Die Stille des Bösen

Zuallererst für meine Familie

Ich zolle den traditionellen Hütern des Landes Respekt, den Pallitore des Nordstamms, Hüter von Meander. Ich zolle den Ältesten der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft Respekt, für die der Kooparoona Niara – der Berg der Geister – von großer kultureller Bedeutung ist.

 

Ich würdige die gegenwärtige Aboriginal-Gemeinde auf ganz Lutruwita, sie sind die Hüter dieser Insel. Ich würdige ihre immerwährende Verbindung zum Land, zu den Gewässern und zur Kultur.

Ich glaube, ich habe ihn gesehen. Er stand oben an der Baumgrenze und beobachtete die Schule. Ich glaube, er hat mich gesehen, und dann war er weg.

Rose sagt, ich bin nicht die Einzige, die ihn gesehen hat.

Ich gehe nie wieder aus dem Haus.

 

Aus dem Tagebuch von Victoria Compton, sechzehn Jahre alt, einem der fünf Opfer der Entführungen von 1985 in den Great Western Tiers

Er hockt in den Bergen versteckt, um zu töten.

Er hockt in den Höhlen versteckt, um zu warten.

Der Hungermann, der Hungermann, er steht auf kleine Mädchen,

auf die hübschen Gesichter aus unserem Städtchen.

Glaub ja nicht, was die Erwachsenen sagen,

der Hungermann wird’s wieder wagen.

Drum geh ich da oben nie allein durch den Wald,

sonst kommt der Hungermann und macht mich kalt.

 

Schülerreim, gefunden an der Wand einer Mädchentoilette der Limestone Creek District School, 1985

Prolog

Eliza

Gegenwart; Great Western Tiers, Tasmanien

 

Der Regen weckte sie.

Sie braucht dich.

Eliza schlug die Augen auf. Sie lag mit dem Gesicht im Schotter des Wanderwegs, in der Nase den Geruch von nasser Erde.

Du musst aufstehen.

Sie saugte Luft durch die zusammengebissenen Zähne. Alles tat ihr weh. An ihrem Hinterkopf tobte ein stechender Schmerz. Das Brillengestell grub sich in ihre Schläfe, das linke Glas war gesprungen. Ihre Daunenjacke und die Wanderhose waren klitschnass.

Der eisige Gebirgsregen wurde stärker, der Wind peitschte die Tropfen gegen die Eukalyptusblätter. Im Gebüsch rief ein Gelblappenhonigfresser: Es klang, als würde ein Korken aus der Flasche gezogen.

Steh auf. Sie braucht dich.

Dichter, mit weißen Blüten gesprenkelter tasmanischer Lorbeer säumte wie eine Hecke den Wanderweg. Sie lehnte sich dagegen, rappelte sich mühsam hoch. Stachelige Blätter schnitten ihr in die Hand. Den zerquetschten Blüten entströmte süßer, wilder Duft.

Ihre Wanderstiefel waren weg, die Socken auch, die Füße waren in der alpinen Kälte taub und blau.

Sie drehte sich um, spähte in den Nebel. Bei der Bewegung fing ihr Schädel an zu pochen. Sie fasste sich an den Hinterkopf. Ihre Hand färbte sich rot.

Blonde Strähnen klebten mit etwas schmierig Braunem an ihrer Wange. Verwirrt löste sie die Haare von der Haut.

Dann, plötzlich, eine menschliche Stimme – weit entfernt, aber sie kam näher.

Eliza erstarrte. Lauter halb gare Gedanken schossen ihr durch den Kopf und alle in dieselbe Richtung. Sie griff nach einem Ast, der auf dem Weg lag: Weißer Eukalyptus, dick und glatt. Sie drückte sich ins Gebüsch neben dem Pfad, verfing sich mit der Jacke in den stacheligen Blättern. Konnte sie sich irgendwo verstecken? Wollte sie tatsächlich den Pfad verlassen, in dieser Wildnis?

Hinter ihr, plötzlich, das Geräusch knackender Zweige. »Miss Ellis!«, rief eine Stimme.

Eliza schrie, fuhr herum, schwang den Stock.

Die Gestalt – ein junges Mädchen – schrie ebenfalls auf und wich stolpernd zurück.

»Jasmine!« Eliza hätte vor Erleichterung am liebsten geweint. »Nein … Carmen?«

»Sie wollten mich angreifen!« Carmen wich zurück, die langen dunklen Haare klebten ihr am Gesicht. »Was ist los mit Ihnen?«

Eliza fiel der Stock aus den eiskalten Fingern. »Es tut mir leid.« Sie packte Carmen am Handgelenk und zog sie zu sich in den Schutz des Gestrüpps.

»Sie sind ganz kalt, Miss Ellis!«

Plötzlich, als hätte jemand den Hahn zugedreht, hörte es auf zu regnen. Bis auf leises Tröpfeln war der Busch um sie herum auf einmal mucksmäuschenstill. Wartete. Lauschte.

»Wo sind die anderen?«, flüsterte Eliza.

»Die sind schon alle beim Bus, aber Jasmine, Cierra, Bree und Georgia fehlen noch. Mr North sagt, wir müssen abbrechen, wegen dem Sturm. Er hat den Bus gerufen.« Carmen merkte offenbar gar nicht, dass sie ebenfalls die Stimme gesenkt hatte. »Sie sind nicht ans Telefon gegangen. Er hat mich und Mr Michaels losgeschickt, Sie suchen.«

»Und die Mädchen hat keiner gesehen?«

»Sind die nicht bei Ihnen? Stimmt es, dass es eine Prügelei gab?« Carmen sah sie genauer an. »Ist das Blut?«

»Wo ist Mr Michaels?«

Carmen musterte das Blut, Elizas zerschrammtes Gesicht, die zerbrochene Brille. Sie fing an zu begreifen.

»Carmen! Wo ist Jack – wo ist Mr Michaels?«

»Wir haben uns getrennt. Er hat den anderen Weg genommen. Wir suchen Sie seit einer Ewigkeit«, sagte Carmen. »Was ist passiert? Was ist passiert?«

»Du warst allein hier unterwegs?«, schrie Eliza, und wieder wich Carmen erschrocken zurück.

Um Eliza drehte sich alles, sie stützte sich gegen einen Eukalyptusstamm. Ihr Telefon vibrierte in der Tasche – vielleicht vibrierte es schon die ganze Zeit, und sie hatte es nur nicht gemerkt. Sie musste sich zuallererst um Carmens Sicherheit kümmern.

»Wo ist dein Telefon, Carmen?«

»Die haben wir in der Schule gelassen«, sagte Carmen mit zitternder Stimme. »Wir haben sie Mr North gegeben, bevor wir aufgebrochen sind. O Gott. Wissen Sie das nicht mehr? O Gott, Hilfe … wa-was ist mit Ihnen passiert? Wo sind die anderen?«

»Carmen, hör mir gut zu … Ich will, dass du zu Mr Michaels zurückrennst. Jetzt gleich. Du rennst! Du bleibst auf keinen Fall stehen.« Sie hob den Stock wieder auf und drückte ihn Carmen in die Hand. »Wenn du irgendwen siehst, den du nicht kennst …«

»Miss Ellis?«

»Wenn du Mr Michaels nicht finden kannst, rennst du zurück zum Bus. Du hältst dich von jedem anderen fern! Hast du mich verstanden?«

»Wa-was ist denn los?«, wimmerte Carmen.

»Moment. Warte kurz.« Eliza ging ans Telefon. »Tom?«, sagte sie. »Sind die Mädchen zurück?«

»Eliza! Endlich! Wo steckst du, zum Teufel?«

»Die Mädchen, Tom!«

»Wir warten immer noch auf Georgia, Bree, Jasmine und Cierra. Ich habe Carmen und Jack losgeschickt, um euch zu suchen. Sind sie bei dir?«

»Ich schicke Carmen zu Jack und dann beide zurück zu dir. Wenn sie in einer Viertelstunde nicht bei euch ist, sperrst du die anderen Mädchen in den Bus und gehst sie suchen. Ich habe keine Ahnung, wo wir hier sind.«

»Wi-wir sind direkt neben dem Lake Nameless Trail«, stammelte Carmen. »We-westlich davon.«

Plötzlich fing es wieder an zu regnen, diesmal mischten sich Graupel in die Wassertropfen. Die winzigen Eiskörner stachen Eliza in die Haut.

»Carmen kommt vom westlichen Zweig des Lake Nameless Trail. Und ruf die Polizei. Sofort

»Was zum Teufel ist los? Wo sind die anderen?«, fragte Tom.

»Ich finde sie«, sagte Eliza. »Ruf einfach die Polizei, Tom.«

»Eliza, du kannst nicht …«

»Tom. Ruf die Polizei.« Sie drückte ihn weg und sah Carmen an. »Los!«

Carmen zögerte, dann schob sie sich durchs Gebüsch und rannte den Pfad entlang davon. Eliza sah, wie sie um die nächste Kurve verschwand, dann trat sie selbst zurück auf den Weg.

Ein Blitz zerriss den Himmel. Drei Sekunden später folgte ein lang gezogener, dröhnender Donnerhall, der gegen ihre Trommelfelle drückte und dem Honigfresser einen erschrockenen Schrei entlockte.

Der Graupel wurde heftiger, das wilde Buschland wirkte in der wolkenverhangenen Nässe bedrohlich. Was für ein übler Ort für einen Sturm: Es hieß, in den Great Western Tiers konnte alles passieren. Kooparoona Niara, in der Aboriginal-Sprache, oder »Berg der Geister«: der karge Gebirgszug, der das zentrale Hochplateau der Insel begrenzte – zerklüftet, klaustrophobisch und gefährlich. Man konnte tagelang im Kreis laufen, ohne auch nur einmal einen Wanderweg zu queren, man konnte in Schneestürmen erfrieren, die aus dem Nichts auftauchten, man konnte von einer im Nebel verborgenen Klippe in einen der zahllosen Wasserläufe stürzen und nie gefunden werden.

Mit der Bewegung kehrte allmählich etwas Gefühl in ihre nackten Füße zurück, spitze Schottersteine und eisiges Wasser stachen ihr in die Sohlen. Sie war kaum eine Minute gelaufen, als sie wieder den Ruf eines Vogels vernahm – diesmal ein Gelbkehlhonigfresser –, weit vor ihr, ein rauer, kehliger Schrei, mit dem er andere Vögel von seinem Territorium fernhält. Oder vor Menschen warnt.

Eliza blieb schaudernd stehen.

Das ist deine Schuld. Du hast es nicht anders verdient.

Sie versuchte, die Erinnerung an den alten Kinderreim zu verdrängen, den Reim, den sie den Schülerinnen und Schülern verboten hatten, den Kinderreim, den sie und ihre Schwestern sich abends im Dunkeln früher zugeflüstert hatten, kichernd vor lauter Anspannung. Limestone Creek, die kleine Stadt am Fuße der Tiers, war von einem Monster heimgesucht worden; die Leichen der Mädchen hatte man bis heute nicht gefunden.

Sie verließ den Weg, drückte sich in ein dichtes Gestrüpp aus Berg-Nadelbusch, das ihr die Haut zerkratzte, und bewegte sich parallel zum Wanderpfad weiter, gebückt, nah am Boden. Ihre Füße stachen. Ihre Jacke riss und zerrte an ihr. Sie hatte einen Ohrring verloren – jetzt baumelte nur noch an ihrem linken Ohr eine goldene Creole.

Und dann, eine Minute später, hörte sie schwere Schritte im Gebüsch, in absolutem Gleichklang mit ihren.

Sie blieb nicht stehen. Sie schlich weiter.

»Das bildest du dir ein«, flüsterte sie.

Das knirschende Stampfen von Schritten, das Kratzen von Farnen und Zweigen.

Sie sah nicht hin.

Alles war gut, solange sie nicht hinsah.

Solange du sein Gesicht nicht siehst, holt er dich auch nicht – so hieß es.

Kapitel eins

Murphy

Der Morgen davor

 

Murphy seufzte. »Das Thema ist erledigt.« Er saß oben ohne an dem wackeligen Esstisch und sprach mit erhobener Stimme gegen den dröhnenden Jon-Bellion-Song aus dem Bluetooth-Lautsprecher in der Ecke an. »Camping ist gut für dich.«

»Ich kann zu Hause helfen«, sagte seine sechzehnjährige Tochter Jasmine im Schmeichelton. Sie stand gegen den Tisch gelehnt, ihre dicke schwarz-weiße Katze Myrte wand sich in ihren Armen. »Ich kann Rasen mähen. Ich kann Fenster putzen …«

»Du gehst zur Schule. Basta.« Murphy nahm ein Klümpchen von dem süßen, klebrigen Marihuana, das den ganzen Tisch übersäte, und legte es auf die elektronische Waage.

Die Küche war baufällig, die Schranktüren waren lose, die Armaturen undicht, die Tapete und der braune Linoleumfußboden lösten sich vom Untergrund. Katzensichere Zimmerpflanzen bedeckten so gut wie alle Stellflächen – oben, wo die Katzen nicht hinkamen, zog sich Teufelsefeu über die Schränke. Den hatte Jasmine angeschleppt, ihr neuester Versuch, die Luft von Zigarettenrauch und Dope zu befreien.

»Ich kann …«

»Basta«, sagte Murphy wieder.

Jasmine, klein und zierlich wie ihre verstorbene Mutter, trug heftigen Lidschatten und einen dunklen Lidstrich um die leuchtend hellblauen Augen. Die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Eigentlich waren sie rot, auch das ein Erbe ihrer Mutter, aber Jasmine hatte sie rabenschwarz gefärbt.

Murphy dagegen war groß, trug einen wilden Vollbart und hatte die Figur eines Holzfällers: keltische Tattoos auf breiter Brust, muskelbepackte Arme, kräftige Beine. Er trug nur die zerknitterten Calvin-Klein-Boxershorts, in denen er geschlafen hatte.

Die Katze maunzte und befreite sich mit einem Sprung aus Jasmines Armen. Myrte, benannt nach der Maulenden Myrte aus Harry Potter, machte ein paar Schritte, ließ sich auf die Seite plumpsen und schlief offensichtlich sofort ein.

»Hör mal, Dad, ich glaube, du checkst nicht ganz, was ich dir hier anbiete …«

»Ich checke ganz genau, was du mir hier anbietest, Süße.«

»Aber wir gehen wandern, Dad!«

»Es wird dich nicht umbringen.«

»Das kannst du nicht wissen …«

»Sie könnte hierbleiben und ihr Zimmer aufräumen, Bro«, meldete sich Jasmines Onkel Butch zu Wort. Er war ebenfalls in der Küche und machte Frühstück, bewegte sich im Takt der Musik, einen Joint in der einen, eine Bratpfanne mit Speck in der anderen Hand. Er trug seine Standarduniform, ein dunkelblaues Muskelshirt und dazu verdreckte Sportshorts.

»Tu das nicht!«, warnte Murphy ihn, ganz auf seine Aufgabe fokussiert. Er gab noch etwas Gras auf die Waage, bis exakt eine Unze erreicht war.

Die Ähnlichkeit zwischen Butch und seinem jüngeren Bruder Murphy war offensichtlich, nur dass Butch entschieden runder war. Außerdem trug er Dolche und einen mexikanischen Zuckerschädel auf den Nacken tätowiert. Butch hatte seinen Spitznamen in der Schule wegen seiner Größe kassiert, dabei waren sie beide gleich groß, nämlich genau eins neunzig. Niemand nannte sie bei ihren Vornamen, es sei denn, er war auf Streit aus.

»Darf ich zu Hause bleiben, Onkel Butch?« Mit federleichtem Schritt tänzelte Jasmine zu ihm rüber. »Bitte? Darf ich?«

»Logo, Jaz«, sagte Butch und zog an seinem Joint. »Pa-pa-partytime bei den Mu-mu-murphys.«

»Deine Lehrerin hat mich extra angerufen, um sicherzustellen, dass du kommst«, sagte Murphy. Mit routinierten Handgriffen füllte er die Unze Dope in ein Plastiktütchen und verschweißte es mit einem Vakuumiergerät. »Du hast dieses Jahr schon zu oft blaugemacht. Also wirst du zur Schule gehen, und du wirst mit ins Klassencamp fahren, und du wirst Spaß haben

»Tja, Jaz, wenn Miss Ellis das sagt …«, meinte Butch.

»Das ist der einzige Grund, warum er mich zwingt«, sagte Jasmine angewidert. »Er will ihr an die Wäsche.«

Murphy wandte sich wieder seiner Arbeit zu, nahm das versiegelte Tütchen und klatschte einen Aufkleber drauf – einen der »THE CAPTAIN«-Sticker, die sie online en gros bei The Mad Hueys bezogen –, der das Päckchen als bestes Buschgras in Nordtasmanien kennzeichnete. Auch wenn es riskant war, weil ihre Ware damit identifizierbar wurde, hatte es den Zusatznutzen, dass sie Sergeant Doble damit direkt vor der Nase rumtanzten – Sergeant Doble, ihr größter Kontrahent und Kotzbrocken, der permanent versuchte, auf der Straße möglichst viel von ihrem Stoff sicherzustellen.

»Wie kommst du drauf, dass ich ihr nicht schon längst an die Wäsche gegangen bin?«, fragte Murphy.

»Eklig! Dad!«

»Heee, Murphy, ich war Erster!«, sagte Butch und zwinkerte Jasmine zu.

»Und glaub ja nicht, dass ich dich vom Haken lasse, wenn du den Bus verpasst«, fuhr Murphy mit lauter Stimme fort. »Dann fahr ich dich.« Ein strahlendes Lächeln blitzte auf und entblößte seine schiefen Zähne. »In Unterhosen. Ich springe sogar raus und geb dir vor deinen ganzen niedlichen kleinen Klassenkameradinnen einen dicken fetten Abschiedsschmatz.«

»Du bist so widerlich. Bitte, Dad, ist doch egal, wenn du denen sagst, dass ich krank bin oder so …«

Murphy musterte sie stumm. Das blasse Gesicht, die leicht aufeinandergepressten Lippen; sie stand auf Zehenspitzen, als würde sie jeden Moment zum Fenster rausfliegen. »Jasmine«, sagte er schließlich. »Es ist nur für eine Nacht. Mir passiert schon nichts. Ich bin noch hier, wenn du wiederkommst.«

»Dad, ich habe keine …«

»Ich gehe nirgendwohin, Süße. Versprochen.«

Jasmines Niedergeschlagenheit verwandelte sich in kühle Resignation. »Schön.« Sie fischte sich eins der Tütchen aus der Schachtel, zwischen zwei Finger geklemmt. »Dann nehm ich das hier mit.«

Er nahm ihr den Stoff wieder ab. »Netter Versuch.«

»Heuchler. Onkel Butch hat gesagt, du hättest immer Dope mit ins Schulcamp genommen.«

»Pssst!«, machte Butch übertrieben laut.

»Wenn ich dich auch nur mit einem Fitzelchen Gras erwische, hast du Hausarrest, bis du achtunddreißig bist.« Murphy starrte Butch finster an. »Dein Onkel sollte die Klappe halten.«

»Ich hab vielleicht ein bisschen übertrieben, Jaz«, sagte Butch. »Soweit ich mich erinnere, hat er nicht permanent geraucht: Manchmal hingen seine Lippen auch an einer der Lindsay-Schwestern, und nicht nur an ihren …«

»Igitt!«, kreischte Jasmine. »Bin schon weg.«

Sie setzte sich den Campingrucksack auf. Dann hob sie Myrte hoch, drückte ihr Gesicht ins Fell und sang ein paar Zeilen aus Goodbye My Lover von James Blunt. Myrte maulte, Jasmine drückte sie ein letztes Mal und ließ sie runter.

»Nur, damit du’s weißt, Dad, ich glaube nicht, dass Miss Ellis dein Typ ist. Hab dich lieb!« Jasmine knallte die Tür hinter sich zu. Aber nicht vor Wut, sondern weil Knallen die einzige Möglichkeit war, die störrische Tür ganz zuzukriegen.

»Das hat sie von dir, Schwachkopf!« Murphy wog bereits die nächste Portion ab.

»Was? Die langen Finger?«, sagte Butch. »Ich hab selbst kaum mitbekommen, wie das Tütchen in ihrem Ärmel verschwand.«

»Nein, ich meinte ihre – was

»Ach, nichts.« Butchs Grinsen wurde immer breiter.

»Scheiße!« Murphy rannte Richtung Tür, warf dabei den Stuhl um, sprang über die fauchende Katze und stolperte auf die Straße hinaus. Der allgegenwärtige Fallwind trug ihm den unverwechselbaren Stadtgeruch von Limestone Creek aus Diesel, Rauch und Eukalyptus in die Nase.

Am Ende der Straße sah er Jasmine gerade noch in den Bus steigen. Bis dorthin waren es gut fünfzig Meter – sie musste den ganzen Weg gerannt sein. Sie hüpfte die Stufen hoch und verschwand.

Murphy legte einen Sprint Richtung Bus hin, über zerbrochene Pflastersteine, neben ihm sprang ein Jack Russell am Zaun hoch und fing wild an zu kläffen.

Der Bus fuhr an. Unter dem Spott einer Elster in einem Eukalyptusbaum kam Murphy zum Stehen, ihm taten vom harten Pflaster die nackten Füße weh.

Auf der anderen Straßenseite sah er zwei junge Frauen in identischen Adidas-Jogginganzügen. Sie kicherten. Peggie und Darcy, sie wohnten zusammen ein Stück die Straße runter. Er kannte sie, natürlich. Er kannte fast alle in der Gegend. Sie hatten die Handys gezückt und ihre Kameras auf ihn gerichtet.

In dem Moment wurde ihm klar, dass er immer noch in Unterhosen war.

Er raste nach Hause zurück.

Die Tür war zu.

Er drückte dagegen.

Abgeschlossen.

»Butch, sei kein Arschloch.« Er drosch mit der Faust gegen die Tür und warf Peggie und Darcy einen Schulterblick zu. Sie winkten.

Das Fenster neben der Haustür ging auf, und Butch steckte den Kopf raus. »Hallo, Leute!«, rief er. »Murph ist ausgesperrt und hat nur seine Unterhosen an!«

»Ich schlag dir die Eier zu Brei!«

»Da ist ein nackter Mann auf der Straße. Ruft die Polizei! Hey, hallo, Ladys, wie geht’s? Murphy sieht aus, als wär ihm kalt, oder?«

Peggie und Darcy lachten, ein Kookaburra stimmte ein, der Jack Russell bellte.

»Du bist tot, Butch«, sagte Murphy. Er ging seitlich am Haus entlang und kletterte über den abgeblätterten weißen Zaun.

Der Garten war ein Dschungel aus Unkraut, hohem Gras und wuchernden Büschen. In einer Ecke stand ein Hühnergehege, in einer anderen ein Schuppen und in der Mitte eine rostige Wäschespinne. Einen rückwärtigen Zaun gab es nicht, eine Brombeerhecke und ein paar Eukalyptusbäume begrenzten den Garten. Das Grundstück lag am Ortsrand von Limestone Creek und ging direkt in den Western Tiers National Park über. Anderthalb Kilometer in das dichte, bergige Buschland hinein befand sich gut versteckt die Cannabisplantage der beiden Brüder, der Zugang mit selbst gebastelten Fallen geschützt.

Direkt dahinter erhoben sich die Great Western Tiers, steile, mit engen Felsspalten durchzogene graublaue Berghänge. Drüben im Westen lag Devils Gullet: eine zerklüftete Schlucht mit einem Aussichtspunkt oben auf den flachen Klippen mit Blick auf die dunstverhangenen Berge. Dieser Aussichtspunkt gehörte zu den Zielen von Jasmines Schulwanderung, auch wenn sie schon x-mal dort gewesen war. Murphy hatte mit ihr sogar schon am selben Platz auf dem Western Bluff gezeltet, wo auch die Schülerinnen heute übernachten würden: Von ihrem Zuhause aus waren es bis rauf zu der Klippe nur fünfundzwanzig Minuten, vorausgesetzt, man hatte ein Geländemotorrad und kannte die richtigen Schleichwege. Das war damals gewesen, als Jasmines Mum Sara noch lebte.

Murphy stürmte durch die Hintertür und in die Küche. Butch stand mit verschränkten Armen da, einen Joint zwischen die Finger geklemmt, musterte ihn von oben bis unten und pfiff bewundernd durch die Zähne. »Ich versteh wirklich nicht, warum du Single bist.«

»Schwachkopf! Das zahl ich dir heim!« Murphy ließ die Hand vorschnellen, um Butch in die Seite zu boxen, doch sein Bruder wich blitzschnell aus. »Der Pick-up-Schlüssel.« Murphy klopfte an die Wand, wo normalerweise der Autoschlüssel hing. »Wo hast du den?«

»Alles gut, Murph, sie ist ein kluges Kind, die lässt sich nicht erwischen.«

»Wo ist der Scheißschlüssel?«

Butch lachte. »Komm runter, Mann. Glaubst du wirklich, dass du Jasmine auf ewig vom Dope fernhalten kannst, obwohl ihr Alter davon lebt, das Zeug anzubauen? Sie ist sechzehn, sie fährt ins Schulcamp, sie hatte ein hartes Jahr: Gönn ihr ein bisschen Entspannung.«

»Wo ist der verfickte Schlüssel, Butch?«

Butch stieß einen Seufzer aus und wandte sich wieder den Eiern mit Speck zu. »Mach dir keine Sorgen. Ich hab nur Spaß gemacht.«

»Was?«

»Sie hat nichts mitgehen lassen … aber du hättest dein Gesicht sehen sollen.« Er fing an zu gackern. »Ich hätte dich da draußen filmen sollen.«

»Du bist ein Arschloch, Mann.« Er versetzte Butch einen Faustschlag gegen die Schulter, und zwar fest. Ihre zweite Katze, Karl Chaos, hüpfte erschrocken beiseite, warf einen großen Schwertfarn um und verstreute die Blumenerde auf dem Küchenfußboden.

Butch hätte beinahe den Teller fallen lassen, aber dann kroch das Grinsen zurück auf sein Gesicht. »Skinner kommt heute Abend vorbei, und bis dahin müssen wir noch eine Scheiß-Lkw-Ladung Dope eintüten.« Er schob sich den Joint in den Mundwinkel und drückte Murphy den zweiten Teller in die Hand. »Hier, Bro, Kraft tanken.«

Kapitel zwei