cover

Bernardin Schellenberger
Aufstieg in die Weite

topos taschenbücher, Band 1036

Eine Produktion der Verlagsgemeinschaft topos plus

Bernardin Schellenberger

Aufstieg in die Weite

Stufen des Glaubens

topos taschenbücher

Verlagsgemeinschaft topos plus
Butzon & Bercker, Kevelaer
Don Bosco, München
Echter, Würzburg
Lahn-Verlag, Kevelaer
Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern
Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der
Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Die Wanderkarte des Glaubens

Erste Stufe

Der Glaube im Kleinkindalter

Der Anfang verheißt das Ziel

Die Zwiespältigkeit unseres Daseins

Zweite Stufe

Der Glaube im Vorschulalter

Wenn der Gott der Kindheit getötet wird

Geschenke für die Vorstellungskraft

Rituale sind notwendig

Dritte Stufe

Der Glaube in der mittleren Kindheit

Geschichten und Bilder, nicht Begriffe und Ideen

Eine naive Moral

Wandlungen der allzu einfachen Vorstellungen

Vierte Stufe

Der Glaube in der Jugend

Ein neues inneres Verhältnis zu sich selbst und der Welt

Die Frage nach der lebendigen Beziehung

Chancen und Gefährdungen

Fünfte Stufe

Der Glaube im jungen Erwachsenenalter

Die kritische Zeit der „Aufklärung“

Sechste Stufe

Der Glaube im mittleren Erwachsenenalter

Die aufregende Zeit der Lebensmitte

Tiefere Lebensweisheit

Siebte Stufe

Der Glaube im Alter

Die Welt mit Gottes Augen sehen

Der weise alte Mensch

Kind und Greis in einem

Literatur

Quellennachweis

Vorwort

„Sein Aufstieg dauerte lang. Aber am Ende war er weder verdrossen noch erschöpft. In seinem Herzen fand sich keine Bitterkeit, in seiner Erinnerung hatten die erfahrenen Mühsale kein Gewicht mehr. Einmal hat er über das Ende der Geschichte geschrieben: dass da nicht Bilanzen gezogen und Bücher abgeschlossen werden, sondern dass wir da endlich anfangen, dass wir da endgültig geboren werden. Tatsächlich verlief sein Leben in dieser Weise. Jede seiner Niederlagen stellte sich als Ausgangspunkt für Neues heraus, jeder Rückschlag wurde zu einem ersten Schritt; bei jedem der vielen kleinen Tode lernte er die Anfangssilben für einen neuen Satz.

Der Lebensweg des Menschen beschreibt immer einen Kreis. Das Universum erstreckt sich nicht geradeaus ins Unendliche, sondern biegt sich auf sich selbst zurück. Der Planet, auf dem wir leben, hat Kugelform, sodass alle unsere Fahrten in die Fremde bereits Fahrten nach Hause sind. Im Grunde führt kein Weg endlos fort. Niemand geht für immer verloren. Alle kehren lediglich auf unterschiedlichen Wegen heim.“

Diese Sätze hat Anthony Padovano über den amerikanischen Trappisten Thomas Merton geschrieben. Sie bringen treffend ins Wort, worum es im vorliegenden Buch gehen soll: um den inneren Weg, um den geistlichen Aufstieg des Menschen, der im Grunde der einzig interessante und lohnende ist, denn unsere äußeren Errungenschaften müssen wir früher oder später hinter uns lassen. Alle Seelsorge und Verkündigung sollte den Menschen diesen Weg und Aufstieg erschließen.

Von Anfang an sind im Christentum Anleitungen für den geistlichen Weg entworfen, Regeln für das Fortschreiten und Reiferwerden im Glauben entwickelt worden. Aber sie alle sind für eine Art „abstrakten Menschen“ verfasst, das heißt: Sie setzen – übrigens genau wie die Katechismen und Dogmatikbücher – als Leser oder Hörer einen Menschen voraus, bei dem Alter, Geschlecht, Herkunft, Kultur, Umwelt, Lebensbedingungen usw. keine Rolle spielen. Erst neuerdings sind wir uns dessen bewusst geworden, dass die menschliche Psyche im Laufe des Lebens starke Wandlungen erfährt und dass folglich auch die Glaubenswahrheiten in den verschiedenen Lebensaltern sehr unterschiedlich erfasst werden. Also müssen Sprache und Inhalt der jeweiligen „Wellenlänge“ entsprechen, um fruchtbar empfangen und ins Leben umgesetzt werden zu können. Das kann in manchen Fällen so weit gehen, dass ein und dieselbe satzhafte Aussage (und auch ein und dieselbe Lebensweise, ein und derselbe „Stand“) auf einer Alters- und Entwicklungsstufe „richtig“, auf einer anderen aber „falsch“ und schädigend sein kann. Ein Teil unserer dogmatischen und moralischen Streitereien rührt vermutlich daher, dass wir diese biografisch und entwicklungsmäßig bedingten Unterschiede verkennen und jeder den andern auf seinen Verstehenshorizont nötigen möchte, den er für den „objektiv“ einzig richtigen hält.

Es gibt inzwischen zahlreiche Arbeiten, die die innere Beziehung zwischen den Lebensphasen des Menschen und seiner religiösen Entwicklung untersuchen und darstellen. Ich selbst wurde darauf aufmerksam im Frühjahr 1990, als ich bei einer Tagung mit Religionslehrern ein eindrucksvolles Referat von Dr. Lothar Kuld zu dieser Thematik hörte. Sie faszinierte mich, und ich besorgte mir weitere Literatur darüber. Diese Literatur ist allerdings durchwegs derart wissenschaftlich gehalten, dass sie dem „durchschnittlichen“ Gläubigen, der sie am dringendsten bräuchte, unzugänglich bleibt. So stellte ich mir die Aufgabe, die heutigen Erkenntnisse für meine Winzinger Gemeinde in eine allgemein verständliche Sprache umzusetzen. Vom Ostermontag bis Ende August 1990 hielt ich eine Predigtreihe zum Thema „Die Stufen des Glaubensbewusstseins“. Sie erfuhr lebhaftes Interesse; die Nachschriften der Predigten waren sehr gefragt und wurden sehr weit herumgereicht. Das Freiburger Institut für Religionspädagogik meldete sogar sein Interesse an, sie als Sonderheft seiner Reihe „Unterrichtsmodelle + Informationen“ möglichst vielen Religionslehrern in die Hand zu geben.

Diese unerwartet große Nachfrage ermutigte mich schließlich, die Predigtreihe als Buch herauszugeben. Das Ergebnis ist der vorliegende Band, für den ich die Texte leicht überarbeitet und mit zwei weiteren Predigten abgerundet habe.

Mit dem Verleger war ich einig, dass wir um der Lebendigkeit der Vermittlung willen die ursprüngliche Form – Predigten im Anschluss an bestimmte Sonntagsevangelien in einer konkreten Gemeinde – beibehielten.

Predigten – zumal, wenn man sie nicht von vornherein für eine Veröffentlichung vorsieht – sind allerdings keine wissenschaftlichen Arbeiten, und man belegt nicht präzise jedes Zitat und jede gute Formulierung, die man gerade irgendwo gefunden und sich dankbar zu eigen gemacht hat.

Die Literatur, die ich hauptsächlich für diese Predigtreihe verwendet habe, findet der Leser am Schluss dieses Buches angegeben. Aber aus dem Abstand von etlichen Jahren sehe ich mich außerstande, auch nur genau herauszufinden, was ich zitiert und was ich selbst formuliert habe, geschweige alle Zitate zu belegen. So schmücke ich mich hier mit mancher fremden Feder, hoffe aber dennoch, genug Eigenes dazugetan zu haben, das dieses Buch zu „meinem“ Buch macht. Aber es geht ja gar nicht um „mein“ oder „dein“, sondern um unseren Weg im Glauben, um unseren Aufstieg in die Weite, bei dem wir einander die Hand reichen und möglichst viel miteinander teilen wollen.

Ich widme dieses Buch meinem Freund, dem Schuldekan i. K. Anton König in Donzdorf, der mich Tagungsmuffel zu besagter Tagung mitgenommen, mit Literatur versorgt und immer wieder zur Arbeit inspiriert und angespornt hat.

Ostern 2015

Bernardin Schellenberger

Einleitung

Die Wanderkarte des Glaubens

Am gleichen Tag waren zwei von den Jüngern auf dem Weg in ein Dorf namens Emmaus, das sechzig Stadien von Jerusalem entfernt ist. Sie sprachen miteinander über all das, was sich ereignet hatte. Während sie redeten und ihre Gedanken austauschten, kam Jesus hinzu und ging mit ihnen. Doch sie waren wie mit Blindheit geschlagen, sodass sie ihn nicht erkannten. Er fragte sie: Was sind das für Dinge, über die ihr auf eurem Weg miteinander redet? Da blieben sie traurig stehen, und der eine von ihnen – er hieß Kleopas – antwortete ihm: Bist du so fremd in Jerusalem, dass du als Einziger nicht weißt, was in diesen Tagen dort geschehen ist? Er fragte sie: Was denn? Sie antworteten ihm: Das mit Jesus aus Nazaret. Er war ein Prophet, mächtig in Wort und Tat vor Gott und dem ganzen Volk. Doch unsere Hohenpriester und Führer haben ihn zum Tod verurteilen und ans Kreuz schlagen lassen. Wir aber hatten gehofft, dass er der sei, der Israel erlösen werde. Und dazu ist heute schon der dritte Tag, seitdem das alles geschehen ist. Aber nicht nur das: Auch einige Frauen aus unserem Kreis haben uns in große Aufregung versetzt. Sie waren in der Frühe beim Grab, fanden aber seinen Leichnam nicht. Als sie zurückkamen, erzählten sie, es seien ihnen Engel erschienen und hätten gesagt, er lebe. Einige von uns gingen dann zum Grab und fanden alles so, wie die Frauen gesagt hatten; ihn selbst aber fanden sie nicht.

Da sagte er zu ihnen: Begreift ihr denn nicht? Wie schwer fällt es euch, alles zu glauben, was die Propheten gesagt haben. Musste nicht der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen? Und er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht. So erreichten sie das Dorf, zu dem sie unterwegs waren. Jesus tat, als wolle er weitergehen, aber sie drängten ihn und sagten: Bleib doch bei uns; denn es wird bald Abend, und der Tag hat sich schon geneigt. Da ging er mit hinein, um bei ihnen zu bleiben. Und als er mit ihnen bei Tisch war, nahm er das Brot, sprach den Lobpreis, brach das Brot und gab es ihnen. Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten ihn; dann sahen sie ihn nicht mehr. Und sie sagten zueinander: Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss? Noch in derselben Stunde brachen sie auf und kehrten nach Jerusalem zurück, und sie fanden die Elf und die anderen Jünger versammelt. Diese sagten: Der Herr ist wirklich auferstanden und dem Simon erschienen. Da erzählten auch sie, was sie unterwegs erlebt und wie sie ihn erkannt hatten, als er das Brot brach.

Lukas 24,13–25

Diese Geschichte der beiden Jünger, die traurig und mutlos nach Emmaus wandern; die unterwegs einen Unbekannten treffen; die auf dem Weg im Gespräch mit ihm vieles lernen und einsehen und denen schließlich am Ende des Weges überraschend die Augen aufgehen dafür, dass der, den sie schmerzlich verloren hatten, schon immer bei ihnen gewesen war – diese Geschichte kommt mir vor wie ein Gleichnis unseres ganzen Lebens mit Gott.

Wie die zwei Jünger verlieren wir eines Tages unseren „Kinderglauben“ und fallen heraus aus einer ganz selbstverständlichen Geborgenheit in Gott und aus der Überzeugung, dass es ihn gebe und dass er bei uns da sei.

Wie die zwei Jünger machen wir uns ohne ihn auf den Weg, um unsere Hoffnung auf andere Orte zu setzen und dort das Glück zu suchen, in Emmaus oder wo auch immer.

Wenn es gut geht, finden wir Weggefährten, mit denen wir über unseren verlorenen Glauben und unsere neuen Überzeugungen sprechen, und über die Frage, woran wir uns denn verlässlich halten können. Wenn es ganz gut geht, finden wir jemanden, der uns einen neuen Zugang zum Glauben erschließt; der uns die Augen öffnet, damit wir begreifen, dass unser Kinderglaube zusammenbrechen musste, weil er uns gehindert hätte, in einen tieferen Glauben hineinzuwachsen und zu reifen und eine neue Lebensweisheit und staunenswert neue Horizonte zu entdecken.

„Wenn es gut geht“, habe ich gesagt.

Soweit ich beobachten kann, geht es oft nicht gut; geht es nicht gut mit dem Glauben sehr vieler Menschen, sondern dieser Glaube kommt bereits im zweiten Lebensjahrzehnt abhanden, oder er bleibt stecken, bleibt unentwickelt und unreif.

Ich muss genauer sein. Ich muss genauer erklären, was ich unter „Glauben“ in diesem Zusammenhang verstehe.

Nicht verstehe ich darunter das Fürwahrhalten der Glaubenssätze, die die Kirche vorlegt – also alles, was im Apostolischen Glaubensbekenntnis, in einem Katechismus oder in einer Dogmatik steht. Das zu bejahen ist Sache des Verstandes. Darum geht es uns im Folgenden nicht.

Auch verstehe ich darunter nicht den tatsächlich gelebten Glauben – also das, was ein Mensch praktisch, und vielleicht ohne jemals viel darüber nachzudenken oder sich dessen bewusst zu sein, an christlichen Werten lebt: wie er sich hingibt an andere, wie er die Liebe übt, wie er sich einsetzt für das Allgemeinwohl, wie er in Hoffnung und Tapferkeit sein Leben meistert, wie er sich verantwortlich weiß gegenüber Gott und seinem Gewissen. Ich bin der Überzeugung: Praktisch leben viele Menschen durchaus das, worum es in unserem christlichen Glauben geht und was im Letzten zählt.

Manche sind sich dessen selber aber gar nicht bewusst oder bekennen sich gar nicht als Christen. Das gibt uns Hoffnung für viele unserer sogenannten „ungläubigen“ Verwandten und Bekannten, um die wir uns sorgen und von denen wir traurig denken: „Wie schade, dass ich meinen Glauben nicht mit ihnen teilen kann!“

Wie viel Glauben ein Mensch im Tiefsten hat und ob und wie er mit Gott verbunden ist, das kann niemand sagen. Da sind Gottes Maßstäbe anders als die unseren.

Wir wissen lediglich: Am Ende unseres Lebens wird die gelebte Liebe zählen.

Diese Art Glauben meine ich im Folgenden auch nicht. Ich will vielmehr vom Glaubensbewusstsein sprechen – also von der Art und Weise, wie der einzelne Mensch seinen Glauben erfährt und spürt und was er über ihn denkt.

Das Glaubensbewusstsein beeinflusst und prägt nachhaltig die Glaubenspraxis. Das Ideal wäre, bewusst einen reifen, verantwortlichen Glauben zu haben; also nicht bloß spontan ein einigermaßen freundlicher, hilfsbereiter Zeitgenosse zu sein, sondern auch zu wissen, woher unsere besten Antriebe stammen; bewusst Kontakt zu haben mit der Quelle, die unser Leben speist; zur sinnvollen Lebenspraxis hinzu also auch noch ein erleuchteter, klarsichtiger Mensch zu sein, der weiß, was er tut und warum er es tut, und der sich ausdrücklich dem Geber aller guten Gaben verdankt und zu ihm eine persönliche Beziehung hat.

Dieses Glaubensbewusstsein des Menschen kennt Stufen der Entwicklung, genau wie unser Selbstbewusstsein Stufen der Entwicklung kennt.

In jedem Menschenwesen ist die Fähigkeit angelegt, Schritt für Schritt die Welt zu entdecken, mit ihr umzugehen, an ihr zu wachsen und zu reifen. Dafür gibt es bestimmte, immer wiederkehrende Gesetzmäßigkeiten.

Auch für die Entwicklung unseres Glaubensbewusstseins gibt es bestimmte Gesetzmäßigkeiten. In uns gibt es sozusagen die erbliche Anlage und Fähigkeit, Freunde und Partner Gottes zu werden.

An Ostern feiern wir Jahr um Jahr, dass wir als Getaufte zu Christus gehören und Anteil an seinem unvergänglichen Leben haben. Genauer genommen ist die Taufe der Einstieg in den Stufenweg einer Glaubensentwicklung, ist die Taufe der Einstieg in die Entwicklung unserer Fähigkeit, Gott immer besser zu erkennen und im Glauben immer erwachsener und erleuchteter zu werden.

Aber leider kommt diese Entwicklung allzu oft schon nach den ersten Stufen zum Stillstand. Sie kennt Umbrüche und Krisen und gefährliche Stellen, an denen es viele Menschen aus der Bahn wirft. Deshalb dachte ich mir, es wäre für uns alle interessant und wichtig, uns einmal sozusagen die „Idealgestalt“ des möglichen Weges anzusehen.

Oder, von Ostern her gesagt: Ich möchte beschreiben, welchen Weg die Stufen der „Auferweckung“ und Entfaltung eines wirklich glaubenden, geistlichen Menschen nehmen.

Die folgenden Gedanken sind eine Einleitung und ein kurzer Überblick über unsere ganze Reihe von Betrachtungen über die Entwicklungsstufen unseres Glaubensbewusstseins.

Grob umrissen wird uns dieser Weg über sieben Stufen führen:

1. Der Glaube im Kleinkindalter. Wie geben Eltern und Verwandte einem Ein-, Zweijährigen den Glauben oder Unglauben weiter? Sie tun das meist, ohne es recht zu merken. Es ist interessant, das einmal bewusst zu machen. Und vielleicht noch interessanter ist es, sich zu fragen: Was für eine Art Glauben habe ich in die Wiege gelegt bekommen? Denn davon, ob uns ein Grundvertrauen oder Grundmisstrauen ins Leben vermittelt worden ist, sind wir ein Leben lang geprägt.

2. Der Glaube im Vorschulalter. In dieser Zeit müssen einem Kind verlässliche Rituale und Grenzen vermittelt werden, damit es seinen Stand in der Welt, in der Gemeinschaft und auch im Glauben finden kann. Wo das nicht stattfindet, ist womöglich alles Weitere auf Sand gebaut.

3. Der Glaube in der mittleren Kindheit. Da glauben Kinder alles buchstäblich, was in der Bibel steht, und in dieser Phase ist das richtig. „Kinder brauchen Märchen“, heißt ein epochemachendes Buch des berühmten Kinderpsychologen Bruno Bettelheim.

Das ist zugleich eine der gefährlichsten Klippen. Denn viele Erwachsene bleiben schon hier hängen: Sie halten entweder zäh ein Leben lang an dieser Buchstäblichkeit fest (wie es auch viele sogenannte „Fundamentalisten“, Sektenangehörige und Freikirchliche tun) oder sie werfen den ganzen Glauben als Kindermärchen weg, weil alle diese biblischen Geschichten – so meinen sie – doch nicht wahr sein können. In Wirklichkeit bleiben sie selber geistig und seelisch Kinder und entwickeln keinen Sinn für eine neue Dimension von „Wahrheit“, die in allen diesen Geschichten der Entdeckung harrt. Theologen sprechen in diesem Zusammenhang vom „Atheismus der Elfjährigen“. Das bedeutet: Wenn ein Kind entdeckt, dass die Welt gar nicht so einfach und gerecht konstruiert ist, wie es die Bibel zu schildern scheint, kommt sein Glaube an einen Gott, der die Guten belohnt und die Bösen bestraft, in eine radikale Krise, und es verliert womöglich alle Freude und alles Interesse daran. Viele Menschen setzen sich schon hier von der weiteren Wanderung in Richtung eines reiferen Glaubens ab. Das alles werden wir ausführlich besprechen müssen. Doch fahren wir jetzt mit unserem Überblick fort.

Da gibt es, wo der Glaube weiterwächst,

4. den Glauben in der Jugend, der sehr persönliche Züge annehmen kann und vom Gefühl begleitet ist, Gott sei immer und überall mit einem und der Einzelne sei intensiv mit Gott verbunden. Der Glaube scheint da etwas ganz Selbstverständliches zu sein, ein Element, in dem man sich tummelt wie der Fisch im Wasser.

Aber unversehens kommt

5. im jungen Erwachsenenalter eine Ernüchterung: Die Gefühle bleiben zunehmend aus, und immer mehr stellt man selber kritisch alles Seitherige infrage: ob nicht alles bloß Gefühl und Einbildung gewesen sei. Da findet in der persönlichen Lebensgeschichte das statt, was man in der europäischen Geistesgeschichte als „Aufklärung“ bezeichnet: Vor dem Forum des Verstandes wird das kirchlich vermittelte Glaubens- und Wertesystem kritisch hinterfragt, und nichts mehr ist selbstverständlich. Es ist die Zeit der Diskussionen und sozialen Aktionen. Die jungen Erwachsenen suchen ihren ganz eigenen Stand und ihr Engagement in der Welt.

Wo nicht eingesehen wird, dass dies eine notwendige und wichtige Entwicklungsphase ist, kann das wiederum eine gefährliche Klippe werden, und der Betreffende meint, um der Redlichkeit willen abrücken zu müssen vom ausdrücklichen Glaubensweg.

Wo es gut geht, gelangt man

6. im mittleren Erwachsenenalter auf die Bewusstseinsstufe, auf der man ein Verhältnis zu dem Paradox findet, dass Gott immer zugleich offenbar und verhüllt, zugänglich und unbegreiflich bleibt und dass das Leben und die Wahrheit komplexer sind, als man dachte. Man sieht ein, dass man an die Wahrheit aus verschiedenen Richtungen und Blickwinkeln herangehen muss und dass keiner sie ganz für sich gepachtet hat. Man findet zu einer sogenannten „zweiten Naivität“ und entdeckt zunehmend die tiefere Wahrheit, die in allen Symbolen und Geschichten – auch in biblischen Geschichten – verborgen ist, und man entwickelt ein Bedürfnis, sie für sich zu entdecken. Man möchte nicht mehr bloß seinen Verstand betätigen und diskutieren, sondern man möchte echte Erfahrungen machen. Damit erwacht auch ein neuer Sinn für Stille und Intimität.

Schließlich könnte man zu einer letzten Stufe finden, in der man sich

7. im mittleren und späteren Erwachsenenalter sozusagen „in Gott gegründet“ findet und in Gelassenheit und Weisheit und mit einem sehr weiten, liebenden Herzen, sozusagen mit den Augen Gottes, die Welt und die Menschen betrachtet.

Dies soll als erster Überblick genügen. Wir werden diesen geistigen Weg miteinander abschreiten und unsere Entdeckungen machen. Wenn es dem Leser zur Anregung und Hilfe gereichen würde, hätten wir den schönsten Sinn jeder Osterzeit und jedes Gottesdienstes erfüllt: dass wir miteinander geistlich auferstehen und uns auf den Weg des Aufstiegs machen in die immer größere Weite und Freiheit Gottes hinein.

Erste Stufe

Der Glaube im Kleinkindalter

Der Anfang verheißt das Ziel

Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht die Türen verschlossen hatten, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, dass sie den Herrn sahen. Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sprach zu ihnen: Empfanget den Heiligen Geist! Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert.

Thomas, genannt Didymus (Zwilling), einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht. Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder versammelt, und Thomas war dabei. Die Türen waren verschlossen. Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger aus – hier sind meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.

Noch viele andere Zeichen, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind, hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan. Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.

Johannes 20,19–31

Wer von uns sehnt sich nicht nach Leben, nach wirklichem, erfülltem, vollem Leben? Fast alles, was Menschen tun, ist Ausdruck ihres Hungers nach einem sinnvollen, lebenswerten Leben. Sehr oft tun Menschen sehr törichte, sehr unzureichende und schädliche Dinge auf ihrer verzweifelten, blinden Suche nach Leben und enden darum immer wieder in der Enttäuschung. Im Johannesevangelium 20,19–31 lesen wir, dass wir an Jesus, den Sohn Gottes, glauben sollen, „damit wir durch den Glauben das Leben haben in seinem Namen“.

Als Merkmale dieses wirklichen Lebens, das der Glaube an Jesus Christus vermitteln soll, werden in unserem Text genannt:

– der Friede und

– die Vergebung der Sünden.

Die allgemein verbreitete Fried- und Rastlosigkeit zeigt, wie weit entfernt wir vom wirklichen, erlösten Leben sind und wie falsch es ist, die ersehnte Lebensqualität in Richtung immer neuer, aufregender Aktivitäten zu suchen; das gerät mehr zur Flucht vor dem Leben als zu einer Suche nach dem Leben.

Und die Vergebung der Sünden? Wenn man einzelne Menschen näher kennenlernt, entdeckt man bald, dass hinter der scheinbar vielleicht recht glücklichen Fassade fast jeder irgendeine Belastung, irgendeinen Komplex, irgendeine Unfreiheit mit sich herumträgt – etwas Unaufgearbeitetes, Unbewältigtes, Unversöhntes; irgendeinen Zwang, eine Sucht, eine Schädigung, eine Enttäuschung, die ihm ein Stachel im Fleisch ist und ihm das Leben schwer macht. Das wirkt herein in die Gegenwart und verfälscht, vergiftet, belastet Beziehungen und Verhaltensweisen. Davon ganz frei werden und ein ganz geheilter Mensch sein hieße, die „Vergebung der Sünden“ voll erfahren zu haben.

Der Apostel Thomas möchte glauben und das Leben finden, indem er sieht und leibhaftig berührt.

Jesus erwidert darauf: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“

Trotzdem sind wir im Glauben unterwegs zum Sehen und zum leibhaftigen Berühren und Einswerden, und Jesus gewährt dem Thomas dieses Sehen und Berühren als Vorgeschmack zukünftigen Einswerdens.

Das ist ein guter Einstieg in das Thema, das uns jetzt beschäftigen wird.

In einer Reihe von Betrachtungen werden wir der Frage nachgehen, wie sich im Laufe unseres Lebens im Idealfall unser Glaubensbewusstsein entwickeln kann. In der vorliegenden Betrachtung geht es um das Thema: Wie kann der Glaube in Kleinkindern ungefähr bis zum zweiten Lebensjahr grundgelegt werden? Fangen wir also an mit dem Apostel Thomas, der nur glauben will und kann, wenn er tasten, mit Händen greifen, leibhaftig spüren darf. Leibhaftig fängt unser Glaube an, leibhaftig muss er anfangen.

Was verstehe ich hier unter Glauben?

Ich verstehe darunter das Lebensgefühl, das mich erfüllt, die Lebensenergie, die mich trägt, den Mut, der mich befähigt, mein Leben anzupacken und tapfer zu bestehen.

Ich verstehe darunter den Optimismus, der mir hilft, dem Leben zu trauen und trotz aller Enttäuschungen jeden Tag neu anzufangen.

Ich verstehe darunter die Hoffnung, dass mein Leben nicht absurd und ziellos ist, sondern dass es für meine tiefsten Sehnsüchte eine Erfüllung und ein Ausruhen gibt.

Leibhaftig fängt unser Glaube an – im Leib unserer Mutter. Dort kann jedes Menschenwesen – unbewusst noch, aber umso tiefer und abgründiger – körperlich, mit Leib und Seele, Einheit, Wärme und Geborgenheit erfahren – also jenen Zustand des Friedens und der Freiheit von Sünden, der, wie wir in Johannes 20,19–31 lesen können, das wahre, erlöste Leben ausmacht.

Sobald wir bei der Geburt aus dieser Harmonie herausgestoßen werden, machen wir uns ein Leben lang auf den Weg, sie wiederzufinden. Der Neuplatonismus und ihm verwandte Lehren meinen, die Ursünde der Schöpfung bestehe darin, dass das Weltall und die Lebewesen aus der Ur-Einheit mit dem Schöpfer herausgefallen seien in einen eigenwilligen Selbst-Stand, in eine Trennung von Gott. Selber-Sein bedeute immer Trennung, beinhalte unvermeidlich den Fluch, im Letzten einsam und isoliert zu sein. Da-Sein an sich trage deshalb unentrinnbar den Charakter und die Folgen der Sünde.

Unser christlicher Glaube sieht das anders. In der Bibel steht, die Schöpfung sei nicht durch einen Sündenfall aus Gott herausgefallen wie erstarrte Lava aus dem Schmelztiegel eines Vulkans, sondern die Schöpfung verdanke ihr Dasein dem Willen Gottes. Gott habe uns ausdrücklich gewollt und seine Schöpfung und das Dasein der Menschen als sehr gut bezeichnet.

Trotzdem kommt in der neuplatonischen Auffassung eine Ur-Erfahrung des Menschen zum Ausdruck: Selber-Sein und folglich in irgendeiner Weise allein und einsam sein ist schmerzlich und mühsam. Geborenwerden macht Angst. Das Herausgestoßenwerden aus dem bergenden Schoß der Mutter ist ein traumatisches Erlebnis. Das Kind wird aus dem warmen Schoß in eine kalte Welt geworfen. Und es gibt keinen Weg zurück.

Die Sucht, mit der viele Menschen beieinander körperliches Verschmelzen und Einssein suchen, hat etwas Infantiles und Verzweifeltes an sich – die Verzweiflung von Motten, die sich ins Licht stürzen, mit angesengten Flügeln zu Boden fallen, sich wieder aufrappeln und den nächsten Anflug unternehmen, immer wieder, taumelnd und wie von Sinnen.

neues