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Oktober 2016
© 2016 Buch&media GmbH, München
Umschlaggestaltung unter Verwendung
eines Bilds von Christian Laetsch
isbn print 978-3-95780-068-8
isbn ePub 978-3-95780-069-5
isbn PDF 978-3-95780-070-1
Printed in Germany

Erstes Kapitel

Mit der Magie eines wunderbaren Geistes hat sich ein weißer Nebel über dem Nootka Sound ausgebreitet. Sein Wesen behütet zäh ein Geheimnis dieser Welt.

Der Wind, als Vorbote einer unbändigen Kraft, peitscht eisig über die erhabenen Berggipfel von British Columbia. Alle furchtbaren Geister der Natur haben sich vor der Küste von Vancouver Island versammelt und sind dabei, sich zu einem gewalttätigen Schneesturm zu vereinbaren. Dieser wird in der Nacht wütend und mit unnachgiebiger Härte über die Landschaft hereinbrechen.

Inmitten dieser menschenleeren und schwer zugänglichen Region an der Westküste von Kanada steht eine Hütte. Dort lebt ganz alleine ein alter Mann. Vor 45 Jahren hat Erhardt Maier ein Leben in Sicherheit und Wohlstand aufgegeben, um zusammen mit seiner Frau nach dem wahren Glück zu suchen. Erhardt Maier ist schon deutlich vom Alter gezeichnet, sein Körper besteht fast nur noch aus Haut und Knochen. Einzig seine Augen strahlen noch eine jugendliche Trotzigkeit aus.

Der 91-Jährige sitzt am warmen Ofen und schimpft laut vor sich her: »Verdammt! Ihr feigen Hunde! Scheiße, ich bin im Arsch!« Erhardt weiß ganz genau, wie aussichtslos seine Situation ist, aber die Schimpferei bewahrt ihm ein Gefühl von Selbstwert. Mit zittrigen Händen legt er andächtig und sorgfältig ein Stück Zedernholz in die Glut des Ofens. Es ist das letzte Stück Feuerholz, welches sich in der Hütte befindet und ihm noch einmal Wärme spenden kann. Draußen, hinter der Hütte, lagert ausreichend Holz, mit dem Erhardt über den Winter kommen könnte. Aber dort wartet schon seit fünf Tagen ein ausgehungertes Rudel Wölfe auf den klapprigen alten Mann.

Erhardt verweilt noch ein wenig am Ofen und schaut bekümmert zu, wie das letzte Stück Holz langsam verglüht. Dann geht er ins Bett und hofft, wie jeden Abend, dass er für immer einschlafen kann.

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Am nächsten Morgen …

Erhardt kam in der vergangenen Nacht nicht zur Ruhe. Ein brutaler Sturm wütete über dem Nootka Sound. Der Sturm rüttelte tobend und brüllend so sehr an Erhardts Hütte, dass diese sich mit flehentlichen Balkenknirschen bewegte. Der alte Mann lag die ganze Nacht zusammengekauert unter seiner Bettdecke und fürchtete, dass sein kleines, geliebtes Heim der mächtigen Naturgewalt nicht standhält. Schon unzählige Male hatte Erhardt mithören müssen, wie die Bäume draußen ächzend fielen. Er fühlte in dieser Nacht wieder, wie klein und bedeutungslos der Mensch der Natur gegenübersteht.

Erst, als das Licht des neuen Tages die Dunkelheit zurückdrängt, verflüchtigen sich auch die Geister des Sturms. Jetzt ist es wieder ruhig, draußen am Nootka Sound. Erhardt liegt noch erschöpft im Bett. Er hadert mit sich, ob er heute überhaupt noch einmal aufstehen soll. Warum auch? Was sollte heute schon noch Schönes passieren? Es ist die pure Neugier, die ihn dazu bewegt, sich doch aus dem Bett zu quälen. Die Gelenke des Alten sind in der Früh immer steif und unbeweglich, und so kostet ihn das morgendliche Aufstehen sehr viel Überwindung und ist mit großen Schmerzen verbunden. Erhardt beginnt nun mit der täglichen Prozedur. Er robbt seinen Unterkörper aus dem Bett. Die Füße haben jetzt Kontakt mit den alten Dielen, sein Oberkörper liegt noch auf der Matratze. Nun konzentriert er alle Kraft auf den einen Moment. Dafür hat er sich schon vor zwei Jahren ein Seil als Hilfsmittel an einen Deckenbalken angebracht. Erhardt greift zuerst mit der rechten und dann mit der linken Hand nach dem Seil. Nun zieht er sich unter großer Anstrengung und lautem Stöhnen Stück für Stück nach oben. In Sitzposition verharrt er eine Weile. Er atmet tief durch. Dann fasst er noch einmal fest an das Seil und zieht sich in den aufrechten Stand. Auch heute hat es wieder funktioniert. Wie lange noch?

Erhardt humpelt mit zittrigen Knien zum Fenster. Er will schauen, ob die Wölfe noch da sind. Vielleicht hat der Sturm sie zur Aufgabe gezwungen? Erhardt entdeckt sie zusammengekauert im Schnee liegen. Es fällt heute Morgen nur ein Schimpfwort, »Scheiße!«. Dann schaut er, was der Sturm angerichtet hat. Sehr viele Bäume wurden gebrochen. Nur die großen, alten Bäume stehen noch alle da. »Nein, euch kann kein Sturm mehr etwas anhaben, nur der Mensch ist dazu in der Lage«, murmelt Erhardt.

Erhardt beginnt mit seinem gewohnten Tagesablauf. Er humpelt zum Stuhl, hält sich an der Lehne fest und startet die Morgengymnastik. Dazu bewegt er zunächst die Füße, dann kreist er die Arme und den Kopf und zum Schluss hebt er abwechselnd seine Knie so weit er kann. Für ein richtiges Kniebeugen reicht es schon lange nicht mehr, aber Erhardt verrichtet die Übungen, die sein Körper noch hergibt, sehr gewissenhaft und ausdauernd. Dabei spornt er sich selbst immer wieder an. »Komm Erhardt, komm.«

Hier draußen in der kanadischen Wildnis hat Erhardt unzählige Erfahrungen gesammelt. Vor allem von den Ehatteshat-Indianern hat er vieles gelernt. Er weiß, dass körperliche Fitness die Grundvoraussetzung für ein Überleben fernab der Zivilisation ist. Nach etwa 20-minütiger Übung ist Erhardts Körper warm und er kann fühlen, wie das Blut in seinen Adern wieder zirkuliert. Nach der täglichen Morgengymnastik steht nun die Zubereitung des Frühstücks an. Erhardt brennt jeden Morgen den Ofen an, füllt seinen alten Teekessel mit Wasser und stellt diesen auf die Ofenplatte. Dann deckt er seinen Frühstückstisch. Heute ist alles anders. Er hat kein Feuerholz mehr in seiner Hütte und kann nicht wie gewohnt den Ofen anbrennen. Es gibt heute Morgen keinen frisch gebrühten Tee mit selbst gesammelten Kräutern. Die Hütte bleibt kalt! Erhardt möchte sich über seine missliche Situation keine Gedanken machen, und so zieht er knurrend eine Fellweste über und beginnt schlechtgelaunt seinen Tisch einzudecken. Seit Wochen konnte Erhardt keine neuen Lebensmittelvorräte mehr aus dem nächstgelegenen Siedlungsort Tahsis besorgen, und so gibt es jeden Morgen das Gleiche zu essen: Zwieback mit Ahornsirup. Widerwillig kaut er an dem süßen Zwieback herum. Nach einer Weile verweigert er die Nahrungsaufnahme und schimpft: »Ohne warmen Tee schmeckt das Zeug ja wie Sand mit Hühnerkacke.« Plötzlich fühlt er eine große Hilflosigkeit über sich kommen. Niedergeschlagen stützt er seinen Kopf mit den Händen und denkt über seine Situation nach. Seit über 40 Jahren lebt er nun schon hier draußen an der kanadischen Westküste. Die Natur hat ihm für sein Leben stets reichlich Möglichkeiten angeboten. Bei allen Problemen gab es immer auch einen Weg zur Lösung. Einen solch kalten und harten Winter hat er allerdings noch nicht erlebt. Der Nootka Sound ist zugefroren! Damit ist Erhardts einzige Möglichkeit, mit dem Boot zur nächstgelegenen Siedlung nach Tahsis zu gelangen, hinfällig. Auf seinen Freund Nikan von den Ehatteshat-Indianern, der sonst gelegentlich nach ihm sieht, braucht er auch nicht zu warten. Erhardt ist von der Außenwelt abgeschnitten! Niemals hätte er damit gerechnet, dass einmal ein ausgehungertes Rudel Wölfe vor seiner Hütte auf ihn warten würde. Erhardt kann sich daran erinnern, dass das Erscheinen der Wölfe in der spirituellen Welt der First Nation etwas Wichtiges zu bedeuten hat. Nikan hatte ihm einmal gesagt: »Wenn sich dir die Wölfe zeigen, dann stehen große Veränderungen bevor.« Erhardt wertet es für sich als Zeichen, dass er den nächsten Frühling nicht mehr erleben wird. Über sein Ableben hatte er niemals Illusionen. Entweder würde er erfrieren oder verhungern, weil er nicht mehr die Kraft aufbringen konnte, sich selbst zu versorgen. Oder, und das war sein größter Wunsch, er würde ganz einfach für immer einschlafen. Den nächsten Frühling will Erhardt aber noch erleben! Noch einmal sehen können, wie die Natur nach dem Winter erwacht, wie das Leben zurückkehrt. Das ist seine Motivation, die ihn gegen die dunkle, winterliche Trostlosigkeit ankämpfen lässt. Wenn wieder warme Sonnenstrahlen die weißen Berggipfel berühren und diese unzählige kleine Wasserrinnsale freigeben, die vereint mit unbändiger Kraft und lautem Getöse ihren Weg zum Meer zurückfinden. Wenn eine neue Generation von Lachsen ihre erste große Reise flussabwärts in Richtung Nootka Sound antritt und wenn die großen alten Bäume wieder tief durchatmen und sich stolz im Westküstennebel Richtung Sonne strecken. Dann konnte es Erhardt immer fühlen, die Magie und die Spiritualität des Landes, der Grund, weshalb er sich damals für ein Leben hier an der Westküste von Kanada entschieden hatte.