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Daniel Hunziker
Hokuspokus Kompetenz?
Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen ist keine Zauberei
ISBN Print: 978-3-0355-0788-1
ISBN E-Book: 978-3-0355-0862-8

 

Gestaltung: Renate Salzmann und Philippe Gertsch, Bern

 

3. Auflage 2017
Alle Rechte vorbehalten
© 2017 hep verlag ag, Bern

 

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil 1
Schule und Gesellschaft

Was die Gesellschaft von der Schule fordert

Was Kinder von der Schule brauchen

Was Lehrpersonen bewirken können

Teil 2
Kompetenzorientierung

Was Kompetenz eigentlich ist

4.1 Kompetenzmodelle

Wissenserwerb

5.1 Individualisiertes Lernen

5.2 Lehrmittel und Methoden für den Wissens- und Fähigkeitserwerb

Qualifikation von Wissen und Können

Kompetenzentwicklung

7.1 Schlüsselkompetenzen

7.2 Kompetenzorientierte Aufgabenstellungen

7.3 Fehlerkultur

7.4 Kompetenzen beurteilen

Teil 3
Kompetenzatlas

Kompetenzatlas

Schlüsselkompetenzen für Kinder bis 12 Jahre

8.1 Personale Kompetenzen

8.2 Aktivitäts- und Handlungskompetenzen

8.3 Soziale und kommunikative Kompetenzen

8.4 Fach- und Methodenkompetenzen

Schlüsselkompetenzen für Jugendliche

9.1 Personale Kompetenzen

9.2 Aktivitäts- und Handlungskompetenzen

9.3 Soziale und kommunikative Kompetenzen

9.4 Fach- und Methodenkompetenzen

10 Kompetenzen für Lehrpersonen

10.1 Tools für die Schulentwicklung

Literatur

Links

Einleitung

Was brauchen Kinder und Jugendliche von ihrer Schule? Ein Klima, in dem sie lernen und wachsen können, vertrauensvolle Beziehungen mit Menschen, die an sie glauben, unterstützende Gemeinschaften sowie Herausforderungen, die ihrer Reife und ihren Interessen entsprechen und durch die sie lernen, eigenständig zu denken, sich mit anderen auszutauschen und zu handeln. Und sie sollen die Gelegenheit bekommen, jene Kompetenzen zu erwerben, die sie in ihrem Erwachsenen- und Berufsleben lebens- und arbeitsfähig machen.

Arbeitskräfte von morgen müssen nicht standardisiertes Wissen abrufen können. Es reicht auch nicht mehr aus, Produktionsroutinen blindlings zu beherrschen, wie dies in einer überwiegend landwirtschaftlichen und industriellen Gesellschaft noch verlangt wurde. Jugendliche müssen sich heute keine Stelle fürs Leben mehr suchen, sondern sich durch Individualität und kreatives Gestaltungsvermögen eine Startposition in einer Berufswelt sichern, die ganz anders funktioniert als noch eine Generation davor. Das zunehmende öffentliche Interesse an der Leistungsfähigkeit der Schule veranlasst politische wie wirtschaftliche Entscheidungsträger zu Reformen. Die in den letzten Jahren geschaffenen Steuerungsinstrumente, wie das Gestalten neuer, kompetenzorientierter Lehrpläne, lenken die Schule weg vom ehemaligen Auftrag einer kanonischen Wissensvermittlung hin zur deutlich vielschichtigeren Aufgabe, die Schülerinnen und Schüler auf die selbstständige Lösung komplexer, sich schnell ändernder Situationen vorzubereiten, wie sie ihnen später im Leben begegnen. Sie sollen lernen, kompetent zu handeln.

Bildung ist ein Menschenrecht. In Deutschland wird es mittels Schulpflicht durchgesetzt, in anderen europäischen Ländern wie der Schweiz und Österreich, zumindest teilweise, durch Unterrichtspflicht. Der Anteil von Kindern, die zu Hause oder in alternativen Schooling-Systemen unterrichtet werden, ist verschwindend klein. Es ist also in erster Linie die (öffentliche) Schule, die Kinder und Jugendliche beim Kompetenzerwerb unterstützen muss. Entsprechend sind Politik, Bildungsverantwortliche, Institutionen und Lehrbeauftragte gefordert. Es braucht passende Unterrichtsmethoden, Bildungszielsetzungen und Lehrpersonal, das über eine dialogische Beziehungshaltung und über das Know-how kompetenzorientierten Lehrens verfügt.

Kompetenzorientierung erfüllt nicht nur wirtschaftliche und gesellschaftliche Voraussetzungen, sie dient – und das ist hier zentral – Kindern und Jugendlichen in ihrem natürlichen Lernprozess. Kompetenz mag als Begriff durch undurchsichtige politische Steuerungsprozesse und populistischen Journalismus zu einer leeren Formel geworden sein. Wer sich aber frei von bildungspolitischen Zwängen darauf konzentriert, was Kinder und Jugendliche nun wirklich von ihrer Schule brauchen, was sie also in ihrer Entwicklung unterstützt und sozial wie intellektuell weiterbringt, stößt auf genau dies: auf kompetenzorientiertes Lehren und Lernen. Der Mensch lernt von Geburt an durch eigenen Antrieb, durch Nachahmen und vor allem durch Handeln. Was er braucht und ihm die Gesellschaft – und damit auch die Schule – schuldet, sind die nötigen Anreize und Handlungsmöglichkeiten. Ein Kind soll nicht unbedingt bekommen, was es will. Aber es muss von der Schule zwingend bekommen, was es braucht.

Schule dient also immer der Gesellschaft ihrer Zeit und dem Kind selbst. Sie muss ein Lernumfeld bieten, das seiner Entwicklung sowie dem Menschenrecht nach Bildung gerecht wird. Dieses Buch spannt einen Bogen von Forderungen der Gesellschaft respektive der Arbeitswelt an die Schule zu einer Übersicht kindlicher Entwicklungsbedürfnisse und zu Erkenntnissen der modernen Hirnforschung über effektives Lernen. Von oben verordnetes, kompetenzorientiertes Lehren und Lernen kann bestens funktionieren – nämlich von unten, aus dem Lernbedürfnis der Kinder und einem darauf abgestimmten Lehrverständnis heraus. Voraussetzung ist, dass sich Lehrpersonen nicht nur als Wissensvermittler, sondern auch als Lernbegleiter oder -coach verstehen.

Dieses Buch soll Schulen Mut machen, hinzuschauen, umzudenken und Veränderungsprozesse beherzt anzupacken. Es geht nicht nur um die Handlungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen, sondern auch um diejenige der Lehrpersonen und Schulleitungen. Das Buch enthält einen Kompetenzatlas, mit dem sich kompetenzorientierter Unterricht konkret gestalten lässt. Das Buch dient Lehrpersonen als Orientierungshilfe auf dem Weg zu einer zeitgemäßen Schule, die ihren Auftrag der modernen Dienstleistungsgesellschaft erfüllt und zugleich den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen gerecht wird.

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Spätestens seit den 1980er-Jahren befinden wir uns in einer durch Computertechnologie bestimmten Zeit, die wir als Informationszeitalter bezeichnen können. Immer raffiniertere Maschinen und Roboter ersetzten die menschliche Arbeitskraft am – vor hundert Jahren als revolutionär gefeierten – Fließband. Neue Kommunikations- und Transporttechnologien beschleunigen jeden Arbeitsprozess und führten im Verlauf des letzten Jahrhunderts definitiv zu einer Globalisierung der Wirtschaft. Vor rund fünfzig Jahren war hierzulande noch die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung in der Produktion tätig, heute beträgt der Anteil weniger als dreißig Prozent. Gemäß der Einteilung der Beschäftigung einer Volkswirtschaft in drei Sektoren ist der dritte Sektor, der Dienstleistungssektor, deutlich am größten. Wir sprechen deshalb von einer Dienstleistungsgesellschaft. Weil der Begriff allerdings kaum mehr zu charakterisieren vermag, welche Tätigkeiten überhaupt in diesen dritten Wirtschaftsbereich fallen, kursieren auch Schlagworte wie «Freizeitgesellschaft» und «Informationsgesellschaft» oder «Wissensgesellschaft». Es gibt Stimmen, die einen vierten, einen sogenannten Wissenssektor propagieren. Dabei wird Wissen als Allgemeingut verstanden, das sich grundsätzlich jeder und jede jederzeit aneignen kann. Durch die Technologie und Vernetzung – insbesondere durch das Internet – ist Wissen nicht mehr ausschließlich Gelehrten und Studierten zugänglich, wie dies vor 150 Jahren noch der Fall war. Wissenschaftliche Erkenntnisse vervielfachen und verbreiten sich innerhalb weniger Jahre, wodurch sich die Halbwertszeit geltender Überzeugungen und wissenschaftlicher Fakten rapide verkürzt und aus Gelerntem in kürzester Zeit gedankliche Altlast wird. Tritt die Prophezeiung einer baldigen nächsten, vierten Industriellen Revolution ein, stehen uns neue Technologien bevor, die mit erneuerbaren Energien noch weitgehend unbekannte Produkte und Berufe generieren und neue Formen des Zusammenlebens hervorbringen werden.

Unter diesen Vorzeichen ist es schwierig vorauszusehen, was für unsere Kinder als spätere Träger einer Gesellschaft wesentlich und richtig sein wird. Sicher ist allerdings, dass das Erlernen von statischem Wissen nicht weiter Zielsetzung einer zeitgemäßen und modernen Schule sein kann. Sie muss sich zwingend anpassen, um Kinder und Jugendliche auf Erfordernisse einer wie auch immer gearteten Zukunft vorzubereiten.

Im Zuge der Globalisierung, der digitalen Vernetzung, der immer größeren Wahrscheinlichkeit, mit fremden Kulturen in Kontakt zu kommen, mit unterschiedlich denkenden Menschen zusammen zu leben und zu arbeiten, muss das wichtigste Ziel für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts und die bedeutendste Aufgabe der heutigen Schulen sein, dass Kinder und Jugendliche die angeborene Offenheit und Neugierde für Neues und Unbekanntes erhalten können. Das hilft ihnen, Menschen aus anderen Kulturkreisen zu begegnen und mit ihnen das soziale Leben und das Arbeitsleben zu teilen. Diese jungen Menschen werden sich zuversichtlich und mutig auf immer wieder neue Situationen einlassen können.

Der Trend in Betrieben und Organisationen läuft in die Richtung, dass Teamarbeit das Einzelkämpfertum ablöst. Es wird nicht mehr in einzelnen Büros alleine für sich selbst, sondern in Großraumbüros gemeinsam gearbeitet. Arbeitsteams erhalten Ziel- und Zeitvorgaben und sind dann autonom dafür verantwortlich, diese zu erreichen. Schulen übernehmen diesen Trend, indem sie sogenannte Lernateliers oder Lernbüros einrichten.

Die Tendenz zur Teamarbeit steht im Zusammenhang mit Individualisierungstendenzen. Zusammenarbeit bringt ein Unternehmen nur deshalb weiter, weil autonom denkende Köpfe zusammen einen kreativen Thinktank bilden können. Die Gesellschaft fragt nach Individualisten und bringt sie gleichzeitig hervor. Werbung und Konsummöglichkeiten werden zunehmend personalisiert, also auf den Verbraucher abgestimmt, Lebens- und Wohnformen werden immer individueller gestaltet und durch Wohlstand auch möglich. Individualismus geht mit Eigenständigkeit einher. Diese erfordert ein hohes Maß an Entscheidungsfähigkeit. Der respektive die Einzelne muss die eigenen Bedürfnisse kennen und wissen, was aus unzähligen Wahlmöglichkeiten wozu dienlich ist und ihm oder ihr gut tut. Das bedeutet für Kinder und Jugendliche, dass sie sich selbst kennenlernen müssen und eigene Entscheidungen treffen dürfen. Nur solche Erfahrungen machen sie zu eigenständigen Personen, die entscheidungsfähig und verantwortungsbewusst sind.

Die neue Gewichtung des Individuums bedingt ein neues Verständnis von Zusammenleben. Wenn wir nicht wollen, dass Individualität zu Egozentrik verkommt, müssen wir an Schulen Ideen entwickeln, wie wir sowohl Autonomie und Eigensinn der jungen Menschen fördern können, als auch sie befähigen, in Gemeinschaften kooperativ und konstruktiv zu wirken. Wir brauchen weder fremdgesteuerte Befehlsempfänger noch Egomanen, sondern Menschen, die Zugang zu ihren Bedürfnissen und zu ihrer Kreativität haben, auch eigenständig denken und handeln können und diese Fähigkeiten gemeinschaftsdienlich einsetzen.

Die Schulen müssen Erfahrungsräume bieten, in denen Schülerinnen und Schüler mit komplexen Herausforderungen konfrontiert sind. Es wird künftig weniger wichtig sein, vorgefertigte Aufgabenstellungen in einem Richtig-falsch-Schema lösen zu können, als sich offenen und lebensnahen Aufgabenstellungen kreativ zu stellen und zu lernen, diese Aufgaben mit Zuversicht und Tatendrang in Kooperation mit anderen anzugehen.

Durch die weltweite digitale Vernetzung wird jede Art von Wissen jederzeit abrufbar. So ist die Zeit reif, die Lehrperson als die Instanz der Wissensvermittlung zu entmonopolisieren. Sie übernimmt stattdessen die Aufgabe, den Kindern und Jugendlichen zu zeigen, auf welchen Wegen sie zu Wissen kommen, und sie hilft ihnen, es für sich nutzbar zu machen. Es ist ihre Aufgabe, durch eine hohe Beziehungskompetenz die Brücke zwischen Wissensinhalten und den Lernenden zu schlagen, sodass das Wissen für diese bedeutsam und nutzbar wird.

Es muss gelehrt werden, über welche Kanäle welches Wissen abrufbar ist, was Mittel und Medien taugen, was zentral und was überflüssig ist, welche Quellen welches Wissen in welcher Qualität bereitstellen und wie Kinder und Jugendliche sich vor der ungefilterten Informationsschwemme schützen können. Je nach Ziel, Perspektive und Zweck sind unterschiedliche Entscheidungen über die Art der Wissensbeschaffung zu treffen. Die Reflexion darüber muss eine Aufgabe der Schule von heute sein, sodass Kinder und Jugendliche zu Menschen mit eigenständigen Meinungen und Werten heranreifen können.

Wenn noch bis vor wenigen Jahrzehnten in großen Teilen der Gesellschaft eine Akzeptanz darüber herrschte, dass sich Untergebene bereitwillig den Anforderungen und Erwartungen ihrer Vorgesetzten unterwerfen, so werden Autoritäten immer mehr infrage gestellt, und die Bereitschaft zu blindem Ausführen schwindet. Hierarchisch verordnete Befehle von oben werden heute in den Schulen weder von Lehrpersonen einfach so hingenommen noch von den Schülerinnen und Schülern ohne Widerwillen akzeptiert. Wenn Kinder und Jugendliche strenge Forderungen nicht fraglos und gehorsam erfüllen, riskieren sie nach wie vor häufig eine Strafe oder andere Disziplinierungen. Das Resultat – Resignation, Widerstand und Unproduktivität – ist der Preis, den sich die Gesellschaft eigentlich nicht mehr leisten kann. Anstelle der einseitigen Kommunikation durch Befehle von oben muss an Schulen dringend eine dialogische Beziehungskultur treten. Auf allen Stufen der Schulhierarchie soll Mitsprache für eigene Arbeits- oder Lernprozesse Sinnhaftigkeit und persönliches Engagement bewirken. Eine Gesellschaft, die lustlose, auf Minimalismus ausgerichtete Arbeitskräfte und Abarbeiter mit Fremdaufträgen beschäftigt, wird nicht das für aktuelle und künftige Herausforderungen notwendige Engagement und die erforderliche Freude am eigenen und gemeinsamen Tun vorfinden.

Die kriselnde Finanzwirtschaft, die steigende Zahl aus psychischen Gründen arbeitsunfähiger Menschen, der immer breitere Graben zwischen Arm und Reich, das immer teurere Gesundheitswesen, die bedrohte Umwelt, schwindende Energieressourcen bei steigendem Energieverbrauch, die zunehmend unverhältnismäßige Anzahl älterer Menschen gegenüber jener der erwerbstätigen Menschen – dies sind die Herausforderungen, denen sich die heranwachsende Generation stellen muss. Es braucht immer mehr Menschen, die kreativ und konstruktiv querdenken können und die Kraft haben, neue Ideen umzusetzen. Also werden an Schulen Erfahrungsräume notwendig, die Querdenkertum zulassen und dazu animieren. Die Umsetzung eigener Ideen muss möglich werden und eine Fehlerkultur herrschen, in der das Ausprobieren von Neuem erwünscht und ein Scheitern erlaubt ist. Mehrere Hirne können mehr und kreativer denken als eines allein. Eine kooperative statt konkurrierende Arbeitsweise an Schulen verhilft Kindern und Jugendlichen zu wichtigen Erfahrungen, die sie zur konstruktiven Zusammenarbeit in ihrem Erwachsenen- und Berufsleben befähigt. Werden Schülerinnen und Schüler dazu erzogen, sich an äußeren Erfordernissen zu orientieren, verlieren sie den Zugang zu eigenen Impulsen und Ideen. Die moderne Schule braucht eine Ausgewogenheit zwischen Innen- und Außenorientierung, sodass Kinder und Jugendliche autonome Gedanken ausdrücken, Ideen umsetzen und sich dadurch zu engagierten und handlungsfähigen Persönlichkeiten entwickeln können.