre Freundschaften zu den anderen Eltern. Sie liebte die weiten Hügel und offenen Wiesen und Felder und die Nähe zur Universität, wo sie Theateraufführungen und Sportereignisse sehen konnten, und sie liebte den neu entstandenen Kontakt zu den Baxters.

Nur noch ein Jahr? Bliebe ihnen wirklich nicht mehr? Bloomington war der perfekte Ort, um eine Familie großzuziehen, und beim Gedanken, von hier wegzugehen, zog sich Jennys Magen zusammen. Aber für Jim wäre sie auch auf den Mond gezogen und hätte irgendwie eine Möglichkeit gefunden, das Leben dort zu genießen. Immerhin hatte er ihretwegen die NFL verlassen. Sie würde Bloomington den Rücken kehren, wenn das bedeutete, dass er die Arbeit machen könnte, die er liebte.

Sie küsste ihn und schaute ihm in die Augen. „Bist du sicher? Du liebst die Arbeit als Trainer. Das weiß ich.“

„Ich arbeite als Trainer.“ Er strich ihr mit den Fingerknöcheln über die Wange. „Clear Creek High braucht mich.“

Sie rieb die Nasenspitze an seine. „Ich liebe dich, Jim Flanigan.“

„Ich liebe dich auch.“

„Igitt.“ Ricky, ihr jüngster Sohn, verzog die Nase und legte seinen Toast auf seinen Teller. „Ich werde nie heiraten. Dieses ganze eklige Küssen.“

„Ich will schon heiraten.“ Shawn hielt die Gabel in die Luft. „Je früher, umso besser. Denn dann kann ich sie länger lieben.“

Seine Brüder drehten sich zu ihm um.

„Krank.“

„Krass.“

Shawn bohrte seine Gabel wieder in die Luft. „Aber vorher muss ich noch üben, so schnell wie ein Gepard zu laufen. Wenn sie mich küssen will, muss sie mich erst erwischen.“

Jennys Herz schmolz dahin. Shawn, das älteste Kind, das sie aus Haiti adoptiert hatten, hatte schon immer ein weiches Herz. Und er wusste alles über Tiere. Sie konnte es kaum erwarten, zu sehen, was Gott in den kommenden Jahren aus dieser Kombination machen würde.

„Alles klar, Jungs.“ Jim ging um Jenny herum. „Esst auf. Der Pavillon wartet auf uns!“

Jenny hielt ihn am Arm fest. „Ich fahre los. Das Camp ist auf der anderen Seite des Lake Monroe, im Freizeitzentrum. Ich bin in zwei Stunden wieder zurück.“

„Fahr vorsichtig. Sag den Kindern, dass ich sie liebe.“

In diesem Moment tauchten Bailey und Connor auf und umarmten ihren Vater.

„Wir können doch nicht fahren, ohne uns zu verabschieden.“ Bailey drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. „Bete für uns, okay?“

„Das werde ich.“ Jim schmunzelte und umarmte Connor. „Pass auf deine Schwester auf.“

„Wird gemacht.“

Jenny winkte Jim und ihren Söhnen und legte dann Bailey und Connor die Arme um die Schultern. „Gehen wir. Wenn wir uns nicht beeilen, bekommt ihr nur noch einen Platz auf dem Fußboden.“

„Stimmt.“ Bailey beschleunigte ihre Schritte. „Ich sitze vorne.“

„Katy sitzt vorne“, stellte Connor klar.

Damit begaben sie sich in die Garage. Das Abenteuer Theatercamp würde in einer Stunde beginnen. Und während die aufgeregte Stimmung anhielt, während Katy Jenny von Dayne Matthews und seinen Schwierigkeiten bei seinem aktuellen Film erzählte, während Bailey Connor von Bryan Smythe erzählte und Connor überlegte, ob Sydney oder Chelsea im blauen Team wären, erfüllte Jenny eine tiefe Dankbarkeit.

Denn egal, was die Zukunft für sie bereithielt, hatten sie auf jeden Fall noch ein wunderbares Jahr in Bloomington vor sich.

* * *

Katy war dankbar für die Ablenkung.

Das Teenagercamp gehörte zu den Sommerereignissen, die am sehnsüchtigsten erwartet wurden, und die Gruppe in diesem Jahr war vielleicht die beste, die sie je gehabt hatten. Sie würde die Ärmel hochkrempeln und sich in die Arbeit stürzen und zusammen mit den anderen Mitarbeitern dafür sorgen, dass sie irgendwie genug Zeit für alle geplanten Aktivitäten hätten. Katy leitete das blaue Team, und ihre Freundin Rhonda war für das gelbe Team verantwortlich.

Zusätzlich hatten sie einen neuen Mitarbeiter, der sie unterstützte: Aaron Woods, ein vierundzwanzig Jahre alter Jugendpastor aus einer Gemeinde im Norden von Bloomington. Er hatte sich im Februar gemeldet und gefragt, wie er helfen könnte. Katy hatte seine Referenzen überprüft. Er hatte an der Oregon State University Football gespielt und konnte einen tadellosen Lebenslauf vorweisen. Er war bei mehreren christlichen Jugendcamps für die Bibelarbeiten zuständig gewesen. Katy hatte ihn für die Spiele und die Abendandachten eingeteilt.

Trotzdem würde sie in dieser Woche von frühmorgens bis spätabends beschäftigt sein. Das bedeutete, dass sie nicht so viel Zeit hatte, um sich wegen Dayne und der letzten Szenen, die er diese Woche mit Randi Wells drehte, den Kopf zu zerbrechen. Der Film war abgedreht, und ersten Einschätzungen zufolge würde er ein großer Hit werden. Vielleicht Daynes erfolgreichster Film. Aber der Regisseur wollte einige Liebesszenen noch einmal drehen. Mehr Küsse, mehr Intimität. Mehr von allem, obwohl er vorher gesagt hatte, dass sie die Szenen so gut gespielt hätten. Dayne hatte vor, mit ihm zu sprechen und zu argumentieren, dass das Material, das sie hatten, perfekt sei. Die Entscheidungen zu den verschiedenen Aufnahmen würden heute getroffen werden.

Katys Gespräch mit Jenny verstummte und Jenny drehte das Radio auf. Ein Lied von Switchfoot erklang: „Dare You to Move.“

Katy schaute aus dem Fenster und richtete den Blick zum strahlend blauen Himmel hinauf. Sie spürte eine starke Unruhe in ihrem Herzen. Noch leidenschaftlichere Liebesszenen zwischen Dayne und Randi? Quälende Bilder tauchten vor ihrem geistigen Auge auf, die sie nicht verdrängen konnte. Wenn nur schon Thanksgiving wäre! Dann würde er nach Bloomington ziehen und sie würde Cinderella abschließen. Bis zum November waren es nur noch drei Monate, aber ihr kam es wie eine Ewigkeit vor.

Das Lied sagt es, Herr. Als wollte der Feind mich warnen, es ja nicht zu wagen, mich zu bewegen und mich auf mein Leben zu konzentrieren, wenn der Mann, den ich liebe, möglicherweise diese Woche in den Armen einer anderen Frau verbringen muss. Sie betete leise weiter, es war ein Gespräch nur zwischen Gott und ihr. Ich will mir keine Sorgen machen, und ich will nicht eifersüchtig sein. Ich weiß, dass Daynes Herz mir gehört. Aber bitte … hilf ihm, den Regisseur zu überzeugen. Er versucht, das Richtige zu tun, Vater. Bereite ihm heute Morgen den Weg.

Sie hörte nicht direkt eine Antwort, aber sie spürte tief in ihrem Herzen eine Gewissheit. Gott würde sich der Situation annehmen. Sie spürte, wie sie sich entspannte. Der Herr würde ihrem Verlobten den Weg bereiten, und Gott würde auch ihr in der ganzen Woche zur Seite stehen und ihr helfen. Sie mussten beide ihre Arbeit erledigen, bevor sie sich auf ihre Hochzeitspläne konzentrieren konnten. Und Gott würde ihnen helfen, die Dinge auf eine Weise zu erledigen, die seinem Namen Ehre machte. Daynes Gespräch mit dem Regisseur, ihre Arbeit mit den Jugendlichen … Gott wäre bei allem dabei, Schritt für Schritt. Er hatte sie so weit gebracht.

Er würde sie bestimmt auch bis Thanksgiving sicher durchtragen.