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Kurzbeschreibung:

Jedes Jahr zu Ostern treffen sich die Goldsteins in ihrem Ferienhaus im Odenwald. Als Familie feiert man solche Feste schließlich gemeinsam. Doch dieses Mal läuft nicht alles nach Plan, und so findet sich plötzlich der älteste Sohn Alexander in der ungewohnten Rolle des Gastgebers wieder, der für das leibliche Wohl von zehn Personen zu sorgen hat.

Zum Glück erklärt sich seine Zufallsbekanntschaft Sina spontan bereit, ihm zu helfen. Erleichtert willigt Alexander ein, obwohl er so gut sie nichts über Sina weiß - außer, dass sie ein kleines Café besitzt und eine begnadete Köchin ist. Was er aber nicht ahnt: Sie ist seit viele Monaten unsterblich in ihn verliebt.

Mit ihren raffinierten Kreationen brät und backt sich Sina schnell in die Herzen von Alexanders Verwandtschaft. Doch wird es ihr auch gelingen, sein Herz zu erobern?

Heike Wanner

Schokohasenküsse

Eine Frühlingsgeschichte


Edel Elements

Kapitel 1

Schokoladenmuffin und Cappuccino

Sina

Er heißt Alexander Goldstein und kommt jeden Morgen in meine Bäckerei.

Zwischen 7.25 Uhr und 7.28 Uhr.

Von Montag bis Freitag.

Immer pünktlich.

Und immer ein wenig in Eile.

Um 7.45 Uhr geht seine S-Bahn, die ihn in die Frankfurter Innenstadt bringt. Dort arbeitet er bei einem großen Bauunternehmer. Erfolgreich, wie ich vermute, denn seine Anzüge, sein Smartphone und selbst seine Aktentasche sehen nicht nur topmodisch, sondern auch ziemlich teuer aus.

Außerdem scheint ihn dieser Job so sehr in Anspruch zu nehmen, dass ihm kaum Zeit für die kleinen, alltäglichen Dinge des Lebens bleibt. Deshalb beschäftigt er auch eine Putzfrau, bestellt die meisten Lebensmittel online, gibt seine Hemden zum Bügeln in die Wäscherei und kauft all seine Snacks bei mir im Laden.

Zum Frühstück will er immer einen Schokoladenmuffin und einen großen Cappuccino. Für die Mittagspause darf es auch gern etwas Herzhaftes sein: Ein Sandwich, eine pikant gefüllte Teigtasche oder eine Käsebrezel. Dazu nimmt er einen Salat, eine große Flasche Mineralwasser und einen frisch gepressten Orangensaft. Und am Nachmittag gönnt er sich ein Stück Kuchen, das ich ihm doppelt einpacke, damit es schön frisch bleibt.

Er kann sich diese üppige Speisenfolge leisten – sowohl finanziell als auch, was seine Figur betrifft. Denn er ist Mitglied im angesagtesten Fitnessstudio der Stadt, rudert am Wochenende auf dem Main und verbringt seine Ferien in exotischen Luxushotels mit großem Sportangebot.

Auch sonst achtet er sehr auf seine Gesundheit, geht regelmäßig zum Zahnarzt und hat, bis auf kleinere Probleme im rechten Knie, noch keine Beschwerden. Sollte er auch noch nicht, schließlich ist er erst neunundzwanzig Jahre alt. Sternzeichen Skorpion. Evangelisch. Mit einem Master in Innenarchitektur, inklusive eines Auslandssemesters in Florida.

Und – ganz wichtig! – Single.

Woher ich das alles weiß?

Weil ich zuhören kann.

Wie die meisten meiner Kunden, so kramt auch Alexander Goldstein sofort sein Telefon hervor, wenn es bei mir im Geschäft voll wird, und er mal etwas länger warten muss.

Eigentlich finde ich dieses Verhalten extrem unhöflich. Denn in dem Moment, wo das Handy eingeschaltet wird, wird die Aufmerksamkeit für die Umgebung auf ein Minimum zurückgefahren. Oft genug muss ich meine Kunden mehrmals ansprechen, bevor sie reagieren. Was haben die Leute eigentlich gemacht, bevor es Mobiltelefone gab? In die Luft gestarrt? Bis hundert gezählt? Das Kuchenangebot bewundert?

Ich weiß es schon gar nicht mehr so genau.

Bei Alexander ist es sowieso etwas völlig anderes: Ihm kann ich einfach nicht böse sein, wenn er am Handy hängt.

Im Gegenteil!

Er spielt nämlich nicht nur damit herum, sondern telefoniert auch gern. Regelmäßig ruft er seine Sekretärin an. Seine Freunde. Diverse Handwerker. Geschäftspartner. Und natürlich seine Verwandtschaft. Insbesondere seine Mutter scheint sehr neugierig zu sein und fragt viele interessante Dinge.

Ich muss gar nichts weiter machen als mich beim Bedienen auf diese Telefongespräche zu konzentrieren. Was mir trotz des Stimmengewirrs normalerweise auch ganz gut gelingt. Auf diese Weise werden meine Informationen über ihn ständig aktualisiert.

Warum ich das mache?

Weil ich neugierig bin.

Und weil ich gar nicht anders kann. Nicht, was ihn betrifft.

Denn seit unserem ersten Treffen vor zwei Jahren, einem Monat und elf Tagen bin ich rettungslos und unsterblich in Alexander Goldstein verliebt.

Alexander

Die Schokoladenmuffins sind meistens noch warm, wenn ich sie kaufe. Und sie duften köstlich nach Vanille, Butter und Karamell. Am liebsten würde ich meine Nase während der gesamten S-Bahnfahrt in die Papiertüte stecken.

Aber das würde ziemlich albern aussehen, also beherrsche ich mich. Stattdessen wende ich mich morgens im Zug immer dem Zweitschönsten zu, was der Tag zu bieten hat: dem leckeren Cappuccino, der in einem knallbunten Pappbecher mit himmelblauem Deckel serviert wird. Und übrigens fast ebenso gut duftet wie der Muffin. Nach dem ersten vorsichtigen Schluck kann ich förmlich spüren, wie der heiße Kaffee durch meine Adern fließt und meine Lebensgeister weckt.

Müllers Tortensofa steht in verschnörkelter weißer Schrift auf dem Plastikdeckel. Ein ziemlich alberner Name für so ein tolles Geschäft.

Zum Glück habe ich mich vor zwei Jahren dadurch nicht abschrecken lassen, sondern bin einfach dem verführerischen Duft nach frisch gebackenem Kuchen gefolgt – und fand mich plötzlich in einer winzigen Bäckerei wieder, die erstaunlich viel zu bieten hat. Inzwischen bin ich längst Stammkunde geworden und habe mich hundertfach durch das gesamte Sortiment gegessen.

Ich liebe diesen Laden!

Tolles Angebot, moderate Preise und günstige Lage direkt am S-Bahnhof – was will man mehr? Außerdem wird man immer mit einem freundlichen Lächeln bedient.

Zugegeben: Bei der Einrichtung des Geschäftes wurden sämtliche Konzepte harmonischer Raumgestaltung missachtet. Als Innenarchitekt stört mich das schon ein bisschen. Farben, Materialien und Proportionen wirken nicht aufeinander abgestimmt, sondern wurden bunt kombiniert. Auch Beleuchtung und Akustik sind eher suboptimal.

Überraschenderweise ist bei diesem Stil-Mix aber trotzdem etwas halbwegs Ansprechendes herausgekommen. Ein altes, gläsernes Kuchenbuffet nimmt fast die Hälfte des Verkaufsraums ein, gut gefüllt mit goldbraunen Muffins, knusprigen Waffeln und saftigen Blechkuchen. Daneben, in einem separaten Bereich des Buffets, sind die herzhaften Backwaren angerichtet: Laugenbrötchen, Käsebrezel, belegte Brote, bunte Pizza-Stückchen und gefüllte Teigtaschen.

Natürlich darf auch ein großer Kaffee-Vollautomat nicht fehlen, der hinter der Theke auf einem alten Holztisch steht, eingerahmt von mehreren Stapeln mit Tassen, Tellern und Servietten. Darüber hängt eine lange schwarze Tafel, auf der in schnörkelloser Kreideschrift die täglichen Angebote notiert werden.

Gleich am Eingang kann man sich aus einem modernen Kühlregal bedienen, das mit frisch gepressten Säften, Salaten, Milchgetränken und Mineralwasser gut sortiert ist. Und mitten im Schaufenster steht ein geblümtes Sofa, das dem Geschäft seinen Namen gegeben hat. Blaue Kissen, ein schmaler Tisch mit Spitzendecke und eine alte Stehlampe mit Troddeln geben dem Ganzen etwas Retromäßiges, aber auch sehr Gemütliches.

Trotzdem – wer setzt sich schon freiwillig ins Schaufenster?

Ich bestimmt nicht.

Ich habe das bislang nur ein einziges Mal gemacht, allerdings nicht ganz freiwillig. Damals handelte es sich um einen Notfall mit einer alten Dame, ich kann mich gar nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern.

Ist schon zu lange her.

Sina

Bei mir war es Liebe auf den ersten Blick – damals, vor zwei Jahren, einem Monat und elf Tagen.

Ich weiß noch genau, dass ich an diesem Februarmorgen gerade auf der Leiter stand und dabei war, die Angebotstafel neu zu beschriften. Ich weiß sogar noch, dass ich die Worte Schokoladenbrötchen und Zwiebelstange bereits geschrieben hatte und auf der Suche nach bunter Kreide war, die ich mir vorher in die Hosentasche gesteckt hatte.

Und dann öffnete sich plötzlich die Tür, und Alexander kam herein. Sehr elegant, mit dunklem Mantel, grauem Wollschal, schwarzer Hose und Lederschuhen. In der einen Hand hielt er eine Aktentasche, in der anderen einen Regenschirm. Beide Accessoires waren schlicht, passten aber perfekt zu seiner Kleidung.

Doch es war nicht dieses geschmackvolle Outfit, das mich sofort in den Bann zog, sondern sein Gesicht: Klare, hellblaue Augen, dunkle, kurzgeschnittene Haare, hohe Wangenknochen, gebräunte Haut und ein kleines Grübchen am Kinn – das sich übrigens immer dann verstärkt, wenn er lächelt, wie ich später noch oft genug feststellen konnte.

Kurz gesagt: Er sah fantastisch aus, und ich konnte meine Augen einfach nicht mehr von ihm abwenden. Als er mich auf der Leiter entdeckte, immer noch mit einer Hand in der Hosentasche, runzelte er die Stirn, und für einen winzig kleinen Moment trafen sich unsere Blicke.

Hatte ich jemals ein schöneres Blau gesehen?

Nein, gab ich mir selbst die Antwort.

Das hier war eine Premiere, eine besonders intensive und mitreißende noch dazu. Blöd nur, dass ich dabei auf einer Leiter stand. Meine Knie wackelten, und jetzt wurde mir auch noch schwindelig. Vorsichtshalber hielt ich mich mit der freien Hand an der Leiter fest.

„Guten Morgen zusammen“, sagte er mit angenehm dunklem Tonfall und reihte sich in die Schlange der Kunden ein, die von Ellie, meiner einzigen Angestellten, langsam abgearbeitet wurde.

O Gott, diese Stimme!

Ich unterdrückte einen begeisterten Seufzer, während ich mein Gleichgewicht stabilisierte und so tat, als müsse ich die Kreide, die ich jetzt endlich aus der Hosentasche hervorgekramt hatte, auf Wasserflecken untersuchen.

Eine ziemlich sinnlose Tätigkeit, aber Hauptsache, ich sah dabei beschäftigt aus! Aus den Augenwinkeln heraus jedoch beobachtete ich den neuen Kunden genau. Er wartete geduldig in der Schlange, sah sich dabei im Laden um und hielt dann einer jungen Mutter mit Kinderwagen die Eingangstür auf.

Jetzt hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre vor Begeisterung tatsächlich von der Leiter geflogen. Dieser Mann war nicht nur ausgesprochen gutaussehend, sondern auch noch achtsam und höflich!

Übrigens ein Eindruck, der sich in den nächsten Wochen noch verstärken sollte. Und der bis heute anhält. Denn immer noch macht Alexander jedes Mal, wenn er nahe am Eingang warten muss, den anderen Kunden die Tür auf. Manchmal lässt er sogar Kunden vor, die es noch eiliger haben als er.

Am meisten beeindruckt hat mich seine Hilfsbereitschaft jedoch, als es einer älteren Dame im vergangenen Winter bei mir im Laden schlecht wurde.

Es war ein sehr kalter, schneereicher Tag. Das Geschäft war warm und voller Kunden, die Luft stickig. Ellie und ich kamen kaum mit dem Bedienen hinterher. Deshalb bemerkte ich auch nicht sofort, dass sich eine grauhaarige Frau im Lodenmantel plötzlich unwohl fühlte. Erst als Alexander sie ansprach und zum Sofa führte, wurde ich aufmerksam. Doch da hatten sich die beiden bereits gesetzt, und Alexander redete beruhigend auf sie ein.

Als ich an den Tisch trat, blickte er nur kurz auf und bestellte ein Glas Wasser bei mir, bevor er sich wieder ganz auf die ältere Dame konzentrierte.

Zum Glück ging es ihr nach ein paar Minuten wieder besser, aber Alexander bestand trotzdem darauf, seinen Schützling nach Hause zu begleiten.

Seit diesem Erlebnis mag ich ihn noch viel lieber.

Falls das überhaupt möglich ist …

Kapitel 4

Blechkuchen mit Marzipanstreuseln

Sina

Pünktlich um neunzehn Uhr steht Alexander wieder vor meinem Laden.

Ich habe schon abgeschlossen und rechne gerade die Tageseinnahmen zusammen, als er an der Tür klopft – immer noch in Anzug und Krawatte, anscheinend ist er direkt vom Büro aus hergekommen.

Das bedeutet, dass er Hunger und Durst hat.

Perfekt!

Ich habe nämlich einen kleinen Imbiss für uns vorbereitet.

Frisch gebackenes Brötchenkonfekt, pikante Käsecreme und Oliven vom Griechen gleich nebenan, eine Flasche Wein aus dem italienischen Supermarkt, und zum Nachtisch gibt es Blechkuchen mit Marzipanstreuseln – seinen Lieblingskuchen, der montags eigentlich gar nicht auf meinem Programm steht. Doch ihm zuliebe habe ich mich vorhin noch einmal in die Backstube gestellt.

Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Der Kuchen ist erst seit einer Stunde aus dem Ofen und verströmt den typisch warmen und süßen Duft von frisch gebackenem Teig.

Auch an mir selbst habe ich gearbeitet, um mich etwas ansehnlicher zu machen. In der Mittagspause bin ich sogar extra nach Hause gelaufen, habe die Haare gewaschen und meine schönste Arbeitsbluse angezogen. So ein kurzärmliges Teil mit blauen und roten Streifen in Längsrichtung, die mich hoffentlich ein wenig schlanker erscheinen lassen.

„Kommen Sie rein!“ Ich verschließe die Tür wieder und deute auf das Sofa. „Setzen Sie sich doch!“

Er nimmt Platz, zieht sein Jackett aus und schaut sich interessiert um. „Ohne Kuchen und Brötchen wirkt das Geschäft irgendwie unheimlich. So leer.“

„Ja, ich weiß.“

Ich habe bereits alle Deckenlichter gelöscht, nur die alte Stehlampe neben dem Sofa brennt noch und verbreitet eine angenehm gemütliche Stimmung. Um für ein wenig mehr Privatsphäre zu sorgen, habe ich auch die Verdunkelungsrollos am Schaufenster heruntergezogen. Das mache ich oft, wenn ich abends noch im Laden zu tun habe.

„Tja, also …“ Er räuspert sich ein paarmal und mustert mich abschätzend.

Prompt erröte ich. An diesen ständigen Blickkontakt werde ich mich erst noch gewöhnen müssen. „Ja?“

„Das kam heute Morgen alles ein wenig plötzlich.“

Oh nein! Er wird unser Vorhaben doch wohl hoffentlich nicht wieder abblasen wollen? „Möchten Sie … möchten Sie lieber doch nicht, dass ich … äh …?“

„Natürlich will ich! Sie sind das Beste, was mir in dieser blöden Situation passieren konnte.“ Jetzt wechselt meine Gesichtsfarbe sicherlich von Rot auf Pink. „Aber was ist mit Ihnen? Vielleicht sind Ihnen mittlerweile Bedenken gekommen?“

Soll das ein Witz sein? „Nein.“

„Dann halten Sie unsere Vereinbarung immer noch für eine tolle Idee?“

„Ja. Ich kann das Geld nämlich gut gebrauchen. Und ich bin neugierig auf den Odenwald.“

Das war jetzt nicht einmal gelogen, jedenfalls nicht sehr.

„Von wie viel Geld reden wir eigentlich?“

Ich nenne ihm eine Summe, über die ich den ganzen Tag nachgedacht habe. Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Es soll schließlich echt wirken.

Er nickt. „Das ist ein fairer Preis.“

„Von wann bis wann werden wir weg sein?“

„Von Donnerstag bis Montag. Ist das okay?“

„Ja, das kann ich einrichten.“

„Also sind wir uns einig.“

Er klingt erleichtert, und wir schütteln uns etwas förmlich die Hand. Meine Finger zittern ein wenig. Ich hoffe, er bemerkt das nicht. Außerdem verspüre ich plötzlich so eine Art Kribbeln zwischen uns – was mich nur noch nervöser macht, als ich ohnehin schon bin. Rasch ziehe ich meine Hand zurück.

Alexander scheint meine Unsicherheit nicht zu spüren. Das Kribbeln hat er vermutlich auch nicht bemerkt, denn er sitzt immer noch vollkommen entspannt da. „Wir sollten Du zueinander sagen“, schlägt er vor. „Gute Freunde siezen sich nicht.“

Wo er recht hat, hat er recht. „Ich bin Sina. Sina Müller.“

„Alexander Goldstein.“

„Alexander“, wiederhole ich und lasse mir für jeden Buchstaben extra viel Zeit. Es ist schließlich das erste Mal, dass ich ihn so nennen darf.

„Also, Sina …“, beginnt er. „Wir haben noch ein bisschen Arbeit vor uns. Wir müssen Speisepläne entwerfen und Einkaufslisten schreiben. Und dann sollten wir auch noch ein paar Informationen übereinander austauschen. Es wäre auffällig, wenn wir gar nichts voneinander wüssten.“

„Gute Idee!“

Dieser Informationsfluss wird einseitig ausfallen, denn ich weiß ja schon viel über ihn. Aber egal – solange das bedeutet, dass er neben mir auf dem Sofa sitzt und sich mit mir unterhält, höre ich mir das gern alles noch einmal an.

Vorher jedoch sollte er noch von den guten Sachen probieren, die ich vorbereitet habe. „Wollen wir nicht zuerst etwas essen? Sie müssen … ich meine … du musst hungrig sein.“

„Das bin ich.“ Erfreut lässt er seinen Blick über die Köstlichkeiten auf dem Tisch wandern. „Sehr sogar.“

„Na dann, guten Appetit!“

Alexander

Diese Frau kann hellsehen.

Anders kann ich mir das nicht erklären. Sie hat mit sicherem Instinkt genau meine Lieblingsspeisen erwischt: schwarze Oliven zum Beispiel, lecker eingelegt in Thymian und Rosmarin. Frische Mini-Brötchen. Und Käsecreme, die mit Paprika, Knoblauch und Kräutern pikant gewürzt ist.

„Oliven und Käse sind vom Griechen nebenan“, sagt sie, als ich mir zum dritten Mal nehme.

„Das dachte ich mir. Da hole ich hin und wieder mein Abendessen.“

„Wirklich?“ Sie lächelt in sich hinein und nippt an ihrem Rotweinglas.

Auch beim Wein hat sie genau meine Lieblingssorte erwischt: einen Barolo, ein verteufelt gutes Zeug. Nach dem zweiten Glas wird mir warm, und ich ziehe meine Krawatte aus.

„Mach es dir ruhig bequem!“, kommentiert sie das mit einem weiteren Lächeln. „Und dann erzählst du mir alles, was ich über deine Familie wissen muss.“

„Wir sind ein ziemlich bunter Haufen.“

Normalerweise bin ich nicht sehr mitteilsam, was mein Privatleben betrifft. Aber Sina muss ja schließlich wissen, mit wen sie es zu tun kriegt. Außerdem hat sie irgendetwas an sich, das mich zum Reden bringt.

Das … oder der Wein.

„Meine Oma Trudi ist schon siebenundachtzig Jahre alt und wegen ihres Gelenkrheumas in ihren Bewegungsmöglichkeiten stark eingeschränkt. Aber ansonsten ist sie topfit.“

„Lebt sie allein?“

„Sie wohnt in einer kleinen Einliegerwohnung bei meinen Eltern in Aschaffenburg.“

„Sind die beiden noch berufstätig?“

„Ja. Mein Vater hat eine eigene Schreinerei, und meine Mutter ist Lehrerin. Jörg und Renate, ihre Namen solltest du kennen. Und dann gibt es noch meine große Schwester Nora und ihren Mann Tom, die gemeinsam eine Anwaltskanzlei führen. Sie haben inzwischen drei Kinder: die vierjährige Leonie und die beiden Babys Oskar und Paul.“

„Zwillinge?“

„Ja. Vor zweieinhalb Monaten auf die Welt gekommen.“

„Wohnen sie auch in Aschaffenburg?“

„Nein, im Umland, aber nicht weit von der Stadt entfernt.“ Ich gieße uns noch ein Glas Wein ein.

„Lass dir bitte noch ein wenig Platz für den Nachtisch!“, sagt Sina und deutet auf den Streuselkuchen.

„Der hat immer Platz“, behaupte ich und nehme mir gleich mal ein Stück.

Wie lecker! Der goldgelbe Boden schmeckt weich und saftig, die Streusel süß und knusprig. Genießerisch verdrehe ich die Augen. „Ich glaube, ich bin im Paradies gelandet“, murmele ich mit vollem Mund.

Sie lacht.

Jetzt, wo sie ihre anfängliche Schüchternheit abgelegt hat, tut sie das häufiger, und es gefällt mir. Bislang habe ich sie ja kaum wahrgenommen. Für mich war sie lediglich einer von vielen Menschen, die mir den Alltag erleichtern.

Aber nun stelle ich überrascht fest, wie klug, humorvoll und warmherzig sie ist. Ich fühle mich wohl in ihrer Nähe.

Und auch ihr Äußeres kann sich durchaus sehen lassen. Natürlich nur, wenn man auf kleine blonde Frauen in gestreiften Blusen steht …

Ich bin so vertieft in meine neuen Erkenntnisse, dass ich ihre nächste Frage überhöre.

„Hast du noch mehr Geschwister?“, wiederholt sie, als sie meinen fragenden Blick bemerkt.

„Es gibt noch Jonathan, meinen jüngeren Bruder. Der ist das schwarze Schaf in unserer Familie.“

„Warum?“

„Zweimal sitzengeblieben, einmal vorbestraft und mehrere Studiengänge abgebrochen. Er mogelt sich mehr schlecht als recht durchs Leben.“

„Manche Menschen brauchen länger, um ihren Weg zu finden.“

Ich winke ab. „Mein Bruder will seinen Weg gar nicht finden, der irrt gerne planlos umher. Hin und wieder gabelt er am Wegesrand ein Mädchen auf. Seine derzeitige Flamme heißt Kim und wird auch im Forsthaus sein.“

Sie runzelt die Stirn. „Das sind jetzt, uns und die Kinder mitgerechnet, zwölf Personen.“

„Sind das zu viele? Willst du es dir noch mal überlegen?“ Auch ich bekomme plötzlich Angst vor so viel Verantwortung.

„Nein, nein, schon okay. Ich stehe zu meinem Wort.“

„Super!“ Erleichtert nehme ich mir noch ein Stück Streuselkuchen. „Du wirst schon sehen, mit der richtigen Planung wird das alles perfekt klappen.“

Kapitel 3

Süßer Tee mit Kandis und Mandelgebäck

Sina

„Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“

Kaum ist Alexander verschwunden, steht Ellie vor mir, mit blitzenden Augen, geröteten Wangen und die Fäuste in die Hüften gestemmt.

So sieht sie immer aus, wenn sie sich aufregt – was normalerweise selten der Fall ist. Ellie ist eine Seele von Mensch, still, verlässlich und klug. Und nicht nur meine Kollegin, sondern auch meine beste Freundin.

Heute allerdings wirkt sie alles andere als ruhig.

„Du kannst dich doch nicht einfach so bei ihm einladen!“, schimpft sie.

„Warum nicht? Er braucht Hilfe.“

„Beim Kochen!“

„Na und?“

„Und das nutzt du sofort schamlos aus. Hast du gar kein schlechtes Gewissen, weil du ihm so viele Lügen auftischst? Sina Müllers Rundum-Sorglos-Paket. Ich fasse es nicht!“

„Aber Ellie! Verstehst du das denn nicht? Ich bekomme endlich die Chance, ihn näher kennenzulernen. Wer weiß, was sich daraus entwickelt?“

„Gar nichts. Beziehungen, die auf Lügen basieren, haben noch nie funktioniert.“

„Ich werde ihm schon noch die Wahrheit sagen.“

„Ach ja, und wann? Vor dem ersten Sex? So lüstern, wie du ihn angeschaut hast, kann das ja nicht mehr lange dauern.“

„Du spinnst!“

„Ich will doch nur dein Bestes.“ Versöhnlich legt Ellie eine Hand auf meine Schulter. „Meinst du, ich weiß nicht, wie viel er dir bedeutet?“

„Ist das so offensichtlich?“

„Für mich schon. Jeden Morgen, kurz bevor er kommt, rennst du zum Klo und bürstest deine Haare. Und dann, wenn er in der Schlange wartet, bist du genau so lang beschäftigt, bis er an der Reihe ist und du ihn bedienen kannst. Immer kriegt er die besten Kuchenstücke, die größten Brötchen und dein schönstes Lächeln. Das alles ist irgendwie süß und schadet keinem.“ Sie unterbricht sich, um Luft zu holen. „Aber das, was du gerade gemacht hast, ist eine ganz andere Nummer.“

„Ich bin endlich einen Schritt weiter gegangen.“

„Am Ende des Weges wartet aber nicht das Happy End auf dich, sondern eine riesige Enttäuschung. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du eine Chance bei ihm hast?“

„Warum nicht?“, erkundige ich mich, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich tatsächlich hören will, was Ellie zu sagen hat. Sie hat ein untrügliches Gespür dafür, die Wahrheit zu erkennen und laut auszusprechen.

Aber fragen muss ich trotzdem.

„Er ist Stammkunde bei uns“, entgegnet sie. „Dennoch hat er dich bis zum heutigen Morgen nicht ein einziges Mal richtig wahrgenommen. Das spricht nicht für echtes Interesse. Für ihn bist du nur eine gesichtslose Verkäuferin.“

„Das wird sich jetzt ändern.“

„Aber klar doch!“

„Natürlich“, beharre ich trotzig. „Sonst hätte er mich doch nicht engagiert.“

„Er hat dich engagiert, weil du ihm eine bequeme Lösung für sein Problem geboten hast. Du kochst, er zahlt. Mehr nicht.“

„Abwarten.“

„Ach, Sinalein“, seufzt Ellie und tätschelt noch einmal liebevoll meine Schulter. „Eine Frau, die sich mit Lügen die Aufmerksamkeit eines Mannes erschleicht, der sie vorher noch nie beachtet hat – das ist keine gute Kombination. Da kannst du noch so tolle Dinge in der Küche zaubern …“

Alexander

„Hallo, Mama!“

Ich habe mit diesem Anruf extra bis zum Mittag gewartet.

Zum einen, weil ich weiß, dass meine Mutter am Morgen immer sehr ausführlich Zeitung liest und dabei nicht gestört werden will. Zum anderen wollte ich mir aber auch bewusst ein wenig Zeit lassen, um meinen spontanen Beschluss im Bäckerladen noch einmal zu überdenken.

Diese kleine blonde Verkäuferin hat mich heute Morgen mit ihrem Vorschlag förmlich überrumpelt. Normalerweise lasse ich mich gar nicht so einfach überzeugen. Ich prüfe immer gerne alle möglichen Vor- und Nachteile einer Entscheidung.

Aber so sehr ich mir auch den Kopf zerbreche, ich finde keinen Haken an unserem Arrangement. Dass sie wunderbar backen kann, weiß ich seit Langem. Ihre Kochkünste sind vermutlich ähnlich gut. Meine Familie wird begeistert sein, und mir nimmt sie damit einen Haufen Arbeit ab.

Dass ich eine kleine Notlüge erfinden muss, damit sie zu uns in die Küche darf, ist auch okay. Solange sie mitspielt, wird niemand die Wahrheit erfahren.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass ich gute Freunde mit in den Odenwald bringe. Bislang hat meine Verwandtschaft diese Leute immer sehr herzlich aufgenommen. Die Kleine wird sich also wohlfühlen, ich muss kein schlechtes Gewissen haben.

Außerdem bezahle ich sie ja auch für ihre Leistungen …

„Alexander?“ Die Stimme meiner Mutter klingt überrascht. „Ist etwas passiert? Du rufst sonst nie zweimal am Tag an.“

„Nein, alles gut. Was machst du gerade?“

„Ich trinke Tee. Den guten Darjeeling, mit viel Kandis. Und dazu esse ich Mandelgebäck.“

Prima! Mit so viel Zucker im Blut hat sie sicherlich gute Laune.

„Ich muss etwas mit dir besprechen.“

„Was denn?“

„Du hast mich doch heute früh gefragt, ob ich zu unserem Familientreffen jemanden mitbringen will, und jetzt würde ich tatsächlich gern …“

„Endlich fasst du dir ein Herz!“, unterbricht sie mich. Sie klingt erleichtert und aufgeregt zugleich. „Ich vermute ja schon länger, dass du wieder verliebt bist. Aber du verstehst es wunderbar, daraus ein Geheimnis zu machen. Sie ist uns natürlich herzlich willkommen.“

„Nein, nein, du liegst völlig falsch. Es geht um jemanden, den ich kenne und der das Osterfest ansonsten allein verbringen müsste.“

„Oh, also reden wir hier von einem deiner Freunde?“

„Nicht ganz. Mehr so … von einer Freundin.“

Es bleibt still in der Leitung.

„Mama?“

Eine Freundin?“, wiederholt sie gedehnt. „Aber nicht deine Freundin?“

„Richtig. Sie ist ein guter Kumpel von mir. Sozusagen meine beste Freundin.“

„Hm … seit wann hast du so etwas?“

„Schon länger.“

„Bislang hast du sie nie erwähnt.“

„Doch, das habe ich bestimmt.“

„Wie heißt sie denn?“

Verdammt! Das weiß ich nicht. Heute Morgen ging alles so schnell, wir haben uns nicht einmal richtig vorgestellt.

Müllers Rundum-Sorglos-Paket