Über das Buch:
Die Proben für das neue Stück des christlichen Kindertheaters sind in vollem Gange, als ein tragischer Unfall jäh die Kleinstadtidylle von Bloomington, Indiana, erschüttert. Plötzlich müssen die Kinder und Jugendlichen mit Wut und Trauer kämpfen. Mittendrin steht Katy Hart, die junge Regisseurin. Sie wünscht sich nichts mehr, als die Herzen der Jugendlichen zu erreichen.
Dabei wird ihr eigenes Herz noch von ganz anderen Stürmen durcheinandergewirbelt: Hollywoodstar Dayne Matthews kommt für Dreharbeiten nach Bloomington – und tritt damit wieder in Katys Leben. Was hat es zu bedeuten, dass er ihre Nähe sucht?
Auch in Daynes Herzen streiten die verschiedensten Gefühle miteinander. Wird er in Bloomington den Frieden und die Vergebung finden, die er schon so lange sucht?

Über die Autorin:
Karen Kingsbury war Journalistin bei der Los Angeles Times. Seit einiger Zeit widmet sie sich ganz dem Schreiben christlicher Romane. Sie lebt mit ihrem Mann, 3 eigenen und 3 adoptierten Kindern in Washington.

Kapitel 8

Ashley erfuhr am Wochenende von dem Unfall, als ihr Vater anrief und sie bat, für die Betroffenen zu beten. Den ganzen Sonntag hatte sie den Wunsch, ins Krankenhaus zu fahren und die zwei Familien zu besuchen und sie zu fragen, ob sie ihnen irgendwie helfen könnte. Aber sie unterließ es. Sie hatten andere Menschen, Menschen, die ihnen näher standen.

Aber jetzt war Montagnachmittag, und Ashley konnte weder malen noch lesen noch irgendetwas erledigen, bevor sie mit eigenen Augen gesehen hatte, wie es den Strykers und den Hanovers ging. Sie hatte zusammen mit Mrs Hanover für Tom Sawyer die Bühnenbilder gemalt, und Sarah Jo Stryker hatte ab dem Beginn der Kostümproben sofort ihr Herz erobert.

Cole war bei einem Freund zum Spielen, und Landon war an der Arbeit. Wenn sie also zum Krankenhaus fahren wollte, musste das jetzt sein. Ohne noch länger nachzudenken, nahm Ashley ihre Autoschlüssel und lief zur Garage hinaus. Als sie rückwärts aus der Garage fuhr, bremste sie noch einmal und schaute zum grauen Himmel hinauf. „Gott … bitte benutze mich.“ Dieses Gebet sprach sie öfter, seit sie das Leben besser verstand. Gott hatte bei allem eine Absicht, und an diesem Tag hatte er bestimmt auch einen Grund, warum er sie im Krankenhaus haben wollte, so schwer das auch sein würde.

Sie bog auf den Parkplatz vor dem Krankenhaus, fand einen freien Platz und betrat die Eingangshalle. Die Patienten waren jetzt auf Normalstationen, nur Sarah Jo lag noch auf der Intensivstation. Das bedeutete, dass nur wenige Besucher zugelassen waren, vielleicht auch gar keine. Das hinderte Ashley jedoch nicht, denn sie hatte nicht vor, die Verletzten zu besuchen. Sie wollte Katy Hart und die Familien sehen, sie wollte wissen, wie es ihnen ging, und ihnen zeigen, dass sie an sie dachte.

Sie fuhr mit dem Aufzug nach oben und ging an der Empfangstheke vorbei. Ihr Vater hatte ihr gesagt, dass sich der Zustand aller anderen verbesserte, aber dass Sarah Jos Verfassung immer noch sehr kritisch war. Ashley ging leise durch den Gang der Intensivstation und betrat das Wartezimmer. Außer Katy war niemand da.

„Ashley …“ Katy stand auf und umarmte sie. Ihre Stimme klang heiser. „Du hast die anderen verpasst.“

„Welche anderen?“ Ashley setzte sich neben Katy und drehte sich leicht, damit sie einander anschauen konnten.

Katys Augen waren rot und geschwollen. „Eine Gruppe Jugendlicher aus dem christlichen Kindertheater war für ungefähr eine Stunde da.“ Sie versuchte zu lächeln. „Einfach, um zu beten und um zusammen zu sein. Weil sie hoffen, dass sie irgendwie helfen können.“

„Wer von den jungen Leuten war denn dabei?“ Ashley stellte ihre Tasche auf den Boden. Sie war immer noch nicht sicher, ob es richtig war, dass sie hier war, aber wenigstens waren sie die Einzigen im Raum. Vielleicht brauchte Katy jemanden, mit dem sie sprechen konnte.

„Tim Reed und Bailey und Connor Flanigan. Vier von den Picks und die Shaffers.“

Ashley nickte und schwieg einen Moment. Dann schaute sie durch die Tür zum Flur hinaus. „Was ist der neueste Stand?“

„Alice Stryker wacht immer wieder kurz auf, sie stellen eine Besserung ihres Zustands fest. Ihr Mann ist gerade bei ihr.“ Katy faltete die Hände und drückte sie fest. Ihre Fingerknöchel sahen auf ihrer Jeans weiß aus. „Er ist abwechselnd bei Sarah Jo und bei seiner Frau.“

„Was ist mit ihrem Bruder, Joey?“

Katys Blick wurde ein wenig heller. „Ihm geht es besser. Wahrscheinlich kann er schon heute entlassen werden.“ Ein Schatten zog über ihr Gesicht. „Er wohnt bei den Reeds, damit sein Vater bei Alice und Sarah Jo sein kann. Sie haben keine Verwandten hier in der Gegend.“

Ashley starrte auf ihre Schuhe hinab. Der arme Junge. Wie würde Cole mit einer solchen Situation fertig werden? Wenn er bei Leuten wohnen sollte, die er nicht kannte, wenn er nicht wüsste, was im Krankenhaus los war, wenn er nicht wüsste, wann seine Familie wieder zusammen wäre oder ob sie das jemals wieder wäre? Sie erschauderte und blickte Katy erneut an. „Was ist mit den Hanovers?“

„Brandy soll auch heute entlassen werden. Ihr Bein ist im Gips, und sie hat einen Verband um den Brustkorb. Sie haben ihr gestern das von Ben gesagt.“ Katy schüttelte den Kopf. „Ich habe sie heute Morgen gesehen, und sie weinte immer noch. Die beiden … sie standen sich sehr nahe.“

Es blieb nur noch eine Person, über die sie nicht gesprochen hatten. Ashley wollte nicht fragen, sie wollte nicht hören, dass es schlimm um sie stand und immer schlimmer wurde. Aber schließlich konnte sie nicht länger warten. „Sarah Jo?“

Katy öffnete den Mund, um ihr zu antworten, aber dann schloss sie ihn wieder. Ein Schluchzen kam aus ihrer Kehle, und sie schaute weg.

Ashley legte die Arme um sie, drückte sie an sich und wiegte sie fast eine Minute lang. „Wir dürfen nicht aufgeben.“ Ihre eigene Stimme war heiser und voll Traurigkeit. „Wenn ich etwas über Gott gelernt habe, dann dass er immer noch Wunder wirkt.“

Katy hustete. „Sarah Jo geht es schlecht, Ashley. Der Druck in ihrem Kopf ist nach dem Unfall stark angestiegen.“ Sie hustete wieder. „Sie hat einen Hirnschaden.“

„Trotzdem …“ Ashley drückte Katy sanft die Schulter. „… lebt sie noch. Daran müssen wir uns halten.“

„Ich sehe sie immer wieder auf der Bühne stehen, wie sie Becky Thatcher spielt und voller Hingabe singt.“ Katy konnte jetzt besser sprechen, aber ihr standen Tränen in den Augen. „Ihre Mutter machte sich so große Sorgen um ihre Zukunft.“

„Dabei hat sie vielleicht die Gegenwart verpasst.“

„Genau.“ Katy schniefte und wischte sich die Augen. „Ich war ein paar Mal bei Alice. Sie ist völlig neben sich. Sie murmelt irgendetwas vor sich hin, aber sie weiß nicht, wo sie ist und was los ist. Die Ärzte wollen sie mit Medikamenten beruhigen, bis ihre Werte besser sind.“ Ein schwaches Lächeln erhellte Katys Gesichtszüge. „Erzähl mir lieber etwas von dir, Ashley. Welche Wunder hat Gott in deinem Leben schon gewirkt?“

Ashley wünschte sich ein solches Gespräch seit dem ersten Tag, an dem sie Katy kennengelernt hatte. Die beiden hatten sich auf Anhieb verstanden, wie Ashley es manchmal mit anderen Künstlern erlebte. Bis jetzt hatten sie meistens gelacht, wenn sie sich begegnet waren. Aber keine Freundschaft war wirklich echt, solange man sich nicht auch in traurigen Zeiten verstand. Sie schaute aus dem Fenster und holte langsam Luft. „Es ist eine lange Geschichte.“ Sie blickte Katy wieder an. „Ich war jahrelang das schwarze Schaf meiner Familie.“

„Wirklich?“ Katy zog die Beine auf den Sitz und legte die Arme um ihre Knie. „Das hätte ich nie gedacht.“

Ashley lächelte. „Meine Mutter starb letztes Jahr; das weißt du ja. Ich werde immer so dankbar sein, dass sich alles noch gewendet hat, bevor ich sie verlor. Wir standen uns sehr nahe.“ Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und ging zum Anfang ihrer Geschichte zurück, damals, als sie das Kind in ihrer Familie war, das sich anders kleidete und anders benahm und alles tat, um Landon Blakes Interesse abzuwehren.

Sie erzählte ihre ganze Geschichte. In der nächsten Stunde berichtete sie Katy, wie sie nach Paris gegangen war, Jean-Claude kennengelernt und sich mit ihm getroffen hatte, obwohl er verheiratet gewesen war. Sie erzählte ihr, wie sie schwanger nach Hause gekommen war und wie sie und ihr Bruder, Luke, in den darauf folgenden Jahren fast Feinde gewesen waren, obwohl sie sich in ihrer ganzen Kindheit sehr nahegestanden hatten.

Sie sprach vom Erwachsenenpflegeheim Sunset Hills und wie ihre dortigen Freundinnen ihr geholfen hatten, ihre Lebenseinstellung zu ändern. „Besonders eine Frau, Irvel. Von ihr habe ich gelernt, was Liebe heißt. Ihr Mann war schon seit Jahren tot, aber jeden Tag lebte sie in ihren Erinnerungen mit ihm, dachte an ihn und wartete darauf, dass er nach Hause käme.“ Ashley zögerte und dachte an Landon. „Irvel hat mir gezeigt, dass ich erst glücklich bin, wenn ich diese Art von ewiger Liebe finde.“

„Ewige Liebe.“ Katy legte den Kopf schief. „Ich schätze, das suchen wir alle.“

Ashley erklärte ihr, wie ihr die Tragödie des 11. September die Augen geöffnet hatte: dass Landon der einzige Mann war, den sie je wirklich geliebt hatte. Aber kurze Zeit später hatte sie um ihre Gesundheit bangen müssen. „Meine Gesundheit war für Landon kein Hinderungsgrund. Er wollte mich heiraten, egal, wie viel Zeit uns miteinander bliebe.“

„Siehst du …“ Katy biss sich auf die Lippe. „Das ist echte Liebe. In der Gegenwart zu leben, zu wissen, selbst wenn man nur den heutigen Tag zusammen hätte, wäre das genug.“

„Genau.“

„Das habe ich noch nicht gefunden.“ Katys Blick wanderte in die Ferne. „Das hatte ich einmal … wenigstens dachte ich es.“

Eine Krankenschwester steckte den Kopf ins Wartezimmer. „Hat irgendjemand Mr Stryker gesehen?“

Katys Füße glitten auf den Boden. „Nein, ich habe ihn nicht gesehen. Haben Sie es in allen drei Zimmern versucht? Er hat seine Frau und zwei Kinder hier.“

„Ich weiß.“ Die Stirn der Frau zog sich in Falten, ihre Miene war besorgt. „Ich habe schon überall nachgesehen. Falls Sie ihn sehen, sagen Sie ihm doch bitte, dass er ins Stationszimmer kommen soll, ja?“

„Natürlich.“ Katy schluckte. „Ist etwas passiert? Hat sich der Zustand von jemandem aus seiner Familie verändert?“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Das darf ich nur Familienangehörigen sagen.“ Sie eilte weiter.

Katy starrte Ashley an. „Das bedeutet bestimmt nichts Gutes.“

„Vielleicht hat es auch nichts zu bedeuten. Vielleicht wollen sie nur Joey entlassen und können das ohne Mr Stryker nicht tun.“

„Ja, das könnte auch sein.“ Katy schaute zum leeren Türrahmen. Dann drehte sie sich wieder zu Ashley herum. „Mit dir zu sprechen hilft mir, die Zeit zu vertreiben. Ich kann nicht einfach nach Hause fahren und warten, solange wir nicht mehr über Sarah Jo wissen.“

Ashley lehnte sich zurück und nahm das Gespräch wieder auf. „Du wolltest mir gerade davon erzählen, dass du diese Art von ewiger Liebe erlebt hast.“

„Ja, richtig. Er hieß Tad. Wir lernten uns an der Schule kennen und kamen uns während des Studiums näher.“ Katys besorgte Miene änderte sich, als sie über Tad sprach und von dem Spaß, den sie hatten, als sie miteinander Theater spielten. Sie erzählte, dass er in der Filmindustrie den großen Durchbruch schaffte. Aber dann wurde ihre Geschichte traurig. „Hollywood veränderte ihn.“ Sie kniff die Augen zusammen und schaute in die Sonne, die durch das Fenster ins Zimmer fiel. „Vor drei Jahren starb er an einer Überdosis Drogen.“

Ashley begriff, was sie zu Katy hinzog. Kein Wunder, dass sie sich auf Anhieb so gut verstanden. Sie hatten beide Schweres durchgemacht. Sie berührte Katys Schulter. „Das tut mir leid.“

Katy schaute sie wieder an. „Es wäre sowieso nichts aus uns geworden. Er hat an den Drehorten viel gefeiert, mit vielen Mädchen und viel Bier und offenbar auch Drogen.“ Ein trauriges Lächeln zog über ihr Gesicht. „Seitdem finde ich Hollywood nicht mehr so reizvoll.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

Das Wartezimmer war still und wurde durch die unerwarteten Sonnenstrahlen gewärmt. Nach einer Weile sagte Katy: „Kann ich dir etwas erzählen?“

„Natürlich.“

„Es weiß fast niemand.“ Sie schmunzelte leicht. „Im letzten Juli war ich in Los Angeles und sprach für die weibliche Hauptrolle in einem Film mit Dayne Matthews vor.“ Ihre Augen verrieten, dass sie es immer noch nicht ganz glauben konnte. „Ich hätte die Rolle fast angenommen.“

„Dayne Matthews? Er ist Klient in der Anwaltskanzlei, in der mein Bruder arbeitet.“

„Wirklich?“

„Ja. Luke lernte ihn vor einem Jahr kennen, als er in New York einen Film drehte.“

„Er ist nett.“ Katy erzählte die Geschichte. Sie sprach davon, wie sie den Anruf von einem Casting-Direktor bekommen hatte und zum ersten Casting nach Hollywood geflogen war. Als es erfolgreich verlaufen war, war sie noch einmal hingeflogen, um mit Dayne eine Szene vor der Kamera zu spielen. Katys Wangen erröteten, als sie erzählte, dass sie sich in der Szene hatten küssen müssen und dass sie das so gut gemacht hatten, dass der Casting-Direktor ganz begeistert gewesen war.

„Das muss irgendwie surreal gewesen sein.“ Ashley war von der Geschichte fasziniert. „Habt ihr beide nach dem Casting miteinander gesprochen?“

„Einmal machten wir ein Picknick, und … ich weiß auch nicht … ich hatte das Gefühl, dass wir uns sehr gut verstehen. Aber dann ist etwas völlig Verrücktes passiert.“ Angst spiegelte sich in Katys Augen, als sie erzählte, dass sie eines Abends an den Strand gegangen waren und dass eine psychisch kranke Frau, ein Fan von Dayne, sie mit einem Messer überfallen hatte. „Ich muss im Mai wieder nach Hollywood, um als Zeugin vor Gericht auszusagen. Das alles hat mir eine Todesangst eingejagt. Ich habe die Rolle abgelehnt und bin so schnell wie möglich wieder nach Hause gefahren.“ Sie lächelte. „Wohin ich gehöre.“

„Wow … das ist ja wirklich unglaublich.“ Ashley versuchte, sich die Szene am Strand vorzustellen. „Wie hat Dayne Matthews von dir gehört?“

„Das ist das Seltsamste an der ganzen Sache.“ Einige Krankenschwestern gingen an ihnen vorbei. Als sie wieder weg waren, sprach Katy weiter. „Das erste Mal sah ich ihn hier in unserem Theater. Wir waren am Ende unserer letzten Aufführung von Charlie Brown, und er kam herein und setzte sich in die hinterste Reihe.“

Ashley war überrascht. „Was hat er denn hier gemacht?“

„Das wollte er nicht sagen.“ Katy nahm die Flasche Wasser, die sie auf dem Tisch neben sich stehen hatte. „Vielleicht hat er sich Drehorte angeschaut … oder jemanden besucht. Ich weiß es nicht.“

„Hast du mit ihm gesprochen, seit du wieder hier bist?“ Ashley war von der Geschichte fasziniert. Wie oft kam es vor, dass ein Kleinstadtmädchen einen Anruf aus Hollywood bekam?

„Nein.“ Aus Katys Miene sprach eine Entschlossenheit, die Ashley sagte, dass ihre Entscheidung feststand. „Er lebt in einer völlig anderen Welt als ich. Außerdem war er nicht wirklich an mir interessiert.“ Sie verbarg die Enttäuschung in ihrer Stimme nicht. „Er lebt jetzt mit Kelly Parker zusammen. Sie hat die Rolle bekommen, die ich abgelehnt habe.“

„Oh.“ Die Faszination verblasste. „Dann haben die Klatschzeitungen wahrscheinlich doch recht. Wilde Nächte, bizarre Fans und jeden Tag eine andere Freundin. Sie sind alle gleich.“

Katys Blick wanderte in die Ferne. „Ich dachte, er wäre anders.“ Sie lächelte, aber das konnte die Traurigkeit aus ihrem Gesicht nicht vertreiben. „Offenbar ist er das aber nicht.“

Ashley schaute auf ihre Armbanduhr. „Ich muss bald meinen Jungen von seinem Freund abholen. Deshalb gehe ich jetzt lieber.“

„Danke, dass du mir Gesellschaft geleistet hast.“ Katy trank einen Schluck von ihrem Wasser und stellte die Flasche wieder weg. Sie stand auf und schob die Hände in die Gesäßtaschen ihrer Jeans. „Wenn man allein hiersitzt und nur wartet, kommen einem die Minuten wie Stunden vor.“

„Ich melde mich bei dir. Vielleicht kann ich morgen wiederkommen.“

Die beiden umarmten sich, und Ashley ging am Stationszimmer vorbei zum Aufzug und fuhr nach unten. Auf dem Weg zu ihrem Auto hatte sie das Gefühl, eine Last werde ihr von den Schultern genommen. Sie war froh, dass sie gekommen war, sie war froh, dass sie sich die Zeit genommen hatte, eine Stunde im Krankenhaus zu verbringen. Bei den Verletzten hatte sich nichts geändert, und sie hatte den Hanovers und den Strykers nicht helfen können. Aber sie hatte etwas anderes getan.

Sie hatte eine Freundin gewonnen.

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Katy durchquerte das Wartezimmer und starrte aus dem Fenster auf den Parkplatz. Sie schaute zu, wie Ashley in ihr Auto stieg und wegfuhr. Es hatte ihr gutgetan, sich mit ihr zu unterhalten und über Tad und Dayne und die Ereignisse zu sprechen, die sie zum christlichen Kindertheater geführt hatten. Ashley war wunderbar, freundlich und lustig, und sie hatte den Blick der Künstlerin für Details. Und sie hatte selbst schwere Zeiten durchgemacht – mehr als Katy vermutet hätte.

Sie drehte sich um und schaute zur Tür. Hatte die Schwester Mr Stryker inzwischen gefunden? Warum suchte sie ihn überhaupt? In den letzten zwei Tagen war keine Stunde vergangen, ohne dass sie auf dem Laufenden gehalten worden wäre. Meistens kamen Mr Stryker oder die Hanovers ins Wartezimmer und erzählten ihr, was es Neues gab oder was die Ärzte meinten.

Die Familien hatten ihr erlaubt, die Verletzten zu besuchen. Katy wollte zu Sarah Jo gehen, aber das Mädchen durfte nicht überfordert werden. Deshalb nahm sie lieber den Aufzug und fuhr in die zweite Etage hinab zu Alice Strykers Zimmer. Die Frau schlief, deshalb trat Katy vorsichtig ein. Aus ihren Armen liefen Schläuche und Drähte, und ein ständiges Piepsen erfüllte den Raum.

Katy trat neben das Bett und ergriff ihre Hand. „Hallo, Alice.“ Ihre Stimme war leise und vorsichtig. „Es geht Ihnen schon viel besser. In ein paar Tagen sind Sie wieder auf den Beinen.“

Alice stöhnte. Sie bewegte langsam den Kopf von einer Seite des Kissens auf die andere. „Sarah Jo …“ Mitgefühl klang in der Stimme der Frau mit und löste in Katy eine neue Traurigkeit aus. Warum hatte sie Sarah Jo nicht vor dem Unfall dieses Mitgefühl entgegengebracht?

Katy beugte sich ein wenig näher vor. „Es ist gut. Sarah Jo bekommt die bestmögliche Hilfe.“

In diesem Moment betrat Mr Stryker das Zimmer. Sein Gesicht war von Erschöpfung und Angst gezeichnet. Er musste sie gehört haben, denn er nickte. „Sie bekommt wunderbare Hilfe.“

„Haben Sie Sarah Jo gesehen?“

„Ja.“ Er drückte sich den Daumen und Zeigefinger an die Stirn. Seine Augen wanderten zu Alice und dann zurück zu Katy. „Könnten Sie kurz mit auf den Gang hinauskommen?“

Katy stellte sich auf schlechte Nachrichten ein. Sie folgte Mr Stryker aus dem Zimmer und ein Stück den Flur entlang, so dass Alice sie auf keinen Fall hören konnte. Katy schaute ihn fragend an. „Geht es Sarah Jo schlechter?“

„Ja.“ Er sank an die Wand und vergrub sein Gesicht in den Händen. So blieb er einige Sekunden stehen. Dann hob er den Blick und schaute sie an. „Es geht ihr sehr schlecht, Katy. Ihr Hirn reagiert überhaupt nicht.“

Ein schweres Gewicht legte sich auf Katys Herz. Sie atmete schnell ein und zwang sich, die Tränen zurückzuhalten. „Wir dürfen nicht aufgeben.“

„Das sage ich mir auch ständig.“ Er deutete zu Alices Zimmer. „Gehen wir wieder hinein.“

Sie taten, was er sagte. Mr Stryker trat an eine Seite des Bettes. „Die Beruhigungsmedikamente werden langsam reduziert. Ihre Werte sind gut, und sie ist außer Gefahr.“ Er strich seiner Frau die Haare aus der Stirn und schaute zu Katy hinauf. „Ich weiß nicht, wie sie es aufnehmen wird, wenn sie es hört.“

Eine abgrundtiefe Angst legte sich um sie. Katy versuchte, an etwas Positives zu denken, an etwas, was ihnen einen Grund geben würde zu glauben, dass Sarah Jo wieder gesund werden würde.

Aber bevor sie das konnte, stöhnte Alice Stryker erneut. Dieses Mal bewegten sich ihre Augenlider nur so weit, dass man die Bewegung erkennen konnte. „Sarah Jo …“

Mehr sagte sie nicht. Wusste Alice trotz der Medikamente und des Schocks nach dem Unfall, dass es Sarah Jo sehr schlecht ging?

Katy trat einen Schritt zurück und überließ es Mr Stryker, seiner Frau zu antworten. Er beugte sich vor und ergriff Alices Hand. „Schatz, ich bin da. Du wirst wieder gesund. Joey geht es gut. Er kann heute aus dem Krankenhaus entlassen werden.“

Alice blinzelte und öffnete die Augen ein wenig, zuerst langsam, dann in immer schnelleren, unruhigen Bewegungen. Sie schaute sich im Zimmer um, bis sie ihren Mann erblickte. „Wo ist … Sarah Jo?“

„Sie ist hier …“ Mr Stryker traten Tränen in die Augen. Er schluckte schwer und hatte Mühe, die Haltung zu bewahren. „Du hattest einen Unfall, Alice. Du bist im Krankenhaus, und auch die Kinder.“ Er umklammerte mit seiner freien Hand das Bettgeländer. „Joey geht es gut, und … und sie bemühen sich um Sarah Jo.“

Als diese Nachricht durch den Nebel der Medikamente zu Alice durchdrang, begann sie, lauter zu stöhnen. Sie drehte den Kopf von einer Seite des Kissens auf die andere und hob die Schultern, als wollte sie aufstehen.

Mr Stryker warf Katy über das Bett einen bittenden Blick zu und sagte: „Könnten Sie vielleicht gehen und nach Sarah Jo schauen?“

Katy verließ entsetzt das Zimmer. Wie würden die beiden damit fertig werden? Wenn Sarah Jos Hirn keine Reaktion zeigte, dann …

Sie weigerte sich, diesen Gedanken weiterzudenken, während sie mit dem Aufzug zum dritten Stockwerk hinauffuhr und durch den Gang zu Sarah Jos Zimmer ging. Ein Arzt und zwei Schwestern unterhielten sich leise vor ihrer Tür.

„Ist es in Ordnung, wenn ich …?“ Katy deutete zur Tür. „Ihr Vater wollte, dass ich nach ihr schaue.“

Der Arzt sah aus, als wollte er Nein sagen, aber dann entspannte sich seine Miene. „Bitte beeilen Sie sich. Wir haben gerade eine Nachricht zu Mr Stryker hinuntergeschickt und ihn gebeten, nach oben zu kommen.“ Er warf einen Blick ins Zimmer auf Sarah Jo und bedeutete Katy, dass sie hineingehen könne. „Nur eine Minute, ja?“

„Ja. Danke.“ Katy trat ein und keuchte leise, als sie Sarah Jo anschaute. Das Mädchen war kreidebleich, ihr Kopf war dick verbunden. Wegen der Schwellung ihres Gesichts war sie nicht wiederzuerkennen. Katys Blick wanderte zu den Maschinen. Sie sah die Werte. Sie wusste kaum etwas über Medizin und Vitalwerte, aber trotzdem wusste sie, dass Sarah Jos Blutdruckwerte sehr niedrig waren.

Plötzlich begriff sie, was hier geschah. Sarah Jo würde sterben. Anders konnte es nicht sein. Warum sonst standen der Arzt und die Schwestern mit todernster Miene vor Sarah Jos Zimmer und holten ihren Vater? Katy fühlte sich klein und besiegt. Seit sie die Nachricht von dem Unfall bekommen hatte, hatte sie von ganzem Herzen geglaubt, dass Sarah Jo wieder gesund werden würde. Das Mädchen war so lebendig gewesen und hatte sein ganzes Leben vor sich gehabt.

Sie ging ein paar vorsichtige Schritte auf das Bett des Mädchens zu. „Sarah Jo …“

Sie bekam natürlich keine Antwort. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Kind nur noch von Maschinen am Leben erhalten, und trotzdem sah sie schlechter aus als noch am Morgen. Katy starrte ihre Augenlider an, die dick geschwollen waren. Dieselben Augen, die Katy vor mehreren Tom-Sawyer-Aufführungen geschminkt hatte.

Katy erinnerte sich an ein Gespräch. Sie hatte vor der letzten Aufführung Sarah Jos feine Wimpern geschminkt, und das Mädchen hatte sie angelächelt. „Ich habe bei Tom Sawyer etwas gelernt.“

„Wirklich?“ Katy hatte die Rolle mit der Wimperntusche vorsichtig an Sarah Jos untere Wimpern geführt. „Was hast du denn gelernt?“

Sarah Jo hielt still, während Katy sich auf das Schminken konzentrierte. „Ich habe gelernt, dass Theaterspielen Spaß machen kann.“ Sie kicherte. „Es kann sogar richtig lustig sein.“

Die Erinnerung verblasste, und sie umklammerte den Rand von Sarah Jos Bett. Gott, lass sie nicht sterben. Bitte. Sie sollte auf einer Bühne stehen und singen, bis sie alt und grau ist. Bitte, Gott.

Manchmal, wenn Katy betete, konnte sie fast Gottes Antwort hören – die leise, klare Erinnerung an eine Bibelstelle tief in ihrem Herzen oder stille Worte der Weisheit, die ihre Eltern oder die Flanigans gesagt hatten.

Aber dieses Mal erfüllte ein Lied ihr Herz, breitete sich immer mehr aus und arbeitete sich weiter, bis es ganz leise auf ihren Lippen erschien. „Groß ist deine Treue, oh Gott, mein Vater, wenn wir uns zu dir wenden, gibt es keine Schatten …“

Das Lied klang immer lauter, und der Text erinnerte sie und Sarah Jo und jeden, der es zufällig hörte, dass Gott das letzte Wort haben würde. Katy hatte Tränen auf den Wangen, als sie zu Ende sang: „Alles, was ich brauchte, hat mir deine Hand gegeben. Groß ist deine Treue, Herr, zu mir!“

Auf dem Gang ertönten schwere Schritte, und sie hörte Mr Stryker mit dem Arzt sprechen. Es war Zeit für sie zu gehen. Sie huschte lautlos an ihnen vorbei und ging weiter zum Wartezimmer. Sie blieb dort die nächste Stunde und betete und erinnerte sich an alles Gute. Sie flehte Gott an, Sarah Jo eine zweite Gelegenheit zu leben zu schenken.

Irgendwann in dieser Zeit hörte sie auf dem Gang hastige Schritte. Menschen eilten zu Sarah Jos Zimmer. Und ein wenig später vernahm sie gedämpftes Weinen. Katy sperrte alles aus und weigerte sich zu glauben, dass dem süßen, unschuldigen Mädchen, das im letzten Sommer die Bühne zum Strahlen gebracht hatte, etwas noch Schlimmeres zugestoßen war.

Sie glaubte immer noch, dass alles wieder gut werden würde, dass Sarah Jos Zustand sich auf wunderbare Weise bessern und dass sie wieder gesund werden würde, bis Mr Stryker in der Tür zum Wartezimmer erschien. Sein Gesicht war rot und tränenverschmiert.

„Wie geht es ihr?“ Katy stand auf, und ihre Blicke trafen sich.

Er hielt sich am Türrahmen fest und schloss die Augen. Da begriff Katy, was passiert war. Das Gesicht dieses Mannes sagte ihr alles, was sie wissen musste. Es gab für das Mädchen, das einige Zimmer weiter lag, keine wunderbare Heilung, keine Besserung, keine Genesung.

Sarah Jo Stryker war tot.

Kapitel 9

Das Treffen war für sieben Uhr im Haus der Flanigans angesetzt – zwei Stunden, in denen die Mitglieder des christlichen Kindertheaters miteinander weinen und beten konnten. Katy hatte keine Ahnung, wie sie auch nur eine Minute davon überstehen sollte.

Als Katy um fünf Uhr das Krankenhaus verließ, war Alice Stryker wach und wusste, dass ihre Tochter gestorben war. Das Letzte, was Katy hörte, als sie ging, war Alices Schluchzen, dass sie sich nicht einmal von ihr hatte verabschieden können. Katy fuhr wie in Trance nach Hause und fühlte sich hundeelend. Dann fragte sie Jenny Flanigan, ob sie heute Abend in ihrem Haus ein Gebetstreffen abhalten könnten.

Sie rief Rhonda und Bethany an. Sie teilten die Namen aller Kinder im christlichen Kindertheater unter sich auf, riefen in der nächsten Stunde alle an und luden sie ein.

Jetzt war Katy in ihrer Wohnung über der Garage der Flanigans und versuchte, wenigstens ansatzweise zu verarbeiten, was passiert war. Sie lag auf ihrem Bett und starrte zur Decke hinauf. Das zweite Vorsprechen am Samstag war gut gelaufen, auch wenn sie und Rhonda sich den ganzen Vormittag wie in einem Nebel gefühlt hatten. Als das Vorsprechen zu Ende gewesen war, hatten sie den Kindern von dem Unfall erzählt. Die Tränen und Umarmungen würden sich heute Abend wiederholen und noch trauriger sein.

Katy hatte ihre Bibel herausgeholt. Sie wollte aus dem ersten Kapitel des 2. Korintherbriefes vorlesen, wo Paulus den Christen sagt, dass die Leiden Christi reichlich über sie kommen, aber dass sie auch reichlich getröstet werden durch Christus. Doch noch bevor sie die Bibel aufschlagen konnte, hörte sie die Glocke an der Tür.

Die Shafers waren die Ersten, die eintrafen, und direkt nach ihnen klingelten die Picks. Jedes Mal, wenn neue Leute kamen, umarmte man sich, weinte miteinander und stellte sich Fragen. Die Fragen kamen immer wieder. Was würde aus dem betrunkenen Autofahrer werden? Wie ging es den anderen – Joey und Alice Stryker und Brandy Hanover? Und wie sollten sie ein Theaterstück einüben, wenn sie einen so schmerzlichen Verlust erlitten hatten?

Um sieben Uhr saßen fast hundert Leute im riesigen Wohnzimmer der Flanigans. Bethany hatte Katy gebeten, das Treffen zu leiten, und jetzt betete sie mit jedem Atemzug, dass sie die Kraft dafür hätte. Sie suchte sich einen Platz an der Wand, von dem aus sie die meisten Gesichter sehen konnte. Einige weinten; andere klammerten sich aneinander.

„Das ist für uns alle ein sehr schwerer Abend.“ Katy fühlte ein Brennen in ihren Augen, aber sie blinzelte die Tränen zurück. Sie musste für die Kinder stark sein. „Aber Gott hat uns etwas über solche Zeiten verheißen.“ Sie schniefte und schaute sich im Raum um. „Er hat versprochen, dass er treu ist, dass er sich nicht ändert, dass er sich nicht von uns abwendet und dass er uns nie allein lässt.“

Bailey Flanigan hob die Hand. „Ich weiß nicht, ob ich die Einzige bin …“ Sie schaute die anderen an, die neben ihr saßen. „Aber ich bin so wütend auf den betrunkenen Autofahrer.“ Sie knirschte beim Sprechen mit den Zähnen. „Es war seine Entscheidung, zu trinken und sich dann hinters Steuer zu setzen. Seine Schuld.“ Sie atmete mühsam aus, hob die Hände und ließ sie auf ihren Schoß fallen. „Manchmal hasse ich ihn, glaube ich. Ich weiß einfach nicht, wohin mit meiner ganzen Wut.“

„Solche Gefühle hatte wahrscheinlich jeder von uns irgendwann im Laufe des Wochenendes.“ Katys Stimme war freundlich und mitfühlend. Sie und Bailey hatten sich schon vorher darüber unterhalten, und Katy verstand sie. Bailey war ein Mensch mit absoluten Werten, für sie waren die Dinge entweder schwarz oder weiß. Wenn sie diese ersten Tage der Trauer und des Schocks hinter sich hatten, würden sie sich mit dem Thema Vergebung auseinandersetzen müssen. Katy schaute Bailey direkt an. „Jeder, der Probleme mit Vergebung hat, kann mich später ansprechen. Okay … will noch jemand etwas sagen?“

Niemand hob die Hand.

Katy sah Tim Reeds Mutter, die hinten im Raum leise weinte. Sie und Alice arbeiteten zusammen im Kostümteam, und da ihre Kinder in Tom Sawyer Hauptrollen gespielt hatten, hatten sie viele Samstage miteinander verbracht. Katy schluckte schwer und hatte große Mühe, gefasst zu bleiben. „Eines dürfen wir nicht vergessen: Die Bibel sagt, dass Gottes Gnade jeden Morgen neu ist. Daran müssen wir festhalten, wenn wir miteinander stark bleiben wollen, wenn wir …“

Die Türglocke unterbrach sie.

Bethany huschte aus dem Zimmer. Mehrere Kinder folgten ihr. Nach einigen Sekunden kamen die Kinder erschrocken zurück. „Die Hanovers sind hier!“

Eine Minute später folgte Bethany Mr und Mrs Hanover und ihrer Tochter Brandy ins Zimmer. Brandy saß in einem Rollstuhl und hatte ihr Gipsbein vor sich ausgestreckt. Die Beerdigung des kleinen Ben sollte morgen Früh stattfinden, deshalb hatte niemand damit gerechnet, dass sie heute kommen würden.

Katy betrachtete Brandy und sah den Blick in ihren Augen. In Tom Sawyer hatte sie Tante Pollys nervige Tochter gespielt, die Tom anschwärzen wollte.

Jetzt war in ihren Augen von dem verschmitzten Mädchen mit dem Pferdeschwanz, das sie in dem Stück gespielt hatte, nichts zu sehen. Sie war erst elf Jahre alt, aber die Weisheit in ihrer Miene war die eines Erwachsenen. Mr und Mrs Hanover nahmen auf beiden Seiten neben Brandys Rollstuhl Platz, und die drei schauten Katy an. Mr Hanover nickte, als wollte er sagen, dass sie weitermachen sollten, dass sie einfach bei ihnen sein wollten. Katy brachte kaum ein Wort über die Lippen, deshalb schaute sie Tim Reed auf der anderen Seite des Zimmers an. „Hast du deine Gitarre mitgebracht? Ich denke, wir sollten singen.“

Tim verließ das Zimmer und kam mit seiner Gitarre zurück. Sie begannen mit dem Lieblingslied des christlichen Kindertheaters, dem Lied, das sie vor jeder Aufführung in der Garderobe sangen. „Ich lieb dich, Herr, keiner ist wie du. Anbetend neigt sich mein Herz dir zu!“

Danach sangen sie mehrere Lieder, die die Kinder immer gern sangen, wenn sie zusammen waren. Das letzte Lied lautete: „Wer bin ich?“ Der Text handelte davon, dass alle Menschen nur verwelkende Blumen, zerfließende Wellen oder ein vorübergehender Hauch im Wind waren. Im ganzen Zimmer sangen die Kinder wie aus einer Kehle.

Katy warf einen Blick auf Brandy. Sie hatte die Augen geschlossen, aber die Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie hielt mit beiden Händen die Hände ihrer Eltern.

Als Tim fertig gespielt hatte, räusperte Mr Hanover sich und schaute Katy an, um sie um Erlaubnis zu bitten, etwas sagen zu dürfen. Sie nickte. Es wurde ganz still im Raum, als er einige Schritte vortrat. „Viele von euch denken wahrscheinlich, dass es schwer ist, nach dem, was passiert ist, ein Theaterstück aufzuführen.“

Mehrere im Raum nickten. Katy konnte nicht anders und nickte ebenfalls. Wie sollten sie sich darauf konzentrieren, das Stück Annie zum Leben zu erwecken, wenn sie alle zu traurig waren, um zu singen oder zu lächeln?

Mr Hanover trat zurück und ergriff wieder Brandys Hand. „Wir, unsere Familie, wollten euch bitten, dass ihr weitermacht.“ Seine Stimme wurde rau. Er rieb sich den Nasenrücken, dann ließ er seine Hand sinken. „Bitte macht weiter. Wenn Ben … wenn er hier wäre, würde er bei der Premiere vorne in der Mitte sitzen.“ Ein Ton, der mehr ein Weinen als ein Lachen war, kam aus seinem Mund. „Am Tag vor dem Vorsingen kam Ben zu mir.“ Mr Hanover schaute einen Moment auf den Boden und hatte unübersehbar Mühe, die Fassung zu bewahren. Er blickte wieder auf. „Er hat mir gesagt, wenn er alt genug wäre, würde er eine rote Perücke aufsetzen und ‚Tomorrow‘ singen. Er hat zu mir gesagt, dass er wahrscheinlich Annie spielen könnte. Aber lieber wäre er Peter Pan.“

Einige in der Gruppe lachten leise. Jeder hatte Ben Hanover gekannt und geliebt. Der Schmerz in Katy war so stark, als hätte sie ihren rechten Arm verloren. Sie drückte die Fingerknöchel an ihre Stirn und sah Ben zwischen den Kindern und Erwachsenen beim christlichen Kindertheater herumlaufen und darauf warten, dass er älter würde, um auch eine Chance auf eine Rolle zu bekommen.

Mr Hanover wartete, bis es wieder still im Raum war. Dann sagte er: „Danke. Danke, dass ihr uns wie eure Familie behandelt, und danke, dass ihr heute hier zusammen seid. Das christliche Kindertheater … es ist so, wie die Gemeinschaft von Christen sein soll.“ Er nickte einigen älteren Kindern zu, die im Raum verteilt waren. „Geht ins Theater und führt das Stück eures Lebens auf, hört ihr!“ Seine Stimme war angespannt, die Tränen glänzten in seinen Augen. „Bei der Premiere werden wir so weit vorne wie möglich sitzen. Und irgendwo …“ Ein Schluchzen kam aus seiner Kehle, und er drückte sich den Handrücken auf den Mund. „… wird Ben auch zuschauen.“

Als er schwieg, trat Katy einen Schritt vor und hielt die Hand hoch. „Wir bilden jetzt einen Kreis um die Hanovers und beten für sie. Ich fange an, und jeder, der will, kann laut beten.“

Ihre Bewegungen waren langsam und von der Trauer in ihren Herzen wie gelähmt. Aber sie kamen alle und bildeten einen Kreis um die Hanovers. Eine Viertelstunde beteten sie und baten Gott um Frieden und Heilung. Gegen Ende betete die achtjährige Mary Reed, Tims Schwester: „Bitte drücke Ben für mich ganz fest, denn er war mein Freund.“

Sie beteten auch für die Strykers, und als sie das taten, brachen mehrere Mädchen, die Sarah Jos Freundinnen gewesen waren, zusammen, sanken auf die Knie und bildeten ein weinendes Häufchen Elend. Der Kreis bewegte sich um sie herum, und als sie das Gebet beendeten, hatte Katy ein sonderbares Gefühl: Nicht dass bald wieder alles gut sein würde, sondern dass Gott den tragischen Tod von Ben Hanover und Sarah Jo Stryker benutzen würde, um etwas noch Stärkeres und Besseres aus dem christlichen Kindertheater zu machen.

Tim spielte noch einmal das Lied „Ich lieb dich, Herr“, dann betete er ein Abschlussgebet: „Herr, bitte … lass aus dieser ganzen Traurigkeit etwas Gutes entstehen. Wir begreifen, dass Menschen sterben. Aber … das jetzt verstehen wir nicht.“

Als er fertig gebetet hatte, klingelte das Telefon. Jenny Flanigan stand neben der Küche und nahm das Gespräch an. Katy, die auf der anderen Seite des Zimmers stand, konnte nicht verstehen, was Jenny sagte, und für einen Moment standen alle da und waren nicht sicher, wie sie den Abend beenden sollten. Doch bevor Katy etwas einfiel, was sie sagen sollte, legte Jenny den Hörer auf, drehte sich um und kam ins Wohnzimmer zurück. Sie lächelte und weinte gleichzeitig.

„Das war Mr Stryker.“ Sie schaute Katy, dann Bethany und dann die anderen im Raum an. „Sie haben Sarah Jos Augen einem kleinen Mädchen in Indianapolis gespendet. Die Operation ist morgen Früh, und danach … wird das Mädchen zum ersten Mal sehen.“

Erneut standen allen die Tränen in den Augen. Diese Nachricht kam direkt, nachdem Tim Gott gebeten hatte, dass etwas Gutes aus Sarah Jos Tod entstehen solle. Diese gute Nachricht konnten sie mitnehmen, auch wenn viele von ihnen sich heute Nacht in den Schlaf weinen würden.

Tim hatte recht. Keiner von ihnen würde jemals wirklich begreifen, was passiert war, warum ein betrunkener Fahrer mit einem Auto zusammengestoßen war, in dem vier Kinder saßen, oder warum zwei von ihnen gestorben waren. Aber eines konnten sie begreifen: Irgendwo in Indianapolis würde ein kleines Mädchen zum ersten Mal in seinem Leben sehen können.

Erst am nächsten Morgen erfuhren Katy und die anderen durch eine E-Mail Genaueres. Die Operation war erfolgreich verlaufen. Das Mädchen, das das Transplantat bekommen hatte, war in Sarah Jos Alter. Aber das war nicht alles. Das Mädchen liebte Theateraufführungen und hatte einen großen Wunsch, der ohne Augenlicht fast unmöglich gewesen wäre:

Dass sie eines Tages im Theater auftreten könnte.