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Lris Schürmann-Mock/Claudia Toll

Entdeckungsreisen ins Leben danach

topos taschenbücher, Band 1005

Eine Produktion der Verlagsgemeinschaft topos plus

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Verlagsgemeinschaft topos plus

Butzon & Bercker, Kevelaer

Don Bosco, München

Echter, Würzburg

Lahn-Verlag, Kevelaer

Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern

Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der
Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8367-1005-3

2015 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer
Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen bei der
Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer.
Umschlagabbildung: © cdk – photocase.de
Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau
Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg
Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

I. Nur dieses ist gewiss

Über das Leben mit der Sterblichkeit und das Ertragen der Ungewissheit

Wir sind nur zu Gast auf dieser Welt

Juli Zeh, Schriftstellerin, Juristin, Jahrgang 1974

Mein toter Vater hat mich immer beschützt

Rosann Phillips, Hebamme, Jahrgang 1982

Der Tod ist ein Neubeginn, die Trauer endet

Willigis Jäger, Benediktinermönch, Zen-Meister, Mystiker, Jahrgang 1925

Ich lasse es offen …

Reinhold Messner, Extrembergsteiger, Autor, Politiker, Jahrgang 1944

Man muss lernen, gelassen zu sein

Paul Schreiber, ehem. Hauptreferent Stabsabteilung Rechnungswesen, Jahrgang 1922

Man muss sich auf seinen Tod vorbereiten

Professor Dr. Michael Zenz, em. Direktor des Universitätsklinikums Bochum, ehem. Präsident der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes eV (DGSS), Jahrgang 1945

Wir haben hier genug zu tun

Horst Dronia, Meteorologe, Jahrgang 1931

Eine unendliche Traumwelt, bunt und schön

Carlotta Brunetti, Künstlerin, Jahrgang 1949

In meinen Kindern lebe ich weiter

Dirk Roßmann, Unternehmer, Jahrgang 1946

Erinnerung hält die Toten lebendig

Dagmar Scherf, Schriftstellerin, Jahrgang 1942

Ich will neugierig bleiben

Johannes Hans A. Nikel, Bildhauer, Zeichner, Autor, Jahrgang 1930

II. Alle – außer mir!

Über die alltägliche Gegenwart des Todes und die Schwierigkeit, das eigene Ende zu bedenken

Uns erwartet unendliche Güte

George Alexander Albrecht, Dirigent, Jahrgang 1935

Ich will dem Tod etwas Großes geben

Susanne Aernecke, Regisseurin, Autorin, Jahrgang 1962

Ohne den Tod ist alles beliebig

Gerold Eppler, Steinmetz, Kunstpädagoge, Jahrgang 1960

Tod ist einfach nur sein

Fritz Roth, Bestatter und Trauerbegleiter, Jahrgang 1949, gest. 2012

Mein Leben soll enden, damit es sich weiter verwandeln kann

Carola Otterstedt, Autorin, Verhaltensforscherin, Jahrgang 1962

Ich möchte im Himmel ein Fest feiern

Georg Schwikart, Publizist, Jahrgang 1964

Wir werden von der Geistigen Welt geführt

Sibilla Brombach-Lersch, Schneidermeisterin, Künstlerin, Hospizgründerin, Jahrgang 1943

Die andere Wirklichkeit ist Liebe

Rotraut Röver-Barth, Lehrerin, Jahrgang 1942

Ich möchte Zeit zum Sterben haben

Ulli Olvedi, Autorin, Seminarleiterin, Jahrgang 1942

III. „Alles wandelt sich, nichts vergeht“

Über den Abschied vom Leben und die Hoffnung, es möge danach weitergehen

Es wird ein guter Zustand sein

Christina Hoffmann, Diplompsychologin, Jahrgang 1940

Der Tod ist für mich keine Sackgasse

Margot Käßmann, evangelisch-lutherische Theologin, Jahrgang 1958

Das Jenseits ist eine goldene Stadt

Ulla Klotzki, Diplom-Sozialpädagogin, Jahrgang 1967

Irgendwohin muss die Seele nach dem Tod

Ottilie Patzelt, Altenpflegerin, Jahrgang 1941

Dann erfinde ich eben meinen eigenen Himmel

Jutta Munira Saarmann, Geschäftsführerin eines Gesundheitshotels, Yogalehrerin, Reflexologin, Jahrgang 1955

Spuren des Lebens bleiben unauslöschlich

Gert Beisel, Forstwirt i. R., Jahrgang 1937

Wenn ich tot bin, geht es mir gut

Waltraud Beisel, Dolmetscherin i. R., Jahrgang 1934

Dann ist nur noch Stille, Ruhe, Klarheit

Lutz Schneider, Sänger, Gesangslehrer, Chorleiter, Dirigent, Jahrgang 1964

Wir werden einander tiefer wiederfinden

Eugen Drewermann, Theologe, Psychoanalytiker, Schriftsteller, Jahrgang 1940

Statt eines Nachworts

Vorwort

Eine knappe Meldung in der Tageszeitung stand am Anfang dieses Buches: Zwei Drittel aller Deutschen glauben an ein Leben nach dem Tod oder können es sich zumindest vorstellen: an die Auferstehung der Toten, an die Unsterblichkeit der Seele oder an die Wiedergeburt.

Was glauben sie?, haben wir uns gefragt. Was sehen sie vor sich? Welche Wünsche und Vorstellungen und Sehnsüchte und Ängste sind mit diesem Glauben verbunden? Wir beschlossen zu fragen, mit Menschen zu sprechen, die unterschiedliche Antworten geben könnten. Wir wollten wissen, wie Menschen über dieses Thema denken, deren Leben sich in der Nähe des Todes bewegt, sei es beruflich als Krankenschwestern oder Bestattungsunternehmer, sei es privat zum Beispiel aufgrund einer dauerhaften schweren Erkrankung. Welche Rolle spielen religiöse Bindungen oder weltanschauliche Einstellungen? Und wie wirkt der Glaube oder auch der fehlende Glaube an ein „danach“ zurück auf das Leben?

Die Antworten waren oft überraschend konkret. „Das Jenseits ist das, was wir erträumen, das es ist“, fasst die Regisseurin Susanne Aernecke ihre Vorstellungen zusammen. Und der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann ist sicher: „Wir werden einander tiefer wiederfinden.“ Eine Sozialpädagogin hofft nach ihrem Tod auf „eine goldene Stadt“; ein Musiker erwartet „Stille, Ruhe, Klarheit“. Nicht wenige der Interviewten berichteten von Nahtod-Erfahrungen oder schilderten Erlebnisse, die sie in ihrem Glauben bestätigt haben.

Von vornherein war aber auch deutlich, wie sehr das Thema polarisiert. Abwehr und sogar Empörung auf der einen, lebhaftes Interesse auf der anderen Seite. Eine Erfahrung, die sich im weiteren Verlauf der Arbeit immer wieder bestätigte. Unerwartete Zustimmung, neugieriges Nachfragen und spontane Antworten waren ebenso häufig wie beredtes Schweigen oder zum Teil heftige Zurückweisung. Nie ließ das Thema gleichgültig.

Wie drängend es ist und wie tief es berührt, stellte sich bei den Interviews heraus, auf deren Grundlage die persönlichen Protokolle geschrieben wurden. Selbst mit engen Freunden hatten wir selten Gespräche von dieser Intensität und Intimität erlebt. Überwältigend waren die Offenheit und das Vertrauen, das uns von Menschen, die wir vorher nicht gekannt hatten, entgegengebracht wurde. Dafür danken wir allen, umso mehr, als uns klar ist, dass es aus den verschiedensten Gründen nicht für jeden und nicht immer leicht war, diese Offenheit zu zeigen.

Es ist vielleicht nicht erstaunlich, dass die Vorstellungen von einem – oder keinem – Leben nach dem Tod stark durch Erfahrungen und Einstellungen im Leben vor dem Tod geprägt sind. Überraschender schon, wie stark das Nachdenken über das, was nach dem Tod kommen könnte, zur Reflexion über das Leben anregt und neue Sichtweisen eröffnet.

Schnell wurde deutlich, dass Diesseits und Jenseits nicht voneinander zu trennen sind. Entweder wurden sie nebeneinander oder in Verknüpfung miteinander gesehen. Alle Lebensentwürfe, auch die derjenigen, die sicher sind, dass mit dem Tod alles aus ist, stellen Fragen in den Mittelpunkt, die aus einer übergeordneten ethischen Sichtweise beantwortet werden: Was als richtig und falsch, als verantwortungsvoll und verantwortungslos, als befreiend oder beengend empfunden und gelebt wird, unterscheidet sich nicht im Hinblick auf eine Jenseitserwartung.

Auch die Lebensfreude wird nicht dadurch beeinflusst, ob man den Tod als Übergang oder als Ende ansieht. Wer „ja“ zum Jenseits sagt, sagt nicht „nein“ zum Diesseits, und wer „nein“ zum Jenseits sagt, fürchtet sich trotzdem nicht vor dem Tod.

Der zentrale Unterschied liegt in der Beantwortung der Frage, ob jemand an den Dualismus von Körper und Geist, von Leib und Seele glaubt oder nicht. Diese Antwort wird nicht unbedingt durch die Religion vorgegeben. Eher liegt sie darin begründet, wie die Begrenztheit von Körper und Geist erlebt wird. Findet man sich damit ab oder hat man den Wunsch, die körperliche Begrenztheit zu überwinden und nach diesem Leben eine bisher ungekannte Klarheit und Freiheit, eine immerwährende Entwicklung oder auch tiefe Ruhe zu erfahren? Die persönlichen Vorstellungen unterscheiden sich stark. Eine Existenz als Geistwesen wird ebenso für möglich gehalten wie die Umwandlung in Energie oder die Auferstehung des Fleisches. Es finden sich jedoch auch viele Berührungspunkte und Bilder, die so oder ähnlich immer wieder auftauchen. Da ist die Rede von Musik oder Klängen, von Himmel und Hölle in uns selbst und von einem höheren Bewusstsein, von Wiederbegegnung und Sinneserweiterung.

Neben der Vielseitigkeit der Vorstellungen ist es eine Erkenntnis, die am Ende klar hervortrat: Ganz gleich, von welcher Position aus die Ideen und Bilder entwickelt werden: Immer bewegen sie sich auf einen Punkt in der Mitte zu, in der Mitte des Glaubens, des Lebens, der Persönlichkeit. Solange man ein suchender Mensch ist – ob in den Grenzen dieses Lebens oder über dieses Leben hinaus –, immer strebt man dahin, etwas zu finden, das bei aller Unterschiedlichkeit als innere Heimat bezeichnet werden kann.

I. Nur dieses ist gewiss

Über das Leben mit der Sterblichkeit und das Ertragen der Ungewissheit

Und was mach ich, wenn ich lebe? Wenn ich lebe mit der Hoffnung, dass es danach weitergeht, dass noch etwas anderes kommt? Oder mit der Erwartung, dass nach meinem Tod alles vorbei ist, ein für alle Mal? Irgendwann stellt sich wohl jeder Mensch die Frage, warum er sich eigentlich anstrengt und plagt, wenn das Leben doch mit Sicherheit endet. Irgendwann fragen selbst gläubige Menschen nach dem Sinn eines Lebens, dessen einzige Gewissheit der Tod ist.

Wie leben wir mit unserer Sterblichkeit? Die meiste Zeit machen wir uns darüber keine Gedanken. Wir stehen am Morgen auf, frühstücken, fahren zu Arbeit – alles ganz normal, Alltag eben oder Sonntag, Sorgen manchmal und manchmal Freude. So geht es fast allen Menschen, und so wird es immer weitergehen.

Doch dann, von einem Augenblick auf den anderen, wird man aus der trügerischen Sicherheit herausgerissen. Es muss nicht gleich eine schwere Krankheit sein oder der Tod eines Menschen, den wir kennen. Kleinigkeiten reichen aus, ob es die ersten weißen Haare sind, ein grauer Herbsttag oder ein plötzliches Erschrecken ohne erkennbaren Grund. Und plötzlich weiß man und fühlt man: Irgendwann ist es vorbei. Meist gehen solche Gedanken schnell vorüber – bis zum nächsten Mal.

Solange alles glatt läuft, richten wir uns in unserer Sterblichkeit ein. Was sollten wir auch sonst machen? Wir können nicht bei allem, was wir tun, den Tod vor Augen sehen. Ein gelungenes Leben aber schließt den Gedanken an das Ende mit ein. Der Tod macht das Leben ja nicht vergeblich, er verdirbt uns nicht einmal den Spaß daran. Das Bewusstsein, dass das Leben befristet ist, bewegt Menschen im besten Fall sogar dazu, genau hinzusehen, aufmerksam und behutsam zu sein und Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden.

Wer schwer erkrankt und weiß, dass das Ende seines Lebens in absehbarer Zeit kommt, erlebt bestimmt voller Wehmut vieles zum letzten Mal. Zugleich aber kann er eine neue Qualität des Lebens entdecken und sich sogar noch einmal Ziele stecken. Vor allem aber nimmt er die Zeit und das eigene Tun, Begegnungen und Sinneseindrücke anders wahr: Es sind nun die Augenblicke, die kostbar werden. Auch mit dem Älterwerden wächst die Klarheit und mit ihr die Klugheit. Doch weder durch Krankheit noch durch Alter wird die Ungewissheit aufgehoben; die Stunde des Todes bleibt verborgen. Und damit müssen wir leben.

„Today ist the first day of the rest of your life“ – heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens, heißt es in einem Lied aus den 1960er-Jahren. Das gilt für alle Tage des Lebens. Nur für den einen nicht, der tatsächlich der letzte sein wird. Bis dahin aber sind alle Tage zu füllen, nicht unbedingt mit Bedeutendem – das wäre eine Überforderung –, aber mit allem, was zum Leben gehört, auch wenn es manchmal nichts weiter ist als aufstehen, frühstücken und zur Arbeit fahren. Wird das bewusst erlebt und immer wieder bejaht, dann macht nicht erst der Tod, wie es häufig heißt, das Leben wertvoll. Wert und Sinn erhält das Leben nicht durch seine Begrenztheit, sondern dadurch, dass es gelebt wird – so gut und so lange, wie es geht.

Wir sind nur zu Gast auf dieser Welt

Juli Zeh, Schriftstellerin, Juristin, Jahrgang 1974

Wenn ich wüsste, dass ich in absehbarer Zeit sterbe, würde ich versuchen, noch einmal einen Roman zu schreiben. Wahrscheinlich würde er grauenvoll werden, weil ich wüsste, dass es der letzte ist, und ich deshalb versuchen würde, alles hineinzupacken, was die Literatur für mich bedeutet. Ansonsten würde ich mein Leben genauso weiterführen, wie es jetzt ist. Ich bemühe mich ohnehin, immer so zu leben, als müsste ich bald sterben – denn so ist es ja auch. Wir sind nur zu Gast auf der Welt und neigen trotzdem dazu, uns so zu verhalten, als hätten wir alle Zeit der Welt.

Für mich gibt es kein Leben nach dem Tod, und an dieser Überzeugung wird keine Erfahrung irgendetwas ändern, glaube ich. Es ist für mich eine unverrückbare Tatsache, dass das Leben mit dem Tod endet. Der Mensch verschwindet im Moment seines Todes, es bleibt nichts übrig außer einem toten Körper. Mir fällt es schwer, auch nur zu begreifen, dass es Menschen gibt, die das anders sehen. Ich verdächtige Menschen, die an ein Jenseits glauben, schnell der emotionalen Schwäche. Dann denke ich: „Leute, lauft nicht davon, seht den Tatsachen lieber ins Gesicht. Es gibt nur ein Leben, und das sollten wir so gut wie möglich führen.“

Vermutlich folgen alle diese Einstellungen aus einem absoluten Atheismus. Ich glaube nicht an Gott oder andere höhere Wesen, nicht an Seelenwanderung oder überhaupt irgendeine metaphysische Idee, die das genuin Menschliche übersteigt. Wer so sehr im Diesseits verankert ist, muss ständig aufpassen, nicht zum Egozentriker zu werden. Er muss alle Kraft, alle Regeln, Überzeugungen, selbst die Moral aus sich selbst, seiner Biografie, seinen Erfahrungen und Wünschen schöpfen. Das finde ich anstrengend, aber es ist für mich der einzige Weg. Ich habe eine so starke Veranlagung zum Skeptizismus, dass ich unfähig bin, an irgendetwas Übernatürliches zu glauben.

Der einzige Sinn, den das Leben haben kann, folgt aus der Tatsache, dass wir am Leben sind und aus rätselhaften Gründen auf keinen Fall sterben wollen. Genauso gut könnte ich sagen: Das Leben hat keinen Sinn. Ein Gefühl von Sinn kann nur in Momenten geboren werden, wenn es uns gelingt, intensiv am Leben und deshalb glücklich zu sein. Im Rest der Zeit empfinde ich es als mühsam, mich immer wieder zu motivieren und den Lebensmut nicht sinken zu lassen. Mindestens einmal am Tag muss ich mich streng ermahnen: Hör auf zu hadern, sei nicht wehleidig, freu dich, dass du da bist und dass es dir so verdammt gut geht, mach das Beste daraus, für dich und für andere.

Meine Vorstellung von einem nicht vorhandenen Jenseits sorgt dafür, dass ich mich in jeder Sekunde meines Lebens der Gegenwart verantwortlich fühle. Es gibt kein Jüngstes Gericht, das mich irgendwann in der Zukunft einmal aburteilen wird. Das Jüngste Gericht ist eine Dauerinstanz, die mich ständig begleitet. Für Hölle oder Paradies sind die Menschen selbst zuständig, und zwar jetzt und hier.

Bis jetzt ist es mir nicht gelungen, die Tatsache, dass vertraute Menschen gestorben sind, wirklich an mich heranzulassen. In meiner Vorstellung leben sie weiter. Jahrelang musste ich darauf achten, dass ich nicht versehentlich jemanden frage: „Wie geht es eigentlich XY?“ – obwohl XY schon lange tot war. Seitdem ich meinen sehr alten Hund durch seine letzte Lebensphase begleitet habe, setze ich mich intensiver mit dem Tod auseinander als je zuvor. Um diese Situation aushalten zu können, sage ich mir immer einen Satz vor: „In einer guten Familie muss jeder auch Platz zum Sterben haben.“ Auf diese Weise versuche ich, den Tod als eine gemeinsame Aufgabe zu betrachten, der alle Beteiligten etwas angeht. Es ist keine leichte Aufgabe. Man spürt, wie schwach man noch ist und wie viel man noch zu lernen hat.

Vor allem finde ich es wichtig, Bescheidenheit zu lernen. Ich glaube, dass Bescheidenheit eine große Kraft ist, die einem hilft, schwierige Dinge zu ertragen, auch den Tod, soweit das überhaupt möglich ist. Die Bescheidenheit darf aber keine Attitüde sein, man muss sie verinnerlichen und ehrlich empfinden: Als Akzeptanz der eigenen Grenzen, der menschlichen Beschränktheit in jeder Hinsicht. Dahin ist es für mich noch ein weiter Weg.

Mein toter Vater hat mich immer beschützt

Rosann Phillips, Hebamme, Jahrgang 1982

Glücklich zu sein und das an andere weiterzugeben – das ist die einzige Aufgabe, die wir auf der Welt haben. Deswegen bin ich Hebamme geworden. Das heißt: Eigentlich musste ich mit der Nase darauf gestoßen werden, dass das mein Beruf ist. Ich wusste nicht genau, was ich machen wollte, ich hatte Interesse an allem Möglichen und keine Ahnung, wie ich das unter einen Hut bringen sollte. Schließlich hat mir die Frau bei der Berufsberatung einen Ordner mit Berufsbildern mitgegeben und mir geraten, den in Ruhe anzusehen. Ich habe ihn erst einmal mit mir herumgetragen. Auf dem Weg zum Zahnarzt habe ich ihn schließlich aus der Tasche gezogen und aufgeschlagen – genau auf der Seite, auf der über Hebammen geschrieben wurde. Ich habe den Text durchgelesen und gedacht: Ja, das ist es.

Seit ich in diesem Beruf arbeite, denke ich häufig darüber nach, was es eigentlich bedeutet, geboren zu werden. Wenn ich den Bauch einer Schwangeren abtaste, nehme ich jedes Mal Kontakt zum Kind auf. Es bewegt sich, es reagiert auf mich, es lebt ganz eindeutig. Geborenwerden ist etwas anderes als anfangen zu leben. Das findet viel früher statt. Die Geburt ist eher eine Prüfung. Oder eine schmerzhafte Krise für Frau und Kind, durch die beide gehen müssen. Wenn das Kind dann geboren ist, folgt die große Erleichterung. Für die Mutter, für das Kind und für die Hebamme.

Denn es ist ja keineswegs sicher, dass immer alles gut ausgeht. Im Kreißsaal gibt es manchmal Situationen, in denen es richtig ernst wird. Ich habe auch schon einmal erlebt, dass eine Mutter bei der Geburt gestorben ist. Es war fürchterlich, als es dem Ehemann und den Verwandten gesagt worden ist. Für meinen beruflichen Weg ist es wichtig zu wissen, dass so etwas wirklich passieren kann. Das ist mir erst in diesem Moment richtig bewusst geworden. In einer dramatischen Situation reagiert man im Kreißsaal zunächst automatisch. Man macht alle notwendigen Handgriffe, holt Ärzte, bereitet Eingriffe vor, ist in Aktion. Das große Zittern kommt hinterher.

Ganz erstaunlich finde ich, wie sensibel die Kinder vom ersten Augenblick an sind und wie intensiv sie reagieren. Ich erinnere mich an eine Frau, die nach der Geburt sehr stark geblutet hat. Das kann lebensgefährlich werden. Das Neugeborene hat zunächst geschrien, weil es Hunger hatte. Als diese Notsituation eintrat, wurde es ganz ruhig und hat keinen Laut mehr von sich gegeben. Erst als die Mutter wieder stabil war und bereit, etwas abzugeben, hat es sich wieder gemeldet.

Eine ähnliche Beobachtung habe ich bei einer Zwillingsgeburt gemacht. Eins der Kinder war schon geboren, versorgt und eingepackt. Das zweite kam lange nicht, und im Kreißsaal breitete sich eine angespannte Stimmung aus. Der Kleine lag auf dem Wärmebettchen und hatte seine Augen weit aufgerissen. Man hat genau gemerkt, dem entgeht nichts. Er hat überhaupt nicht geschrien, er war nur ganz aufmerksam und hat den Eindruck erweckt, als würde er auf seinen Bruder warten.

Wenn die Kinder geboren werden, kommt es mir manchmal so vor, als ob sie aufwachen. Allerdings reagieren sie völlig unterschiedlich. Manche sind schon hellwach, sobald nur ihr Kopf geboren ist. Andere sind noch ganz in sich gekehrt. Die brauchen auch erst einmal eine Weile, bis sie merken: Hoppla, etwas ist anders! Manchen Kindern gefällt es offensichtlich, auf der Welt zu sein. Die machen große Augen, gucken ihre Eltern an und sind ganz aufmerksam. Und manche sind fürchterlich beleidigt darüber, dass sie geboren sind. Die schreien nicht aus Angst. Die sind eher verstimmt.

Wenn ich sehe, wie unterschiedlich sie sind und wie viel sie schon mitbringen, denke ich manchmal: Woher kommen die? Ich hatte als Kind immer die Vorstellung, dass ich einmal ein Kind bekomme und dass dieses Kind mein wiedergeborener Vater ist. Er ist gestorben, als ich erst zwei Monate alt war. Der Gedanke hat mich nie wirklich verlassen. Ich wünsche mir, dass es die Wiedergeburt gibt, und ich schließe es auch nicht aus. Die Betreuung der Kinder im Wochenbett bestärkt mich darin. Sie sind nicht nur völlig verschieden, wenn sie geboren werden. Sie sind auch nicht einfach klein und süß. Sie haben ausgeprägte Charakterzüge und reagieren sehr unterschiedlich auf mich. Und ich reagiere unterschiedlich auf sie, ich weiß gar nicht, woher das kommt. Es liegt jedenfalls nicht an ihrem Aussehen oder daran, dass das eine mehr schreit als das andere.

Ob Wiedergeburt oder etwas anderes: Ich glaube daran, dass man nach dem Tod irgendwo weiter da ist als ein Ich, das man gewesen ist. Mit dieser Überzeugung bin ich aufgewachsen. Es war immer sonnenklar, dass es unseren Vater gibt und dass der auch auf uns schaut, dass er irgendwie erreichbar ist. Deshalb habe ich mich auch immer so gefühlt, als wäre ich beschützt und behütet. Auch meine Großeltern sind nicht weg. Irgendwo sind sie und sorgen dafür, dass alles gut läuft. Sie sind auch als Gesprächspartner für mich erreichbar, das spüre ich deutlich. Genauso wie ich fühle, dass Gott eine Energie ist, die für Gutes sorgt.

Dass auf diese Weise für mich gesorgt wird, habe ich einmal als Kind erlebt. Damals habe ich noch in einem kleinen Dorf in Österreich gewohnt, es bestand nur aus ein paar Bauernhöfen ganz in der Nähe des Waldes. In diesem Wald gab es einen See, in dem wir oft gebadet haben. Eines Tages – ich war sechs oder sieben Jahre alt – war ich allein mit meiner Schwester dort. Sie ist zwar drei Jahre älter als ich, konnte aber, anders als ich, noch nicht schwimmen. Ich bin im Wasser herumgeschwommen, und sie wollte nur am Rand bleiben. Plötzlich habe ich gesehen, dass sie untergegangen war. Das Ufer war sehr steil, und sie hatte den Boden unter den Füßen verloren. Ich habe versucht, sie herauszuziehen, aber weil sie größer und schwerer war als ich, wäre ich beinahe mit ihr zusammen ertrunken. Ich erinnere mich noch daran, dass auf einmal eine fremde Frau da war, die uns herausgezogen und auf die Wiese gestellt hat. Dann ist sie gegangen, ohne etwas zu sagen. Ich habe auf der Wiese gestanden und mich nach ihr umgeschaut, aber sie war nicht mehr da, und auch später habe ich sie nicht mehr gesehen.

Ein Teil meiner großen Familie lebt noch immer in Österreich. Ich habe fünf Geschwister, meine Mutter natürlich und dazu eine Menge Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen und auch schon eine Nichte. Sie leben überall verstreut, in Deutschland, England und Irland und sogar in Südafrika. Wenn ich wüsste, ich hätte nur noch ein halbes Jahr zu leben, würde ich mit meinem Partner zusammen eine große Rundreise machen und sie alle besuchen. Ich hänge an meiner Familie und hätte das Verlangen, alle noch einmal zu sehen. Vielleicht wäre es auch möglich, dass wir an einem schönen Ort im Sommer eine Familienfeier veranstalten. Das haben wir nicht oft geschafft, das letzte Mal bei der Beerdigung meiner Oma. Und obwohl wir traurig waren, war es ein gutes Gefühl, zusammen zu sein.

Meine Oma hatte ein schwaches Herz. Aber ihren achtzigsten Geburtstag wollte sie noch feiern, und das hat sie auch geschafft. Danach ging es rapide bergab mit ihr, sie hat nur noch drei Monate gelebt. Wenn der Tod so käme, im Alter, nach einer schweren Krankheit, hätte ich keine Angst. Aber wenn es so wäre wie bei meinem Vater, durch einen Unfall, das fände ich schlimm. Wenn ich daran denke, mache ich mir Sorgen um meine Familie. Mein Vater ist so abrupt herausgerissen worden aus dem Leben. Ich war zwar damals noch zu klein, um etwas davon mitzubekommen. Aber ich habe in meiner Kindheit immer gemerkt, dass er eine Lücke hinterlassen hat. Man kann sich dann auch selbst nicht auf seinen Tod vorbereiten. Mein Opa hat das gemacht. Er war sehr krank und hatte Schmerzen. Aber er war bis zu seinem Tod zu Hause und konnte tun, was er wollte. Ein paar Wochen vor seinem Tod ist er noch nach Österreich gefahren und hat einen Rasen eingesät, damit der wachsen konnte. Danach hat er sich hingelegt, und drei Wochen später ist er gestorben. Das fand ich gut, es hat für mich so ausgesehen, als wäre es seine Entscheidung gewesen.