978-3-401-80049-3.tif

Titel

Andreas Eschbach

Das Marsprojekt

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Das ferne Leuchten

Arenaneu.tif

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2012
© 2001 by Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Umschlaggestaltung: Constanze Spengler
ISBN 978-3-401-80049-3

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1. Das Leuchten

Elinn konnte mit einem Raumanzug umgehen. Normalerweise. Niemand wurde auf dem Mars geboren und dreizehn Jahre alt, ohne mit einem Raumanzug umgehen zu können. Aber in diesem Moment hatte sie alles vergessen. Alle Vorsicht, und vor allem die Zeit, die verging und ihren Sauerstoffvorrat verringerte.

Sie hatte das Leuchten gesehen.

Vergessen war die Marssiedlung, die weit hinter ihr in der rostig braunen Ebene lag. Ihr eigenes Keuchen klang ihr in den Ohren, als sie über Felsen und Geröll stieg. Ihr Atem schlug silbern gegen die Innenseite ihres Helms.

Sie hatte das Leuchten gesehen, und es war aus der Jefferson-Schlucht gekommen.

Vergessen waren die Ermahnungen ihrer Mutter, sich nicht aus der Sichtweite der oberen Station zu entfernen, vor allem nicht allein. Elinn stieg über den felsigen Rand, sprang hinab auf eine Felsplatte, die einige Meter weiter unten aus dem Hang ragte. Sie liebte solche Sprünge. Im Unterricht hatte sie gelernt, dass die Schwerkraft auf der Erde drei Mal so stark war wie die des Mars. Ihres Mars. Ihrer Heimat. Hier konnte sie Dinge tun, die den Menschen auf der Erde unmöglich waren.

Der Fels fühlte sich auch durch die Handschuhe hindurch kalt an, als sie sich am Rand festhielt. Der weite Himmel über ihr war gelb von den Staubstürmen, die um diese Jahreszeit hoch oben in der dünnen Atmosphäre dahinfegten. Doch die Sterne schimmerten dahinter hervor, kalt und klar und verheißungsvoll.

Sie dachte nicht an die anderen. Die lachten sie immer nur aus, wenn sie vom Leuchten erzählte.

Sie dachte auch nicht daran, die Anzeige des Sauerstoffvorrats zu prüfen. Normalerweise war das etwas, das einem, wenn man auf dem Mars lebte, so in Fleisch und Blut überging wie Zähneputzen. Aber Elinn vergaß auch das Zähneputzen manchmal.

Die gewöhnlichen Raumanzüge hatten keine Recyclingsysteme, denn das waren große, schwere Geräte, und die Atemluft, die sie produzierten, stank nach Chemie. Raumanzüge mit Komplettrecycling trug man nur bei Expeditionen. Die Marssiedler hatten leichte, bequeme Raumanzüge an, wenn sie hinausgingen, und da man selten mehr als ein paar Stunden draußen war, kam man mit den Vorräten an Energie und Atemluft problemlos aus.

Elinn sprang über den Rand der Felsplatte, landete auf sandigem Geröll, das unter ihren Füßen staubte, und rannte den Abhang dann in weiten, eleganten Sätzen hinab, dem Grund der Schlucht entgegen. Als sie unten angekommen war, hatte sie bereits nicht mehr genug Sauerstoff, um den Rückweg zu schaffen. Aber auch das bemerkte sie nicht, sondern ging weiter, immer weiter von der Marssiedlung weg.

»Ja! Jawohl! Ja!« Ronny schwenkte den Steuerhebel hin und her, den Blick gebannt auf den Bildschirm gerichtet. Es brummte und tuckerte ohrenbetäubend aus den Lautsprechern, eindeutig der Sound einer uralten Propellermaschine. Ronny war verrückt nach Flugsimulationen, und im Computer konnte er alle Fluggeräte fliegen, die es gab. Die alten Propellermaschinen – die man nur noch in Museen bewundern konnte – waren sein neuester Spleen. »Juhu!«

Unmöglich, sich dabei zu konzentrieren. Carls Blick wanderte zum Fenster hinaus. Der Marshimmel verfärbte sich gelb, das Tharsis-Massiv, das sonst den westlichen Horizont so gewaltig beherrschte, war kaum noch zu sehen. Demnächst würde wahrscheinlich ein ordentlicher Staubsturm über sie hereinbrechen.

Drüben an Schleuse 3 stand immer noch der Transporter mit dem Emblem der Asiatischen Allianz. Das war sicher Yin Chi, der Leiter der Station, die die Staaten der Asiatischen Allianz letztes Jahr gegen den Willen der Erdregierung errichtet hatten. Auf der Erde gab es seither allerhand politischen Wirbel; es wurde gemunkelt, die Asiatische Allianz wolle aus der Föderation der Erdstaaten ausscheiden.

Aber das war auf der Erde. Weit weg also und hier praktisch ohne Bedeutung. Die Marskolonisten kamen mit den Asiaten gut aus; man half sich, wo man konnte. Die asiatische Station stand etwa hundert Kilometer entfernt am Westende der Valles Marineris, der gigantischsten Schlucht auf dem Mars, die aus dem Weltraum aussah, als habe sie ein Gigant mit einer Riesenaxt aus dem Planeten gehackt. Auf Einladung Yin Chis waren Carl und die anderen Kinder einmal dort gewesen und hatten die grandiose Aussicht genossen, die man von dort hatte – anders als hier in der Siedlung, die mitten in der Einöde errichtet worden war, wenn man es genau nahm! –, und nun war einer von Yin Chis Leuten krank geworden und brauchte Medikamente, die die Asiaten in ihrer Station nicht hatten. Deshalb war Yin Chi gekommen, und Dr. DeJones gab ihm mit, was er brauchte. Der Einzige, den das störte, war Mister Pigrato. Tom Pigrato war Statthalter der Erdregierung auf dem Mars, und ihn störte hier sowieso alles. Er konnte die Kinder nicht leiden, er konnte seinen Job nicht leiden, und vor allem konnte er den Mars nicht leiden. Kurzum, man ging ihm aus dem Weg, wo man konnte. Was seine Laune auch nicht unbedingt besserte.

»Carl? Ich habe eine wichtige Information für dich.«

Die synthetische Stimme von AI-20 ließ Carl hochschrecken. Ein Blick auf den Bildschirm erinnerte ihn daran, dass er eigentlich hergekommen war, um ein paar Unterrichtslektionen abzuarbeiten.

»Ja, ich weiß«, sagte er rasch. »Die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wenn das nicht alles schon so ewig lange her wäre, würde es mich sicher brennend interessieren.«

AI-20 war die Künstliche Intelligenz, die alle Systeme der Marsstadt steuerte – die Energieerzeugung, die Luftversorgung, die Kommunikation, die Klimatisierung der unterirdischen Plantagen, einfach alles. Nebenbei unterrichtete AI-20 die Kinder in den Sachfächern, half den Wissenschaftlern bei ihrer Forschungsarbeit und den Verwaltern bei ihrer Verwaltungsarbeit. AI-20 konnte sprechen, hören und sehen, und wie alle künstlichen Intelligenzen hatte es im Lauf der Zeit so etwas wie eine eigene Persönlichkeit entwickelt. Im Falle von AI-20 war es so, dass sie eine Art Zuneigung zu den Marskindern gefasst hatte und sich im Zweifelsfall auf deren Seite schlug. Natürlich war AI-20 letztlich nur ein besonders kompliziertes Computerprogramm, aber es gab Momente, in denen man das glatt vergessen konnte.

»Da wir das Jahr 2086 schreiben, stellt die Benutzung des Begriffes ›ewig‹ eine starke Übertreibung dar«, mahnte AI-20 mit computerhafter Kleinlichkeit. »Allerdings stand meine Bemerkung nicht im Zusammenhang mit dem Unterricht. Ich habe eine wichtige Information deine Schwester betreffend.«

»Elinn?« Carl und Ronny tauschten einen besorgten Blick. »Was hat sie wieder angestellt?«

»Sie war im Freien unterwegs und ist vor einundzwanzig Minuten aus dem Erfassungsbereich meiner optischen Sensoren verschwunden. Meinen letzten Aufzeichnungen zufolge scheint es, dass sie in die Jefferson-Schlucht hinabgestiegen ist.«

»Ja, und? Wahrscheinlich hockt sie auf irgendeinem Stein und schaut verträumt in die Gegend.«

»Von dieser Annahme bin ich auch ausgegangen«, sagte AI-20. »Sie hätte allerdings inzwischen wieder zum Vorschein kommen müssen, um mit ihren verfügbaren Sauerstoffreserven den Rückweg noch zu schaffen.«

Carl durchrieselte es kalt bei diesen Worten. Hatte er das auch richtig verstanden? Manchmal war der ewig gleich bleibende Plauderton der Künstlichen Intelligenz verwirrend. »Soll das heißen, Elinn geht der Sauerstoff aus?«

»Nach meinen Daten über den Ladezustand ihres Raumanzugs hat sie noch für schätzungsweise dreißig Minuten Sauerstoff.« Nun klang AI-20 doch fast etwas besorgt, oder bildete er sich das nur ein? »Da ich in der Vergangenheit Beobachtungen gemacht habe, die mich zu dem Schluss führen, dass ihr Kinder einen Zugang zur Stadt habt, der meinen Überwachungsinstrumenten nicht zugänglich ist, wollte ich dich fragen, ob es sein kann, dass Elinn bereits zurück ist, ohne dass ich es bemerkt habe.«

Das war scharf beobachtet von der Künstlichen Intelligenz. Aber der Geheimgang der Kinder – ein alter Stollen aus den Zeiten der ersten Station, lange vor dem Bau der Siedlung angelegt und mit einer handbetriebenen Schleuse versehen – ging nach Süden, während der Jefferson-Graben in nördlicher Richtung lag. Ausgeschlossen, dass Elinn dorthin gelangt war.

»Nein«, sagte Carl beklommen. »Das kann nicht sein.«

»Ich fürchte, dann muss ich die Stationsleitung informieren.«

Ronny, der längst aufgehört hatte zu spielen, ließ den Steuerknüppel los und fuhr sich mit beiden Händen durch das blonde Strubbelhaar. »Verdammt.« Sie wussten beide, was er meinte. Pigrato würde den Kindern die Raumanzüge endgültig wegnehmen, wenn auch nur das Geringste passierte, und sie würden in der Marssiedlung eingesperrt sein.

»Warte, AI-20!«, rief Carl. Er spähte noch einmal aus dem Fenster. Der Transporter, ein schneller, geländegängiger Rover, stand immer noch da. Wenn ihnen jemand aus der Patsche helfen konnte, unauffällig und ohne dass Pigrato etwas davon mitbekam, dann Yin Chi. Carl griff nach dem Kommunikator, tippte Arianas Nummer ein.

»Ja?«, meldete sie sich.

»Wo bist du gerade?«, fragte Carl hastig.

»In meinem Zimmer, wieso?«

»Kannst du bitte sofort zur Schleuse 3 rennen und Yin Chi aufhalten? Ich besorge einen Sauerstoffzylinder und stoße dazu. Und nimm deinen Anzug mit!«

Ariana verstand natürlich kein Wort. »Yin Chi aufhalten? Wovon redest du, Carl?«

Carl erklärte ihr so rasch wie möglich, was los war. Als sie begriffen hatte, worum es ging und dass es auf jede Minute ankam, sagte sie nur »Okay!« und schaltete ohne ein weiteres Wort ab. Wahrscheinlich raste sie schon durch die Gänge, dass die Funken flogen.

»Na los!«, rief er Ronny zu.

Wieso fielen ihr die Schritte immer schwerer? Elinn blieb stehen. Ihr Atem dröhnte ihr in den Ohren. Sie holte tief Atemluft, aber irgendwie kam da nicht viel Luft aus dem Tank. Ihre Brust ging wie ein Blasebalg, und ihr war gar nicht gut.

Luft. Genau. Sie hob den rechten Arm, sah das Anzeigegerät an. Die Zahlen flimmerten ihr vor den Augen.

Rot. Ein rotes Licht. Wieso glühte da ein rotes Licht?

Das hatte sie ja noch nie gesehen. Sie überlegte, was es zu bedeuten hatte, aber ihre Gedanken drehten sich so seltsam im Kreis, kamen nicht vorwärts, wussten nichts mehr.

Ihr war überhaupt nicht gut.

Carl fiel ihr ein und wie sie noch klein gewesen waren. Wie sie abends immer im Schlafzimmer Kissenschlachten gemacht hatten. Carl hatte ihr dabei einmal die Bettdecke auf den Kopf gedrückt, und sie hatte keine Luft mehr bekommen. Sie hatte schreien wollen, aber das war nicht mehr möglich gewesen. Sie hatte mit den Beinen gestrampelt, bis er sie losgelassen hatte.

Mutter hatte Carl geschimpft. Damals hatte Papa noch gelebt, und er hatte Carl eine Ohrfeige gegeben.

Wieso musste sie jetzt daran denken? Wegen Papa? Er war auf der Expedition in die Cydonia-Region umgekommen. Sie war sehr traurig gewesen damals. Im Grunde war sie immer noch traurig deshalb.

Ihr war danach, zu strampeln. Zum Schreien hatte sie keine Luft mehr.

Wieso war da dieses rote Licht? Jetzt begann es, zu blinken.

Ihr war einfach nicht gut. Vielleicht wenn sie sich ein wenig hinsetzte. Vielleicht wurde es dann besser.

Ronny lief los ihre Anzüge holen. Carl eilte die Treppen hinunter zur Schleuse 5, in den Versorgungsraum davor, wo die Anzüge der Erwachsenen hingen, sauber in Reih und Glied, alle ordentlich an die Ladeeinrichtungen angeschlossen. Grüne Lichter über den einsatzbereiten Anzügen, orange über denen, die noch geladen wurden, mit Strom und mit Sauerstoff. Unter dem Gitterrost auf dem Boden sammelte sich der rote Marssand.

Die Anzüge für Erwachsene nützten ihm natürlich nichts. Aber die Sauerstoffpatronen waren dieselben wie die an den Anzügen der Kinder. Hastig zog er eine geladene Patrone aus einem der Anzüge heraus. Sofort wechselte die Anzeige darüber von Grün auf Rot. Und wenn schon. Die Patrone in der Hand machte er, dass er weiterkam.

Irgendwo hörte er jemanden rennen. Das musste Ronny sein, auf dem Weg zu Schleuse 3. Einer der Techniker begegnete ihm, Abasi Kuambeke, ganz vertieft in einen Schaltplan oder so was, und er hätte ihn fast über den Haufen gerannt. »Entschuldigen Sie!«

Kuambeke sah auf. »Carl? Was ist denn los?«

»Nichts«, rief Carl und spurtete weiter. »Nur ein… Wettrennen!«

»Ihr Kinder…«, hörte er noch, ehe er um die Kurve schoss.

Sein Kommunikator piepste. Er zog ihn im Laufen hervor. »Ja?«

Es war Ariana. »Carl?«

»Ja? Ich bin jeden Moment da… Was ist?«

»Wenn wir Yin Chi per Funk anrufen, kriegt Pigrato mit, was läuft, oder?«

»Klar.« Carl blieb keuchend stehen. Ihm schwante Übles. »Wieso fragst du?«

»Weil er abgedüst ist, ehe ich an der Schleuse war.«

Da standen sie nun, alle noch außer Atem, ihre Raumanzüge in Händen. Ariana war ohne Zweifel gerannt wie der Teufel, ihre langen, gewöhnlich stets glatt frisierten schwarzen Haare hingen wirr durcheinander.

»Du musst Alarm geben«, sagte sie. »Es hilft nichts.« Sie sah ihren Raumanzug an, ließ ihn dann zu Boden sinken. »Von denen können wir uns schon mal verabschieden.«

»Und wenn einfach wir drei rausgehen?«, schlug Ronny vor. »Und die Patrone mitnehmen?«

Carl schüttelte den Kopf. »Bis wir sie zu Fuß gefunden hätten, wäre es zu spät.« Er hob den Kommunikator. »AI-20? Gib Alarm!«

»Ja«, sagte AI-20.

Im nächsten Augenblick dröhnte der Sirenenton des Rettungsrufs durch die Marskolonie, durch Wohnräume und Labors, durch die Maschinenräume wie durch die tief liegenden Stollen. Männer und Frauen ließen alles stehen und liegen, rannten durch Gänge, eilten Treppen hoch, stürzten aus dem Aufzug, schlüpften in Raumanzüge und hörten sich dabei an, was AI-20 über den Notfall und die zu treffenden Maßnahmen zu sagen hatte.

Keine drei Minuten nach Beginn des Alarms erschütterte das Dröhnen von Triebwerken den oberirdischen Teil der Siedlung, ließ Wände und Bodenplatten vibrieren.

»Da!«, sagte Carl, der durch eine der schmalen Sehschlitze der Schleuse Ausschau gehalten hatte. Die anderen drängten sich neben ihn. Beide Flugmaschinen schossen mit lodernden Düsen Richtung Jeffersongraben.

»Wie kann man bloß so blöd sein und mit leerem Sauerstofftank rausgehen?«, stieß Ronny hervor. »Ich schwör’s, wenn Pigrato uns die Anzüge wegnimmt, red ich im Leben kein Wort mehr mit ihr!«

2. Das Artefakt

Es ist nicht leicht, Freunde zu finden, wenn man dreizehn Jahre alt und auf dem Mars geboren ist. Als Elinn aus ihrem Bett in der Krankenstation hochsah, in all die vertrauten Gesichter, kam es ihr so vor, als hätte sie überhaupt keine Freunde mehr.

Ronny zum Beispiel sah drein, als wolle er sie bei nächster Gelegenheit fressen. Zusammen mit seiner Stupsnase und seinen wilden blonden Locken hätte das beinahe lustig aussehen können. So schaute er normalerweise nur drein, wenn man ihn bei seinem richtigen Namen rief – Ronald –, den er nicht leiden konnte. Oder wenn man ihn daran erinnerte, dass er das jüngste der Marskinder war. Und eigentlich nicht einmal ein richtiges, denn er war noch auf der Erde geboren und als Säugling mit seinen Eltern zum Mars gekommen. Was aus Ronnys Sicht hieß, dass er sich als jüngsten Astronauten aller Zeiten betrachten durfte.

Oder Ariana. Diese steile Stirnfalte rechts neben der Nasenwurzel hatte sie nur, wenn sie ziemlich ärgerlich war, fast schon wütend. Wenn diese Falte auftauchte, machte man sich besser still und heimlich davon, denn Ariana war nicht nur die Stärkste, Schnellste und Sportlichste weit und breit, sie konnte auch Jiu-Jitsu und Karate, kurzum, man legte sich besser nicht mit ihr an. Und gerade waren ihre langen schwarzen Haare so zerzaust, als hätte sie bereits einen Kampf hinter sich und könne den nächsten kaum erwarten. Normalerweise war Ariana für Elinn ein bisschen wie eine große Schwester. Im Augenblick aber schien das nicht zu gelten.

Doktor DeJones, Arianas Vater, blickte zumindest nur ernst drein, nicht ärgerlich. Er hielt Elinns Handgelenk und fühlte ihren Puls und nickte ihr zu, als sie ihn ansah.

Carl schien nicht zu wissen, ob er ärgerlich sein sollte wegen dem, was passiert war, oder erleichtert, dass man sie rechtzeitig gefunden hatte. In seinem Gesicht mischten sich beide Gefühle. Vielleicht weil er ihr großer Bruder war und immer das Gefühl hatte, auf sie aufpassen zu müssen, umso mehr, seit Papa tot war. Carl war fünfzehn irdische Jahre alt und damit das älteste unter den Marskindern; tatsächlich stand er auf der Erde schon in den Geschichtsbüchern als der erste auf dem Mars geborene Mensch. Aber darauf war Carl überhaupt nicht stolz, es ärgerte ihn eher. Sein großer Traum, das hatte er ihr erzählt, war es, auf der Erde zu studieren und später als Erforscher der anderen Planeten des Sonnensystems berühmt zu werden.

Die Einzige, die sie wirklich freundlich ansah, wenn auch mit sorgenvollen Falten in den Augenwinkeln, war natürlich Mutter.

»Kind, Kind!«, murmelte sie kopfschüttelnd.

Elinn versuchte, zu lächeln. »Das war ziemlich dumm, was?«

»Ja.« Mutter nickte. »Ziemlich dumm.«

»Du hast Glück gehabt, dass AI-20 dein Verschwinden bemerkt und sofort Alarm ausgelöst hat«, sagte Doktor DeJones streng. »Zehn oder fünfzehn Minuten später hätte dir niemand mehr helfen können.« Er sah, wie Mutter bei diesen Worten zusammenzuckte, und setzte rasch hinzu: »Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Mrs Faggan, Ihrer Tochter ist wirklich nichts passiert. Ich mache nur noch ein paar Untersuchungen, sicherheitshalber, und spätestens heute Abend kann sie nach Hause.«

»Ja«, sagte Mutter. »Danke.«

Jetzt lächelte Carl doch ein bisschen.

Auch die Zornesfalte auf Arianas Stirn schien ein klein wenig nachzulassen.

Sogar Ronny gab fast so etwas wie einen erleichterten Seufzer von sich.

Vielleicht hatte sie doch nicht alle Freunde verloren.

In diesem Augenblick ging die Tür zur Krankenstation auf, und Tom Pigrato, seines Zeichens Statthalter der Erdregierung auf dem Mars, kam herein.

Carl bemerkte, dass auch die Erwachsenen zusammenzuckten. Sie kamen einigermaßen mit Pigrato aus, aber richtig leiden konnte ihn niemand. Was nur gerecht war, da Pigrato seinerseits auch niemanden leiden konnte.

Der Statthalter lebte seit zwei Jahren auf dem Mars, aber er schien sich immer noch nicht an dessen niedrigere Schwerkraft gewöhnt zu haben. Er bewegte sich mit seltsam schlurfenden, ab und zu hopsenden Schritten fort – was den Vorteil hatte, dass man ihn in den Gängen der Stadt schon von weitem hörte und ihm rechtzeitig aus dem Weg gehen konnte. Dem Blick seiner kleinen, stechenden Augen zu entgehen war meistens ratsam, wenn man ein Kind war und in Frieden leben wollte. Denn Mister Pigrato war der Ansicht, dass die Marskolonie keine Siedlung, sondern eine Forschungsstation sei und Kinder deswegen hier grundsätzlich nichts verloren hätten. Und dass es der größte Fehler von Präsident Sanchez gewesen sei, zu erlauben, dass auf dem Mars Kinder geboren wurden. Was nach Ablauf von dessen nur vier Jahre dauernder Amtszeit ja zum Glück wieder anders geworden war. Sein ständiger Spruch, den er bei jeder sich bietenden Gelegenheit von sich gab, lautete: »In der Antarktis existiert seit 150 Jahren eine Forschungsstation, aber dort sind nie Kinder zur Welt gekommen und aufgewachsen. Und im Vergleich zum Mars ist die Antarktis ein warmes, lauschiges Plätzchen.«

Was so nicht stimmte. Im Tharsis-Vorland, wo die Marsstadt lag, kletterten die Temperaturen im Marssommer an warmen Tagen bis auf vierzehn Grad Celsius. Davon konnten die Forscher in der Antarktis nicht einmal träumen.

Dafür ging es in kalten Winternächten hinab bis minus 130 Grad. Das konnte bisweilen schon heftig werden, vor allem wenn sich Sandstürme dazugesellten.

Beides gab es, zugegeben, in der Antarktis auch nicht.

Die Kinder sahen sich an. Jetzt musste es kommen, das große Donnerwetter.

Doch Pigrato sagte erst mal nichts. Er wirkte fast, als sei nichts von Bedeutung geschehen. Seine Augen blickten nicht stechender drein als sonst auch, seine dicken Lippen waren eher etwas weniger fest zusammengepresst als sonst. Man hätte fast glauben können, Pigrato habe so etwas wie gute Laune, aber da ihn bisher noch niemals jemand auch nur annähernd gut gelaunt erlebt hatte, war das schlecht zu beurteilen.

Er nickte den Erwachsenen grüßend zu. »Mrs Faggan? Doktor DeJones?« Er nickte sogar, sie konnten es kaum glauben, den Kindern zu. »Hallo, Kinder.« Dann hatte er, schlurfend und hoppelnd, das Bett erreicht, umfasste mit der rechten Hand den Bügel am Fußende. Der goldene Ring an dieser Hand sorgte seit Pigratos Ankunft auf dem Mars für Spekulationen: Konnte das ein Ehering sein? War eine Frau vorstellbar, die jemanden wie Pigrato heiratete? Und wenn – warum hatte sie ihn nicht begleitet?

»Nun, junges Fräulein?«, wandte Pigrato sich an Elinn. »Wie geht es dir?«

»Danke, gut, Mister Pigrato«, sagte Elinn leise und drückte sich unwillkürlich etwas tiefer in die Kissen.

Carl blickte auf seine kleine Schwester hinab. Sie sah blass und zerbrechlich aus. Ohne ihre wilde Lockenmähne, die so rostrot war wie der Marsboden, hätte man sie kaum gesehen auf den weißen Laken. Aber andererseits kannte er sie überhaupt nicht anders. So lange er denken konnte, hatte sie schon immer ausgesehen wie eine Fee aus dem Märchen, so, als sei sie nicht ganz von dieser Welt.

Na ja, und so benahm sie sich manchmal ja auch.

»Wie ich höre«, sagte Pigrato, »hast du gerade noch mal Glück gehabt, wie?«

»Ja, Mister Pigrato.«

»Sag mal, wie konnte denn das passieren?«

Carl merkte, wie Ariana die Luft einsog und dann den Atem anhielt. Ronny machte tellergroße Augen. Sogar Doktor DeJones biss sich auf die Lippen. Jetzt kam es wahrscheinlich, das dicke Ende!

Elinn sah jämmerlich hoch, setzte mehrmals zum Sprechen an und brachte schließlich nur heraus: »Ich weiß es nicht mehr genau, Mister Pigrato. Ich… ich habe wohl nicht bemerkt, dass der Sauerstofftank nur zum Teil geladen war.«

»Hmm«, machte Pigrato. Seine Hand hatte den Bügel losgelassen, seine Finger trommelten einen unhörbaren Rhythmus auf dem glänzenden Metall. »Nun, ich schätze, in Zukunft wirst du besser aufpassen.«

»Bestimmt«, sagte Elinn rasch.

»Versprochen?«

Elinn nickte heftig. »Versprochen.«

»Gut.« Er nickte ihr noch einmal zu, mit einem Gesichtsausdruck, der – nun, es war nicht direkt ein Lächeln, aber womöglich so etwas Ähnliches, oder lag es einfach daran, dass Pigrato in der Kunst des Lächelns so wenig geübt war, dass man nicht auf Anhieb erkennen konnte, was gemeint war? Jedenfalls, er nickte ihr zu, dann ihrer Mutter, dem Arzt und den Kindern, und dann ging er wieder. Ging, und die Tür schloss sich hinter ihm wieder. Hätte nur noch gefehlt, dass er draußen im Gang angefangen hätte, ein fröhliches Lied zu pfeifen.

»Was ist denn mit dem los?«, platzte Ronny heraus, kaum dass die Tür wieder zu war.

»Ja, seltsam. So kenne ich ihn überhaupt nicht«, gab Doktor DeJones zu.

»Er hat kein Wort von der Antarktis erzählt«, stellte Ariana fest.

»Er hat sie nicht einmal erwähnt«, pflichtete Carl ihr bei.

Seine Mutter sprach schließlich aus, was alle empfanden: »Wenn ich versuche, mir vorzustellen, was jemanden wie Pigrato in gute Laune versetzen kann, dann wird mir richtig unheimlich zu Mute.«

Spät an diesem Abend, als er gerade am Einschlafen war, hörte Carl das Trippeln nackter Füße, und gleich darauf schlüpfte seine kleine Schwester zu ihm unter die Decke. Das hatte sie schon lange nicht mehr gemacht, aber nach einem Tag wie heute… Er rückte beiseite und legte den Arm um sie. »Hallo, kleiner Glückspilz«, murmelte er schläfrig.

»Carl?«, flüsterte Elinn aufgeregt.

»Komm, schlaf. Es ist sicher schon schrecklich spät…«

»Aber ich muss dir was zeigen!«

»Zeig’s mir morgen, okay?«

»Ich hab heute nämlich in der Jefferson-Schlucht ein Artefakt gefunden«, sagte Elinn.

Sie hätte ihm auch einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf schütten können. Carl fuhr hoch, knipste das Licht in seiner Bettnische an und sah seine Schwester entgeistert an. »Wie bitte?«

»Na ja…« Elinn lächelte unsicher. »Ich habe wieder das Leuchten gesehen, weißt du? In der Jefferson-Schlucht. Und das habe ich gefunden.« Sie streckte ihm hin, was sie mitgebracht hatte.

Carl schüttelte fassungslos den Kopf. »Du bist doch von allen guten Geistern verlassen.« Aber er nahm das Fundstück in die Hand und betrachtete es.

Seit Elinn zum ersten Mal draußen auf der Oberfläche des Mars gewesen war, sammelte sie diese seltsamen Steine. Oder was immer es war. Niemand außer ihr hatte jemals etwas Vergleichbares gefunden, während Elinn inzwischen ein ganzes Regal voll davon besaß. Es waren flache Gebilde, die kleinsten nicht größer als ein Daumennagel, die größeren – so wie das, das er nun in der Hand hielt – ungefähr so groß wie sein Handteller, und sie schienen auf den ersten Blick aus buntem Schmuckglas zu bestehen. Manche von ihnen glänzten und schimmerten geheimnisvoll, andere wiesen farbige Schlieren auf. Dieses hier zeigte ein Muster, das wie eine halb fertige Zeichnung wirkte. Elinn nannte diese Gebilde Artefakte, was in der Fachsprache der Archäologen, wie ihr Vater einer gewesen war, von Menschen geschaffene Gegenstände bedeutet.

Das waren diese Steine nun bestimmt nicht. Eine Untersuchung im Labor hatte ergeben, dass es sich einfach um geschmolzenes Silizium mit allerlei mineralischen Beimengungen handelte. Aber schön waren sie, richtige Schmuckstücke.

»Es ist wunderschön, nicht wahr?«, strahlte Elinn.

»Ja. Sicher. Aber du darfst nicht dein Leben aufs Spiel setzen dafür, Elinn. Das ist ausgesprochen dumm.«

»Ja, ich weiß.« Sie schaute bedrückt drein, ungefähr eine Sekunde lang, dann sprühte sie wieder vor Begeisterung. »Siehst du die Zeichnung darauf? Das hier, das sieht doch aus wie ein Löwenkopf, findest du nicht? Aber eigentlich ist es eine Landschaft. Siehst du?«

Carl hielt das flache Gebilde näher ans Licht. Ja, mit einiger Phantasie konnte man sich vorstellen, einen brüchigen Kraterrand zu sehen, der aussah wie die Mähne eines Löwen, zwei dunkle Punkte – kleinere Krater vielleicht –, die die Augen darstellten, und schließlich einen von Schluchten durchzogenen Tafelberg: Nase und Maul des Löwen. »Ja. Sieht wirklich fast so aus.«

»Und jetzt mach mal das Licht aus!«

»Wieso denn?«

»Mach’s doch mal aus«, drängelte Elinn aufgeregt. »Bloß kurz.«

»Also gut.« Er knipste die Lampe aus und wollte sie gleich wieder einschalten, als er es sah: ein winziger Punkt in dem Artefakt, der im Dunkeln blau leuchtete. Es sah fast unheimlich aus.

»Siehst du’s? Siehst du den Punkt?«

»Ja«, nickte Carl, machte das Licht wieder an und versuchte auszumachen, wo der Punkt genau gewesen war. Irgendwo bei dem Tafelberg, ungefähr beim rechten Nasenloch. »Wirklich hübsch. Ich frage mich wirklich, warum immer du diese Dinger findest und niemand sonst.«

Sie machte ein empörtes Gesicht. »Das habe ich dir schon hundertmal erklärt. Die Artefakte liegen nicht einfach so herum. Die Marsianer legen sie mir hin und lassen sie leuchten, damit ich sie finde.«

»Ja, ja. Ich weiß.«

»Und das hier ist eine Karte, die uns zu ihrer unterirdischen Stadt führen soll. Dort wo der Punkt leuchtet, ist der Eingang. Wir brauchen jetzt nur noch auf einer Marskarte nachschauen, und dann können wir die Marsianer entdecken.«

Carl seufzte, ließ das Artefakt sinken und sah seine Schwester an. Seine kleine Schwester. In solchen Momenten hätte man nicht glauben wollen, dass sie schon dreizehn Erdjahre alt war. Gerade sah sie noch immer aus wie das fünfjährige Mädchen, das nach Papas Tod jede Nacht weinend zu ihrem siebenjährigen Bruder ins Bett gekrochen kam, monatelang, immer nach einem Traum, in dem sie ihren Vater durch endlose Labyrinthe unter der Marsoberfläche hatte irren sehen.

»Elinn«, sagte er ernst, »das waren Märchen. Die Geschichten, die Papa uns von den Marsianern erzählt hat, waren alles Märchen, die er sich für uns ausgedacht hat.«

Sie sah ihn an, als würde sie jeden Moment zu weinen anfangen. »Nein.«

»Doch, Elinn. Wir waren beide noch klein und hatten Angst, wenn draußen die Sandstürme tobten, und deswegen hat sich Papa mit uns an den Ofen gesetzt und uns spannende Geschichten erzählt. Um uns abzulenken. Und weil er Archäologe war und früher auf der Erde nach untergegangenen Völkern geforscht hat, hat er sich die Marsianer ausgedacht.«

»Das ist nicht wahr. Ich weiß, dass es sie gibt.« Sie verschränkte trotzig die Arme. »Wieso finde ich denn sonst immer die Artefakte? Wieso sehe ich das Leuchten, hmm?«

Weil du unseren Vater sehr lieb gehabt hast, dachte Carl. Und weil du vielleicht immer noch nicht richtig verkraftet hast, dass er nicht mehr da ist. Aber das konnte er ihr natürlich nicht so sagen. Obwohl es bestimmt die Wahrheit war. Es ging ihm ja selber so, dass er oft an Papa denken musste.

»Schau mal«, sagte er stattdessen, »die Leute im Labor haben doch ein paar von deinen Artefakten untersucht. Und sie haben festgestellt, dass es Silizium ist, geschmolzenes Silizium. Eine Art vulkanisches Glas wahrscheinlich, das vor Millionen von Jahren von den Vulkanen des Mars ausgespuckt worden ist. Aus dem Mons Ascraeus zum Beispiel. Der ist zehn Kilometer hoch, höher als jeder Berg auf der Erde – kannst du dir vorstellen, was für Mengen von flüssigem Gestein der Vulkan über die ganze Gegend hier verteilt haben muss?«

Elinn nahm das Artefakt wieder an sich, betrachtete es traurig. Carl tat es Leid, ihre Träume zerstören zu müssen, aber wenn sie sich derart in Gefahr begab, musste es einfach sein. Schließlich war sie seine kleine Schwester, und es war seine Pflicht, auf sie aufzupassen.

»Meinst du?«, fragte sie.

Er nickte. »Ja.«

Sie wickelte sich seufzend wieder in die Decke, das gläserne Fundstück an sich gedrückt. »Aber dann müssten doch überall solche Artefakte herumliegen, oder?«

»Ja, eigentlich schon.« Er schaltete das Licht aus und legte sich wieder hin. Er merkte, dass er ganz schön müde war. »Aber dafür gibt es bestimmt auch eine Erklärung. Ich weiß sie bloß nicht. Komm, schlaf jetzt.«

»In Ordnung. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Aber sie schlief nicht. Immer wenn Carl gerade am Einschlafen war, wälzte Elinn sich in eine andere Position und weckte ihn dadurch wieder auf.

»Carl?«, fragte sie schließlich.

»Was denn?«

»Wir könnten doch«, überlegte sie im Finstern, »auf der Marskarte nachsehen, ob wir den Löwenkopf finden. Ich meine, irgendwelche Krater und Berge, die so aussehen wie auf der Zeichnung im Artefakt. Oder? Das könnten wir doch tun?«

»Meinetwegen«, meinte Carl schläfrig. »Wenn du dann Ruhe gibst, gehen wir morgen in den Kartenraum und schauen nach.«

»Toll.« Elinn kuschelte sich raschelnd in die Decke. »Bestimmt entdecken wir ein großes Geheimnis.«

»Bestimmt«, murmelte Carl. »Schlaf jetzt.«

Wenn sie geahnt hätten, was für ein Geheimnis sie entdecken sollten, wären sie nicht so ruhig eingeschlafen.