Meike Messal (Hrsg.)

Mordend kommt der Weihnachtsmann

Kriminelle Weihnachtsgeschichten aus Ostwestfalen-Lippe

Prolibris Verlag

Handlung und Figuren dieser Anthologie entspringen der Phantasie der Autoren. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Authentisch sind hingegen Institutionen, Straßen und Schauplätze in Ostwestfalen-Lippe.

Alle Rechte vorbehalten,

auch die des auszugsweisen Nachdrucks

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© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2016

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E-Book ISBN: 978-3-95475-144-0

Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.

ISBN: 978-3-95475-132-7

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Robert C. Marley - Christingle - Paderborn

Westfalen-Blatt, 14. Dezember

PADERBORN – Britische und deutsche Familien feiern am kommenden Donnerstag gemeinsam den schon traditionellen vorweihnachtlichen Christingle-Gottesdienst in der evangelischen Abdinghofkirche. Eine mit Kerze und Süßigkeiten geschmückte Orange als Zeichen für die christliche Botschaft der Liebe wird allen Kindern am Ende des Gottesdienstes übergeben. Schüler der britischen Schulen John Buchan und Bishops Park und der deutschen Lutherschule singen Weihnachtslieder. Die international bekannte britische Militärkapelle des Adjutant General’s Corps wird die Abdinghofkirche wieder mit mächtigen Klängen erfüllen.

Der Schnee fällt in dicken, feuchten Flocken an diesem Sonntag und wird in Böen gegen die hohen Fenster geweht.

Als ich mich wieder anziehe, kann ich die Glocken der Abdinghofkirche läuten hören. Obwohl ich sie nicht sehe, weiß ich, dass die Besucher noch immer in die Kirche strömen; vermummt mit ihren Schals und Mänteln. Wir Mädchen haben oft genug unten am Eingang gestanden und ihnen die Liedzettel ausgeteilt. Erst um sechs werden alle Plätze besetzt sein.

So ist es jedes Jahr an diesem Tag.

Der britisch-deutsche Christingle-Gottesdienst ist hier bei uns in Paderborn schon immer etwas Besonderes gewesen. Und für meine Familie sowieso. Denn mein Vater war bei den britischen Streitkräften. Meine Mutter ist Deutsche.

Daddy fiel in Afghanistan, meine Schwester Sofie in Altenbeken.

Hier im Gemeindehaus ist es wieder still geworden. Das Klopfen und Schaben hat aufgehört. Aus dem Nebenraum kommt kein Laut mehr.

Die meisten Apfelsinen sind bereits mit roten Bändern versehen. Sie stehen für die Liebe und das Blut Christi. Ich stecke noch die Zahnstocher in die letzten, ehe ich die Bonbons darauf spieße und sie zu den anderen in die große silberne Schüssel lege.

Sofie und ich gehörten dem Vorbereitungsteam an, seit wir elf Jahre alt waren. Im März wäre sie 15 geworden – genau wie ich. Zusammen mit Julius leiteten wir die jüngeren Kinder an, erklärten ihnen, wie sie die Christingles zu schmücken hatten und sangen mit ihnen im Chor. Mama hat das immer unterstützt. Und Daddy spielte Bagpipes im General’s Corps.

Julius ist jetzt so um die fünfundzwanzig, glaube ich. Ich kenne ihn schon so lange, dass ich gar nicht mehr weiß, wie lange. Er hasst Spargel, genau wie Sofie. Sie übergab sich jedes Mal, wenn sie ihn als Kind essen musste. Julius ging es ebenso. Nichts Schlimmes, man muss ihn nur meiden. Einmal hat Sofie einen Kuchen für Julius gebacken. Das war kurz vor dem letzten Weihnachtsfest. In dem Jahr, als sie starb. Sie hatte ihn mit Nüssen und Liebesperlen dekoriert. Ich dachte, sie hat sich vielleicht ein bisschen in ihn verguckt. Das glaubte ich jedenfalls. Warum hätte sie sich wohl sonst eine solche Mühe machen sollen? Doch Julius flippte vollkommen aus. Fragte Sofie, ob sie ihn umbringen wolle. Ich erinnere mich noch gut an ihr trauriges, enttäuschtes Gesicht, als er ihr den Kuchen zurückgab. Nicht einen Bissen hat er davon genommen.

Sofie dagegen liebte Nüsse. In den letzten Wochen vor ihrem Tod hat sie kaum was anderes gegessen.

Und sie hat Bücher geliebt. Jede Art Bücher, genau wie ich. Ihr Gewicht, ihren Geruch, und das Geräusch, das die Seiten machen, wenn man sie über den Daumen rauschen lässt. Sooft wir konnten, trieben wir uns in der Buchhandlung Linnemann auf der Westernstraße herum, stöberten einfach in den Regalen, auch wenn wir kein Geld mithatten, um welche zu kaufen. Manchmal bekamen wir einen Apfel von Herrn Linnemann geschenkt. Er ist ein lustiger Kerl mit einem lebhaften, runden Gesicht. Ich mag ihn sehr. Bücher sind ihm wichtig. Das sieht man. Sofie sagte jedes Mal, er sei genau wie der weise Zauberer aus einem Fantasie-Roman. Aber ich habe vergessen, aus welchem.

Irgendwann ging ich nur noch allein hin. Sofie hatte keine Lust mehr auf Bücher.

An dem Tag, als sie starb, haben wir wieder Christingles für den abendlichen Gottesdienst vorbereitet. Sofie hatte sich in die Helferliste eingetragen, doch sie kam nicht. Ich weiß noch genau, wie Julius mich fragte, ob sie krank sei.

Später haben alle gesagt, Sofie habe den Zug nicht kommen hören. Sie haben gesagt, sie habe ein Selfie machen wollen.

Das kann mir keiner erzählen.

Wer fährt an einem Winterabend mit dem Zug von Paderborn nach Altenbeken, um dann auf dem Viadukt ein Selfie von sich zu machen?

Ich habe das letzte Foto gesehen, das sie geschossen hat. Ihr angespanntes Gesicht halb von der Dunkelheit verschluckt, ihre dürre Gestalt eingerahmt von den drei grellen Lichtern der Lok. Sofie ist weder taub noch blind gewesen.

Sie war todtraurig.

Ich stecke eine Kerze in die Orange und zünde sie an. Sie soll das Licht Jesu in der Welt darstellen und jenen Kraft schenken, die im Dunkeln wandern.

Sofie ist lange im Dunkeln gewandert. Nicht mal ich habe das damals begriffen. Sie wurde einfach immer stiller. Irgendwann sprach sie gar nicht mehr.

Die Leute sagen, Zwillinge seien sich so nahe, dass sie jede Gefühlsregung des anderen spüren. Doch das stimmt nicht. Heute frage ich mich, warum ich ihren Schmerz nicht gespürt habe. Warum ich nicht früher verstanden habe, weshalb sie sich dermaßen veränderte. Vielleicht habe ich aber auch deshalb nichts gespürt, weil Sofie einfach keine Kraft mehr für Gefühle hatte.

Das Licht der Kerze erhellt den Raum. Die Tische sind schlicht weiß. Der Fußboden ist mit kratzigem Teppich ausgelegt. Genau wie der Nebenraum. So kratzig, dass er einem den Rücken durchscheuert.

Auch meine Knie sind noch immer ganz rot.

Ich nehme die Schale mit den Christingles, schließe die Tür zum Nebenzimmer wieder auf, trage sie hinein und stelle sie auf den Boden.

Julius liegt auf dem Rücken, sieht mich schweigend an. Seine nackte Haut glänzt feucht im Licht der Kerze.

»Hier«, sage ich. »Das ist die Liebe Gottes«, und winde ihm die rote Schleife um den Kopf. »Hier«, sage ich. »Die Früchte der Erde«, und schiebe ihm die Zahnstocher mit den Süßigkeiten zwischen die geschwollenen Lippen. »Hier«, sage ich. »Das Licht der Hoffnung.« Das Wachs der Kerze verklebt sein dunkles Haar, läuft ihm in die geöffneten Augen und über das blaue Gesicht.

Die Kirche ist bis auf den letzten Platz besetzt, das weiß ich von all den vorherigen Jahren.

Die Christingles sind das Wichtigste an diesem Abend. Gleich ist es sechs, und jemand wird kommen und fragen, wo wir damit bleiben.

Es schneit noch immer, als ich das Gemeindehaus verlasse.

Von den Weihnachtsmarktbuden auf dem Domplatz dringen die Klänge von Last Christmas zu mir herüber, und der würzige Geruch von Glühwein und Rostbratwurst liegt in der Luft. Das Gewimmel dort kann ich jetzt nicht haben. Ich möchte allein sein.

Langsam gehe ich an dem Antiquitätenladen vorbei die Michaelstraße in Richtung Stadtbibliothek hinunter. Die Paderquellen sind um diese Jahreszeit verwaist. Der Schnee auf den eisigen, schlafenden Wiesen unberührt und jungfräulich.

Während ich die ersten Spuren hineintrete, höre ich in der Ferne das aufgeregte Martinshorn des Rettungswagens.

Es ist ein befreiendes Geräusch.

Ich kenne den Grund für Sofies Tod, seit Julius mir letztes Jahr zum ersten Mal zwischen die Beine gefasst hat. Und ich habe darüber geschwiegen. Auch über all das, was er später mit seiner Zunge machte.

Warum ich Mama nichts davon gesagt habe?

Vielleicht, um ihr nicht das Herz zu brechen.

Vielleicht, weil ich fürchtete, Julius könne davonkommen.

Vielleicht aber auch nur, weil ich Angst hatte, Mama könnte am Ende das Walnussöl vor mir verstecken, mit dem ich mich an diesem Abend eingerieben habe, ehe ich zu Julius ins Gemeindehaus ging.

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Robert C. Marley

(Jg. 1971) lebt als Autor, Goldschmiedemeister, Kriminalhistoriker und Trainer für Selbstverteidigung in einer sehr alten Stadt in Ostwestfalen und besitzt ein eigenes Kriminalmuseum. 2015 wurde er für seine beliebte Krimireihe um den Scotland Yard Inspector Donald Swanson mit dem bronzenen HOMER in der Sparte historischer Kriminalroman ausgezeichnet.

Joachim H. Peters - Das Fest der Liebe - Detmold

Mit blechernem Scheppern fiel die Münze in die alte verbeulte Tabakdose, und eine heisere, von Nikotin und Alkohol gefärbte Stimme murmelte emotionslos: Danke. Der Boden, auf dem Harald Berger saß, war hart und kalt. Auch die mehrlagige Schicht aus alten Zeitungen konnte nicht verhindern, dass die Kälte in seine Knochen kroch. Und dabei war dieser Platz hier noch der beste. Windgeschützt, überdacht und direkt vor einem Kaufhaus, das ihn geflissentlich übersah und ihn gnädig unter dem Vordach aus Beton sitzen ließ. Berger bemühte sich, den Blick zu heben. Etwas, was ihm auch sonst schon schwerfiel, aber hier in Detmold besonders.

Den vielen Leuten, welche die Meinung vertraten, betteln sei einfach, man müsse sich nur in die Fußgängerzone hocken und die Hand aufhalten, hätte Berger gerne mal die Wahrheit gesagt. Wie schwer es war, sich so der Öffentlichkeit preiszugeben. Lief man als Obdachloser durch die Stadt, dann sah einen nur der ein oder die andere mal skeptisch an, aber sobald man unten war, sobald man auf dem Boden saß, glitten zum Glück viele Blicke über einen hinweg. Kaum einer von seiner Sorte schaffte es, den Leuten in die Augen zu sehen. Schon möglich, dass es bei einigen Lethargie und bei anderen der Alkohol war, der ihren Kopf senkte, doch bei den meisten, so wie auch bei ihm, war es blanke Scham. Scham, dass man es nicht geschafft hatte. Scham, dass man nun auf die Mildtätigkeit anderer angewiesen war.

Besonders schlimm war es, wenn Gefahr bestand, dass man dabei erkannt wurde. So wie jetzt und hier in der Fußgängerzone von Detmold. Aber er war viele Jahre nicht mehr hier gewesen und sein Aussehen hatte sich verändert. Der lange ungepflegte Bart, die ergrauten Haare, die längst nicht mehr den modischen Schnitt früherer Zeiten aufwiesen und die abgetragene und zusammengewürfelte Kleidung waren zwar eine Art Schutz, trotzdem konnte es sein, dass man ihn erkannte. Auf gar keinen Fall wollte er Leute aus seiner hiesigen Vergangenheit wiedertreffen. Denn dass er sich in dieser misslichen Lage befand, daran war er selbst schuld. Ebenso wie daran, dass er in Detmold festhing.

Eigentlich war er auf dem Weg nach Hannover gewesen und hatte gar nicht vorgehabt, die Kulturstadt am Teutoburger Wald, wie sich Detmold heute großspurig nannte, zu besuchen. Wäre nicht dieser unsägliche Unfall passiert, wäre er wie geplant über Lemgo getippelt, doch dann kam ihm dieser blöde Radfahrer in die Quere. Einer dieser jungen sportbesessenen Schönlinge, die mehr Wert auf die farbliche Übereinstimmung von Trikot und Fahrradrahmen legten, als auf die Straßenverkehrsordnung. Einer von denen, die meinten, überall Vorfahrt zu haben. Dass alle anderen zurückstehen müssten, wenn sie Sport machten. Einer von denen, die für Radwege, wie gut sie auch angelegt sein mochten, nur Verachtung empfanden.

Und weil Berger sich beim Überqueren der Straße mehr auf besagten Radweg statt auf die Fahrbahn konzentriert hatte, übersah er prompt diesen schmalärschigen Affen auf seiner fahrenden Rasierklinge. Das Ergebnis war, dass er sich beim Zusammenprall dermaßen am Finger verletzt hatte, dass man ihn in die Handchirurgie nach Detmold gekarrt hatte. Entgegen all seiner Proteste.

Drei Tage hatte man ihn dortbehalten, bis er nach langem Quengeln endlich auf eigene Verantwortung entlassen worden war. Und so stand er nun vor dem Detmolder Klinikum und musste feststellen, dass es schwer für ihn würde, nach Hannover zu kommen, denn er besaß kaum noch Geld.

Bislang hatte er sich jeden Tag sein Pensum zusammenbetteln können, doch die drei Tage in weißen Laken hatten seine Pläne durchkreuzt. So war ihm nichts anderes übrig geblieben, als in die verhasste Stadt zu laufen und dort sein Glück zu versuchen. Er hatte gehofft, dass die geizigen Lipper wenigstens zu Weihnachten etwas spendabler sein würden. Und sobald zwanzig Euro zusammengekommen wären, würde er sich wieder auf den Weg machen. Über Lemgo und dann immer weiter nach Osten.

Nun saß er schon zwei ganze Tage hier und hatte nicht einmal die Hälfte zusammen. Detmold war und blieb eben eine Stadt, die kein Glück brachte, zumindest kein dauerhaftes.

Und je länger er dort saß, das Kaufhaus im Rücken und die Blechdose vor sich, umso heftiger kehrten die schmerzhaften Erinnerungen an alte Zeiten zurück. Zunächst war alles rund gelaufen. Drei florierende Gaststätten, eine Diskothek und jede Menge angebliche Freunde. Die Art von Freunden, die man nur hatte, wenn genug Geld da war. Die aber sofort hinter dem Rücken redeten, wenn sie nicht mehr freigehalten wurden. Die Leute, die sich schon immer wie Parasiten an jeden Großen hängten und den Wirtskörper solange nutzten, bis er leergesaugt war. Bei dem Begriff Wirtskörper musste er nach langer Zeit endlich mal wieder schmunzeln. Aasgeier, Blutsauger, Speichellecker. Das hatte er erkannt, als er seine Kneipen, eine nach der anderen, hatte schließen müssen. Und als am Ende auch die Diskothek kein Geld mehr abwarf, da waren plötzlich alle weg. Auf Kosten des nächsten Opfers in die Sansibar auf Sylt oder was gerade so angesagt war.

Ihn hatten sie damals jedenfalls schnell fallengelassen. Das hatte er besonders deutlich gespürt, als er versuchte, sich die lächerliche Summe von zehntausend Mark zu leihen. Alle, die auf seine Kosten mit um die Dörfer gezogen waren, ließen sich plötzlich verleugnen oder ignorierten seine Anrufe. Fünf Jahre hatte es gedauert, sich so einen Hofstaat aufzubauen, aber nur drei Wochen, um ihn wieder zu verlieren.

Als Nächste kamen die Banken. Wer Geld braucht, ist dort immer willkommen, und wer Schulden hat, wird hofiert, doch wehe, wenn es dir mal schlecht geht, dann nagen sie wie Ratten in deinen Eingeweiden.

Verstohlen hob er den Blick und schaute die Fußgängerzone hinunter. Nein, bisher hatte ihn niemand erkannt. Aber wenn der Erlös seiner Bettelei nicht noch sprunghaft anstieg, dann musste er überlegen, wo er über die Feiertage einen Unterschlupf fand. Am besten außerhalb von Detmold. In die hiesige Obdachlosenunterkunft würde er auf keinen Fall gehen. Dann schon lieber auf einem Hochsitz schlafen oder in einer Feldscheune. Wie sehr sehnte er sich nach den Tagen zurück, in denen er sich beschwert hatte, wenn er nach erheblichem Alkoholkonsum mal in seinem Sportwagen hatte nächtigen müssen.

Einmal sogar zusammen mit Jürgen Volkerts. Sie hatten eine derartige Sause hingelegt, dass er kaum noch einen Meter hätte laufen, geschweige denn fahren können. Eine Party mit viel Alkohol und etlichen jungen Dingern. Volkerts hatte ihn dorthin mitgeschleppt, denn der hatte schon immer auf so junge Hühner mit knabenhaften Figuren gestanden.

Ihm hingegen waren Frauen mit üppigen Formen und großen Brüsten lieber gewesen. An diesem Abend gab es auch so eine. Ein Lächeln trat auf seine Lippen, als er an die heiße Nummer dachte. Die Party war so hammerhart gewesen, dass er am nächsten Tag einen regelrechten Filmriss hatte. Jaja, die Weiber waren immer schon wild auf ihn gewesen. Der coole Junggeselle mit dem schicken Wagen und der dicken Brieftasche. Aber alle hatten sich in dem Moment von ihm abgewandt, als er ihnen nichts mehr bieten konnte.

Berger seufzte. Er rutschte auf seinen Zeitungen hin und her und war so in Gedanken versunken, dass er fast verpasst hätte, sich zu bedanken, als ein Zwei-Euro-Stück in die Blechdose klimperte. Beiläufig nickte er und sah dann auf. Der Spender war ein älterer Mann, den Berger auf Ende achtzig schätzte. Er hatte seine Geldbörse noch in der Hand und blickte voller Mitleid auf ihn hinunter. »Das ist aber auch nicht leicht, oder? Vor allem so vor Weihnachten.«

Berger hatte keine Lust mit einem Mann, dessen Leben vermutlich immer störungsfrei und reibungslos verlaufen war, über seine momentane Situation zu diskutieren. Schön, dass er so großzügig war. Seine Spende musste ihm reichen, sich etwas besser zu fühlen, aber für zwei Euro gab es nur ein Dankeschön und keine Lebensgeschichte.

»Danke«, murmelte Berger, »sehr freundlich von Ihnen.« Er hoffte, der Mann würde weitergehen, doch der dachte gar nicht daran. Er steckte seine Geldbörse wieder ein und strich seinen Mantel glatt.

»Glauben Sie mir, ich kann mir gut vorstellen, wie Sie sich fühlen«, bedauerte ihn der Alte. »Viele Menschen wissen ja heutzutage nicht mehr, was es bedeutet, zu hungern oder zu frieren.« Einen Moment lang schwiegen beide. Berger, weil er kein Gespräch aufkommen lassen wollte, und der alte Mann, war in Erinnerungen versunken. Wohin sie ihn getrieben hatten, verstand man, als er sich den Mantel enger um den Leib wickelte und zu sprechen begann: »Russland war die Hölle. Ich war damals gerade mal achtzehn Jahre alt, als ich fünfundvierzig in russische Kriegsgefangenschaft musste.« Er lachte verbittert auf. »Einen einzigen Tag habe ich die Uniform des Volkssturms getragen. Dann war nicht nur der Krieg, sondern auch meine Jugend zu Ende.«

Berger vermied es, ihm ins Gesicht zu sehen. Ihm ging es selbst schon beschissen genug, warum sollte er noch Mitleid mit dem Alten haben? Außerdem interessierte er sich nicht für eine Geschichte, die über siebzig Jahre zurücklag. Statt eines Kommentars griff er nach seiner Blechdose und zählte die darin liegenden Münzen. Nicht mal sechs Euro bis jetzt, dachte er verbittert.

»Das Schlimmste damals war der Hunger«, sagte der alte Mann, und es schien, als erzähle er sich selbst seine Geschichte noch einmal. »Unser tägliches Brot gib uns heute, heißt es in der Bibel. Wir mussten damals um unser täglich Brot kämpfen.« Im nächsten Moment kehrte er aus der düsteren Vergangenheit zurück, ein Lächeln trat auf sein Gesicht. Mit warmen freundlichen Augen blickte er auf Berger. »Mir ist natürlich klar, dass es mich nichts angeht, aber ich frage Sie trotzdem, was Sie über die Feiertage machen werden.«

Das geht dich tatsächlich einen Scheiß an, dachte Berger, hörte sich dann aber antworten: »Ich weiß es nicht.« Dann folgte ein langer Seufzer, in dem all die Frustrationen der letzten Tage lagen. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich will nur aus der Stadt weg.«

Wie kam er bloß dazu, sich plötzlich auf so ein Gespräch einzulassen? Raubte ihm die Kälte schon den Verstand?

Der alte Mann nickte sinnend. »Ich fühle mit Ihnen. Ich weiß, wie schwer es ist, kein Zuhause, und noch viel schwerer, keine Familie zu haben.«

Berger stutzte und blickte den Alten von unten herauf an. »Wie kommen Sie darauf, dass ich keine Familie habe?«, fragte er verwundert. Es stimmte zwar, aber …

Der Alte zuckte die Achseln. »Jeder Mensch, der eine hat, würde doch wohl versuchen, Weihnachten bei ihr zu sein, oder?« Er schob seine Hände tief in die Manteltaschen und zog die Schultern hoch. »Es war also nicht schwer zu erraten.«

Berger kam ächzend auf die Beine. Früher, als er noch Golf spielte, da wäre es ihm leichter gefallen, aber nach all den Jahren forderte die Straße eben ihren Tribut. Als er endlich aufrecht stand, schaute er dem Alten in die Augen. »Was wollen Sie von mir? Wollen Sie mich volllabern?« Bergers Stimme war dabei immer lauter geworden.

Der alte Mann trat erschrocken einen Schritt zurück. Mit so einer heftigen emotionalen Reaktion hatte er nicht gerechnet. Verlegen blickte er zu Boden. »Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Ich …«

Berger unterbrach ihn. »Wollten Sie mir gerade einen Vortrag halten, dass ich selber schuld an meiner Situation bin? Oder wollen Sie, dass ich hier vor ihnen einen seelischen Striptease mache und ihnen meine Geschichte erzähle? Die Geschichte eines Versagers.« Wütend trat er gegen seine Plastiktüten, bückte sich und raffte die Zeitungen zusammen. Als er wieder hochkam, war sein Kopf noch roter als vorher.

Der alte Mann blickte ihn unsicher an. »Ich … Sie …« Er hielt inne. Ihm fehlten anscheinend die Worte.

»Hauen Sie einfach ab!«, schnauzte Berger und stopfte die leicht feuchten Zeitungen in eine der Tüten. »Und wenn Sie wollen, können Sie auch Ihre lächerlichen zwei Euro wiederhaben.«

»Nein, nein«, wehrte der Alte ab. »Es war doch nicht so gemeint, ich wollte Ihnen ja nur …«

Betont langsam drehte sich Berger zu ihm um. Dann ließ er seinen Blick abfällig an ihm hinauf und herunter gleiten, nahm seine letzte Tüte auf, wandte sich um und verschwand um die Ecke des Kaufhauses.

Der alte Mann blieb noch eine ganze Zeit lang stehen und schaute ihm nach. Dann ging er ohne Eile in Richtung Rosental davon.

***

Es war genau halb elf, als es am 24. Dezember zu schneien begann. Die Wetterfrösche wie auch die Meteorologen hatten sich geirrt und weiße Weihnachten für ausgeschlossen erklärt. Die Kinder freute es, und die Autofahrer stöhnten. Ältere Menschen waren von dieser Gefahr für ihre Oberschenkelhälse ebenso wenig begeistert wie Harald Berger, der durch die verschneite Innenstadt lief und krampfhaft überlegte, wo er sich heute platzieren sollte, solange die Geschäfte noch geöffnet und Menschen für die allerletzten Einkäufe unterwegs waren. Die Stelle musste sowohl wettergeschützt wie lukrativ sein. Sein Platz am Kaufhaus war schon belegt.

Die letzte kalte Nacht hatte er im Parkhaus verbracht und einen Teil seiner gestrigen Einnahmen opfern müssen, um sich eine innere Heizung leisten zu können. Während er die Lange Straße entlangschlurfte, hatte er immer noch den Geschmack von billigem Schnaps im Mund. Er musste sich schütteln, wenn er daran dachte, dass er früher mit so einem Zeug nicht einmal die Aschenbecher sauber gemacht hätte. Kir Royal, Caipirinha, Manhattan und andere Szene-Getränke, das waren neben Bier und Whisky seine ständigen Begleiter gewesen. Und wenn er ganz ehrlich war, dann hatte ihn dieser Fusel die Nacht auch nicht besser ertragen lassen. Keine Ahnung, was ihm der heutige Tag noch bringen würde.

Am Marktplatz bog er nach links ab, passierte die Buchhandlung am Markt und blieb vor der Sparkasse stehen. Vor dem Geldautomaten hatte sich eine kleine Schlange gebildet. Leute, die keine Hoffnung mehr hatten, jetzt noch ein passendes Geschenk zu finden und sich zu einem Briefumschlag mit ein paar Scheinen entschlossen hatten? Ohne weiter darüber nachzudenken, suchte er sich einen geschützten Platz in der Nähe, platzierte seine Zeitungen und stellte die Blechdose auf.

Zwei Stunden später hätte er bestätigen können, dass jeder seinen Nächsten liebte, aber auch, dass sich jeder selbst der Nächste war. Schlappe siebzig Cent lagen in seiner Dose, und das Traurige war, dass fünfzig von einem kleinen Jungen stammten. Wie tief konnte er eigentlich noch sinken?

Mitten in seine Überlegung hinein bemerkte er, dass jemand vor ihm stehen geblieben war. Als er aufsah, stutzte er. Der alte Mann war wieder da. Berger war sich nicht sicher, ob er ihn anschnauzen oder einfach ignorieren sollte. Doch bevor er sich zu einer Reaktion durchringen konnte, nahm ihm der alte Mann die Entscheidung bereits ab.

»Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen. Ich glaube, ich habe Sie gestern belästigt und vielleicht auch beleidigt. Bitte sehen Sie es mir nach, das war nicht meine Absicht.«

Berger blickte ihn mit spöttischem Gesichtsausdruck an. »Schön, wenn Sie es ehrlich meinen, aber auch davon kann ich mir nichts kaufen.«

Der Alte beugte sich leicht vor und warf einen Blick in die Blechdose. Enttäuscht schüttelte er den Kopf. »Ich weiß ja nicht, wer jetzt noch alles vorbeikommt, aber ich habe nicht viel Hoffnung, dass es für eine warme Mahlzeit und eine passable Unterkunft reichen wird. Die Geschäfte schließen ja bald.«

Berger griff nach der Blechdose und nahm das Fünfzig-Cent-Stück heraus. Man durfte nie zu viel drin lassen, sonst gaben die Leute nichts. Aber die Dose durfte auch nicht leer sein, ein paar kleine Münzen mussten ihr Mitleid wecken. »Sie glauben gar nicht, wie froh ich bin, wenn ich hier weg bin. Detmold ist nicht meine Stadt.«

Der alte Mann putzte sich mit einem Taschentuch die Nase. »Dann geht es Ihnen ähnlich wie mir«, sagte er leise. Eine Zeit lang stand er Berger gegenüber. Keiner sprach ein Wort.

»Es ist ja ganz nett, mit Ihnen zu plaudern«, log Berger, »aber Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie weitergingen, denn solange Sie hier stehen, gibt keiner was.«

Als hätte man ihn zur Seite gestoßen, räumte der alte Mann pflichtschuldigst seinen Platz und stellte sich neben Berger. Es schien, als wolle er etwas sagen, könne sich jedoch nicht dazu durchringen. Berger bemerkte es aus den Augenwinkeln, ignorierte es aber.

Die nächste Münze, die in die Dose fiel, war ein Zehncentstück. »Es gibt auch noch kleinere«, presste Berger leise zwischen den Zähnen hindurch, sagte aber pflichtschuldig Danke. Der scheppernde Klang der Münze schien den alten Mann aus einer Art Starre zu erlösen. Er räusperte sich, dann ging er leicht stöhnend neben Berger in die Knie.

»Bitte betrachten Sie das, was ich Ihnen jetzt vorschlage, nicht als unverschämt. Es kommt wirklich von ganzem Herzen.«

Berger stutzte und blickte den Alten an. Was jetzt wohl kam?

»Wissen Sie, ich lebe allein, meine Frau ist vor ein paar Jahren gestorben. Also nicht ganz allein«, verbesserte er sich schnell, »ich habe noch eine Tochter, aber die ist behindert und lebt in einem Pflegeheim. Nur ab und zu hole ich sie nach Hause, doch das ist eher selten.«

Berger hörte aufmerksam zu und tat so, als ob es ihn nicht interessierte.

»Also, ich habe mir gedacht, weil doch Weihnachten ist, das Fest der Liebe, und es Ihnen nicht gut geht …« Die Stimme des alten Mannes war immer leiser geworden, jetzt räusperte er sich. Anscheinend musste er allen Mut zusammennehmen, um weiterzusprechen.

»Ich mache es kurz, ich würde Sie gerne einladen, die Feiertage bei mir zu verbringen. Ich wohne etwas außerhalb von Detmold. Es ist ein alter Bauernhof, und ich habe genug Platz. Wenn Sie wollen, können Sie dort ganz ungestört sein, aber wenigstens hätten Sie dann ein Dach über dem Kopf.«

Berger kratzte sich am Hals. So ein Angebot hatte er noch nie bekommen. Er starrte auf das nasse Pflaster – der weiße Schnee war unter den Füßen der Menschen zu dunklem Matsch geworden. Dann auf die leere Blechdose. Letztendlich war es der Gedanke an die nächste kalte Nacht und der Ekel vor billigem Schnaps, der ihn dazu brachte, die Einladung anzunehmen.

»Aber ich will Ihnen keinesfalls zur Last fallen und Ihrer Tochter auch nicht«, schränkte er seine Zustimmung ein.

Der alte Mann beeilte sich zu antworten: »Meine Tochter wird nicht da sein. Über Weihnachten ist sie im Heim besser aufgehoben. Sie bereiten den Bewohnern dort immer ein schönes Fest. Und sie zu holen ist für mich jedes Mal eine große Mühe, denn sie sitzt im Rollstuhl.«

Berger blickte angestrengt geradeaus, um dem Alten nicht in die Augen sehen zu müssen. Scheiße, dachte er, dem geht es tatsächlich noch mieser als mir.

»Ich würde uns was kochen, und vielleicht wäre es gut, wenn keiner von uns am Heiligen Abend alleine ist. Wer weiß, auf was für Gedanken man da noch kommt.« Der alte Mann legte den Kopf leicht schräg und blickte Berger erwartungsvoll an.

Ganze fünf Sekunden sprach niemand ein Wort. Es war Berger, der das Schweigen brach. »Meinetwegen, aber ich kann Ihnen nichts dafür bezahlen oder ein Geschenk mitbringen, Sie wissen ja, wie es um meine finanzielle Situation bestellt ist«, sagte er und deutete auf die Blechdose.

»Das habe ich auch gar nicht erwartet«, beeilte sich der Alte zu sagen. »Ich möchte Ihnen einfach nur eine Freude machen, doch wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich natürlich einen Hintergedanken.«

Berger blickte ihn skeptisch an.

»Ich habe Angst vor der Einsamkeit. Es wäre schön, jemanden bei mir zu haben.«

»Aber Sie kennen mich doch gar nicht.«

»Ach, ich denke, wir werden genug Zeit haben, um uns kennenzulernen.«

Berger nickte. In seinem Innersten konnte er den Alten verstehen, auch er hatte den Gedanken an den Heiligen Abend bisher erfolgreich verdrängt. Er war weder religiös noch sentimental, aber bereits früher hatte ihn dieser besondere Tag immer wieder runtergezogen. Und so hatte er stets dafür gesorgt, dass mindestens eines seiner Etablissements ab einundzwanzig Uhr öffnete. Weniger um durstigen Kunden die Möglichkeit zu geben, am Heiligen Abend ihre Kehlen zu ölen, sondern vielmehr um selbst aus dem Käfig der Einsamkeit ausbrechen zu können. Ein Käfig in Form einer hundertfünfzig Quadratmeter großen Penthouse Wohnung. Darin war er am Heiligen Abend stets schon ab Mittag unruhig auf und ab gewandert und hatte sehnsüchtig darauf gewartet, dass es endlich neun wurde. Natürlich hätte er sich eines dieser jungen Dinger in die Wohnung holen können, um sich mit ihm die Zeit zu vertreiben, aber an diesem Abend hatte er komischerweise dazu nie Lust verspürt. Berger hasste Weihnachten.

»Ich habe Ihnen mal meine Adresse aufgeschrieben«, unterbrach der alte Mann Bergers Ausflug in die Vergangenheit. »Ich muss schnell noch etwas einkaufen und würde mich freuen, wenn Sie heute Abend so gegen sechs Uhr kommen würden. Ich denke, bis dahin habe ich das Essen fertig. Sie mögen doch Schweinebraten, oder?«

Berger blickte zunächst auf den Zettel mit der krakeligen Handschrift, dann dem Alten ins Gesicht und wieder auf den Zettel. Langsam begann er zu nicken. Vielleicht war es wirklich die beste Möglichkeit, diese beschissenen Feiertage rumzubekommen. Notfalls konnte er nach dem Essen immer noch Übelkeit vortäuschen und sich verkriechen. Bei dem Gedanken tauchte plötzlich ein frischbezogenes weißes Bett vor seinem inneren Auge auf.

»Ich werde pünktlich sein«, versprach Berger und ergriff nur zögerlich die ausgestreckte Hand des Alten. Der schüttelte sie in freudiger Erregung und lächelte zufrieden.

»Ich freue mich schon auf Sie und ich werde versuchen, alles zu tun, dass es ein ganz besonderer Heiliger Abend für Sie wird. Bis später.« Damit wandte er sich um und lief die Bruchstraße hinunter. Berger sah ihm noch eine Zeit lang nach, doch der Alte drehte sich nicht mehr um. Ergeben hockte er sich wieder auf seine Zeitungen, sank in sich zusammen und saß seine Zeit ab.

***

Der schwere nasse Schnee lag wie ein Leichentuch über der Stadt. Er dämpfte alle Geräusche und anscheinend auch die Stimmung der Leute, denn um 14.00 Uhr lagen knapp fünf Euro in der Blechdose. Die Feuchtigkeit war langsam wie eine Schlange in Berger hineingekrochen. Er hatte den Eindruck, als würde sich sein Torso langsam mit kaltem Wasser füllen. Es wurde höchste Zeit aufzustehen und sich zu bewegen.

Viel Aussicht auf Erfolg gab es hier sowieso nicht mehr. Wer sollte noch vorbeikommen? Hatte überhaupt noch ein Laden geöffnet? Alle schienen nach Hause zu streben, um Weihnachten in familiärer Einsamkeit zu feiern. Mit hochgeschlagenem Kragen schloss ein Händler eilig sein Geschäft ab und eilte davon.

Harald Berger packte seine Habseligkeiten zusammen und dachte nach. Um sechs Uhr sollte er bei dem Alten sein. Jetzt war es zwei, also noch vier Stunden Zeit. Bis zu der Adresse würde er etwa eineinhalb Stunden laufen müssen. Aber das war er ja gewohnt. Er kannte zwar nicht die genaue Lage des Hauses, doch er wusste ungefähr, wo es lag. Seltsam, dass man sich in seiner ehemaligen Heimatstadt immer noch zurechtfand, auch wenn man jahrelang nicht mehr da gewesen war. Für so etwas schien es im Gehirn extra Schubladen zu geben.

Er kramte durch seine Plastiktüten und begann, Sachen auszusortieren. Die alten Zeitungen landeten in einem Mülleimer, ebenso wie einige wenige Teile an Bekleidung, die er schon länger mit sich rumschleppte. Es wurde Zeit, sich auch davon zu trennen, denn er hoffte, dass das Mitleid des Alten so weit gehen würde, dass er bei ihm noch das ein oder andere Kleidungsstück abstauben konnte. Mit deutlich verringertem Gepäck machte er sich auf den Weg.

Sein Fußmarsch kam ihm wie eine Zeitreise vor. Er durchquerte den Schlosspark und dachte daran, dass er hier des Öfteren mal Aussteller gewesen war. Bei den Veranstaltungen Lippe kulinarisch hatte er sich immer mit einem seiner Etablissements beteiligt. Und zu ihm waren die Reichen und Schönen gekommen. Zumindest die, die sich dafür hielten. Früher hatte er sich von ihrem schönen Schein blenden lassen.

Aufgemalte Schönheit aus dem Beautystudio, angeklebte Fingernägel und falsche Wimpern, von teuren Chirurgen modellierte Brüste und blonde lange Haare, die in Wahrheit schon längst grau waren. Angeblich maßgeschneiderte Anzüge, jedoch alle von der Stange, schlecht sitzende Toupets und billige Jacket-Kronen. Alles in allem mehr Schein als Sein. Und hätten die Banken all die Autos seiner Kunden auf einen Schlag zurückgefordert, die noch nicht bezahlt waren, hätte es in der Stadt keine Parkplatzprobleme mehr gegeben.

Jaja, früher hatte er sich von so was blenden lassen, doch die Zeit war ein brutaler Lehrmeister gewesen und hatte ihm die Augen für die Realität geöffnet. Heute empfand er für solche Leute nur noch Verachtung. Vermutlich in gleichem Maße wie sie für ihn.