Lavinia Braniște

Null Komma Irgendwas

Aus dem Rumänischen von Manuela Klenke
Roman

ein mikrotext

Lektorat: Nikola Richter, Katharina Gerhardt

Erstellt mit Booktype

Cover: Inga Israel

Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert. Die Publikation wurde ebenfalls vom Rumänischen Kulturinstitut finanziell unterstützt.


www.mikrotext.de – info@mikrotext.de

ISBN 978-3-944543-61-1

Alle Rechte vorbehalten.

© mikrotext 2018, Berlin / Interior Zero Editura Polirom 2016 

Inhalt

Cristina ist eine junge Frau von heute. Sie ist von einer engen Kleinstadt in die Hauptstadt gezogen. Nun kämpft sie als Assistentin einer Bau-Firma, die gerade mit EU-Geldern ein Home- und Gartencenter am Rande Bukarests errichtet, mit Rechnungsnummern, Kollegenwitzen und dominanter Chefin. Gleichzeitig hängt sie in einer Fernbeziehung fest, der erste Versuch mit Online-Sex scheitert, eine eigene Wohnung ist in weiter Ferne. Ihre Mutter arbeitet in Spanien im Tourismusgewerbe – und wenn sie dann einmal einfliegt, bringt sie zwar Geld und Gefühle mit, doch nur für kurze Zeit.

Lavinia Braniște erzählt wunderbar frisch, lakonisch und selbstironisch vom Wunsch nach Anerkennung und dem Gift der Erwartungen. Doch auch wenn Cristina an den Zwängen des Alltags zwischen Hypermarkt und Clubnacht zu verzweifeln scheint, rappelt sie sich immer wieder auf.

„Ein einzigartiges, authentisches und mutiges Buch, und ein notwendiges.“ Observator cultural

„Ein Überlebenshandbuch, ein Leitfaden zum Atmen.“ Bookaholic.ro

Das Buch wurde 2016 als bester Roman in Rumänien ausgezeichnet.

Glossar

ANAF: rumänische Steuerbehörde

Antonescu, Ion: rumänischer General, der von September 1940 bis August 1944 sowohl Ministerpräsident als auch Marschall Rumäniens war. Er kollaborierte mit Nazi-Deutschland und führte Rassengesetze ein. Unter seiner Militärdiktatur starben Hunderttausende Juden und etwa 20.000 Sinti und Roma. 1946 wurde er als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt.

Apa Nova: Wasserwerke in Bukarest

Berceni: Stadtviertel in Bukarest

Billa: österreichische Supermarkt-Kette

Bulevardul: Boulevard

Calea: Weg

CFR: rumänische Bahngesellschaft

CNP: persönliche Kennzahl auf dem rumänischen Personalausweis

Colivă: Weizenkuchen zur Erinnerung an die Toten in einem orthodoxen Ritual zur Beerdigung

Dragomir, Mitică: Dumitru „Mitică“ Dragomir ist ein rumänischer Politiker und Präsident verschiedener Fußballclubs, der wegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche zu einer siebenjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde.

Dristor: Stadtviertel in Bukarest

Femei pe Mătăsari: urbanes Festival in Bukarest mit traditionellen, handgemachten Produkten auf einer Straße, die als Straßenstrich bekannt ist

Hora: rumänischer Volkstanz

Îmi daaaaaaaai?: Bettelspruch, in etwa „Gibst du mir etwas?“

Jilava: Strafvollzugsanstalt Jilava im Fort 13, eines der 18 Forts der Befestigungsanlage Bukarests, Mitte des 19. Jahrhunderts zur Abwehr der Angriffe des osmanischen Reiches errichtet, ab 1907 zu einem Gefängnis umgebaut, gefürchtete Haftanstalt im rumänischen Gulag, heute teilweise eine Gedenkstätte

Kürtös: ungarischer Baumkuchen

Leu, pl. Lei: rumänische Währung, ein Euro entspricht etwa 4,50 Lei

Mamaie: Bezeichnung für „Oma“ im Süden und Osten Rumäniens

Mănăștur: Stadtviertel in Cluj-Napoca

Manele: Manele ist ein Musikstil, der seit den 1990er Jahren den rumänischen Pop dominiert. Der Großteil der Manele- Komponisten und -Musiker sind Roma. Manele ist die Pluralform von Manea, einer traditionellen rumänischen Liedform, die aus der Lautenspielermusik des Balkans entstanden ist und auf türkische Wurzeln zurückgeht.

Mega Image: Supermarktkette, abgekürzt auch nur „Mega“ genannt

Mici: rumänische Cevapcici

Moussaka: Kartoffelgericht mit Auberginen und Hackfleisch

Obor: Marktplatz

Piaţa: Platz, analog zu Piazza im Italienischen

Plăcinte: typisches rumänisches Gebäck, in Öl frittierter dünner Teig

Poiana Brașov: Skigebiet in den Karpaten

Pomană: ähnlich wie der Leichenschmaus

Popescu, Gică: Gheorghe „Gică“ Popescu ist ein ehemaliger Fußballspieler der rumänischen Nationalmannschaft, der wegen Geldwäsche und Spielertransfer-Skandalen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde.

RATB: öffentlicher Nahverkehr in Bukarest

Sana: Milchgetränk, ähnlich wie Trinkjoghurt

Sarmale: traditionelle rumänische Kohlrouladen, die man mit eingelegtem Weißkohl, Hackfleisch und Reis zubereitet

SEAP: Sistemul Electronic de Achiziții Publice; elektronisches System für die Erfassung öffentlicher Ausschreibungen

Secuime: Teile Rumäniens in Siebenbürgen, die von ungarischer Bevölkerung bewohnt werden, auf Deutsch: Szeklerland

Securist: Mitarbeiter des ehemaligen rumänischen Geheimdienstes, der Securitate

Şoseaua: Chaussee

Strada: Straße

Tanti: Bezeichnung für eine ländlich geprägte Frau

UNDP: United Nations Development Programme Romania



Lavinia Branişte

Null Komma Irgendwas

Roman

Aus dem Rumänischen von Manuela Klenke

Für meine Mutter


Zitat

Ich bin nicht übereifrig, ich bin bloß ein Teil einer großen Arbeiter-Maschinerie und kann mir Abweichungen nicht leisten. Also habe ich bislang 8 kg abgenommen. Wie eigenartig, ich kann mein Skelett fühlen. Ich glaube, mein Brustkorb ist zu groß. Wer kann das schon wissen? Am 2. Nov. komme ich nach Rum. Kann es sein, dass wir das Leben nicht verstehen, Lavi?


Vasile Leac, rumänischer Dichter in einer privaten Facebook-Nachricht, Oktober 2014


1

Wir wollen gegen neun Uhr das Büro verlassen.

Meine Chefin Liliana rast die Treppen herunter. Ich habe den Eindruck, dass sie bald einfach herunterrutschen wird. Sie stürmt am Empfang vorbei – dort sitze ich – und schreit über die Schulter, zurück in Richtung erste Etage:

„Herr Ursuuuuuuu, wir geheeeen!“

Sie hat mir versprochen, dass sie mich mal mitnehmen würde. Seit acht Monaten wünsche ich mir, endlich mit auf die Baustelle zu kommen. Inzwischen ist der Gebäudekomplex schon fast fertig. Ab und zu stalke ich den Fortschritt der Arbeiten über den Link der Überwachungskameras.

Um sieben Uhr morgens hat Liliana mir eine SMS geschickt: Cristina, solltest du auf die Baustelle wollen, zieh dich warm an und nimm deine Stiefel mit.

Sie öffnet die Tür. Von draußen weht Kälte an meine Füßchen. Muss das sein?

„Soll ich mitkommen?“, frage ich sie.

„Ja, los!“

In der Zwischenzeit klingelt ihr Handy, sie geht dran und hat keine Hand mehr frei, um die Tür zuzumachen. Die Kälte kriecht vom Fußboden an mir hoch. Liliana ist schon draußen, und ich überlege mir doch noch:

„Warte mal, ich muss noch schnell Pipi!“ Und dann ergänze ich: „Timea, ich gehe auf die Baustelle. Pass mal bitte auf das Telefon auf!“

„Ja“, höre ich Timeas Stimme hinter dem Paravent.

„Mach doch mal endlich diese verdammte Eingangstür zu!“, ruft Paul Dobre ins Leere, aber ich bin schon auf dem Klo. Dort lege ich lange Klopapierstreifen auf der Klobrille aus, während ich die Heizung aufdrehe. Mit lautem Gepolter läuft warmes Wasser in der Nähe meiner Ohren in die Rohre.

Gehetzt schnappe ich Tasche und Jacke, laufe auf die Straße und springe in das gestartete Auto, wo der fette Herr Ursu große Mühe hat, sich anzuschnallen. Ich steige hinten ein, ziehe an meinem Sicherheitsgurt, möchte ihn schließen, aber ich finde keinen Anschnaller dafür. Pro forma halte ich ihn noch eine Weile in der geschlossenen Faust, lasse ihn dann später doch los.

Ich weiß, dass sie hetzt und rast. Immerhin bin ich ja schon zwei Jahre hier. Andere haben mir längst davon erzählt, aber nun sitze ich tatsächlich in ihrem Auto.

Bei der ersten Ampel verflucht sie die Idioten, die den Verkehr aufhalten, bei der nächsten telefoniert sie. Kurz bevor wir die Stadt verlassen, fragt sie den Dicken:

„Was soll man nur mit den ganzen Wahnsinnigen machen, Herr Ursu?“ Danach schaut sie durch den Rückspiegel zu mir und sagt: „Pass mal auf, was für ein Zirkus das jetzt wieder wird.“ Ich bin Sekretärin bei einer Firma, die Projekte für öffentliche Bauvorhaben anleitet. Mich haben sie wegen der Fremdsprachen genommen, sonst hätte ich dem nötigen Profil gar nicht entsprochen. Von Baustellen und Ingenieuren verstehe ich ja nichts. Ich kannte diejenige, die vorher hier gearbeitet hat. Sie ging in Mutterschutz und hat anschließend das Land verlassen. Die Chefin hatte damals keine Zeit, eine Anzeige zu schalten. Meine Vorgängerin kannte mich, wusste, dass ich was suchte, und bot mir ihre Stelle an. Beim Vorstellungsgespräch bemerkte die Chefin leider die Lücken in meinem Lebenslauf, und doch verschwieg ich den zweiten Master, die Promotion, die ich nach drei Jahren aufgegeben hatte, und das zweite Studium, das ich ebenfalls nach zwei Jahren abgebrochen hatte.

„Was hast du in dieser Zeit gemacht?“

„Ich habe mit Verlagshäusern zusammengearbeitet“, sagte ich ihr, und sie erschrak: „Pass auf, hier wirst du Verträge und Aufgabenlisten übersetzen müssen. Fang bloß nicht damit an, irgendwelche Fantasiegeschichten in die Welt zu setzen.“

Sie brauchte mehr als einen Monat, um sich zu entscheiden. Am Ende sagte sie, dass ich „positiv“ sei und sie mich anrufe, um mir eine zweiwöchige „Unterweisung“ zu geben. Das war im Dezember. Gleich nach dieser Einarbeitungszeit kam die Weihnachtsfeier, eine Mottoparty, und ich musste mir plötzlich Gedanken darüber machen, was für ein Kostüm ich da anziehen soll.

Vor ungefähr einem Jahr, bei dem ersten Vertragsabschluss als Allgemeine Bauunternehmerin, konnte sie schon riechen, dass es im Bauwesen Geld regnet.

„Wir werden Bauarbeiter“, sagte sie und rieb ihre Hände aneinander. Sie kassierte bereits von einem Kunden Raten in Höhe von einer Million Euro. Meine Aufgabe ist es, die Rechnungen ins System einzugeben. Ich muss mit dem Fingernagel am Monitor die Zahlen in Dreier-Gruppen einteilen, um feststellen zu können, ob es um Zehntausende, Hunderttausende oder Millionen geht. Beim Umgang mit dem Geld wird mir ganz schwindelig.

Mittwochs um neun stehen Besprechungen auf der Baustelle an. In unserem Baucontainer versammeln sich Vertreter der Kunden und der Subunternehmer, sprechen sich ab, schreien sich gegenseitig an, aber SIE übertönt alle. Sie ist stolz darauf, eine Frau in der Männerwelt zu sein. „Alle fürchten Sie, Frau Liliana“, sagte ihr einst Mircea Negoescu von MirConstruct, woraufhin sie voller Stolz einen Augenblick lang vergaß, wie schlecht die Testergebnisse beim Beton ausgefallen waren.

Wir bauen ein Home- und Gartencenter am Stadtrand von Bukarest.

Am Eingang der Baustelle parken mehrere Jeeps hintereinander, und sie denkt laut:

„Guck mal, was für Autos die haben … Nur wir fahren mit einem Dacia Duster.“

Sie und ihr Ehemann besitzen ein Viertel der Firma, der Rest gehört einem spanischen Unternehmer. Sie muss denen alles berichten. Das lässt ihr keine Ruhe.

Beim Aussteigen versinken meine Füße in einem  Meer aus Schlamm und ich bekomme Mitleid mit meinen neuen Arbeitsstiefel, die so gut wie unbenutzt sind.

Eine Baustelle ist ein Ort, an dem du mehr als üblich und vor allem sofort wahrnimmst, dass du eine Frau bist, weil dich alle angaffen – neugierig, verwirrt, anzüglich. Man fragt sich einen Moment lang, was in denen vorgeht. Hinterher erinnert man sich daran, dass man eine unerwartete Erscheinung ist, welche großes Interesse hervorruft, aber man möchte nicht genau wissen, in welcher Hinsicht. Ach so, warte mal, ich bin ja eine Frau, okay. Bei dem Gedanken daran, dass Mona, die Architektin, den ganzen Sommer über in kurzer Hose hergekommen ist, wird mir ganz anders. Sie wollte immer alleine auf die Baustelle gehen. Die Tage ohne sie beim Mittagstisch waren daher ein Segen.

Im Besprechungscontainer haben sich die Leute bereits versammelt. Die Chefin empfiehlt mir, eine Runde auf der Baustelle zu drehen, vorher kommt sie mit, um mir zu zeigen, wo ich mir einen Helm besorgen kann. Sie fragt Mona nach dem Schlüssel zu ihrem Büro-Baucontainer. Die Chefin schließt Monas Container auf. Uns schlägt eine Hitzewelle entgegen, woraufhin sie zum elektrischen Heizkörper hechtet, um ihn auszustellen. „Warum lässt die den ständig laufen? Ich habe ihr schon so oft gesagt, dass sie nicht so viel heizen soll.“

Im Büro hat Mona einen Haufen Papiere, eine Flasche Coke Zero, die wahrscheinlich abgestanden schmeckt, und ein Bild von sich und Claudiu auf einem Elefanten, als sie vor ein paar Monaten in Thailand waren. Sie sitzen auf einer Art improvisiertem Sattel, der unter dem Bauch des Elefanten festgebunden ist, während der Elefantenführer, ein schlaksiger Junge, den Hals des Tieres bestiegen hat und sich an seinen Kopf stützt. Mona lächelt auf dem Bild, aber Claudiu sitzt zu seitlich und sieht ziemlich panisch aus. Soweit ich das verstehe, ist das ihre Manie, unterschiedliche exotische Tiere zu reiten, wenn sie auf Inseln Urlaub macht. Er fügt sich nur. Dieses Mal hat sie uns jedoch gestanden, dass sogar sie selbst Angst hatte. Die haben sie eine halbe Stunde durch den Wald herumgeführt, der Elefant stolperte zwischendurch. „Ihr könnt euch vorstellen, wenn der ausgerutscht wäre“, sagte sie zu uns. „Wenn man vom Elefanten fällt, ist man erledigt.“

„Was für ein Chaos in diesem Büro!“, sagt die Chefin.

Sie hinterlässt Schlammspuren auf dem Fußboden, der aussieht, als wäre erst vor kurzem gewischt worden.

Mittwochs kommt Tanti Oara, die Putzfrau der Firma. Sie kommt auch zweimal pro Woche für zwei Stunden zu uns ins Büro. Auf der Baustelle haben sie sie ebenfalls für zwei Stunden beauftragt, aber immer, wenn sie kann, ergreift sie die Chance, sich bei mir darüber zu beklagen, dass es ihr schwer fällt, mit den Stiefeln durch diesen Matsch zu laufen und die Hände unter das eiskalte Wasser zu halten, weil auf der Baustelle ja kein warmes Wasser vorhanden ist. Außerdem gibt Mona ihr nicht den Schlüssel von der Frauentoilette. Sie muss die der Arbeiter benutzen. Die Frauentoilette sei nur für Mona.

Sie wischt den Boden in den Containern, und sofort stürmt einer herein und macht alles wieder dreckig. Die Chefin schimpft dann mit ihr, dass sie auf dem Boden Wasser mit Schlamm verteile, aber wenn sie neues Wasser braucht, muss sie aus einem Becken Eisblöcke herausholen und sie im Eimer schmelzen lassen, damit sie wischen kann.

„Mir passt es auch nicht“, sagt sie. „Ich kann nicht mehr, aber ich zeig’s nicht.“

Sie steht kurz vor der Rente.

Alle zwei, drei Wochen verarscht Mona sie und lässt sie auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt Mega Image stehen. Sie wolle nicht, sagt sie, dass die Zigeunerin ihr Auto vollstinke.

Tanti Oara kommt aus einem Dorf außerhalb von Bukarest, von der anderen Seite der Stadt. Der Kleinbus fährt in großen Intervallen. Der, der morgens fährt, kommt um halb acht vor dem Mega an. Sie steigt da aus und wartet bis um acht auf Mona, damit die sie mitnimmt und zur Baustelle bringt.

Mona hat protestiert, dass es nicht ihre Sache sei, sie hinzubringen. Die Chefin verdrehte nur die Augen, drohte ihr mit dem Zeigefinger und ließ keine Widerworte zu. Wahrscheinlich haben sie ihr auch noch kleine Vorteile versprochen. Mona würde nie etwas umsonst machen. An manchen Tagen gibt sie vor, verwirrt zu sein, und lässt die Frau stehen. Dann bleibt Tanti Oara da und wartet und muss die Straßenbahn nehmen. Die Chefin streckt sich zum Schrank hin und gibt mir einen Helm.

Álvaro Moreno hat ihr die Helme mit der spanischen Post geschickt, nachdem er mal zu Besuch war und gesehen hat, dass unsere Leute sich Helme von den Subunternehmern ausgeliehen hatten. Moreno ist das Image sehr wichtig. Er ist verrückt nach der Webseite und dem Newsletter seiner Firma. Ich habe noch nie einen Bauarbeiterhelm getragen und wundere mich, wie leicht er ist. Während ich ihn mir über die Mütze stülpe, versuche ich, den Hals steif zu machen, aus Angst, der Helm könne herunterfallen. Ein seltsames Gefühl von Freude regt sich in mir. Ich habe etwas auf meinem Kopf, mit dem ich mich gern fotografieren lassen würde, aber ich halte mich zurück.

Die Chefin schließt den Container ab und geht zu der Besprechung. Sie beeilen sich heute, um schnell fertig zu werden. Um halb zwölf kommt Carolina. Ich weiß nicht genau, wer das ist. Ich weiß nur, dass sie von Kundenseite kommt, aus Italien. Sie lebt allerdings in Spanien und beschäftigt sich mit Marketing, meine ich. Die Chefin nennt sie Fräulein Carolina, damit sie nicht beleidigt ist. Denn sie trägt keinen Ehering, hat aber schon etwas länger die Vierzig überschritten.

„Da ist der Eingang, aber du kannst auch auf der anderen Seite rein, wo die Waren angeliefert werden“, sagt mir die Chefin, und macht mit beiden Händen eine ausufernde Geste, mit der sie die gewaltige Konstruktion andeutet.

Ich wage es alleine zur nächstliegenden Tür. Es gibt keine Wege. Verzweifelt schaue ich nach ausgelegten Holzbalken oder Steinen und habe den Eindruck, dass mich verschiedene Menschen, die auf der trockenen Seite der Baustelle stehen, anglotzen. Ich rutsche durch den weichen Schlamm – mittlerweile habe ich ihn auch auf meiner Jeans – schaue, wo ich hintreten kann, und merke, wie mir der Helm von meiner Kopfmitte ins Gesicht rutscht. Die Mütze folgt. Ich weiß nicht, was mich geritten hat, eine Tasche mitzunehmen. Mit einer Hand halte ich sie, die andere strecke ich ein bisschen vom Körper weg in dem Versuch, das Gleichgewicht zu halten. Die Tür scheint Lichtjahre entfernt. Plötzlich habe ich die Gewissheit, dass irgendwo, sehr nahe, ein Weg sein wird. Aufgrund meiner unermesslichen Naivität, die Welt und die Wahrscheinlichkeitstheorien betreffend, habe ich sicherlich nicht ausreichend danach geguckt.

Ich bin von meiner Einsamkeit auf diesem schlammigen Planeten, dieser Baustelle, überwältigt, aber irgendwann höre ich eine Stimme:

„Werte Frau!“ Und nochmal: „Werte Frau!“

Irgendwann begreife ich, dass ich die werte Frau sein muss. Ich hebe meine Augen und blicke auf Tanti Oara, die ebenfalls versucht, sich wankend durch den Schlamm in meine Richtung zu bewegen. Also gibt es keinen anderen Weg. Gut zu wissen!

Sie strahlt. Ich denke, dass sie sich vielleicht freut, mich zu sehen. Sie ist meine Lieblingskollegin. Unsere Beziehung wird von Monat zu Monat vertrauter. Jetzt kommt sie zu mir und bittet mich darum, ihr eine Bescheinigung fürs Krankenhaus auszustellen. Eine für sie und eine für ihren Mann, welcher auch über sie versichert ist und die ganze Zeit von einem Arzt zum anderen läuft. Ich stelle sie für sie aus, gehe los, um Unterschriften dafür zu bekommen, und hinterher verlangt sie fast immer auch noch zwei Kopien davon, weil sie die vielleicht noch gebrauchen könne. Einmal hat mich die Chefin am Kopierer erwischt. Ich habe mich gleich beeilt zu sagen, dass sie nicht für mich sind.

„Was braucht die denn so viele Kopien? Mach ihr bloß keine mehr! Wir sind doch keine Papierfabrik!“

Manchmal erlaube ich ihr, von der Zentrale auf dem Handy anzurufen. Sie hat in ihren Kitteltaschen etliche zerknitterte Zettel mit Telefonnummern, manche ungültig.

„Sind Sie sicher, dass Sie die richtig aufgeschrieben haben?“, frage ich sie.

„Versuch doch mal noch die hier“, sagt sie mir und zeigt mit dem Finger auf eine andere Nummer.

Manchmal nennt sie mich „Mädchen“. Heute hatte sie wohl den Eindruck, ich sei eine Frau, vielleicht, weil ich einen Kopf größer bin als sie, mit dem Helm natürlich.

„Du hättest von der anderen Seite hinlaufen sollen“, sagt sie und zeigt zum Materiallager.

„Ist es da trockener?“

„Ja, die haben dort Steine ausgelegt.“

„Hat Mona Sie heute gebracht?“

„Ja … Aber ich möchte der Chefin sagen, dass ich nicht mehr komme. Es ist zu weit. Ich kann da nicht mehr stehen und frieren.“

„Wieso gehen Sie nicht kurz in den Mega rein, um sich aufzuwärmen?“

„Ach, und wenn ich in den Mega gehe, was soll ich da machen? Einfach so doof vor der Tür herumstehen? Das kann ich nicht, das ist mir unangenehm.“

Wir schweigen beide. Ich bewege mich seit einer Minute nicht mehr und merke, wie der Schweiß auf meiner Wirbelsäure abkühlt. Ich lege wieder los in Richtung Tür und Tanti Oara kommt mit.

„Wie geht’s Ihrem Ehemann?“

„Wie soll’s ihm gehen … Der hat sich erkältet.“

„Ist es bei Ihnen nicht warm im Haus?“

„Doch, wir machen Feuer, aber er hat die Mauern beim Pferd verputzt und sich ausgezogen, weil ihm warm wurde … Und ich hatte ihm vorher extra gesagt, dass er alles so lassen soll … Es hätte auch nichts ausgemacht, wenn er noch bis zum Frühling gewartet hätte. Jetzt bin ich ständig bei ihm, um ihn zu massieren.“

Wir kommen am Eingang der Halle an. Ich möchte das Eingangstor aufmachen, aber es scheint abgeschlossen zu sein.

„Zieh stärker“, sagt Tanti Oara, zieht selbst daran und bei ihr gibt es nach.

Es ist groß und schwer und ich frage mich, ob sich die „Industriellen Tore“ aus meinen Übersetzungen darauf beziehen. Wir treten drinnen auf etwas, das ich für einen Glanzfußboden halte. Was es alles gibt!

„Auweia, wie groß das ist! Müssen Sie hier auch noch putzen?“

„Ja.“

Die Halle für das Home- und Gartencenter ist riesig, weiß und leer. An der Decke hängen Arbeiter, denn die Phase der elektrischen Installationen hat gerade angefangen.

An jedem meiner zwei Füße kleben zwei Kilo Schlamm, sodass ich es nicht übers Herz bringe hineinzugehen. Ich schaue umher, auf der Suche nach etwas, um den Schlamm abzuputzen, aber ich sehe nichts.

„Haben Sie vielleicht etwas, womit ich diesen Schlamm abschaben kann? Einen Stock oder sonst was?“

Sie schüttelt den Kopf im Sinne von „Nein“.

„Ah, geh doch so rein.“

„Nein, lassen Sie mal lieber, ich schaue von hier aus.“

Ich bin kurzsichtig und kann nicht bis nach hinten in die Halle gucken.

Noch einmal staune ich, wie groß alles ist. Bald werden hier mit Waren gefüllte Regale stehen und Produkte in Umlauf gebracht werden. Angestellte und Kunden werden durch die Gänge wuseln. Dieses Home- und Gartencenter ist ein Wunder, das in nur sieben Monaten aus Fertigteilen zusammengebaut worden ist. Es wird Leben in die Gegend bringen.

Der Bürgermeister war sehr hilfsbereit und großzügig, als es um die Baugenehmigungen ging. Er wartet ungeduldig auf die Grünflächen. Die Chefin hat den Auftrag dafür einer Firma versprochen, die dem Bürgermeister sehr sympathisch ist. Sie hat versucht zu verhandeln und dabei erwähnt, dass andere das für ein Drittel des Geldes machen würden, aber Vlad Simion, unser Kollege für Wege und Brücken, der sie im Strategiemanagement berät, zwitscherte ihr zu, dass es gut für sie sei.

„Was für ein Interesse wird der wohl daran haben?“, fragte sie mich, nachdem sie mir das erzählte. Hinterher ließ sie noch ein paar Sätze fallen und sagte mir, ich solle bloß mit niemandem darüber reden.

Später am selben Tag sagte sie mir, dass der Sicherheitsdienst ihr ebenfalls vom Bürgermeister aufgedrückt worden sei.

Ich bin stumm wie ein Fisch, versuche keine Meinungen zu äußern, sondern mich um meinen Empfang und meine Zentrale zu kümmern. Da ich wie ein Grab schweige, kommen alle zu mir, um mir ihre Wehwehchen zu klagen.

„Ich drehe mal lieber um und gehe auf den Weg, den Sie mir gezeigt haben.“

Tanti Oara schiebt das große, schwere Eisentor auf, geht hindurch und hält es dann fest, damit ich auch nach draußen gehen kann. Wir bleiben beide auf dem kleinen Betonquadrat stehen, das da liegt, und betrachten den Schlammozean um uns herum. Die Sonne scheint, aber es ist kalt. Wahrscheinlich wird es heute Nacht wieder frieren. Ich wünsche mir sehr, dass es zu Weihnachten schneit und ich den Schnee sehen kann, solange er noch sauber ist. In ungefähr einer Woche, nächsten Freitag, haben wir die Party in der Firma. Ein Kostüm auszuleihen kostet zwei Millionen Lei beim Kostümverleih. Diesen furchtbaren Gedanken verbanne ich jedoch schnell aus meinem Kopf.

„Ich würde lieber zurück in den Baucontainer gehen.“

Während ich auf die Uhr schaue, überlege ich, wie lange es wohl dauert, wenn ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Stadt fahre. Ein Kleinbus, dann die Straßenbahn und noch eine lange Strecke mit der U-Bahn. Wahrscheinlich würden die vor mir ankommen.

Aus dem Baucontainer stampft einer hinaus und schlägt die Tür zu, gefolgt von einem anderen, der ihm hinterherläuft.

Herr Ursu tritt bis zum Türrahmen, bleibt dort stehen und schirmt mit der Hand seine Augen gegen die Sonne ab. Wahrscheinlich befinden sie sich mitten im Gefecht. Alle schreien sich gegenseitig an und vor allem schreit die Chefin alle an. Wenn sie Hunger hat, ist sie noch unerträglicher. Zu den Besprechungen nimmt sie immer Essen mit.

Anfangs habe ich sie ehrlich bewundert und all den Schwachsinn, den sie mir erzählt hat, geglaubt. Dass alle verrückt und korrupt sind, sie bestehlen möchten, sie mit allen kämpfen muss und dass dieses Land voll von Idioten und frauenverachtenden Männern ist. Deswegen sei ihr Mann Generaldirektor und sie nur Stellvertreterin. Es komme besser an, wenn ein Mann Direktor sei. Das Einzige, was ihr Mann allerdings für sein Direktorengehalt tun muss, ist, zur Post zu gehen und Papier zu besorgen, aber auch nur, wenn wir kein einziges Blatt mehr haben. Er gießt alle Blumen in der Firma und hilft mir, die Mülltonne hereinzuschieben, sobald die Müllabfuhr weg ist.

Ich habe mir immer gewünscht, solche Eltern zu haben. Solche wie meine Chefin und ihr Mann. Die Macht und Stärke ausstrahlen.

Später habe ich gemerkt, dass wir in ihren Augen alle dumm sind. Und wahrscheinlich redet sie über mich genauso, wenn ich gehe und die Tür hinter mir schließe und sie zusammen mit ihrem Mann im Büro bleibt und plaudert. Trotzdem bewundere ich sie weiterhin, obwohl ich jedes Mal zusammenzucke, wenn ihre Durchwahl auf dem Display aufblinkt und sie wieder mal eine „Bitte“ an mich hat. So verpackt sie ihre Befehle: dass sie eine „Bitte“ habe. „Ich habe die Bitte, dass du jenes tust. Ich habe die Bitte, dass du gehst. Ich habe die Bitte, dass du dich beeilst, weil es dringend ist.“

Aber wirklich niedergeschlagen fühlte ich mich, als sie von Moreno genervt war, weil er Geld von ihrem Konto abgezweigt hatte. Er sei doch verrückt! Was habe er vor? Er wolle unsere Agentur zerstören. Wir hätten nun kein Geld mehr für die Gehälter. Er sei ein Idiot und ein Schwachkopf und könne sowieso nicht anders handeln, weil er ein Nichtsnutz sei, der aus einer kaputten Familie komme. Wie soll der Hirn im Kopf haben? Der ist doch auf der Straße groß geworden, nur bei seiner Mutter.

Ich bin auch nur bei meiner Mutter groß geworden.

Wenn sie Moreno beleidigen möchte, sagt sie, dass Ramírez wahrscheinlich sein Liebhaber ist.

„Yo soy como tú“, sagte mir Ramírez einst am Telefon, als ich darauf bestand, dass er mir eine Registrierungsnummer für eine gruppeninterne Rechnung durchgibt. „Ich tue nur, was von mir verlangt wird. Señor Moreno hat mir noch nicht die Erlaubnis dafür erteilt.“

Ramírez ist Morenos Assistent.

Die Chefin hasst Spanier, aber auch Juden, Ungarn, Homosexuelle, alle Sekretärinnen, alle Beamten und alle Zigeuner, die bei Dinamic arbeiten. Und die „beschissene Anwältin“ des Kunden sowieso. Eine beschissene Anwältin, die sechsundzwanzig Jahre alt ist.

Ich fühle Gift durch meinen Körper fließen, acht Stunden am Tag. An dem Ort, an dem ich dachte, meine Ruhe gefunden zu haben. Ein stabiles Gehalt, eventuell ein Kredit. Der Weg mit der U-Bahn am Morgen, ebenso wie der Rest der Menschheit. Das Gehetze eigentlich. Damit ich auch etwas habe, hinter dem ich herlaufen kann, in der Blüte meines Lebens.

„Vielleicht findest du irgendwann mal einen Ingenieur“, sagte mir meine gute Freundin Otilia, die sonst immer, um mich, aber auch sich selbst zu trösten, wiederholt, dass Liebe ein kulturelles Konstrukt ist und dass die Menschheit als Spezies verschwinden werde, bevor sie einen Weg finden wird, sich von der Erde zu retten.

„Ich habe irgendwo gelesen, dass es nicht wichtig ist, was man aus seinem Leben macht, sondern wie man es lebt“, sagte ich ihr.

„Du liest nur Blödsinn.“

„Das war ein Link von dir.“

Sie schickt mir Links über das Gehirn und das Leben, damit ich was zu lesen habe, wenn ich im Büro die Zeit totschlage. Abends erzähle ich ihr von meiner Chefin und meinen Kollegen. Ich nörgele eine Weile, dann erzähle ich ihr auch etwas Lustiges.

„Ich glaube, wenn ich dort eines Tages aufhören werde, dann wirst du sie mehr vermissen als ich.“

„Wann wirst du denn gehen?“

Auf der Baustelle machen sie sich jetzt an einen Kreisverkehr. Er soll den Kunden einen möglichst reibungslosen Zugang zum Parkplatz des Gartencenters ermöglichen.

Dinamic Construct hat angefangen, den Boden auszuheben. Deren Mitarbeiter haben Schutt und Erde auf den Platz einer Autowaschanlage verfrachtet. Mit ihren Baufahrzeugen haben sie denen den Eingang versperrt. Es kommen keine Kunden mehr, weil sie keine Möglichkeit haben hineinzufahren. Der Besitzer verliert täglich Geld. Jeder Tag ist ein Verlust, weswegen er eine Beschwerde gegen uns eingereicht hat.

Ich gelange zum Baucontainer und drinnen herrscht Chaos. Immer noch schreien mehrere Personen einander lautstark an. Die Chefin übertönt mit ihrem Organ alle. Dinamic soll sofort den Schutt und die Maschinen entfernen. Die glauben doch nicht wirklich, dass wir für deren Rücksichtslosigkeit zahlen werden.

Baciu von Dinamic meint, er habe kein Geld für Sprit, weil er seine Spesen nicht als Vorauszahlung bekommen habe. Warum wolle die Chefin ihm das nicht im Voraus zahlen?

„Weil nichts von einer Vorauszahlung in deinem Vertrag steht, deshalb. Woher soll ich wissen, dass du es für Sprit ausgibst? Ich fahr ja nicht mit deinem Mercedes.“

Ich bleibe draußen, damit der Schlamm an meinen Schuhen trocknet. In der Nähe des Containers, wo sie den Kies ausgeschüttet haben. So kann ich die erregte Besprechung mithören. Herr Ursu nähert sich mir. Er muss ins Gebäude, um zu sehen, was die mit dem Generator gemacht haben. Dann muss er einige Berechnungen anstellen und sich mit denen über den Blitzableiter verständigen. Er fürchtet die Schlammmassen, die er durchwaten muss.

„Die Chefin soll mir mal Geld für Gummistiefel geben. Mona hat sie doch auch welche gekauft.“

Ursu versucht, aus allem Geld zu pressen. Sein rechtes Handgelenk ist geschwollen und er hat dem Chef gesagt, dass das von der Computermaus komme. Er solle ihm eine Maus-Erschwerniszulage geben. Das sei eine Bürokrankheit, sagte er ihm eines Tages in der Küche, während er sich chinesische Salbe auf die haarige Hand schmierte. Der Chef schien verlegen, doch ich rettete ihn:

„Wow, gibt es diese Creme noch? Wo haben Sie die denn her?“ Letzten Endes kam heraus, dass ihm eines Tages beim Aufstehen schwindelig geworden war, er zurück ins Bett gefallen war und sich ungeschickt mit der rechten Hand abgestützt hatte. Und die Salbe hatte er in einem Geschäft an der Piaţa Obor gekauft.

„Ich habe es geschafft, diese Ein-Zimmer-Wohnung am Park zu kaufen. Wenn du willst, kann ich sie dir für zweihundert anbieten“, sagt er mir vor dem Baucontainer.

„Euro?“

„Nun, ja klar Euro“, sagt er und fängt an zu lachen. „Was denn sonst?“

„Auweia, schon wieder Euro …“ Ich hasse es, Geld zu wechseln.

„Gut, wir können einen festen Preis in Lei vereinbaren, wenn du dich entscheidest. Ich streiche die Tage die Wände grob über und dann können wir hin, damit du die Wohnung sehen kannst.“

Ich kann mich nicht daran erinnern, ihm jemals gesagt zu haben, ich würde umziehen wollen. Vielleicht habe ich mich so allgemein beschwert, dass es doof ist, wo ich wohne. Aber ich hatte noch nie eine schöne Wohnung und habe mich mit allem abgefunden – mit Kakerlakengift, Bohrmaschinen-Wochenenden und dem fast physischen Schmerz am Anfang des Monats, wenn die komplette Vorauszahlung für die Miete draufgeht.

„Ich weiß es nicht. Mal schauen. Mir graust es davor, mit dem ganzen Kram hin- und herzuziehen. Keine Ahnung, wie ich so viel ansammeln konnte …“

„Ach, das kriegen wir schon hin. Mit einem Transporter ist das kein Problem. Was? Du hast Möbel?“

„Ich habe kleine Möbel. Und viele Koffer.“ Er hört mir schon nicht mehr zu.

„Ooooh, Herr Bürgermeister. Guten Tag, guten Tag“, sagt Ursu und streckt seine Hand einem Typen entgegen, der entschlossen Richtung Container marschiert.

„Ist Frau Liliana schon da?“

„Ja, sie ist hier. Geh und hol sie, Cristina.“

Die Chefin kommt mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Man würde nicht denken, dass sie soeben einer Hunderauferei entkommen ist.

„Ich habe mit dem Aufsichtsrat gesprochen“, sagt der Bürgermeister. „Die Frist kann nicht verlängert werden. Ihr müsst den Kreisel in einer Woche fertigkriegen.“

„Tja, genau das habe ich Dinamic auch gerade gesagt“, antwortet sie und läuft dunkelrot an. „Dass die endlich fertig werden, Mann! Warum ziehen die das denn so in die Länge? Warum nehmen die denn noch Aufträge an, wenn sie nicht mal Geld für Sprit haben? Ah, mir reicht es wirklich mit diesem Baciu …“, sagt sie ein bisschen leiser.

„Ich weiß nicht, wo sie den her haben … Es gibt ja noch das Problem mit den Nachbarn von der Autowaschanlage“, sagt der Bürgermeister.

„Ja, das habe ich denen schon gesagt, das habe ich denen gesagt. Das werden sie lösen. Aber Sie müssen wissen, der Eingang zur Anlage ist nicht versperrt. Mona hat Fotos gemacht. Kommen Sie, lassen Sie uns nachsehen, wenn Sie mögen …“

„Nein, ich bleibe jetzt nicht länger.“

„Hören Sie mal, was machen wir eigentlich mit den zwei Kreuzen? Stellen wir die um?“

„Welche Kreuze?“

„Es gibt zwei Eisenkreuze am Wegesrand. Sie deutet mit dem Finger in die Richtung. Die sind bei den Erdarbeiten im Weg.“

„Aah, das sind die von dem Brandunfall. Zieh sie raus! Zum Teufel damit!“

„Ich dachte, vielleicht errichten wir für sie eine kleine Kapelle und stellen sie ein bisschen weiter abseits, auf die Wiese bei Dragu.“

Dragu ist der vorige Inhaber des Grundstückes, der zu allen Transaktionen mit den Wucherern gekommen ist.

„Aber die Familie, wo wohnt die? Dass wir denen zumindest sagen, dass wir die Kreuze wegnehmen.“

„Zieh sie einfach raus und fertig“, erwidert der Bürgermeister genervt.

Die Chefin ist gläubig. Sie hat Heiligenbilder im Portemonnaie, zwischen den TAN-Nummern, und ab und zu gibt sie uns Pomană aus – ein Essen zum Gedenken ihrer verstorbenen Eltern.

„Hören Sie, da wäre noch was. Wir werden ein weihnachtliches Kostümfest am neunzehnten organisieren. Eine Firmenfeier, im Restaurant.“

Sie lacht mit dem Mund, aber ihre Augen bleiben starr auf ihn fixiert, um seine Reaktion abzuwarten.

„Sie sind eingeladen. Ich schicke Ihnen die Einladung per Mail.“

„Wann ist der neunzehnte? An welchem Tag ist der neunzehnte?“

„Das ist nächsten Freitag.“

„Nun gut, schick sie mir.“

Ich würde gerne gehen. Es gibt nichts mehr, was ich noch tun könnte. Mir ist das mit der Baustelle jetzt klar.

„Na, wie ist es?“, fragt sie mich, während sie die Neuigkeiten auf ihrem Handy checkt, doch sie lässt mich gar nicht zu Wort kommen. „Geh und schau mal, ob Carolina gekommen ist. Ihr Baucontainer ist auf dieser Seite, der dritte oder vierte. Ihr Name klebt an der Tür.“

„Und wenn sie da ist?“

„Dann soll sie herkommen.“

Carolina hockt neben einer kleinen Wasserschüssel, umringt von fünf herrenlosen Welpen unterschiedlicher Größe. Sie beschwert sich beim Baustellenleiter darüber, dass es offene Kanallöcher gibt und die Hunde da hineinfallen könnten.

„Ich könnte mir auch die Beine brechen“, raunt einer der Arbeiter seinem Kollegen auf Rumänisch zu. Und lacht dabei. Carolina steht auf, zieht ihre Hose am Gesäß hoch und streckt mir dann ihre Hand entgegen, um sich vorzustellen.

Vielleicht denkt sie, ich sei eine wichtige Person. Ich teile ihr mit, dass die Chefin sie erwartet.

Den nächstbesten Mitarbeiter frage ich, von wo aus man den Kleinbus in Richtung Stadt nehmen kann. Ich setze meinen Helm ab und gehe zu Monas Container, um ihn abzugeben. Die Tür ist aber abgeschlossen. Drüben, wo die Besprechung tobt, möchte ich lieber nicht mehr hineingehen.

Tanti Oara taucht erneut aus dem Schlamm auf, die Gummistiefel bis oben hin dreckig. In den Armen trägt sie leere Plastiksachen: einen Eimer, eine Waschschüssel und zwei Flaschen mit Überresten von Putzmitteln.

„Komm, ich gehe jetzt auch. Ich habe nichts mehr zu tun. Ich gehe nur noch die Sachen wegbringen.“

Ich möchte nicht, dass wir uns beim Kleinbus treffen, also beeile ich mich. Ich putze meine Schuhe an einem Betonrand ab und laufe verwirrt um die Container herum, mit dem Helm in meiner Hand. Ursu hat immer noch keinen Mut, in Richtung des Rohbaus zu laufen.

„Brauchen Sie vielleicht einen Helm?“, frage ich ihn. „Ich würde gern gehen.“

„Das Ding tu ich nicht auf meinen Kopf!“, sagt er.

„Was meinen Sie, wie lange brauche ich von hier bis ins Büro?“

„Mindestens eine halbe Stunde!“

„Ich weiß nicht, was ich damit machen soll …“

„Gib her! Ich bringe ihn rein.“

Mit dem Helm in der Hand lasse ich ihn vor dem Container stehen. Ich drehe mich um und gehe, und binnen einer Sekunde bin ich wie erstarrt. Ich weiß nicht, was schlimmer ist – auf dem Schotter zwischen diversen Hunden herzulaufen oder den Hunden durch den Schlamm auszuweichen.

„Ich sage dir Bescheid, wenn ich gestrichen habe“, schreit Ursu hinter mir her, und dann fühle ich mich plötzlich selbstsicher und mische mich unter die Hunde.

2

Meine Mutter arbeitet in Spanien. Seit so langer Zeit, dass ich den Eindruck habe, es sei schon immer so gewesen. Sie arbeitet im Tourismusgewerbe am Strand und kommt einmal pro Jahr in der Nebensaison nach Hause, weil sie das über die Feiertage im Winter irgendwie arrangieren kann. Jahrelang hat sie Rumänien nicht mehr mit grünen Blättern und Blumen gesehen, da sie immer nur kommt, wenn es schlammig ist, die Menschen in dicke Klamotten eingemummelt sind und die Welt grau aussieht. Dann hat sie den Eindruck, dass Rumänien ein trauriges Land ist. Doch manchmal erlebt sie noch den Schnee, der sie wie ein kleines Kind zum Strahlen bringt. Die Mütze rutscht ihr gerne über die Augen, sie zieht die Nase hoch und nimmt die Schaufel, um auf dem Hof Schnee zu schippen. Und dann erzählt sie in Spanien „schau mal, so hoch war der Schnee”, und die wundern sich da und sagen immer wieder, dass sie wenigstens einmal nach Rumänien reisen müssen.

Wenn sie zu mir nach Bukarest kommt, plane ich immer ein Unterhaltungsprogramm – wo wir hingehen und was wir machen können – damit wir nicht nur in der Ein-Zimmer-Wohnung herumhängen und uns langweilen.

Jetzt habe ich uns einen ganzen Tag dafür reserviert, eine Runde durch die Neubausiedlung im Berceni-Viertel zu drehen. So können wir ein bisschen gucken, was da los ist. Ich habe ihr immer wieder Links von neugebauten Hochhäusern geschickt. Falls ich mich dazu entscheiden sollte, einen Kredit aufzunehmen, gibt sie mir die Anzahlung dafür.

Morgens scheint ein bisschen die Sonne, aber bis wir aus dem Haus sind, ist sie schon verschwunden. Der Tag wird wieder grau, genauso wie gestern und vorgestern. Wir nehmen die U-Bahn, steigen bei Victoriei um und nachher verharren wir die ganze lange Fahrt bis Dimitrie Leonida nebeneinander auf den Sitzen. Ich erzähle ihr, dass die neuen Züge in Spanien hergestellt werden und dass das Mädchen, das die Stationen ansagt, in einem gerichtlichen Verfahren mit Metrorex steckt, weil sie ihr Geld nicht bekommen hat. Keine Ahnung, was ich ihr sonst noch über Rumänien erzählen könnte.

„Achso, ist sie nicht aus der Ceauşescu-Zeit?”

„Nein, nein. Sie ist ein junges Mädchen, eine Schauspielerin.” Die U-Bahnstation Dimitrie Leonida ist wie eine Zeitkapsel und meine Mutter mag das, doch sobald wir oben an der Straße ankommen, gefällt es ihr nicht mehr.

„Auweia!”

Wir laufen nach links, wo die Straße abrupt endet. Hin und wieder sieht man zwischen den neugebauten Hochhäusern kleine Höfe – wie auf dem Land – , die der Immobilieninvasion standgehalten haben. Ein Kuhfladen, ein Pferdeschnauben, ein Hahn.

Ich finde es nett. Zumindest liegt es abseits des Stadttrubels. Eine Ein-Zimmer-Wohnung gibt es zum Preis von zwanzigtausend Euro. So etwas findet man nur selten.

„Wo ist denn hier die Kanalisation?”, fragt meine Mutter.

„Ich habe in Foren gelesen, dass diejenigen, die von der Straße weit abgelegen sind, gar keine Kanalisation haben, sondern eine Sickergrube.”

„Was soll denn das heißen, eine Sickergrube?”

„So genau weiß ich das auch nicht.”

„Die werden wohl kaum mit Toiletten-Entsorgungswagen zu den Hochhäusern kommen.”

„Das glaube ich auch nicht.”

Wir gelangen zu einer schlammigen Straße. Ein paar Schritte weiter stoßen wir direkt in der Mitte auf eine riesengroße Pfütze.

„Wo dieses Wasser wohl herkommt? Geregnet hat es doch gar nicht”, sage ich.

„Da ist bestimmt was geplatzt.”

Wir spazieren wahllos auf den Wegen weiter, bis wir mitten in dem wilden Neubaugebiet sind. Manche Straßen sind asphaltiert, andere nicht. Es gibt keine Bürgersteige und die Hochhäuser wirken aneinandergedrängt. Von einem Balkon sieht man auf den nächsten. Wenn man zwischen den Hochhäusern hindurchläuft, ist es, als befinde man sich in einem dunklen Labyrinth. Keine Grünflächen, man kann kaum atmen und trotzdem sind die Häuser bewohnt. Da hängen viele Gardinen vor den Fenstern und unzählige Autos parken ungeordnet auf ungekennzeichneten Plätzen.

Wir kommen an eine Ecke und merken, dass vor uns nur noch Wiese ist. Dort streunt ein Hunderudel umher.

„Finden wir den Weg zurück?“, fragt meine Mutter.

„Ich glaube, wir kamen von da“, sage ich und zeige mit der Hand in eine Richtung, irgendwo hinter uns. „Was meinst du?“

„Keine Ahnung. Lass uns hinlaufen.“

„Kannst du noch? Bist du müde?“, frage ich sie.

„Ich kann noch.“

Wir laufen zurück, an den Hochhäusern vorbei, aber die Straßen verlaufen nicht gerade, sondern scheinen wie zufällig angelegt zu sein, und ich habe den Eindruck, dass der Weg uns wieder in die Irre führt.

„Gehen wir zu schnell?“

„Es wird dich hier keiner besuchen kommen“, sagt sie. „Das ist am Ende der Welt.“

Wir halten an.

„Am besten fragen wir jemanden, damit wir zumindest wissen, ob wir richtig sind“, meine ich.

„Wie hoch ist die Anzahlung bei zwanzigtausend?“ Sie lässt mich nicht antworten und fährt fort:

„Ich glaube, für zwanzigtausend kriegt man die im Kellergeschoss.“

„Ja, weil da ab zwanzigtausend steht …“

Ich mache ein paar Bilder von den Bannern mit den Telefonnummern der Verkäufer.

„Du wirst ein Leben lang für eine Höhle zahlen. Ich gebe dir das Geld, wenn du willst, aber überleg es dir gut.”

„Ich habe dich ja hierhergebracht, damit wir das besprechen können. Was soll ich noch überlegen? Ich kann nicht mehr.”

Seit einem knappen Jahr versuche ich, eine Ein-Zimmer-Wohnung zu finden, die zum Verkauf steht. Ich habe einen festen Arbeitsplatz, ein anständiges Gehalt und bei der Bank einen guten Eindruck hinterlassen. Sie würden mir jederzeit einen Kredit genehmigen. Die Bankangestellte von ING, der Bank, bei der meine EC-Karte für mein Gehalt registriert ist und ich auch das erste Mal nach Details gefragt habe, ruft mich regelmäßig an, um mich zu fragen, ob ich es mir schon überlegt habe. Ich schaue mir ja immer wieder Anzeigen an, habe mir sogar einige Wohnungen angeschaut, aber alle sahen so aus, als ob da gerade eine Oma gestorben wäre. Und ich bin langsam mit jeder von ihnen gestorben. Ich wünsche mir sehr, etwas Neues zu haben.

„Was weiß ich denn, Kleines? Ich weiß es nicht. Aber hier wird dich niemand besuchen ...”

„Es kommt sowieso keiner. Nur du, wenn ich dich vom Flughafen abhole.”

„Das ist bestimmt nicht so.”

„Doch, genauso ist es.”

Wir bleiben stehen, ohne irgendetwas zu sagen. Im nächsten Augenblick taucht eine Frau mit strubbeligem Haar auf, die gerade aus einem Kellerladen, Magazin Mixt, herauskommt.

Ich frage sie, in welcher Richtung es zur U-Bahn-Station geht.

„Ah, da seid ihr hier falsch. Da ist Popeşti-Leordeni. Die U-Bahn ist in der anderen Richtung.”

Wir gehen wieder los, über die bescheuerten Straßen, und versuchen, ein paar Anhaltspunkte in dieser Hochhausgegend zu finden, damit wir uns nicht wieder verlaufen. Wir fragen noch zwei Mal nach, ob wir richtig sind.

Vor der U-Bahn-Station, mit dem Straßenlärm im Hintergrund, sagt meine Mutter zu mir:

„Ich gebe dir das Geld, wenn du willst. Du weißt, dass ich mit all dem, was du entscheidest, einverstanden bin, aber ich sehe für dich hier keine Zukunft. Bis sich alles entwickelt, dauert es bestimmt noch ewig.”

„Ja, ich habe kein Einkaufszentrum gesehen. Aber es gibt eine direkte Verbindung ins Zentrum. In zwanzig Minuten ist man dort ...”

Das Problem ist, dass sich in den Foren alle aufregen. Alle beschweren sich über die neuen Hochhäuser. Dass der Beton schlecht ist, die Rohre zu schmal, dass sie nicht gut isoliert sind oder dass bei manchen Wohnungen die Heizanlage ausgerechnet im Schlafzimmer montiert ist. „Auf keinen Fall sollst du dir eine von denen kaufen, die noch nicht fertig sind”, sagte mein Kollege Paul Dobre zu mir. „Du musst dir unbedingt angucken, was du kaufst. Aber bei den fertigen Hochhäusern gibt es nur noch verfügbare Wohnungen im Keller oder Dachgeschoss. Alles andere ist bereits vergeben.”

Ich fände es schön, wenn Mihai, meine Fernbeziehung, ein bisschen einfallsreicher wäre, wenn er sich wünschen würde, mehr mit mir zusammen zu sein, oder wenn es zumindest eine einzige Sache gäbe, die er sich sehr wünschte.

Früher, als wir beide in Cluj studierten, waren wir ein Paar. Wir haben uns getrennt, weil er sich mir gegenüber gleichgültig verhielt. Hinterher bin ich nach Bukarest gezogen, doch dann haben wir den Kontakt wieder aufgenommen, als einer von uns – ich weiß gar nicht mehr genau wer – den anderen zu Silvester angerufen hat, um einfach mal so „Frohes Neues!” zu wünschen.

Er sagte, er denke noch ab und zu an mich und ich hielt das für ausreichend. So ist alles bei uns, ab und zu. Wir telefonieren ab und zu, wir sehen uns ab und zu. Es ist selten genug, damit die anderen denken, ich sei single. Und ab und zu kommt es mir so vor, als ob ich oft genug an ihn denke, um behaupten zu können, er sei mein Freund. Meine Mutter weiß nichts von ihm. Ich möchte ihr keine falschen Hoffnungen machen.

Das hat er auch zu mir gesagt, dass er mir keine falschen Hoffnungen machen möchte.

„Wenn du jemanden hättest, wäre es was anderes. Zu zweit ist das eine andere Sache”, sagt mir meine Mutter, die seit ihrer dunklen Jugend alleine ist.

„Das weißt du ja ...”