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Claudia Strachan

Die Gudrun Sage

NEU ERZÄHLT

 

 

 

Claudia Strachan

Die Gudrun Sage

NEU ERZÄHLT

 

 

 

Published by Null Papier Verlag, Deutschland

Copyright © 2015 by Null Papier Verlag

1. Auflage, ISBN 978-3-95418-576-4

www.null-papier.de/291

 

 

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Eine der spannendsten Epen deutscher Heldendichtung neu erzählt.

Gudrun, wunderschöne Tochter der eigenwilligen Hilde, ist von Freiern umringt, doch niemand ist ihrem Vater gut genug. Als Herwig von Seeland mit Krieg droht, um ihre Hand zu gewinnen, willigt sie ein, seine Frau zu werden. Damit stößt sie jedoch ihre anderen Freier vor den Kopf. Das Blutvergießen, das sie vermeiden wollte, findet nun doch statt.

Die Gudrun-Sage wird neben dem Nibelungenlied als eines unserer größten deutschen Heldenepen betrachtet. Von der schönen Königstochter bis zu den tapferen Rittern hat die Geschichte alle Bestandteile einer historisch wertvollen Legende, doch wird hier zum ersten Mal dem mittelalterlichen Racheprinzip das Konzept der Versöhnung entgegengehalten.

Die Neuerzählung macht die Geschichte nachvollziehbar und leicht lesbar – ein Lesevergnügen für alle, die sich für die Grundfesten unserer Kultur interessieren.

Die Autorin lebt seit 1993 in England. 2009 veröffentlichte sie ihr erstes Buch, „Mrs Mahoney’s Secret War“, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde.

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Autorin

Die Autorin Claudia Strachan lebt seit 1993 in England. Sie ist Lehrerin für Deutsch und Französisch an einer Gesamtschule in Sussex und bemüht sich nach Kräften, ihren SchülerInnen die Liebe zur deutschen Sprache zu vermitteln.

2009 veröffentlichte sie ihr erstes Buch: „A Different Kind of Courage“ (Titel der 2. Auflage: „Mrs Mahoney’s Secret War“), das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Es geht um die Erinnerungen ihrer Freundin Gretel Mahoney, die zu den „Stillen Helden“ gehört, von denen wir wissen sollten.

 

www.claudiastrachan.net

 

Personenverzeichnis

Gerlint: Hartmuts Mutter, lebt in Ormanie. Kann Gudrun nicht leiden, weil sie sie als hochmütig empfindet.

Gudrun: Tochter von Hilde und Hetel, noch schöner als ihre Mutter. Kann es nicht ertragen, dass ihretwegen Blut vergossen wird.

Hagen: König von Irland, wohnhaft auf der Burg Baljan. Als Kind von einem Greifen entführt worden und fast unbesiegbar.

Hartmut: Gekränkter Freier Gudruns. Lebt in Ormanie.

Herwig: Einer der zahllosen Freier Gudruns. Kommt aus Seeland.

Hetel: Gudruns Vater. Lebt auf der Burg Matelane in Hegelingen. Holt Hilde mit List zu sich.

Hildburg: Getreue Dienerin und Freundin Gudruns.

Hilde: Tochter von Hagen, durch ihre Schönheit berühmt, Mutter von Gudrun. Verfällt dem zauberhaften Gesang Horants und läuft den Eltern davon, um Hetels Frau zu werden.

Horant: Ein unglaublich begabter Minnesänger, der treu unter Hetels Lehnsherrschaft steht.

Ludwig: Hartmuts Vater, König von Ormanie.

Ortrun: Hartmuts Schwester. Die Einzige, die Gudrun wirklich versteht.

Ortwin: Gudruns Bruder, Sohn von Hilde und Hetel.

Wate: Treuer Gefolgsmann Hetels, den er dereinst aufgezogen hatte. Stark, kampflustig und grundsätzlich der Meinung, dass man jedes Problem mit Gewalt lösen kann.

1. Hagen

Als sie hörte, dass ihr Vater erneut einen ihrer Freier getötet hatte, brach Hilde in Tränen aus, raffte ihr Gewand und stürmte die Treppen hoch in ihre Kemenate. Hildburg stob ihr nach, kaum in der Lage mit ihr Schritt zu halten.

»Nun beruhige Dich doch, Hilde! Ein Mädchen Deines Standes rennt nicht! Hilde!« Atemlos erreichte sie die Kemenate, in der sich Hilde schluchzend auf ihre Bettstatt warf. »Ich werde nie heiraten, nie, nie! Ich werde für immer und ewig in dieser Burg sitzen und spinnen und sticken und auf die Gunst meines Vaters hoffen, bei einem Festgelage dabei zu sein. Das war das dritte Mal, dass ein Fürst um meine Hand gekämpft hat, und was tut mein Vater? Erschlägt sie alle, einen nach dem anderen!«

Hilde trommelte mit den Fäusten auf die Kissen, unfähig ihren Zorn zu zügeln. Hildburg setzte sich neben sie und hielt ihr die Arme fest. »Nun hör mal zu, mein Kind! Dein Vater will doch nur, dass Du den besten und tapfersten aller Krieger bekommst, einen, der Deiner wert ist!« Hilde grub ihr Gesicht in ein Kissen und murmelte: »Das wird nie geschehen. Du siehst doch, dass niemand eine Chance gegen ihn hat. Wieso ist er überhaupt so unbesiegbar? Es ist fast, als ginge es nicht mit rechten Dingen zu!«

Hildburg seufzte. »Es wird Zeit, dass Du von seiner Geschichte erfährst. Deine Eltern wollten Dich nicht ängstigen, daher hat man es Dir bisher nicht erzählt.« Hilde drehte sich mit einem fragenden Ausdruck auf dem Gesicht um. Hildburg wischte ihr die Tränen in einer mütterlichen Geste mit dem Zipfel ihres Unterkittels ab. »Als Dein Vater noch klein war, etwa sieben Jahre alt, ist er von einem Greif entführt worden.« Hilde setzte sich auf, ihren Kummer vergessend. »Was ist ein Greif?«, fragte sie zweifelnd.

»Ein Greif ist ein großer Raubvogel. Manchmal, wenn sie in Futternot sind, kommen sie und holen sich unsere Kinder. Das geschah auch mit Deinem Vater. Es geschah ausgerechnet, als Dein Großvater Sigebant das größte Fest feierte, das man bisher erlebt hatte. Ute, Deine Großmutter, hatte ihn dazu überredet, denn sie wollte den Ruhm ihres Mannes als guten, großzügigen Herrscher festigen. Sechsundachtzigtausend Gäste kamen aus allen Ländern. Ute beschenkte die Frauen und Mädchen mit Kleidern und Bändern und Sigebant ließ spektakuläre Kämpfe ausfechten und verschenkte seine besten Pferde. Das Fest war ein großer Erfolg. Es dauerte bereits neun Tage, mit Unterhaltung von den besten Spielmännern des Landes, die alle erdenklichen Instrumente spielten. Die bekanntesten Barden sangen die Neuigkeiten von fern und nah. Auch Dein Vater wollte natürlich dabei sein.

Er überquerte gerade den Burghof, an der Hand einer Magd, um nach einem Turnier zum Fest zu gehen. Als die Magd den Vogel herabstürzen sah, schrie sie und floh. Man hat sie später dafür ausgepeitscht, dass sie die Hand des Kindes dabei losgelassen hat. Wenn Du mich fragst, hatte sie Glück, dass man ihr nicht den Kopf abgeschlagen hat. Ein Kind im Stich zu lassen! Unverzeihlich! Natürlich hat man das Fest sofort abgebrochen. Alle fuhren nach Hause zurück, entsetzt über den schrecklichen Ausgang eines so herrlichen Festes.« Hildburg schüttelte grimmig den Kopf.

»Was ist passiert?«, fragte Hilde. »Offenbar hat ihn der Greif nicht gefressen.« Hildburg sah sie einen Augenblick sinnend an. »Er hatte großes Glück. Der Greif flog meilenweit mit ihm übers Meer bis zu einer kleinen, einsamen Insel. Als er Deinen Vater seinen Jungen als Futter ins Nest warf, stritten sie sich um ihn. Einer von ihnen flog mit ihm auf einen anderen Baum, doch der Ast, auf dem er sich niederließ, brach. Der Vogel flog davon, Dein Vater landete glücklicherweise ohne Knochenbrüche und dann lief er, was das Zeug hielt. Er hielt sich unter dem Schutz der Bäume und rannte, bis er vor Erschöpfung nur noch stolperte. So fanden wir ihn.«

»Wir?!« Hilde traute ihren Ohren nicht. »Du hast ihn gefunden?« Hildburg nickte. »Der Greif hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Kinder zu stehlen. Einige Jahre zuvor hatte er auch mich und meine Leidensgefährtinnen geholt und Gott weiß, wie viele unglückliche andere Kinder. Manche von ihnen konnten entkommen, so wie wir und Dein Vater. Wie es mir und meinen Gefährtinnen gelungen ist, weiß ich nicht, denn ich war noch sehr klein. Alles, woran ich mich erinnern kann, ist eine Höhle, in der wir hausten. Wir ernährten uns von Waldfrüchten, Wurzeln, Pilzen, Kräutern. Ich kann Dir heute noch sagen, welche wilden Pflanzen essbar sind und vor welchen Du Dich hüten musst.«

Hilde saß inzwischen aufrecht und starrte Hildburg ungläubig an, ihren Kummer vergessend. Warum hatte man ihr nichts von alldem erzählt? Hildburg log nicht, so viel war ihr klar – Hildburg log nie. Hätte sie sich als Kind weniger unbefangen draußen aufgehalten, wenn sie von der Geschichte ihres Vaters gewusst hätte? Sie dachte an die unzähligen Male, an denen sie im Burghof und vor den Toren herumgelaufen war, Blumen gepflückt, Pferde bewundert, Turnierkämpfen zugesehen und den Wäscherinnen beim Bleichen zugeschaut hatte. Wie oft hatte sie versucht, sich den allgegenwärtigen Mägden und Hildburg zu entziehen, und wie oft hatte sie beklagt, dass sie nicht einen Augenblick allein sein durfte. Es schien plötzlich Sinn zu machen, dass sie ihre gesamte Kindheit über mit Argusaugen beobachtet worden war. »Und wie seid Ihr dann nach Baljan zurückgekommen?«

Hildburg antwortete nicht sofort. Sie ließ ihren Blick gedankenverloren über die Wandbehänge schweifen. Hildes Kemenate war wunderschön dekoriert, die Wandteppiche hatten die feinsten Stickereien und machten, dass es warm und gemütlich aussah, selbst jetzt, als kein Feuer im Kamin brannte. Ihre Augen blieben an dem rundbogigen kleinen Fenster hängen. Der Holzladen war zurückgeklappt und die dünne Schweinsblase, die zwar Licht hereinließ, aber den Ausblick blockierte, war aufgrund des wärmer werdenden Wetters abgenommen worden.

Hildburgs schritt zum Fenster und schaute auf die bewaldeten Hügel, hinter denen gerade die Sonne unterging. Die beinahe voll belaubten Bäume erstrahlten in warmen Goldtönen. Noch waren die Nächte kalt, doch tagsüber war es schon warm genug, um spazieren zu gehen. Als nun die Abenddämmerung einsetzte, fröstelte Hildburg und zog sich ihren Umhang enger um die Schultern. Sie warf einen letzten Blick auf die Hügel und befestigte die Schweinsblase so, dass der Wind nicht mehr hineinblies.

»Wir hofften, dass uns ein Schiff fand. Es kam aber keins. Unser Eiland muss weitab der üblichen Wasserwege gewesen sein, denn wie oft wir uns auch auf zum Strand machten, der Horizont blieb leer. Eines Tages sahen wir dann doch Schiffe, Kreuzfahrerschiffe, aber sie waren in Seenot. Es muss wohl ein Seebeben gewesen sein oder so etwas. Die Schiffe zerbarsten an den Felsen und die See spülte einige der Toten an den Strand. Wir konnten es nicht fassen. Wir waren so nah daran gewesen, zu entkommen, und nun lagen dort nur Tote am Strand und die Schiffe waren zerstört. Dein Vater rannte sofort los und sucht nach Vorräten, die vielleicht an Land gespült wurden. Während er den Strand durchkämmte, kam plötzlich einer der Greifen wie aus dem Nichts. Er stürzte herab und holte sich einen Toten. Als er zurückkam, hatte er noch mehr Greifen mitgebracht – seine Jungen, die inzwischen herangewachsen waren. Sie holten einen Toten nach dem anderen. Wir Mädchen hielten uns im Schatten der Bäume verborgen und beobachteten alles voller Entsetzen. Als die Greifen mit den Leichen abhoben, schrien wir Deinem Vater zu, er sollte schnell zurückkommen, aber er gab nicht auf, obwohl er gar keine Vorräte finden konnte. Schließlich kam er zur Vernunft.

Bevor er allerdings zurückkehrte, zögerte er bei dem letzten der toten Kreuzfahrer. Dieser hatte eine Rüstung an, mit Kettenhemd, Brustschild, einem Schwert und Pfeil und Bogen. Natürlich hatte Hagen sich als Junge auf der Burg im Kampf geübt, daher erkannte er schnell, dass er mit Rüstung und Waffen bessere Überlebenschancen haben würde. Er zog dem Ritter die Rüstung aus und legte sie sich an. Er hatte gerade das Kettenhemd übergestreift, als einer der Greifen zurückkam. Schnell legte er das Brustschild an und nahm Pfeil und Bogen, um sich zu verteidigen. Er schoss gut, wenn man bedenkt, dass er seit Jahren schon keine Übung mehr hatte. Seine Pfeile prallten jedoch einfach an dem Greifen ab, es war unglaublich. Wir Mädchen schrien wie am Spieß; wir waren uns sicher, dass wir Hagen nicht lebend wieder sehen würden.

Als Dein Vater merkte, dass er mit Pfeil und Bogen nichts ausrichten konnte, sah er sich nach dem Schutz der Bäume um. Sie waren aber zu weit entfernt und der Greif, inzwischen außer sich vor Wut, kam in Windeseile näher. Da zückte Hagen das Schwert und hieb auf den sich herabstürzenden Vogel ein. Er erwischte ihn am Flügel und an einem Bein, was ihn bewegungsunfähig machte. So konnte er ihm den Todesstoß versetzen. Ich werde in meinem ganzen Leben nicht das Bild vergessen, das sich uns bot.«

Hildburg schüttelte sich. »Wie durch ein Wunder gelang es ihm, die beiden anderen Greifen ebenfalls zu töten, als sie dazu kamen. Von dem Tag an hatten wir die Greifen nicht mehr zu befürchten. Was für ein Unterschied! Wir hatten ja in ständiger Furcht gelebt. Stattdessen hatten wir von nun an Fleisch und Fisch zu essen. Hagen hatte die Pfeile aus den Greifen gezogen und schnitzte noch mehr. Er fischte und jagte und brachte alles zurück zur Felsenhöhle, wo wir Mädchen es zubereiteten so gut wir konnten.«

Hilde hatte wie gebannt Hildburgs Geschichte gelauscht. »Das erklärt aber nicht, warum Vater im Kampf unbesiegbar zu sein scheint und ich für immer und ewig als Jungfrau auf Baljan versauern muss.«

Hildburg lachte. »Du wirst bestimmt nicht als Jungfrau auf Baljan versauern. Du bist die Tochter des Königs von Irland und noch dazu das schönste Mädchen, von dem die Barden bis in weite Ferne singen. Was meinst Du, warum so viele Freier um Deine Hand kämpfen? Freier aus Ländern, von denen wir noch nicht einmal gehört haben? Weil die ziehenden Sänger nicht aufhören können, von Deiner Schönheit zu singen.«

»Du schmeichelst mir, Hildburg. Ich möchte wissen, warum mein Vater so stark im Kampf ist, dass keiner gegen ihn ankommt. Ist es, weil er sich vom Jagen ernähren musste und dadurch flink und zielsicher wurde, dass ihm niemand das Wasser reichen kann?«

Anstelle einer Antwort erzählte Hildburg einfach weiter. »Eines Tages erlegte Dein Vater ein Tier, das ihn angriff. Niemand von uns hatte je ein solches Ungetüm gesehen. Viele sagen noch heute, es kann nur ein Drachen gewesen sein. Wie Hagen es geschafft hat, ihn zu töten, kann ich Dir nicht sagen. Gott selbst muss ihm dabei geholfen haben. Er hatte dabei jedenfalls eine lange Zeit im Wald verbracht und hatte einen solchen Durst nach dieser Jagd, dass er aus Wassermangel nicht lange überlegte und das Blut des Untiers trank. Das muss irgendetwas in ihm ausgelöst haben. Wenn Du mich fragst, war es tatsächlich ein Drachen, und Dein Vater hat dadurch seine unbesiegbare Kraft erhalten.«

»Das sind doch Kindermärchen!«, sagte Hilde kopfschüttelnd. »Er hat sich bestimmt unschlagbar gefühlt, weil er zuerst von dem Tier angegriffen wurde und es dann getötet hat. Das muss ihm so viel Selbstvertrauen gegeben haben, dass er von da an glaubte, unbesiegbar zu sein.«

Hildburg sah sie einen Augenblick sinnend an und räumte dann ein, dass sie recht haben könnte. »Deine Schönheit steht Deinem klaren Kopf nicht im Wege«, meinte sie und strich Hilde liebevoll übers Haar. In diesem Moment öffnete sich die Tür zu Hildes Kemenate und ihre Mutter trat ein, gefolgt von einer Magd. »Was höre ich, mein Kind? Warum hast Du Dich zurückgezogen? Wirst Du nicht den Sieg Deines Vaters mit uns feiern?«

Hilde sah Hildburg an und senkte den Kopf. Hildburg stand vom Bett auf und ging auf Hildes Mutter zu. »Sie fürchtet, dass sie nie einen Gemahl bekommen wird, da Hagen alle Freier im Kampf besiegt und tötet. Als sie mich fragte, warum er so unbesiegbar sei, fühlte ich mich gezwungen, ihr Hagens Geschichte zu erzählen.«

Hildes Mutter nickte. Es war durchaus an der Zeit, dass ihre Tochter davon erfuhr. Sie hatte eine unbeschwerte Kindheit erlebt, ohne die geringste Ahnung, welche Gefahren ihr auch außerhalb der Kriege und Raubzüge drohten. Sie betrachtete Hilde mit Stolz. Sie war schön, ihre Tochter. Sie hatte die ebenmäßigen Gesichtszüge, die hohen Wangenknochen mit den mandelförmigen Augen und das so ungewöhnliche, fast blauschwarze Haar ihrer Mutter geerbt. Kein Wunder, dass Hagen keiner ihrer Freier gut genug erschien, sie zur Braut zu nehmen. Langsam näherte sie sich und setzte sich auf Hildes Bett, wo gerade zuvor Hildburg gesessen hatte.

»Glaubst Du, dass Vaters Kraft von dem Drachenblut kommt?«, fragte Hilde. Ihre Mutter lächelte. »Ich glaube, ja. Als er wiederkam, war er völlig verändert. Er brachte uns Fleisch von dem Tier mit, aber wir ekelten uns davor, es roh zu essen. Da sprang er auf und sagte, dass er versuchen würde, ein Feuer zu machen. Er suchte sich verschiedene Steine und schlug sie gegen den Felsen der Höhle, bis er einen fand, der Funken sprühte. Als er das sah, suchte er schnell trockenes Gras und ein paar Zweige, schlug den Stein erneut an den Felsen und im Nu hatten wir ein Feuer. Wir brieten das Fleisch und hatten von dem Tag an warmes Essen, was wir seit Jahren vermissten.«

»Moment, Moment«, rief Hilde. »Wir? Du warst doch nicht etwa auch dabei?« Ihre Mutter schaute auf Hildburg, die die Achseln zuckte und sagte: »Ich war ja noch nicht fertig mit dem Erzählen.« Sie nahm Hildburgs Hand und zog sie neben sich aufs Bett. »Wir sind zwei der drei Mädchen in der Höhle. Ich denke, in dem Moment, als Hagen den Drachen erschlug, ist er zum Mann geworden, und als solchen habe ich ihn von da an gesehen. Er sah gut aus, er war groß und kräftig und selbstsicher, jagte und fischte, und wären wir nicht so alleine auf der Insel gewesen, wären wir sehr glücklich gewesen.«

Hilde schwieg beeindruckt. Die Geschichte ihrer Eltern hörte sich unglaublich romantisch an. »Wie seid Ihr denn zurück nach Baljan gekommen?« Hildes Mutter antwortete nicht gleich, stattdessen schlug sie ihr einen Handel vor: »Wenn Du wieder herunter an die Tafel kommst, werden wir Dir erzählen, wie wir entkommen sind. Komm her, lass mich Deine Haare kämmen und Dein Gewand herrichten. Du siehst aus, als seist Du selbst im Kampf gewesen.«

Bereitwillig ließ Hilde sich zurechtmachen. Hildburg nahm einen schön verzierten Hirschhornkamm und fuhr damit durch Hildes lange schwarze Haare, bis sie glänzten. Sie flocht die vorderen Strähnen mit roten Bändern zu Zöpfen und setzte einen Stirnreif auf Hildes Kopf. Danach suchte sie einen hübschen Armreifen aus Hildes Schmuckkästchen aus. Sie zupfte noch den perlenbestickten Oberkittel zurecht, bevor sie zufrieden nickte. »So geziemt es sich für die Tochter des Königs von Irland. Nun lass uns gehen.«

Hilde folgte ihrer Mutter und Hildburg die enge Treppe hinunter zur Halle. Dort saßen die Männer an der Wandseite eines langen Tisches, der mit einer bodenlangen Tischdecke festlich geschmückt war. Man konnte Hagen sofort an seiner erheblich höheren Stuhllehne erkennen. Zudem hatte er einen edelsteinbesetzten goldenen Reif auf dem Kopf und seine Kleidung war wesentlich farbenfroher als die seiner Fürsten und Ritter. Hilde spürte eine Mischung von Respekt und Zuneigung, als sie ihren Vater dabei beobachtete, wie er gerade seinem Ehrengast zutrank.

Die Atmosphäre war laut und fröhlich. Ein Menestrel strich gerade eine muntere Weise auf seiner Fiedel, während ein Vortänzer zu seiner Musik durch die Halle tanzte. Als er die Königin, Hildburg und Hilde eintreten sah, verbeugte er sich ohne seinen Tanz zu unterbrechen und wies sie galant an den Tisch. Während die Frauen Platz nahmen, kam eine unaufhörliche Kette Bediensteter zum Tisch, um den Gästen die leckersten Gerichte anzubieten.

Der erste Gang war bereits vorüber, denn gerade kamen zwei Mägde mit silbernen Becken und einer Kanne Wasser, sodass sich die Gäste die Hände waschen konnten. Ein Ritter, der neben Hilde saß, trocknete sich die Hände am Tischtuch ab, wischte sich damit über den Mund und lächelte sie freundlich an. »Welch eine Ehre, Euch als Tischnachbarin begrüßen zu dürfen.«

Hilde senkte sittsam den Kopf. »Die Ehre gebührt mir. Habt Ihr dem Kampf zugesehen?« Der Ritter nickte und hob seinen Becher, wobei er auf Hagen sah. »Der Stärkere hat gewonnen, und so soll es auch sein.« Hilde seufzte, nahm den Becher, der vor ihr stand, und deutete einem Diener an, ihn zu füllen. Er kam sofort zu ihr herüber und bot ihr aus zwei Rinderhörnern Obstwein und Met an. Hilde entschied sich für den Obstwein, hob ihren Becher dem Ritter zu und trank ihn beinahe leer. Ein sanfter Stoß von Hildburgs Ellenbogen brachte sie dazu, den Becher abzusetzen. Der Ritter fing ihren empörten Blick auf und lachte.

Die Musik hörte auf, als eine lange Reihe Bediensteter mit weiteren Speisen zur Tafel trat. Man konnte zwischen Hechtsuppe, Würsten, Pökelfleisch und Koteletts wählen. Hilde nahm etwas Pökelfleisch und legte es auf ihre Brotscheibe. Sie war froh, mit Hildburg ihre Portion zu teilen und nicht mit dem Ritter, der sich für die Suppe entschieden hatte und sie laut schlürfend löffelte. Sie neigte ihren Kopf Hildburg zu und raunte: »Wie ging es weiter? Erzähl mir, wie Ihr von der Insel entkommen seid!«

Hildburg tunkte ihr Fleisch in eine Schüssel mit Soße, steckte es genüsslich in den Mund und ließ Hilde erst einmal warten. »Du solltest Deine Mutter fragen«, sagte sie schließlich. Hilde schüttelte trotzig den Kopf. »Sie hat gesagt, dass ich die Geschichte weiter hören darf, wenn ich zum Bankett gehe, und das habe ich.« Hildburg nahm sich noch etwas Fleisch und gab nach.

»Wir gingen wieder an den Strand, um nach Schiffen Ausschau zu halten. Es war ein langer Weg, doch da wir die Greifen nicht mehr zu befürchten hatten und Hagen sogar einen Drachen besiegt hatte …«

»Wenn es denn wirklich ein Drachen war«, warf Hilde ein, worauf sie einen tadelnden Blick von Hildburg erhielt. Ungerührt fuhr sie fort: »… und Hagen sogar einen Drachen besiegt hatte, fühlten wir uns wesentlich sicherer und trauten uns, am offenen Strand das Meer abzusuchen. Mit einem Mal sahen wir tatsächlich ein Schiff – Du kannst Dir nicht vorstellen, wie wir gejubelt und gerufen haben, die Arme geschwenkt, gehüpft und gesprungen sind wir!«

»Und dann haben sie Euch an Bord genommen und nach Baljan gebracht«, sagte Hilde zufrieden. Hildburg schüttelte jedoch den Kopf. »So einfach war es nicht. Du darfst nicht vergessen, dass wir viele Sommer wie Wilde gelebt haben. Wir hatten ja nicht einmal Kleider.« Hilde schnappte nach Luft. »Du willst doch nicht etwa sagen, dass Ihr … Ich meine, Ihr wart doch nicht nackt?«

»Wir hatten uns aus Gras, Rindenstreifen und Moos so gut wie es ging Kleider zusammen geflochten. Es war besser als gar nichts, muss aber dermaßen merkwürdig ausgesehen haben, als das fremde Schiff uns dort am Strand sah, dass sie dachten, wir wären Nixen.« Hildburg warf Hilde einen verschwörerischen Blick zu und sie mussten beide lachen. »Hagen flehte sie an, uns mitzunehmen, und wedelte ihnen sein goldenes Kreuz entgegen, das er seit seiner Geburt an einer Kette um den Hals trug. Das hat sie dann wohl überzeugt, dass wir gute Christenmenschen waren. Sie sprangen zu zwölft in ein Boot, ruderten an den Strand und luden uns auf ihr Schiff. Das erste, was sie taten, war, uns richtige Kleider zu geben, allerdings waren es Männerkleider.«

»Und wer waren die Seeleute?« »Es war der Graf von Garadie. Er kam gerade von einer Pilgerfahrt zurück und zuerst machte er auch einen guten Eindruck auf uns. Er gab uns zu essen und ließ uns auf dem Schiff übernachten. Als er jedoch unsere Geschichte hörte, setzte er sich in den Kopf, Hagen als Geisel zu behalten. Es stellte sich heraus, dass Sigebant gegen den Grafen gekämpft und gewonnen hatte. Garadie hatte große Verluste erlitten und sah nun seine Chance, sich an Sigebant zu rächen. Er wies seine Männer an, Hagen zu entwaffnen und ihn festzuhalten. Mich und meine Gefährtinnen wollte er an seinen Hof als Gesinde holen, woraufhin Hagen unglaublich zornig wurde. Er schrie den Grafen an, niemand nehme ihn je wieder gefangen. Schließlich sei es ja nicht seine Schuld, dass die Krieger des Grafen getötet wurden, er habe genug erlitten, er wolle nur nach Hause auf die Burg Baljan. Wenn der Graf ihn dorthin brächte, würde er ihn reichhaltig belohnen.

Graf von Garadie hörte aber gar nicht zu. ›Ergreift ihn!‹, schrie er seinen Leuten zu, aber die hatten nicht mit Hagens Kraft und Geschicklichkeit gerechnet. Anstatt von ihnen gefangen genommen zu werden, brüllte er los und warf sie einen nach dem anderen über Bord. Die Seeleute hatten in ihrem ganzen Leben niemanden so kämpfen sehen. Die verbliebenen Männer wichen zurück und Hagen wollte sich gerade auf den Grafen selber stürzen, als wir Mädchen ihn zurückhielten und ihm begreiflich machten, dass er gewonnen hatte. Er sah sich um, merkte, dass niemand mehr gegen ihn stand und rief: ›Auf nach Baljan!‹ Die Männer gingen sofort an ihre Plätze und nahmen Kurs auf Irland.«

Hilde lauschte wie gebannt. Sie sah zu ihrem Vater hinüber, der sich gerade lachend auf die Schenkel klopfte und gut gelaunt den Hunden einen Knochen mit reichhaltigen Fleischresten zuwarf. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie Hagen als junger Mann ausgesehen haben mochte. Geistesabwesend schaute sie zu, wie einer der Diener die Kerzen auf dem großen hölzernen Rad, das von der gewölbten Decke herabhing, ansteckte. Der Menestrel begann, wieder zu spielen, diesmal sang er dazu. Hilde hörte normalerweise gern zu, denn die Lieder handelten zumeist von dem, was sich andernorts alles zugetragen hatte. So war man stets mit Neuigkeiten aus dem eigenen Land und auch aus fernen Gegenden versorgt und hatte wochenlang Gesprächsstoff beim Spinnen. Hildburg lauschte voller Interesse, doch Hilde sann immer noch darüber nach, was ihren Eltern zugestoßen war.

Die Mägde kamen wieder mit Waschschüsseln, und schließlich war das Lied des Menestrels zu Ende. Hagen klatschte Beifall und alle fielen ein. Der Menestrel verbeugte sich und trat zurück, als das Gesinde den nächsten Gang auftrug. Hilde, die geduldig auf diesen Moment gewartet hatte, wandte sich Hildburg zu. »Wie ging es weiter?«

Hildburg lud sich und Hilde einige von den angebotenen Pastinakwurzeln und eine großzügige Portion Rebhuhn auf ihr Brot, bevor sie antwortete. »Die Fahrt nach Irland dauerte siebzehn Tage, bevor wir an der Küste die vertrauten Türme einer Burg sehen konnten. Bei diesem Anblick raffte die Besatzung das Rahsegel und holte die Ruder ein. ›Weiter können wir nicht. Sigebant wird uns erschlagen, sobald er uns ausfindig macht‹, sagten sie. Hagen verstand sofort und überlegte, wie er nun nach Baljan kommen würde. Nach einem Moment des Nachdenkens hatte er eine Idee. Er bot den Seeleuten an, sie reichlich zu belohnen, wenn sie an Land ruderten und Sigebant, seinem Vater, eine Nachricht überbrächten. Sein Sohn, den ein Greif vor langer Zeit entführt hatte, sei zurückgekehrt mit dem Schiff, das er am Horizont erblicken könne. Da Hagen wusste, dass sein Vater sehr misstrauisch sein würde, fügte er hinzu, er solle seine Gemahlin fragen, ob sie ihren Sohn an dem goldenen Kreuz erkennen würde, das sie ihm als Infant um den Hals gelegt hatte.

Gesagt, getan. Zwölf mutige Männer ruderten an Land, um dem König die Nachricht zu überbringen. Sigebant reagierte zunächst mit glühendem Zorn, als die Pilger am Burgtor um Einlass baten. Wie sie es wagen könnten, sein Land erneut zu betreten, ob sie ihr Leben nicht schätzten. Die Männer antworteten mit der ihnen aufgetragenen Nachricht. Sigebant glaubte natürlich kein Wort. ›Ihr lügt! Mein Sohn ist lange tot. Habe ich nicht genug Kummer dadurch? Muss ich auch noch von einem Fremden zum Narren gemacht werden?‹ Daraufhin gaben Garadies Männer die zweite Botschaft weiter, ob sich seine Gemahlin Ute an ein goldenes Kreuz erinnere, das sie ihrem Kind umgelegt habe. Sigebant brummte etwas in seinen Bart, ließ aber nach seiner Frau rufen, denn welcher Vater hätte nicht auch jede Gelegenheit genutzt, sein tot geglaubtes Kind wieder zu sehen?«

»Und?«, fragte Hilde. Sie hatte keinen Bissen von dem Essen angerührt. »Was hat Großmutter Ute gesagt?« Hildburg kaute genüsslich an einem Stück Rebhuhn und leckte sich einzeln die Finger ab. »Ute wurde bleich, als sie hörte, dass Hagen noch am Leben sein könnte. Natürlich könne sie sich an das goldene Kreuz erinnern. Sie würde es zwischen Hunderten erkennen. ›Lass die Pferde holen, wir reiten sofort zum Strand‹, bat sie aufgeregt. Während die Pferde geholt wurden, nahm einer der Pilger sie beiseite. ›Verzeiht mir, edle Frau, wenn ich eine Bitte anschließe. Euer Sohn hat mit drei Maiden gelebt, die keine Kleidung haben. Er wird Euch alles erzählen können. Bis dahin wäre es ziemlich, wenn Ihr so freundlich sein könntet und den Dreien etwas zum Anziehen mitbringen könntet.‹ Ute muss sich wohl sehr gewundert haben, aber sie tat, worum der Pilger sie gebeten hatte. Sie wies ihre Magd an, schnell drei Frauenkittel und Klappenröcke aus ihrer eigenen Truhe zu holen und im Nu ritten der König, die Königin und ihr Gefolge zum Meer.

Als sie dort ankamen, stand Hagen bereits mit Garadies restlichen Männern am Strand und wartete. Das Königsgefolge war natürlich so gespannt, ob es wirklich der verschwundene Junge sein sollte, dass ein großes Gedränge entstand. ›Seid Ihr der Held, der behauptet mein Sohn zu sein?‹, rief Sigebant Hagen entgegen. Der verneigte sich tief. Bevor er etwas sagen konnte, wies Ute in ihrer ruhigen, bestimmten Art das Gefolge an, ihr Platz zu machen. Alle wichen auseinander, sodass eine Gasse entstand. Ute schritt aufrecht und würdevoll auf Hagen zu, der sich auch vor ihr tief verneigte. Sie schaute ihn prüfend an und wartete, bis er sich aufrichtete. Dann streckte sie ihre Hand aus, um das goldene Kreuz um seinen Hals zu untersuchen. Alles Gefolge hielt den Atem an, sogar König Sigebant. Da rollten plötzlich Tränen über Utes Gesicht. Sie sagte nur ›Mein Sohn!‹ und schloss Hagen in die Arme. Den Jubel, der daraufhin ausbrach, konnte man bis an die Grenzen des Reiches hören. Es war das einzige Mal, dass man Sigebant hat weinen sehen, als auch er Hagen umarmte.

Man ließ das Boot zurück zum Schiff rudern und richtete den Pilgern aus, dass sie näher kommen und vor Anker gehen konnten. Dabei gab man uns auch die Kleider der Königin. Wir konnten uns gar nicht wieder beruhigen, als wir die schönen, edlen Stoffe sahen. Wir kleideten uns an und machten uns zurecht und wurden dann ebenfalls an Land gerudert, um mit dem ganzen Gefolge zur Burg Baljan zu reiten.

Dort wurde ein riesiges Fest vorbereitet. Hagen sprach sich inzwischen bei Sigebant für die Pilger des Grafen Garadie aus und Sigebant ließ sie so großzügig belohnen, dass sie mehr davon trugen, als sie ursprünglich im Krieg verloren hatten. Danach haben sie nie wieder Krieg gegeneinander geführt. Aber Du isst ja gar nichts, Kind!«

Hilde schüttelte unwillig den Kopf. Sie wollte weiter zuhören, doch in diesem Moment trat ein fahrender Gaukler ein, um die Gäste zu unterhalten. Entnervt schaute sie zu, wie er sich vorstellte und sogleich anfing, in einer bizarren Bewegungsfolge durch die Halle zu ziehen. Seine Arm- und Beinbewegungen waren so ungewöhnlich, dass man den Eindruck gewann, er habe keine Knochen im Leib. Die Gespräche ringsum verstummten, man konnte lediglich das ein oder andere »Oh!« vernehmen oder das zischende Geräusch, wenn jemand die Luft anhielt, als der Gaukler rückwärts auf seine Hände sprang und von da aus wieder auf die Füße; Hände, Füße, Hände, in immer schnellerer Abfolge. Als er sich mehrmals überschlug und dabei jedes Mal wieder auf den Beinen landete, riefen die Tafelgäste wohlwollende Bemerkungen und klatschten vor Bewunderung. Selbst Hilde war für den Moment abgelenkt, doch sobald die akrobatischen Kunststücke fertig waren und der Gaukler ankündigte, dass er bereit sei, für eine Münze auch Träume zu deuten, wandte sie sich wieder an Hildburg.

»Du lässt mir ja kaum Zeit, das Festmahl zu genießen«, beschwerte sich Hildburg. »Warte bis morgen, dann erzähle ich Dir beim Spinnen oder beim Sticken weiter. Unterhalte Dich doch mit dem Ritter neben Dir – er sieht schon ganz enttäuscht aus, dass Du kein Wort mit ihm sprichst, dabei hat er sich bestimmt über die Ehre gefreut, neben Dir sitzen zu dürfen.«

Hilde warf einen kurzen Seitenblick auf den Ritter, der sie hoffnungsvoll anlächelte. Sie lächelte freundlich zurück, nickte ihm zu und wandte sich sofort wieder mit forderndem Blick an Hildburg, die allerdings den Kopf schüttelte. »Du wirst noch für hochmütig gehalten, wenn Du die Gäste nicht beachtest«, tadelte sie und wusch sich die Hände in der ihr dargereichten Schüssel. »Den Rest der Geschichte erzähle ich Dir morgen. Sprich mit dem Ritter und zeige Dich den anderen Gästen nicht so unzugänglich! Deine Mutter wird mir zürnen, wenn wir während des gesamten Festmahls die Köpfe zusammenstecken.«

Hilde musste sich fügen, wenn auch unwillig. Das Mahl nahm seinen Fortgang mit Kuchen, Pasteten, Dörrobst und Milchspeisen, von denen nun auch Hilde sich bediente. »Und? Lasst Ihr Eure Träume von dem Gaukler deuten?« sprach sie ihren Tischnachbarn an, der sie glücklich anstrahlte und sofort darauf einging. Sie fing einen zustimmenden Blick von ihrer Mutter auf und ergab sich ihrer Pflicht als Königstochter.

Erst spät am Abend, als sie in ihrer Kemenate unter die Decke schlüpfte und sich an Hildburg kuschelte, versuchte sie es noch einmal. »Hildburg … schläfst Du schon?« Hildburg brummte unwillig, hatte dann jedoch nicht das Herz, sich schlafend zu stellen. »Du willst wissen, wie es weiter ging, nicht wahr?« Hilde setzte sich auf. »Bitte!«

»Nun gut«, seufzte Hildburg ergeben und lehnte sich auf ihren Ellenbogen. »Wir waren also auf Baljan aufgenommen worden. Hagen gewöhnte sich schnell an das Leben auf der Burg. Er entwickelte sich zum besten Kämpfer in Turnierspielen und stellte alle in den Schatten, wenn es ums Jagen ging. Auch uns Mädchen gefiel es sehr, wieder baden zu können, immer zu essen zu haben und die Gesellschaft des Hofes zu genießen. Wir lernten, zu spinnen und zu sticken wie alle anderen Frauen, Deine Mutter überflügelte dabei selbst diejenigen, die es ihr beibrachten. Da wir nicht wussten, woher wir kamen, wurde über uns die eine oder andere Geschichte erzählt. Ich soll von dem Greifen den ganzen Weg aus Portugal verschleppt worden sein und von Deiner Mutter, wegen ihrer schwarzen Haare und der wunderschönen braunen Augen, sagte man, sie komme aus Indien. Vielleicht kamen ihre Eltern ja aus Indien, aber ob sie … Egal. Man nannte sie Hilde und mich Hildburg. Deine Mutter wurde mit jedem Tag schöner, was auch Hagen nicht entging. Als man ihm nahelegte, sich eine Frau zu suchen, war seine Entscheidung bereits gefallen. Es gebe nur eine Frau für ihn, sagte er, und sie sei die schönste, die er je gesehen habe. Zudem habe sie die schwerste Zeit mit ihm geteilt, die er in seinem ganzen Leben durchgemacht habe. Sie gehöre einfach zu ihm.«

Hilde nickte zufrieden. »Eine richtige Liebesgeschichte! Kein Wunder, dass sie sich so gut verstehen. Mir wird es wohl nie so gehen. Stell Dir vor, ich verliebe mich und mein Vater schlägt meinem Auserwählten den Kopf ab. Das kann ich mir …« Hildburg schnitt ihr das Wort ab. »Red nicht so einen Unsinn, Hilde. Der schönste und beste Kämpfer von fern und nah wird kommen, um Deine Hand zu gewinnen. Du wirst Dich Hals über Kopf in ihn verlieben und alles wird ein glückliches Ende nehmen.« Im Dunkeln konnte Hilde nicht sehen, wie Hildburg unmerklich auf das Holz der Bettstelle klopfte, um ihrer Vision Gelingen zu wünschen. Für den Augenblick schien es Hilde allerdings zu beruhigen. »War es ein großes Fest?«

»Das Größte, das man je gesehen hatte. Zuerst wurde Hagen mit hundert anderen Recken zum Ritter geschlagen. Sigebant ließ in allen Ländern verkünden, dass in einem Jahr und drei Tagen der Brautlauf stattfinden sollte.« Hilde kam das wie eine unmöglich lange Zeit vor. »Warum denn erst ein Jahr später?«

Hildburg schmunzelte. »Ein so großes Fest muss richtig vorbereitet werden. Allein schon die Boten in die Ferne auszuschicken, dauert seine Zeit, so wie auch die eigentliche Anreise der Gäste. Aber es geht nicht nur darum, Gäste, Musik und Essen zu planen und herzurichten. Du weißt doch, dass ein Brautlauf immer eine Gelegenheit für Turnierkämpfe ist, und die Recken müssen sich ja für den Wettbewerb vorbereiten. Da wird tüchtig geübt, bis ein Mann im Buhurt mitmachen kann oder gar in einer Tjost. Zudem muss alles aufs Feinste dekoriert und verziert werden, vom Zaumzeug der Pferde bis hin zu den Gewändern. Das geht nicht über Nacht.«

Hilde hatte nicht an eine solche Palette von Vorbereitungen gedacht, deren Erwähnung sie zum Grübeln brachte. »Aber wie hat Vater seine Eltern überzeugen können, dass Mutter vom gleichen Stand ist?«

»Man ging davon aus, dass Hilde eine indische Königstochter war, damit war sie vom gleichen Stand. Niemand, der sie sah, zweifelte daran – man muss sie ja nur ansehen, um es zu glauben. Ihre Haltung, wie sie sich bewegt, wie sie spricht – wenn das nicht königliche Herkunft bezeugt, dann wüsste ich nicht, was sonst. Während sich also die Gäste auf das große Fest vorbereiteten, ließ man auf der großen Wiese unterhalb der Burg Unterkünfte errichten, die in ihrer Größe und Bequemlichkeit so noch nie gesehen wurden.« Hilburg gähnte herzhaft. »Wenn Du jetzt Ruhe gibst und mich schlafen lässt, zeige ich Dir morgen das Gewand, das Deine Mutter beim Brautlauf trug.«

Nach dem Essen am nächsten Morgen begaben sich die Frauen in die Lichtstube. Hilde holte sich einen Armvoll fein gekämmter Wolle und nahm ihren Lieblingsplatz in Fensternähe ein, ergriff die Spindel und begann, die Wolle zu Fäden zu ziehen. Während sie mit geübten Fingern die Spindel drehte, wanderten ihre Augen ständig zu Hildburg, die sich derselben Aufgabe widmete, ohne dabei aufzusehen. »Hildburg«, begann Hilde, überzeugt ihre Ungeduld nun ausreichend gezügelt zu haben. »Hattest Du mir nicht versprochen, mir Mutters Brautgewand zu zeigen?«

In diesem Moment öffnete sich die schwere Holztür zur Lichtstube und Hildes Mutter trat ein. Die anderen Frauen schauten von ihrer Arbeit auf, grüßten sie und rückten zusammen, um ihr Platz zu machen, doch anstatt sich zu ihnen zu setzen, ging sie auf ihre Tochter zu. »Du möchtest mein Brautgewand sehen? Komm, ich zeig’ es Dir.«

Hilde sprang voller Begeisterung auf. Sie folgte ihrer Mutter in deren Kemenate und schaute zu, wie sie eine besonders schön verzierte Truhe öffnete und ein wunderschönes Kleid aus weißem Samt herausholte. Mit angehaltenem Atem berührte Hilde den kostbaren Stoff und fuhr ehrfurchtsvoll mit den Fingern über die feine Stickerei aus Gold- und Silberfäden. Ihre Mutter freute sich über Hildes Begeisterung.

»Schön, nicht wahr? Ich hatte viele Monde damit zugebracht, es zu besticken. Hat Hildburg Dir das Fest beschrieben? Nein? Sigebant hat an nichts gespart. Er hat mehr als sechshundert Ritter für die Schwertleihe ausgestattet, nicht nur Hagen, und das mit allem, was dazugehört – mit Pferden, Gewändern und Goldstücken. Tausende von Gästen kamen aus den fernsten Ländern, und niemandem sollte es an etwas fehlen.

Ich war so aufgeregt und so glücklich, dass Sigebant ihm keine andere Frau ausgewählt hatte. Ohne meine Gespielinnen wäre ich wohl vor Aufregung gestorben, bis Hagen kam. Sigebant hat mich ihm übergeben, denn ich befand mich ja in seiner Obhut. Hagen nahm meine Hände, trat mir auf den Fuß und …« Hilde unterbrach sie, empört. »Er hat Dir auf den Fuß getreten?«

Ihre Mutter lachte. »Das ist doch der Brauch, Kind! Dann führte er mich mit seinen Getreuen um die Burg herum, denn ich wohnte ja bereits auf Baljan, und der Brautlauf musste natürlich in irgendeiner Form stattfinden.« An diesem Punkt errötete Hilde, unsicher, wie sie ihrer Mutter ihre nächste Frage stellen sollte. »Sind dann alle mit gekommen, als Ihr … als …, also bei der …« Hilde biss sich auf die Lippe.

»Du meinst, als wir zum Ehebett schritten? Sie haben uns begleitet, ja, aber dann wurde die Tür doch geschlossen.« Weiter wagte sich Hilde nicht vor. Sie hatte durchaus einiges gesehen – in einer Burg war es beinahe unmöglich nicht mitzubekommen, was zwischen Männern und Frauen alles vorging. »Und was hast Du von Vater als Morgengabe bekommen?«

Hildes Mutter reichte mit einer Hand hinter die Truhe. Der Wandteppich bewegte sich leicht, bevor sie ihren Arm zurückzog und ihrer Tochter einen Gegenstand in die Hand drückte. Es war eine schwere goldene Fibel, mit unendlich mühevollen filigranen Verzierungen übersät, die wie Federn aussahen. Sie war mit feinsten Edelsteinen besetzt, doch das Erstaunlichste an ihr war die Form. Anstatt rund oder eckig zu sein, war es ein Raubvogel, der sich im Flug krümmte und die Krallen vorschob, als ob er sich gerade auf seine Beute stürzte. Hilde schnappte nach Luft. »Aber das ist ja …«

»… ein Greif, ja. Schließlich wären wir einander ohne die Greifen niemals begegnet.« Die beiden betrachteten die ungewöhnliche Fibel, jede in ihre Gedanken versunken. »Warum trägst Du sie nicht?«

»Sie ist ein Teil meiner Lebensversicherung, sollte Deinem Vater etwas zustoßen. Außerdem ist sie sehr schwer und etwas protzig. Bei besonderen Gelegenheiten befestige ich meinen Umhang damit, das letzte Mal auf Deiner Taufe.« Hilde wusste, welche Gelegenheit die nächste sein sollte, was sie wieder an ihren Groll gegen ihren Vater erinnerte. »Wahrscheinlich würdest Du sie auch zu meinem Brautlauf tragen, doch leider scheint es dazu niemals zu kommen«, sagte sie bitter.

Ihre Mutter schüttelte den Kopf und zog sie an sich. »Es hat schon alles seine Richtigkeit. Du bist jung und außergewöhnlich schön. Dein Vater wird Dich selbstverständlich nicht an den erstbesten Recken geben, der gerade mal ein Schwert halten kann. Es muss ein Fürst oder ein König sein, der Deiner würdig ist, und der dazu im Kampf so geübt ist, dass er Dir eine Zukunft sichert.«

Hilde hätte am liebsten widersprochen, doch sie wollte nicht den Moment ruinieren. Es kam zu selten vor, dass sie ihre Mutter ganz für sich allein hatte und sie war dankbar, dass sie endlich die Geschichte ihres Vaters bis zu den letzten Einzelheiten erfuhr. Wie konnte es bloß sein, dass sie bisher nichts davon gewusst hatte? Bestimmt hatten die Menestrels davon gesungen, also hatte sie einfach nicht zugehört oder war sie noch zu klein gewesen, um es mitzubekommen? »Kannst Du mir das Fest beschreiben?«

»Natürlich, gern. Es war das größte Ereignis seit einer langen, langen Zeit. Schließlich wurde nicht allein der Brautlauf gefeiert, sondern Sigebant gab bei der Gelegenheit die Krone an Hagen ab. Das hieß, dass Sigebant keine Kosten scheute, um zu verkünden, dass sein Sohn der beste, großzügigste und gerechteste König sein würde. Er organisierte alles, was man bei solch einem großen Ereignis erwarten konnte. Beim Brautbad durften Sigebants und Utes engste Freunde und die höchsten Gäste alle einen Badezuber mit den edelsten Kräutern benutzen, bevor die Kampfspiele angesagt wurden.

Nach der Brautmesse wurden wir dann in der Kapelle gekrönt und gesegnet, bevor Hagen und ich allen voran zum Turnierplatz ritten, Sigebant und Ute direkt hinter uns. Die Ritterspiele waren außergewöhnlich spannend, immerhin war dafür ja ein ganzes Jahr geübt worden. Das Festessen danach zu beschreiben, erspare ich Dir. Du kannst Dir sicher vorstellen, welche Mengen verzehrt wurden. Es gab kein Gericht, von dem Du gehört haben könntest, das nicht aufgetragen wurde. Alles gab es in solchen Mengen, dass die Armen danach noch wochenlang davon leben konnten.

Als ich so zum ersten Mal neben Hagen saß, war ich zuerst etwas unsicher. Was, wenn mich sein Gefolge nicht akzeptierte? Ich schaute mich vorsichtig um, doch überall, wo mir ein Blick begegnete, konnte ich Zustimmung sehen. Von dem Augenblick an wusste ich, dass mein Platz wirklich an Hagens Seite war. Ich fühlte mich mit einem Mal so glücklich wie noch nie zuvor.

Dann ritt Hagen mit seinen Mannen den Buhurt. Ich hatte große Angst um ihn, wie Du weißt, sind diese Spiele besonders rau und gefährlich. Nach außen hin musste ich allerdings so tun, als ob ich mich darüber freute und natürlich war ich stolz auf ihn. Ich hätte mir überhaupt keine Sorgen machen müssen, er schlug auch im Buhurt wieder alle in den Schatten. Als die Spiele fertig waren, konnte man die Männer kaum erkennen, so staubbedeckt waren sie. Das Wetter war ganz heiß und sonnig, es hatte seit längerer Zeit nicht geregnet und bei all dem Lärm und Gedränge wirbelte der Staub überall hin. Sigebant ließ die Männer zu uns Frauen rufen, damit sie sich erfrischen und unterhalten konnten.

Dabei ließ Sigebant dann verkünden, dass er auf die Herrschaft verzichte und seinem Sohn Hagen die Krone und seine Länder übergebe. Sigebants Vasallen mussten nun Hagen als ihren Herrn anerkennen. Das war keine leichte Aufgabe. Als neuer König musste er die Burgen und Länder neu verteilen, aber er hat diesen ersten Test gut bestanden.«