Hermann Obert

Wege einer
Prokuristin

Ein Autor muss nichts erfinden, das Leben ist so reich an Erlebnissen. Natürlich ist meine Erzählung eine Fiktion, sind die Handelnden Gestalten meiner Fantasie. Ich habe versucht Erlebtes und Beobachtetes auf Marion Bleibtreu, Theo Tüchtig und den Mitmenschen um sie herum zu transformieren. Vieles hat sich so oder in ähnlicher Weise zugetragen, manches wünsche ich mir, dass es sich vermehrt zutragen würde: Zusammenhalt, Vertrauen, Fleiß, Freude, Liebe und Respekt.

Montag, 22. Juni 2015

Das mittägliche Abschiedszeremoniell an jenem Montag war bewegend gewesen. Die helle Junisonne hatte geschienen und entsprechend war auch die Stimmung gut gewesen. Nun zogen Regenwolken auf und Theos Stimmung trübte sich unwillkürlich ein. Da fuhr er nun weg, der Tieflader mit seiner Alten Klöckner. Julius und seine Mannschaft hatten die alte Kunststoffspritzgießmaschine am Vormittag umsichtig in ihre einzelnen Komponenten zerlegt und pünktlich zur Mittagspause mit dem großen Stapler auf die Ladefläche des LKW-Aufliegers gehievt. Wie lange würde die Fahrt mach Wöckingen dauern, wann wäre der Wiederaufbau bei den Eisenbahnfreunden erfolgt und wann könnte wieder auf der Maschine produziert werden? Würde die vorproduzierte Ware ausreichen, die Bedarfe der Kunden zu befriedigen? Die Nachfolgemaschine, die K4000XL würde am Samstag angeliefert werden. Sie würde noch größer sein. Ob auch alles durch das Rolltor durchpassen würde und die Aufstellungsfläche wie geplant ausreichte? Mit der K4000XL hatten seine Leute noch keine Erfahrung. Wie würden das Aufstellen und die Inbetriebnahme erfolgen? Er musste von der Firma Bergengrün, bei der zuvor die Maschine eingesetzt wurde, ein Formwerkzeug ausleihen, um die Funktionstüchtigkeit der neuen Maschine feststellen zu können. Immerhin könnte die Lohnfertigung die Zeit bis zur Fertigung des CM17, den 17 Liter Eimer für Color-Mix, überbrücken. Noch um zwölf stand der Firmenchef zuversichtlich, fast ein wenig stolz auf dem beladenen Tieflader und verkündete der anwesenden Belegschaft den Aufbruch neuer Zeiten, die Wachstum und Prosperität versprechen sollten. Und nun, da der Lastzug mit bulligem Dröhnen vom Fabrikhof schlich, überkamen Theo auf einmal Zweifel an seiner getroffenen Entscheidung. Sicher, Marion die Prokuristin, Julius sein Fertigungsleiter, Daniel der Entwickler, alle seine Experten hatten mit ihm viele erdenkliche Einzelheiten und Szenarien erörtert und die bestmögliche Lösung ausgearbeitet. „Never change a running system!“, ging es ihm durch den Kopf. Alles war vorher doch so reibungslos gelaufen: Das Zweischichtmodell eingeschwungen, die Maschinen ausgelastet, das Personal beschäftigt, die Auftragslage auskömmlich. Und dennoch traf er als Unternehmer die Entscheidung, den großen Auftrag von Color-Mix anzunehmen, mit all den Konsequenzen: Beschaffung der größeren Kunststoffspritzgießmaschine, Einführung der Nachtschicht, ausgelagerte Fertigung in einer verlängerten Werkbank in Wöckingen und der Einstellung weiterer Mitarbeiter samt Auszubildenden.

Julius, sein Fertigungsleiter und Achim Hammer, der Meister für die einzuführende Nachtschicht und die ausgelagerte Produktion in Wöckingen, traten aus der Halle 2 heraus und näherten sich Theo. Sie schienen die nachdenkliche Stimmung ihres Chefs zu erkennen, denn sie zögerten erst ihn anzusprechen. „Theo, alles ok?“, wurde dieser von Julius angesprochen. Theo wandte sich um und seine trüben Gedanken wichen, als er die zwei Männer erblickte. Sein erfahrener Fertigungsleiter und der hochmotivierte neue Meister schienen vor Tatendrang schier aus den Fugen zu geraten. „Die Alte Klöckner haben wir heute Morgen doch zügig filetiert?“ Julius erwartete keine Antwort, sondern fuhr sogleich fort. „Herr Hammer und ich wollen nun nach Wöckingen, um das Abladen dort zu beaufsichtigen. Vielleicht können wir mit Bernd Schlot und seinen Leuten schon mit der Aufstellung beginnen.“ Theo hatte seine alte Zuversicht wiedergewonnen. „Es ist am Morgen wirklich gut gelaufen. Übernehmt euch aber mit dem Aufstellen am Nachmittag nicht. Wir haben ja noch den ganzen Dienstag, um im Plan zu sein. Die Werker von den Eisenbahnfreunden müssen sich mit der neuen Maschine auch erst vertraut machen.“ Achim Hammer identifizierte sich mit seinem neuen Aufgabengebiet voll und ganz. „Herr Tüchtig, so wie ich den Bernd Schlot kenne, können die es auch kaum erwarten, in ihren Hallen eine Spritzgussmaschine in Betrieb zu nehmen. Und morgen schon soll auch die Drahtbiegemaschine angeliefert werden. Das geht alles Schlag auf Schlag!“ Damit verabschiedeten sich die beiden, um sich mit Julius Auto auf den Weg zu machen.

Theo ging nun zum Hallenschiff und trat durch die Fußgängertür ein. War die Produktion am Vormittag durch die Abbaumaßnahmen der alten 250 Tonnen Maschine stark beeinträchtigt gewesen und stundenweise ganz zum Erliegen gekommen, schnauften und zischten die Maschinen jetzt wieder im gewohnten Rhythmus. Lediglich links hinten konnte man an der großen freien Fläche und den freiliegenden Versorgungsleitungen eine Veränderung feststellen. Theo war äußerst zufrieden und schritt anerkennend an den Maschinenbedienern vorbei, um an dem nun leer gewordenen Areal auf den Vorarbeiter, Klaus Hurtig zu stoßen. Dieser und der vor kurzem erst in die Spätschicht gewechselte Alois Bock waren damit beschäftigt, die Versorgungsleitungen vor Beschädigungen und unbeabsichtigten Berührungen zu sichern. „Guten Tag Herr Tüchtig. Wir werden die Gitterboxen für die Materialbereitstellung neu anordnen müssen. Den Schrank werden wir ganz an die Außenwand rücken. Dann sollte die notwendige Fläche für die K4000XL groß genug sein.“ Herr Bock bückte sich zu Boden und begann damit, die alten gelben Markierungen zu entfernen. „Die neuen Markierungen bringen wir dann morgen an, wenn Herr Stetig den Verlauf nochmal mit dem Hallenplan abgeglichen hat.“ Die Meisterin kam inzwischen von ihrem Rundgang durch die Montage zurück und gesellte sich zu den Dreien. Theo nickte ihr anerkennend zu. „Frau, Wolja, großes Kompliment, das läuft ja wieder wie wenn nichts gewesen wäre.“ Sie freute sich sichtlich über diese Anerkennung. „Danke Herr Tüchtig, aber das Lob kann ich nur weitergeben, alle haben zu dem schnellen Produktionshochlauf beigetragen. Wenn wir gerade so beieinanderstehen, Herr Tüchtig, möchte ich Sie gerne über etwas informieren. Dadurch, dass eine 250iger Maschine nun weg ist und die neue 400er erst am Samstag angeliefert und aufgestellt werden kann, ist Herr Bock diese Woche quasi arbeitslos.“ Frau Wolja musste beim letzten Halbsatz etwas schmunzeln. Theo stimmte ihr zu. „Der Ärmste! Das bringen solche Produktionsumstellungen unwillkürlich mit sich.“ Frau Wolja hatte aber einen guten Vorschlag hierzu. „Mein Gleitzeitkonto ist mehr als voll und ich würde die nächsten drei Tage gerne frei nehmen. Herr Hurtig würde mich als Meister vertreten und Herr Bock würde dann als Vorarbeiter einspringen. Herr Stetig weiß bereits davon und hat zugestimmt. Am Freitag wäre ich natürlich wieder hier um die Vorarbeiten für die K4000XL zu begleiten.“ Theo dachte einen Augenblick nach. Herr Hurtig war wirklich ein erfahrener und umsichtiger Vorarbeiter und Einrichter. Ihm konnte die Meisterei durchaus mal für drei Tage übertragen werden. Und mit Herrn Bock stand ihm ein ebenso versierter Maschinenbediener zur Seite, der auch mit den einzelnen Stationen in der Montage vertraut war. „Frau Wolja, Sie haben völlig recht, jetzt ist eine günstige Zeit, ihr Gleitzeitkonto etwas abzubauen. Das Wetter soll ja wieder beständiger und wärmer werden, dann werden Sie auch ein paar Frühsommertage genießen können.“

Theo verabschiedete sich von den Umstehenden und ging ins Hauptgebäude. Er musste unbedingt noch bei seinem Konstrukteur und Entwickler vorbeischauen. Im ersten Stock angekommen trat er durch die angelehnte Tür ein. Daniel Klug war gerade am Telefonieren, er schien seinen Entwicklungskollegen von Color-Mix in der Leitung zu haben. Theo musste nicht lange warten und das Telefonat wurde beendet. „Hallo Theo, ich habe eben mit Carlo Callini die letzten Fragen zu unserer gemeinsamen Geschäftsreise zum Werkzeugmacher bei Malnate geklärt. Die Tagesordnung ist mit Luca Solivetti vereinbart, die Hotelzimmer in Varese sind uns durch das Hotel Mevio bestätigt worden und über den Abfahrtstermin habe ich mich mit Herrn Callini auch verständigt. Nichts steht mehr einer erfolgreichen Geschäftsreise und Werkzeugbesichtigung im Wege.“ Daniel strahlte Theo an. Theo beneidete ihn ein wenig. Bei lauem Juniwetter nach Norditalien durch das schöne Tessin fahren zu können, würde ihm auch gefallen. „Ja ich freue mich sehr, mit Carlo Callini nach Malnate zu fahren“, gab Daniel gerne zu, „so kommen wir beide uns einmal näher, was für unser gemeinsames Projekt nur hilfreich sein kann. Dann bin ich auch mächtig gespannt, den Maschinenpark von Solivetti und dessen Chef, diesen Luca mal persönlich kennen zu lernen. Nach den Mails und Telefonaten zu schließen, muss Luca Solivetti ein guter und auch umgänglicher Werkzeugmacher sein. Wenn sein Betrieb das hält, was ich mir vorstelle, haben wir unser Werkzeug dort in guten Händen. Aber wir werden sehen!“ Theo hatte noch eine Anmerkung. „Wir hatten vor kurzem darüber gesprochen, dass du Achim Hammer mitnimmst, damit er auch einmal eine Werkzeugmacherei sehen kann. Aber morgen soll die Alte Klöckner in Wöckingen aufgestellt werden und da ist seine Anwesenheit dringend erforderlich.“ Daniel nickte verständnisvoll. „Theo, das ist doch klar. Achim kann ja beim nächsten Termin, dann vielleicht mit dir dahin fahren. Ja, zurzeit ist viel los. Übrigens, ich werde mein Notebook mitnehmen. Dann bin ich neben dem Telefon auch mit dem Datenstick erreichbar, falls etwas Dringendes sein sollte. Meine Mails werde ich auf jeden Fall bearbeiten. Du wirst kaum merken, dass ich nicht im Hause bin.“ Theo klopfte Daniel auf die Schulter. „Übertreibe es aber nicht mit der Arbeit, Daniel. Am Abend mit den Geschäftspartnern köstliche Pizza essen und einen funkelnden Chianti trinken gehört zum perfekten Werkzeug auch dazu.“ Theo wünschte Daniel für die kommenden zwei Tage, die er auf Geschäftsreise verbringen sollte, gute Fahrt, geschäftlichen Erfolg und partnerschaftliche Gespräche.

Er ging über den Flur in das Büro von Marion und Tamara, der Assistentin. „Hallo ihr beiden! Habt ihr mitbekommen, dass Julius und Herr Hammer auf dem Wege nach Wöckingen sind? Herr Hammer wird morgen nochmals dort sein müssen, um die Aufstellung der Alten Klöckner zu beaufsichtigen.“ Die Frauen hatten kurzen Blickkontakt und Tamara ergänzte Theos Ausführungen. „Ja Theo, wir haben unser Abwesenheitsboard diesbezüglich ergänzt. Mit Achim Hammer werden morgen früh auch Clara Schick und ein weiterer Werker der Frühschicht nach Wöckingen fahren.“ Theo fiel es wie Schuppen von den Augen. „Na klar, Herr Hammer kann ja unmöglich alleine die Maschine aufstellen und Bernd Schlot und seine Arbeiter verfügen noch nicht über die Erfahrung, dies eigenständig zu erledigen. Wie gut, dass ich euch habe!“ Marion ergänzte mit einem Lächeln. „Ach Theo, wir wollen uns nicht mit fremden Federn schmücken. Dein Fertigungsleiter hat uns ausführlich instruiert, bevor er abgefahren ist.“ Theo war sehr zufrieden. „Ich stelle immer wieder fest, dass meine Mannschaft gut zusammenarbeitet. Dann wisst ihr sicher auch, dass Daniel Dienstag und Mittwoch mit dem Entwickler von Color-Mix nach Norditalien unterwegs ist?“ Tamara freute sich sichtlich. „Ja klar! Meine Hotelreservierung in Deutsch-Englisch-Italienischer Sprache hat perfekt geklappt, obwohl meine Geschäftsführer starke Zweifel an der Verständigung mit dem Hotel in Varese hatten.“ Marion gab sich alle Mühe ernst zu bleiben: „Werteste Assistentin, bei jenem interkulturellen und mehrsprachigen Telefonat sind Sie wirklich über sich hinausgewachsen.“ Theo ergänzte mit gleich ernster Miene: „Ich als Firmeninhaber bin auch sehr froh, dass mein Entwicklungschef nun doch nicht im Zelt übernachten muss.“ Tamara ließ diesen ironischen Seitenhieb nicht auf sich sitzen. „Um Kosten zu sparen werde ich die nächsten Übernachtungen in einer Jugendherberge buchen.“ Marion schaute in den Kalender. „Wenn ich das richtig überblicke, ist unser Chef als nächstes unterwegs.“

Theo begab sich wieder in sein kleines Büro. Er wählte die Mobil-Nummer von Achim Hammer. Es dauerte nicht lange bis die Verbindung stand. „Achim Hammer am Apparat, hallo Herr Tüchtig. Herr Stetig und ich sind noch unterwegs, wir werden aber in einer Viertelstunde in Wöckingen sein. Den Tieflader mit unserer Alten Klöckner haben wir bereits überholt.“ Theo wollte keinen Kontrollanruf tätigen, freute sich aber über den kleinen Status-Bericht. „Oh, das hört sich ja gut an, danke! Herr Hammer, ich konnte noch gar nicht mit Ihnen darüber reden: Morgen fahren Daniel Klug und sein Partner von Color-Mix, Carlo Callini doch zum Werkzeugmacher nach Norditalien. Wir hatten ja mal besprochen, dass Sie da mitfahren sollten, um auch einmal einen solchen Betrieb kennen zu lernen. Wir haben bei dieser Terminplanung nicht berücksichtigt, dass Sie ja am morgigen Tag beim Aufstellen der Kunststoffspritzgießmaschine in Wöckingen dabei sein müssen. Nun, aufgeschoben ist nicht aufgehoben, ich schlage daher vor, dass Sie dann beim zweiten Termin in Malnate dabei sind. In diesem Fall dürften Sie dann mich begleiten.“ Die Telefonverbindung war nicht besonders gut. Immer wieder knackte es beunruhigend im Hörer. Herr Hammer schien aber dennoch alles verstanden zu haben. „Herr Tüchtig, mir ist es wichtig, morgen auch in Wöckingen zu sein. Ihren Vorschlag, beim zweiten Termin zu Solivetti nach Malnate zu fahren finde ich gut. Das wird wohl im August sein. Wenn Sie mir den Termin weiterleiten, werde ich meine Urlaubsplanung danach ausrichten.“ Theo scrollte in seinem elektronischen Kalender. „Das wird Dienstag, der 11. August sein, Rückfahrt dann am Tag darauf. Die zwei Tage werden fast wie Urlaub sein, vor allem, wenn die Werkzeugerstellung bei Solivetti nach Plan und im Kostenrahmen erfolgen wird. Aber natürlich müssen wir darauf achten, dass Sie mit ihrer Familie noch einen Sommerurlaub hinbekommen.“ Am anderen Ende war die ferne Stimme von Julius zu hören, bis sich Achim Hammer erneut meldete. „Natürlich freue ich mich darauf, mit Ihnen und Daniel Klug auf diese Geschäftsreise zu gehen. Aber wie mir Herr Stetig eben zuflüsterte, wird da zuweilen hart um Termine und Kosten gerungen und das ginge bis spät in die Nacht hinein. Wegen meinem Sommerurlaub brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Meine neue Aufgabe als Meister der dritten Schicht und für Wöckingen und vor allem das Projekt CM17 haben für mich absoluten Vorrang. Meine Frau wird mit den Kindern bei den Eltern an der Ostsee sein. Wenn ich Ende August noch für zwei Wochen dazu stoßen kann, wären wir glücklich.“ Theo hörte das gerne. „Herr Hammer, das mit der Urlaubsreise war natürlich nicht ganz ernst gemeint. Dennoch freue mich darauf, durch die schöne Bergwelt nach Norditalien zu fahren. Und dann noch in Begleitung meiner treuen Mitarbeiter. Bei Solivetti hatten wir schon mal ein Werkzeug platziert und das wurde in super Qualität termingerecht erstellt. Ja, ich gebe zu, den ursprünglichen Kostenrahmen konnten wir leider nicht ganz einhalten. Ich hatte mir nach meiner Rückkehr in die Firma, eine mächtige Rüge meiner Finanzministerin eingeholt.“ Bei dieser Bemerkung musste Theo unwillkürlich lachen. „Was CM17 und all die damit zusammenhängenden Aktivitäten anbelangt, werden wir dieses Jahr alle miteinander viel zu tun haben. Aber ich gehe davon aus, dass wir im nächsten Jahr in einen eingeschwungenen Zustand kommen und auch die neuen Mitarbeiter an Bord und eingearbeitet sein werden. Dann sollten Sie und all die anderen Kollegen einen längeren Sommerurlaub machen können. Ich bedanke mich aber für ihr entgegen gebrachtes Verständnis in der gegenwärtigen Situation im Betrieb und ihr Engagement. Ich wünsche Ihnen noch eine gute Fahrt und viel Erfolg in Wöckingen.“ Die Fakten waren besprochen und die kleine Delegation war auch nicht mehr weit vom Ziel entfernt. Das Telefonat konnte beendet werden. „Vielen Dank Herr Tüchtig!“

Dienstag, 23. Juni 2015

Nach seinem morgendlichen Rundgang durch die Fertigung saß Julius erwartungsvoll in seinem Büro. Der Tieflader mit der Alten Klöckner erreichte am gestrigen Nachmittag Wöckingen später als geplant. Dann stellte sich noch heraus, dass die vorhandenen Hebebänder der Krananlage nicht geeignet waren, die massigen Komponenten der Kunststoffspritzgießmaschine zu halten. So kamen sich alle Beteiligten überein, mit dem Aufstellen der Maschine erst heute Vormittag zu beginnen. Diese Verzögerung konnte leicht wieder hereingeholt werden. Auf dem Rückweg war er dann mit Herrn Hammer noch zu einem Ausrüster gefahren, um die erforderlichen Traggurte zu besorgen. Heute, um acht Uhr sollte es mit Achim Hammer, der Vorarbeiterin Clara Schick und der Maschinenbedienerin Erika Prima losgehen. Gemeinsam würden sie sich dann erneut auf den Weg nach Wöckingen machen.

Aufgrund der Verlagerung der alten Klöckner nach Wöckingen, war für die laufende Woche das Produktionsprogramm abgesenkt worden. Durch Sonderschichten an mehreren Samstagen konnten die Kundenaufträge derart vorproduziert werden, dass kein Abriss der Lieferkette erfolgen sollte. Hier zahlte es sich aus, dass die Geschäftsleitung ein gutes Verhältnis zur Belegschaft pflegte. Die Betriebsrätin, Irene Friedmann, wurde rechtzeitig durch Theo Tüchtig in die Erweiterungs- und Verlagerungspläne eingeweiht und leistete ihren überzeugenden Beitrag in der Kommunikation. Die Zuschläge für die Samstagsarbeit waren ein willkommenes Zubrot für die Werker. Diese Mehrkosten waren der Tribut, den die Firma für die Umstellungsmaßnahmen erbringen musste. Sicher gut angelegtes Geld, um zukünftig den großen Auftrag fertigen zu können. Martin Kran, der Meister der Frühschicht, würde mit dem Rest der Mannschaft keine Schwierigkeiten haben, die Fertigung nach reduziertem Plansoll aufrecht zu halten. Und dann war da auch noch sein Chef da. Theo kannte sich mit Menschen und Maschinen seines Betriebes wirklich gut aus.

Inzwischen wurde es lauter auf dem Korridor und die Wöckinger Abordnung versammelte sich vor seinem Büro. Julius klappte sein Notebook zu, griff nach Notizbuch und Telefon und trat zu den Wartenden hinaus. Ein fiebriger Eifer lag auf den Mienen der Gesichter. Es war eine Premiere, mit dem Fertigungsleiter zur neu einzurichtenden Zweigstelle zu fahren. Und sie hatten heute Großes vor: Es galt eine 250 Tonnen Kunststoffspritzgussmaschine aufzubauen und betriebsfertig zu machen. Dann sollte am heutigen Tag auch die gebrauchte Drahtbiegemaschine angeliefert werden. Achim Hammer hatte mit diesem Maschinentyp bereits Erfahrungen gesammelt, aber auch Erika Prima hatte in ihrem vorigen Betrieb an einer ähnlichen Maschine gearbeitet. So könnte sie bei der Einrichtung zur Hand gehen und die vorgesehenen Bediener in der Handhabung einweisen.

Gut gelaunt und voller Tatendrang machte sich das Quartett auf die Fahrt nach Wöckingen. Julius kannte die Strecke inzwischen gut und nach vierzig Minuten erreichten sie das Areal der Eisenbahnfreunde Wöckingen. Nicht ohne Stolz stellte Julius seinen Wagen auf den für die Geschäftsleitung TT ausgewiesenen Parkplatz. Achim Hammer stellte zufrieden fest, dass im Außenbereich seit seinem letzten Besuch mächtig aufgeräumt wurde. Auch dieses Mal ließ es sich Karl Dampf nicht nehmen, seine Besucher und Geschäftspartner persönlich am Eingang in Empfang zu nehmen. Clara Schick und Erika Prima waren zum ersten Mal auf dem Betriebsgelände der Eisenbahnfreunde Wöckingen. Da der Tieflader mit der 250 Tonnen Maschine noch auf der Anfahrt von einem Betriebshof war, erhielten die Neuankömmlinge im Besprechungszimmer im ersten Stock einige Informationen über den zukünftigen Produktionsstandort von TT. Bernd Schlot, der Meister der Eisenbahnfreunde, kam schließlich dazu und zu sechst ging es dann in den für TT vorgesehenen Hallenbereich. Gleich neben dem Zugang zur Rampe waren die Flächen für die aufzustellende Kunststoffspritzgießmaschine und die neu erworbene Drahtbiegemaschine freigemacht worden und entsprechend mit Farbmarkierungen am Boden kenntlich gemacht. Räumlichkeiten für das zu verarbeitende Material und vor allem für die Fertigprodukte waren auch bereits ausgewiesen. Die notwendigen Versorgungsleitungen waren installiert und Fluchtwege vorbildlich ausgeschildert. Julius nickte dem Vorsitzenden der Eisenbahnfreunde Wöckingen anerkennend zu. „Ihr habt ja mächtig vorgearbeitet! Und das geeignete Hebezeug für die Spritzgießmaschine habe ich nun im Kofferraum liegen.“ Karl Dampf freute sich über diese Anerkennung. „Für unseren Kunden und Partner aus Lästre geben wir alles!“ Bernd Schlot machte mit Clara Schick und Erika Prima noch einen kleinen Abstecher zur Lokomotiven-Werkstatt. Julius Stetig und Karl Dampf öffneten das große Tor zur Rampe und traten hinaus. Wie zwei Feldherren blickten sie mal links, mal rechts der Straße entlang. Ein älteres Paar grüßte im Vorübergehen fröhlich herauf. „So, geht´s wieder aufs Stückle?“, rief ihnen Karl Dampf hinunter. Mit Schürze und Schaff-Kittel ausstaffiert, Gießkanne und Leiterwagendeichsel in der Hand, schritten die alten Leute vorbei. „Ja, so isch es, mir miaßet heit Kraut hacka!“ Julius blickte den beiden versonnen nach. Er konnte sich dem Idyll jedoch nicht lange hingeben.

Sonores Brummen und endlich lautes Dröhnen machte der beschaulichen Ruhe ein Ende. Der Tieflader mit der Alten Klöckner näherte sich unüberhörbar. Der Fahrer musste Bernd Schlot angerufen haben, denn dieser war bereits unten auf der Straße und stellte mit entsprechenden Handzeichen sicher, dass der Auflieger mit der Maschine optimal zum Entladen rangiert wurde. Zwei Arbeiter aus der Werkstatt waren zur Stelle. Einer zog das Geländer der Rampe aus der Aufnahme und legte dieses an die Seite, damit es nicht hindern konnte. Der andere nahm derweil die Krananlage in Betrieb und verfuhr den massiven Haken mit den inzwischen passenden Gurten zur Außenposition. Nun waren Clara Schick und Erika Prima gefordert. Sie mussten sicherstellen, dass die schweren Einzelkomponenten der Kunststoffspritzgießmaschine in der richtigen Reihenfolge abgeladen und auch jeweils am richtigen Platz abgestellt wurden. Das Maschinenbett musste als erstes in seine Position gehievt werden. Es sollte über vier Stunden dauern, bis alle Komponenten entladen und an Ort und Stelle fixiert waren. Vor allem die Schließ- und Plastifiziereinheit wollten trotz ihres Tonnengewichtes auf Millimeter genau bugsiert werden. Um vierzehn Uhr war der LKW entladen und rollte energisch davon.

Das war ein anstrengender Morgen geworden und die Mägen knurrten heftig. Karl Dampf machte mal wieder von seinen lokalen Beziehungen Gebrauch und arrangierte in der Lustigen Gans ein stärkendes Mahl auch außerhalb der typischen Mittagszeiten. Der kleine Spaziergang dorthin, vorbei an kleinen Ein- und Zweifamilienhäusern mit ihren Vorgärten, Hunden, Katzen und Gartenzwerge, tat gut und machte die rauchenden Köpfe wieder frei. Karl Dampf führte die Gruppe über einen gepflegten Dorfplatz zur ersehnten Gaststätte. In der Gaststube saßen zwei ältere Männer am Stammtisch und blickten konzentriert in ihre Gläser, als würden sie die Kohlendioxidbläschen zählen. Karl wurde sogleich von Klara, der Wirtstochter in den Nebenraum gelotst. Seine Begleiter folgten ihm breitwillig. Auf dem langen Tisch war bereits eingedeckt. „Klara, vielen Dank, dass du uns hungrige Leute außerhalb deiner Kochzeiten bewirten willst.“ Die Angesprochene gab den Umstehenden durch Handzeichen zu verstehen, Platz zu nehmen. „Unser Koch ist bereits gegangen, daher können wir euch nur noch ein Einheitsessen anbieten.“ In dem Augenblick wurde die Tür aus der Küche geöffnet und der Wirt schob eigenhändig einen Servierwagen mit drei Schüsseln herein. „Leute, heute müsst ihr mit Gulasch und Spätzle Vorlieb nehmen.“ Die Gäste hielten Klara bereitwillig die Teller zum Schöpfen hin. Das Gulasch duftete köstlich und sollte mit den Spätzle noch besser schmecken. „Heute Nachmittag müssen wir noch konzentriert arbeiten, daher bitte nur Wasser und Saft zu trinken servieren“, bat Karl Dampf seinen Wirt. „Vor zehn, Tagen, als die Chefs von TT dabei waren, ging es aber lustiger zu“, musste der Wirt anmerken. „Ja, das stimmt, da mussten wir aber auch nicht mehr an den Maschinen arbeiten. Wir haben heute Nachmittag noch viel vor.“ Ein verständnisvolles Nicken war die Antwort und an alle Gäste gerichtet wünschte er einen guten Appetit.

Kurz vor drei Uhr standen sie wieder in der Halle. Nun galt es mit geschickten Händen die Montage der Einzelkomponenten zu vollenden und die Versorgungsleitungen anzuschließen. Ein Eimer-Werkzeug wurde aufgespannt und die Einrichtung der Alten Klöckner konnte erfolgen. Das notwendige Granulat war bereits als Sackware bereitgestellt worden und endlich konnte die Ausprobe beginnen. Clara Schick startete am Schaltschrank das Initialisierungsprogramm und Julius Stetig stand mit Anspannung dabei. Er kannte sich ebenfalls gut mit diesem Maschinentyp aus, bislang war seine Hilfe noch nicht erforderlich gewesen, so sicher saßen die Handgriffe seiner Vorabreiterin.

Zwischenzeitlich wurde die Drahtbiegemaschine angeliefert und Achim Hammer und Erika Prima waren ihrerseits damit beschäftigt, diese Anlage in Betrieb zu nehmen und zu prüfen, ob alles funktionsfähig wäre. Der hierfür vorgesehene Draht war auf einer großen Haspel aufgewickelt und wartete darauf, verarbeitet zu werden. Der Antrieb war bereits kontrolliert und nun galt es, den Rollensatz einzustellen. Aus dem langen Draht sollte schließlich ein Eimerhenkel in exakter Bemaßung gebogen werden. Das war eine knifflige Arbeit und unzählige Drahtstücke landeten in der Schrottkiste. Mustereinstellungen für einen ähnlichen Henkel waren dokumentiert, aber die Feinjustierung der acht Rollenpaare ergab schier unendliche Einstellmöglichkeiten.

Bernd Schlot fieberte vor Tatendrang, stand mal an der Kunststoffspritzgießmaschine mal an der Drahtbiegemaschine, wollte helfen und musste doch erst noch viel lernen. Er notierte sich zuweilen etwas und hatte sichtlich Mühe, seine Ungeduld zu bändigen. Als Clara Schick, die Hauptschalter in die An-Position kippte, begann die Kunststoffspritzgießmaschine zu atmen. Das Steuerungsprogramm für den Standard-Baustellen-Eimer wurde aufgerufen und eine Test-Routine durchlaufen. Die Plastifizierungseinheit musste erst noch auf Betriebstemperatur gebracht werden. Endlich konnte der nächste Prozessschritt erfolgen und der Spritzzyklus konnte gestartet werden. Die ersten Eimer waren noch nicht zu gebrauchen, aber bereits der zwanzigste war ordentlich. Die Maße stimmten, lediglich Schlierenbildung und gleichmäßige Wandstärke waren noch zu verbessern. „Frau Schick, ich finde an der Stelle sollten wir für heute Schluss machen. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet.“ Clara wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und blickte zufrieden zu ihrem Fertigungsleiter. Dann schaute sie nach draußen, leichter Regen hatte eingesetzt und die helle Junisonne war verschwunden. Ein Blick auf die Uhr schien sie zu überraschen. „Was, es ist ja schon sieben Uhr abends!“ Julius lächelte ihr zu, „Ja, das waren anstrengende aber kurzweilige Stunden. Wir sollten für heute abbrechen. Wir werden morgen wieder zwanzig Ausschussteile haben, aber dann sollte der Prozess eingeschwungen sein und die Serienproduktion in Wöckingen kann beginnen. Ich gratuliere Ihnen zur Aufstellung und Inbetriebnahme dieser Maschine!“ Bernd Schlot applaudierte mit sichtbarer Freude. Die Alte Klöckner wurde heruntergefahren und die drei wandten sich nun zu den Kollegen an der Drahtbiegemaschine. „Na wie läuft es?“ richtete Julius Stetig das Wort an die bislang Unzufriedenen. „Wir haben mehr als fünfzig Drahtstücke gebogen, aber wir sind noch weit vom Soll-Maß für unseren Henkel entfernt.“ Julius nahm das aktuelle Teil in die Hand und verglich es mit dem Muster-Teil. Die Ösen waren noch zu stark eingezogen und ließen sich so nicht am Eimer einrasten. Der große Radius war zu klein und der Werker würde viel Kraft benötigen, um den Henkel zur Montage auseinander zu drücken. „Herr Hammer, Frau Prima, es ist das erste Mal, dass TT eine Drahtbiegemaschine in Betrieb nimmt. Sie haben in den wenigen Stunden heute Nachmittag bereits Großartiges geleistet. Sie haben die Maschine aufgestellt, überprüft, in Betrieb genommen, die Haspel samt Draht angebunden und die Einstellungen soweit vorgenommen, dass zuverlässig produziert werden kann.“ Achim Hammer und Erika Prima streckten und reckten sich ein wenig. Das stundenlange Schrauben und Drücken in gebückter Haltung hatte seine Spuren hinterlassen. „Übermorgen ist Daniel Klug von seiner Geschäftsreise zurück. Ihm geben wir die Konstruktionszeichnung des Rollensatzes, dessen gegenwärtige Einstellungen und das aktuell gebogene Drahtstück. Ich bin sicher, dass er mit einem Simulationsprogramm ermitteln kann, welche Einstellungen noch zu korrigieren sind. Und wenn sie das tröstet: Wenn die Einstellungen für unseren Drahthenkel einmal gefunden sind, müssen wir nie mehr etwas ändern.“ Die Mienen der zwei Angesprochenen hellten sich sichtbar auf. „Lasst uns nun Feierabend machen und nach Hause fahren. Herr Schlot, auch Ihnen herzlichen Dank für die Unterstützung durch Sie und Ihre Leute.“ Nicht alles, aber vieles wurde an diesem Tag erreicht.