Thomas Mann
Russische Anthologie
Essay/s
Fischer e-books
In der Textfassung der
Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe
(GKFA)
Mit Daten zu Leben und Werk
Textgrundlage: Thomas Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band 15.1: Essays II (1914-1926), herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke unter Mitarbeit von Joëlle Stoupy, Jörn Bender und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main 2002. Erstdruck dieses Textes in: Süddeutsche Monatshefte, 18. Jg., Februar 1921, S. 289-296; Druckvorlage: Thomas Mann, Rede und Antwort. Gesammelte Abhandlungen und kleine Aufsätze. Berlin 1922, S. 227-243.
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ISBN 978-3-10-400465-5
Der Besuch ist fort, und wieder allein im Zimmer sitzt man und sinnt. Wie nach und nach das Leben Beziehungen herstellt, reale Beziehungen zwischen uns und Sphären der Wirklichkeit, denen man ehemals, in schwanker Frühzeit, nur ein geistiges und mythisches Dasein zuzuschreiben geneigt war. Leben ist Verwirklichung, Realisierung in jedem Sinn, und eben hierdurch phantastisch; denn dem Träumer dünkt Wirklichkeit träumerischer als jeder Traum, und schmeichelt ihm tiefer. Aber auch wie Verrat mutet es uns nicht selten an, zu leben, d.h. wirklich zu werden, – wie Verrat und Untreue an unserer wirklichkeitsreinen Jugend. Ja, man war jung, – schwank, rein und frei, voll Spott und Scheu und ohne Glauben, daß Wirklichkeit einem je in irgendeinem Verstande »zukommen« könne. Gleichwohl trug dann das Leben seine Wirklichkeiten heran, eine nach der anderen, kopfschüttelnd entsinnt man sich dessen. Taten geschahen an unserer Seite, Taten von Nächsten, lebensstreng, ungespäßig, fürchterlich endgültig, und wir empörten uns gegen sie, da wir sie als Verrat an gemeinsamer Unwirklichkeit von einst empfanden. Und doch hätten wir uns nicht beklagen dürfen, denn auch wir waren schon weitgehend wirklich geworden, durch Werk und Würde, Haus, Ehe und Kind oder wie die Dinge des Lebens, die strengen und menschlich gemütlichen, nun heißen mögen; und wenn wir im stillen der Freiheit und Fremdheit auch einige Treue hielten, uns etwas vom Spott und von der Scheu der Jugend im Tiefsten bewahrten, wir lernten doch, ebenfalls solche ungespäßigen Taten zu tun. Phantastisch unvermutete Wirklichkeit, wir verkennen nicht deinen todernsten Charakter! Denn wie du dich nun gebärden magst, ob leidenschaftsbleich oder {334}menschlich-gemütlich, – allen deinen Gestalten, wie sie zu unserer ungläubigen Erheiterung oder Erschütterung sich einstellen, eignet etwas Schreckliches und heilig Bedrohliches, aus ihrer aller Augen spricht die Verwandtschaft mit der letzten in ihrer Reihe, die uns schließlich ebenfalls »zukommen« wird, die unverkennbare Familienähnlichkeit mit dem Tode. Ja, auch zu den Wirklichkeitswürden des Todes werden wir endlich eingehen, wer hätte es gedacht, und alle Wirklichkeit, ob bleich oder heiter, trägt seine Züge.
- Nun, nun, welche Töne. Gleich auf den Tod muß eingangs zu sprechen gekommen sein? Was gibt es denn?