cover

René Reichel

Vom Sinn des Sterbens

René Reichel

Vom Sinn des Sterbens

Gedanken und Anregungen für den Umgang mit Sterben und Sterbenwollen

Image

Der Autor

Dr. René Reichel, MSc, Psychotherapeut (IT) und Lehrtherapeut in freier Praxis, Supervisor/ Coach (ÖVS); viele Jahre in der Ausbildung von SozialarbeiterInnen tätig; langjähriger Mitarbeiter am Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit an der Donau-Universität Krems.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Angaben in diesem Buch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr, eine Haftung des Autors oder des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auf lage 2018

Copyright © 2018 Facultas Verlags- und Buchhandels AG facultas Universitätsverlag, Stolberggasse 26, 1050 Wien, Österreich

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.

Umschlagbild: © Tuomas Lehtinen/ istockphoto.com

Satz: Ekke Wolf, typic.at

ISBN 978-3-7089-1543-2

Inhaltsverzeichnis

Danke an …

Einleitung

1. Über das Sterben

1.1 Die zwei Unbegreiflichkeiten: Anfang und Ende des Lebens

1.2 Von unserer Bedeutungslosigkeit und unserer Einmaligkeit

1.3 Über Integration

1.4 Der gesellschaftliche Blick auf das Sterben

1.5 Sterben und christliche Tradition: »Ars moriendi« – »Memento mori«

1.6 Die bio-psycho-sozial-ökologische Sicht auf den sterbenden Menschen

1.7 Bioethische Aspekte: Der einzelne Mensch ist überfordert! – Grundzüge einer »Co-responsibility«

1.7.1 Sterbehilfe aus ethischer Sicht

1.7.2 Sterbehilfe aus juristischer und medizinrechtlicher Sicht

1.7.3 Gemeinsame Verantwortung – »Co-responsibility«

2. Gedanken und Anregungen für betroffene Mitmenschen und professionelle HelferInnen

2.1 Das Sterben betrifft uns mehr oder weniger

2.2 Über die Haltung im Kontakt mit Sterben und Tod

2.3 Fragebogen I

2.4 Über gesunde Trauer … und gleichzeitige andere Gefühle und Probleme

2.5 Über komplizierte Trauer

2.6 Der Kohärenzsinn beim Sterben

2.6.1 Zum Kohärenzsinn im Allgemeinen

2.6.2 Was hat dieser Kohärenzsinn mit dem Sterben zu tun?

2.7 Über den Trost

2.8 Das Denken an das eigene Sterben

2.8.1 Das Spannungsfeld zwischen MACHEN und LASSEN

2.8.2 Von den Erfahrungen anderer lernen

2.8.3 Selbsterfahrung

2.9 Das Sterben miterleben

2.9.1 »Austherapiert« – die Stunde von Palliative Care und Hospiz

2.9.2 Wie erleben und leben die sterbenden Menschen selbst ihre letzte Zeit?

2.9.3 Und die, die beim Bett sitzen?

2.9.4 Das eigentliche Sterben

2.9.5 Und jetzt?

2.9.6 Angehörige, pflegende Angehörige und professionelle Pflegerinnen

2.9.7 Das Arbeitsumfeld

2.10 Kinder und das Sterben

2.11 Wenn ein Kind stirbt

2.11.1 Die besondere Erschütterung

2.11.2 Das Recht des Kindes auf seinen Tod

2.11.3 Ein Kind liegt im Sterben

2.11.4 Und wenn ein Kind gestorben ist …

2.11.5 Todesfälle in Institutionen für Kinder und Jugendliche

2.12 Wichtige Regelungen

2.12.1 »Solange ich noch lebe, möchte ich …«: Vorsorgevollmacht, Patientinnenverfügung etc.

2.12.2 »Wenn ich einmal tot bin, möchte ich …«: Testament, Begräbnis und andere Regelungen

2.12.3 Sonderfall Organspende

2.13 Bitten an Ärztinnen/Ärzte und Pflegepersonen

2.14 Über den Rollen- und Identitätswechsel bei Hinterbliebenen

2.15 Die weitere Bedeutung der Verstorbenen

2.15.1 Ahnenverehrung …

2.15.2 … und ihr Sinn für unser Leben

3. Über das Sterbenwollen

3.1 »Suizid«, »Selbstmord«, »Selbsttötung«, »Freitod« …? Über die Unfassbarkeit, die Grenzen der Sprache und das Schweigen

3.2 Der gesellschaftliche Blick auf die Selbsttötung

3.2.1 Die historische Perspektive: Seit wann ist Suizidalität eine Krankheit? Was war und ist sie noch?

3.2.2 Die medizinische Perspektive

3.2.3 Die juristische Perspektive

3.2.4 Die Genderperspektive

3.2.5 Die poetische Perspektive

3.2.6 Zusammenfassung

3.3 Das Prinzip des Kontinuums: leben wollen – sterben wollen

3.3.1 Der – ambivalente – Reiz des Sterbenwollens

3.3.2 Hier geht’s immer ums Sterbenwollen … und wo bleibt das Lebenwollen?

3.4 »Lebensmüde« – ein eigenartiges, aber sinnvolles Gefühl

3.5 Sterben sollen und sterben wollen: Mord und Selbsttötung

4. Anregungen für betroffene Mitmenschen und professionelle HelferInnen bei Suizidalität und Suizid(-versuch)

4.1 Fragebogen II

4.2 Allgemeine Präventionsstrategien

4.3 Suizidforen

4.4 Die Mitteilung

4.4.1 Mögliche Anzeichen

4.4.2 Verbale Aussagen

4.5 Hilfreiche Grundsätze im Umgang mit suizidalen Menschen

4.6 Sich verständigen über den – geteilten – Verzweiflungsanteil im Leben: das Gesprächsmodell von Klaus Dörner

4.7 Hilfen für Angehörige nach Suizid(versuch)

4.7.1 Sich ausdrücken und mitteilen hilft

4.7.2 Gibt es eine letzte Botschaft?

4.7.3 Mit Kindern über den Suizid sprechen

4.7.4 »Ich hab’s geahnt«

4.7.5 Es geht nie mehr ganz vorbei

4.8 Wenn es bei Profis passiert, dann …

4.9 Nach einem Suizidversuch weiterleben

5. Worauf es heute ankommt: Zuversicht und Verbundenheit

Literatur

Wichtige Webadressen

Stichwortverzeichnis

Danke an …

… viele Kolleginnen und Kollegen, Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer, Freundinnen und Freunde sowie Verwandte, die mit Gedanken, Fragen und/oder Skepsis zu diesem Buch beigetragen haben. Nennen möchte ich (in alphabetischer Reihenfolge und ohne Titel):

Irene Apfalter, Fritz Betz, Ursula Dietersdorfer, Gisela Ebmer, Barbara Enk, Irmgard Grassegger, Gerhard Hintenberger, Elfi Jud, Judith Kero, Alfred Kirchmayr, Renate Lengauer, Ilse Orth, Claudia Pommer, Brie Presker, David Reichel, Patrick Reichel, Philipp Reichel, Andrea Richter und vor allem Auguste Reichel, ohne deren wohlwollend kritisches Mitdenken und Mitlesen dieses Buch nicht so geworden wäre. Auch die Kooperation mit meiner Lektorin Sigrid Mannsberger-Nindl und mit Victoria Tatzreiter vom Facultas Verlag war hilfreich und wunderbar.

Gewidmet ist dieses Buch meinem Vater und meinen zwei Müttern; alle drei haben mir das Sterben vorgelebt.

Einleitung

Beweggründe und Themen des Buches

Texte über Lebenstatsachen wie Sterben und Tod sind untrennbar verknüpft mit den Lebenserfahrungen, die der Schreiber mit diesen Lebenstatsachen selbst gemacht hat. Hier ist jeder Versuch von Objektivität nicht nur philosophisch unhaltbar, er wäre auch überheblich.

In unserer Kultur sind viele große Werke über diese Themen eingebettet in künstlerische Formen (z. B. Tolstois »Der Tod des Iwan Iljitsch«) oder in – oft beeindruckende – Selbstoffenbarungen in fachlichem Gewand (z. B. Gawande, 2014; Yalom, 2015) … oder sogar beides. Besonders großartige Werke über Sterben und Tod wurden geschrieben, nachdem die Autoren1 von ihrem baldigen Sterben durch eine Diagnose erfahren hatten (Terzani, 2013; Mankell, 2014; Esterházy, 2017), oder von AutorInnen, die versucht haben, das Sterben eines für sie wichtigen Menschen auf schreibende Weise zu verarbeiten (u. a. Philipe, 1969; Handke, 1972; Knausgård, 2009; Kaiser, 2010; Jungnikl, 2014).

Nachdem ich jahrelang fast beiläufig vielen Menschen in Seminaren erzählt hatte, dass meine Anwesenheit beim Sterben meiner Eltern und bei den Geburten meiner drei Kinder die für mich wichtigsten Lebenserfahrungen gewesen seien, begann ich darüber nachzudenken, was ich damit eigentlich sage … oder sagen will. Vielleicht, dass ich selbst so gerne lebe und gerne noch lange leben möchte? Vielleicht steckt noch etwas anderes dahinter, ich weiß es nicht.

Dieses Nachdenken verknüpfte sich mit den archäologisch fundierten Gedanken der österreichisch-amerikanischen Kulturhistorikerin Riane Eisler (1993) über die kulturgeschichtliche Bedeutung der zwei großen Geheimnisse des Menschen: die Entstehung des Lebens und das Ende des Lebens (Kapitel 1.1).

Ein weiterer Impuls war die Wahrnehmung, dass Sterben und Tod in unserer Kultur einerseits als Gefahr und Schrecken, andererseits als Ziel und Erlösung dargestellt werden, als ob das Sterben entweder so sei oder eben anders, selten beides. Nur wenn etwa ein Mensch nach langem schweren Leiden stirbt, schaffen es manche Überlebende, von Trauer und Erleichterung in einem Atemzug zu sprechen. Trauer kann sich mit mehreren Gefühlen mischen. Es ist allerdings relativ ungewohnt und unüblich, Gefühle in ihren Mischformen wahrzunehmen und auszudrücken.

Ein gesellschaftlicher, ein religionsgeschichtlicher und ein zusammenfassender, bio-psycho-sozial-ökologischer Blick auf das Sterben sowie ein Blick auf bioethische Fragen ergänzen Kapitel 1 dieses Buches. Kennzeichnend ist hier und in den anderen Abschnitten ein geradezu unvermeidlicher transdisziplinärer Blick.

Während Kapitel 1 und 3 die allgemeinen Aspekte von Sterben bzw. von Sterbenwollen in den Blick nehmen, geht es in Kapitel 2 und 4 jeweils um die persönlichen Erfahrungen und Möglichkeiten des Denkens, Fühlens und Handelns bei vielen Fragen rund ums Sterben für Hinterbleibende2 und professionelle HelferInnen. Immer werden die praktischen Impulse gekoppelt an die Selbstreflexion der Betroffenen. Die genaue Einteilung – »Was gehört hier wohin?« – wurde im Laufe der Arbeit an diesem Buch immer schwieriger. Man hätte durchaus manche Abschnitte an anderen Stellen einfügen können.

Die ersten beiden Kapitel über das Sterben sind geprägt von den Grundkonzeptionen der Integrativen Therapie (Petzold, 2013a).

Und dann war da der merkwürdige Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung der Selbsttötung3: War das jahrhundertelang ein überwiegend philosophisches, theologisches oder auch soziologisches Thema, so veränderte sich diese Sichtweise seit der Aufklärung schrittweise und im Laufe des 20. Jahrhunderts radikal. Seither wird Suizidalität überwiegend als krankheitswertige Störung betrachtet. Natürlich ist sie das auch – und sogar oft –, aber woher kommt diese einseitige Pathologisierung, speziell in meinem Hauptarbeitsfeld, der Psychotherapie? Hier sind Differenzierungen erforderlich und möglich (Kapitel 3). Ungewöhnliche, vielleicht für manche LeserInnen provokante Ansichten sollen dazu beitragen, mit Selbsttötungsabsichten besser umgehen zu können, auch mit Suizidversuchen und mit einem vollzogenen Suizid. Kernaussage ist, dass es keine klare Grenze zwischen Lebenwollen und Sterbenwollen gibt, sondern ein Kontinuum, auf dem wir während unseres Lebens ständig unterwegs sind. Daher vermeide ich im Titel einen expliziten Begriff wie Suizid, Selbstmord oder Selbsttötung, sondern spreche von »Sterbenwollen«. Unterstützung für Betroffene und Angehörige gibt es bisher nur selten, vielfältige Anregungen dafür werden in Kapitel 4 angeboten.

Zum Schluss (Kapitel 5) wage ich den Versuch, die Integration dieser Themen in ein gelingendes Leben zu formulieren. Wie gesagt, ein Wagnis.

Abgrenzungen

Der Tod ist kein Ereignis des Lebens.

Den Tod erlebt man nicht.

(Ludwig Wittgenstein,

Tractatus logico-philosophicus)

Dieses Buch handelt nicht vom Tod, sondern vom Sterben. Die – angeblichen – Grundfragen »Wo kommen wir her?« und »Wo gehen wir hin?« sind hier nur dann von Bedeutung, wenn die Beschäftigung mit diesen Fragen das Leben und Sterben einer konkreten Person direkt beeinflusst. Die Frage »Hast du Angst vor dem Tod?« ist in den meisten Fällen falsch gestellt, denn gemeint ist in der Regel: »Hast du Angst vor dem Sterben?« Sterben und Tod in direktem Zusammenhang, manchmal auch mit sprachlicher Verwechslung (diese ist auch bei sonst profunden Autoren zu finden) zu behandeln, scheint mir ganz unpassend. Sterben ist ein unausweichlicher Prozess in einem Kontext, an dem wir als Mitmenschen Anteil haben (Petzold, 2004). »Der Tod ist etwas, wovon wir wissen, dachte ich, aber er ist keine Erfahrung. Das Sterben hingegen schon.« (Schoen, 2006, S. 20) Tod ist ein Zustand, über den wir individuell, vielleicht auch gemeinsam, nur spekulieren können. Sterben ist ein Prozess, über den wir viel wissen. »Im Sterben vereint« zu sein, ist offenkundig möglich. »Im Tod vereint« zu sein, ist eine spekulative, meist eine religiöse Vorstellung. Es handelt sich hier also um zwei ganz verschiedene Themen mit allerdings indirekten Zusammenhängen. Beim Sprechen mit Kindern geht es allerdings in der Regel mehr um den Tod als um das Sterben, für sie ist weniger das Sterben, das sie meist als Gegebenheit annehmen, im Vordergrund als das Rätsel: »Was ist jetzt mit ihr? Wo ist sie?«

Mit religiösen Aspekten beschäftigt sich dieses Buch auch, aber nur wenig. Ich vermute sogar, dass die spekulative Beschäftigung mit dem Tod vielen erwachsenen Menschen dabei hilft, sich von der konkreten Konfrontation mit dem – oft erschreckenden – Sterben abzulenken. Der Tod kann sich nicht wehren gegen unsere Projektionen auf das, was uns »danach« erwarten könnte. Das Sterben lässt viel weniger Spielraum für verklärende Deutungen, es ist unmittelbar. Trotzdem ist bei allen Aspekten zu beachten, ob und in welcher Weise religiöse Vorstellungen bzw. kirchliche Traditionen auf den Umgang mit Sterben einwirken.

Auch der Titel »Vom Sinn des Sterbens« stellt eine Abgrenzung zum Thema Tod dar, denn »Sinn beginnt bei den Sinnen, bei der sinnenhaften Wahrnehmung der Phänomene des Lebens« (Petzold & Orth, 2005, S. 9). In diesem Verständnis könnte der Tod kaum Sinn haben, denn er ist nahezu nicht sinnenhaft wahrnehmbar. Sterben aber ist mit allen Sinnen wahrnehmbar.

Abgesehen vom Suizid steht das erwartbare Sterben im Vordergrund des Buches. Zunächst wirkt ein unerwarteter plötzlicher Todesfall (Unfall, Mord) als etwas ganz anderes, aber beim näheren Hinsehen zeigt sich, dass es letztlich doch nicht so viele wesentliche Unterschiede – für die Hinterbleibenden – gibt. Ein kluger Spruch lautet: »Der Tod kommt immer plötzlich!« Es ist fast unmöglich, sich auf ein erwartbares Sterben so einzustellen, dass es nicht wie »plötzlich« wirkt. Das ist eine bemerkenswerte Erfahrung. Vielleicht trifft sie auf jede Erfahrung von »Endgültigkeit« zu.

Einen geschichtlich zentralen Aspekt des Sterbens habe ich weitgehend weggelassen: den Krieg. Einerseits würde eine angemessene Reflexion des Sterbens im Krieg den Rahmen dieses Buches sprengen. Andererseits sind wir im heutigen Mitteleuropa nur indirekt in Kriege involviert, den meisten von uns fehlen – zum Glück – konkrete Erfahrungswelten, abgesehen von den posttraumatischen Belastungsstörungen überlebender Soldaten, die in entfernten Kriegsgebieten im Einsatz waren, und den teilweise transgenerationalen Weitergaben. Auch wenn die letzten ZeitzeugInnen der Weltkriege und zahlreiche engagierte FilmemacherInnen sich bemühen, eine Nähe zur Realität von Krieg zu vermitteln – meist ist nicht viel mehr als verständnisloser Schrecken hervorzurufen, oft auch unwilliges Abblocken. Diese Realität hat auch etwas Unfassbares an sich. Wir dürfen das nicht mit der – manchmal ambivalenten – Faszination verwechseln, die fiktive Kriege in den Medien auslösen. Schon Kinder können sehr früh zwischen der Darstellung von Wirklichkeit und fiktiven Geschichten unterscheiden.

Warum die Verknüpfung von Sterben und Suizid in einem Buch?

Beide Themen geben genug her für eine getrennte Behandlung. Die Verbindung besteht hier vor allem im Titel »Vom Sinn des Sterbens«. Sinn steht für uns Menschen immer im Spannungsfeld vom Sinn dessen, was wir erleben, und vom Sinn dessen, was wir tun. Sinn ist uns gegeben und Sinn ist machbar. Sinn erschließt sich also immer zugleich passiv und aktiv, und all das in lebendiger Verbindung mit anderen Menschen: Sinn (»sens«) ist geteilter Sinn (»con-sens«). Sinn ist vielfältig und wandelbar. Sinn ist untrennbar verknüpft mit unseren Sinnen (Petzold & Orth, 2005). Das gilt auch und besonders für den Lebens(un)willen und die Beschäftigung mit dem Lebensende. Das Fehlen der Erfahrung von Sinn im Leben, also die Sinnlosigkeit, führt oft in den Überdruss und in den Lebensunwillen.

Dieses Buch möchte – bei fallweisem Verständnis für Verdrängungs- und Verklärungswünsche – Widersprüche in der Erfahrung und im Umgang mit Sterben und mit Sterbenwollen auf keinen Fall aufheben, sondern sie leben lassen, weiterentwickeln und dadurch vielleicht neue Erfahrungen und Haltungen gegenüber unserem eigenen Sterben und dem unserer Mitmenschen ermöglichen.

Bedeutung der Sprache

Zu beachten bei diesem Themenfeld ist die Sprache. Einerseits geht es um Erfahrungen, die die Grenzen eines präzisen sprachlichen Ausdrucks überschreiten. Wie soll man das Miterleben eines Sterbens in stimmige Worte fassen? Andererseits gibt es – wie so oft in der Wissenschaft – die Versuchung, sich hinter die Mauern – ja Mauern – eines Fachjargons zurückzuziehen, der die emotionalen Seiten seines Themas abspaltet und gleichzeitig eine wirklich hilfreiche Verständigung darüber verhindert. Für die in diesem Buch beschriebenen Themen scheint mir eine Sprache, die sich um gute Verständlichkeit für Profis wie für interessierte Betroffene bemüht, auch Ausdruck der Wertschätzung für LeserInnen zu sein. Ich bemühe mich hier um eine Sprache, die möglichst auch berühren kann. Gleichzeitig versuche ich, den üblichen Gegensatz von Wissenschaft, Literatur, Poesie und persönlichen Beschreibungen von Lebenserfahrungen aufzuheben, sodass dem Buch der Charakter eines Lesebuchs oder auch eines Handbuchs nahekommt. Auf diese Weise hoffe ich, dass möglichst viele verschiedene LeserInnen, die auf ebenso vielfältige Weise mit dem Sterben zu tun haben, etwas für sich Passendes, wenn auch Unfertiges, finden. Ein abgerundeter Text über das Sterben ist wohl höchstens in Form eines Gedichts vorstellbar. Aber auch die poetischen Texte in diesem Buch sind absichtlich sehr unterschiedlich.

Vom Sinn des Sterbens zu schreiben, hat natürlich vor allem den Sinn, das Thema näher an die Alltäglichkeit zu rücken, vor allem, indem der Text anregt, mehr darüber zu sprechen. Es ist unüberhörbar: Noch immer steckt in vielen von uns eine Scheu, man könne eine Sache dadurch verstärken, indem man darüber redet. Das ist natürlich ein Aberglaube. Die Fülle an Krimis im Fernsehen hat keine Steigerung der Kriminalität bewirkt, und auch über den Lebensüberdruss offen zu sprechen, bewirkt nicht automatisch eine Verstärkung der Suizidalität. Oft ist es umgekehrt: Die geheimen Schatten neigen eher dazu, sich zu verstärken, als die offenen Schrecken.

Themenvielfalt

Das Thema hat vielfältige Aspekte, wie vielleicht schon im Inhaltsverzeichnis deutlich wird. Diese Vielfalt ist während der Arbeit an diesem Buch laufend gewachsen. Es war natürlich nicht möglich, all diese Aspekte umfassend zu bearbeiten. Ich habe daher, um der »weiten Welt des Sterbens« wenigstens andeutungsweise gerecht zu werden, zahlreiche Literaturhinweise eingebaut, die eine weitere Vertiefung ermöglichen. Trotzdem sind Lücken unvermeidlich. Außerdem soll das Stichwortverzeichnis LeserInnen dazu einladen, dieses Buch eher themenspezifisch zu benützen, als es von vorne bis hinten zu lesen.

Fußnoten

1 Die männliche und weibliche Schreibweise wird hier abwechselnd verwendet. Oft entspricht die Schreibweise der Mehrheit der jeweils betroffenen Personen, wenn etwa von Hospizmitarbeiterinnen gesprochen wird. Ansonsten wird häufiger die Binnen-I-Variante (»Innen«) verwendet. Es gibt noch keine wirklich überzeugende Lösung.

2 Fallweise wird in diesem Buch nicht von »Hinterbliebenen«, sondern von »Hinterbleibenden« gesprochen, um den Prozess, der auf den Tod einer/eines Angehörigen folgt, besser auszudrücken.

3 Dieser Sprachregelung ist hier ein eigenes Kapitel gewidmet (Kap. 3.1).

1. Über das Sterben

 

Kapitelübersicht

1.1 Die zwei Unbegreiflichkeiten: Anfang und Ende des Lebens

1.2 Von unserer Bedeutungslosigkeit und unserer Einmaligkeit

1.3 Über Integration

1.4 Der gesellschaftliche Blick auf das Sterben

1.5 Sterben und christliche Tradition: »Ars moriendi« – »Memento mori«

1.6 Die bio-psycho-sozial-ökologische Sicht auf den sterbenden Menschen

1.7 Bioethische Aspekte: Der einzelne Mensch ist überfordert! – Grundzüge einer »Co-responsibility«

 

1.1 Die zwei Unbegreiflichkeiten: Anfang und Ende des Lebens

Von Unbegreiflichkeiten sind Gefühl und Verstand gemeinsam betroffen: Wer zum ersten Mal ein gerade Neugeborenes in den Händen hält und wer zum ersten Mal nahe dabei ist, wenn jemand seinen letzten Atemzug macht, der ist überwältigt. Das heißt, er kann in diesem Augenblick weder seine Gefühle noch sein Denken unter Kontrolle halten. Und das ist gut so. Diese Situationen gehen viel tiefer als die schon etwas abgenutzt klingenden Fragen »Wo kommen wir her?« und »Wo gehen wir hin?«. Diese Fragen zielen auf die Begriffe Leben, Tod und Transzendenz; Begriffe, die zwar auch von großer Bedeutung sind, aber nur wenig zu tun haben mit der existenziellen persönlichen Erfahrung bei den Vorgängen Geburt und Sterben.

Die österreichisch-amerikanische Kulturhistorikerin Riane Eisler (1993, S. 40) hat eine Kulturgeschichte entworfen, die von diesen beiden geheimnisvollen Grunderfahrungen ausgeht. Sie behauptet, dass die sozialkulturelle Entwicklung von Völkern seit der Frühsteinzeit damit verknüpft war, welche von diesen beiden Erfahrungen im Vordergrund stand. Bei allen Völkern, die die Entstehung des Lebens in den Mittelpunkt ihres Denkens – und daher ihrer Kulte – stellten, finden sich archäologisch eindeutige Funde von Muttergöttinnen (vgl. Venus von Willendorf ), von Matrilinearität und partnerschaftlicher Gesellschaftsorganisation, u. a. gekennzeichnet von geringen Größenunterschieden bei den Gebäuden. Diese Kulturen – die letzte große war das minoische Kreta – wurden vernichtet von Völkern, deren kultische Orientierung mehr mit dem Ende des Lebens verknüpft war. Große Grabstätten und die Verehrung von Waffen in Verbindung mit der Entwicklung von Metallverarbeitung sind archäologisch kennzeichnend, ebenso eine deutlichere hierarchische Strukturierung der Gesellschaft (darauf hatte schon Friedrich Engels, 1884, S. 157 ff., hingewiesen).

Eisler stellt also herrschaftliche und kriegerische Kulturen (das sind zugleich Patriarchate) den partnerschaftlichen Kulturen gegenüber, die eben keine Matriarchate waren. Deren dauerhafte Existenz bestreitet Eisler (1993, S. 67). Sie sieht vielmehr die Kulturgeschichte der Menschheit in einer ständigen Auseinandersetzung zwischen den Kräften, die die Entstehung des Lebens betonen, und den Kräften, die die Macht über das Ende des Lebens betonen. So stellt sie aus dieser Perspektive z. B. auch die Geburt Christi einerseits und die Kreuzigung Christi andererseits einander gegenüber (ebd., S. 187). Ihre umfassenden und geradezu akribischen Quellenanalysen sind beeindruckend, waren aber wohl auch notwendig, da sie – als Frau – sich mit ihren Thesen gegen viele herrschende Überzeugungen stellte.

Wozu diese Darstellung im Rahmen dieses Buches? Zwei Thesen sollen damit erläutert werden:

1. Die beiden faszinierendsten Erfahrungen des Menschen – der Anfang und das Ende des Lebens – hatten immer schon sowohl für die einzelnen Menschen als auch für ganze Kulturen zentrale Bedeutung. Das »Wunder« der Geburt und das »Wunder« des Sterbens sind gleichermaßen prägend für unser Bild vom Leben. Wenn diese Erfahrungen abgespalten werden oder sehr unterschiedlich beachtet oder bewertet werden, führte und führt das zu Selbst- und Fremdschädigungen.

2. Die Auseinandersetzung mit der Tatsache und dem Thema Sterben darf daher nicht getrennt gesehen werden von der Tatsache und vom Thema des Lebenschaffens. Geburt und Sterben gehören integrativ zusammen. Eine gesunde Beschäftigung mit dem Sterben fördert eine gute Einstellung zum Leben. Zu dem, was mit »gesunder Beschäftigung mit dem Sterben« gemeint ist, soll dieses Buch beitragen – das auch in wertschätzender Auseinandersetzung mit religiösen bzw. volkstümlichen Vorstellungen.

Zu ergänzen ist, dass diese Überlegungen über Anfang und Ende des Lebens zeitgebunden sind. In einigen Jahren werden sich über die Machbarkeit des Lebens wie über die Verzögerung des Sterbens ganz neue Fragen stellen, Ansätze dazu sind bereits da. Die damit verbundenen bioethischen Fragen werden uns und unsere Kinder immer mehr beschäftigen.

1.2 Von unserer Bedeutungslosigkeit und unserer Einmaligkeit

Oft ist uns, als wäre die Welt Alles und wir Nichts,

oft aber auch, als wären wir Alles und die Welt Nichts.

(Friedrich Hölderlin, Hyperion, 1795)

Manche Polaritäten sind gut zu verstehen und leichter zu leben als andere. Ein besonders schwer zu verstehendes und schwer zu lebendes Spannungsfeld ist das unserer Bedeutung auf dieser Welt.

Einerseits: Im Sinne der existenziellen Verbundenheit (Buber, 1984; Lévinas, 1987; Petzold, 2013a) sind wir unverzichtbar als Mitmenschen. Wir ko-existieren. Ohne uns wären unsere Eltern andere Menschen, unser/e PartnerIn wäre nicht unser/e PartnerIn, und unsere Kinder gäbe es gar nicht. Viele weitere Menschen hätten ein völlig anderes Leben, wenn es uns nicht gegeben hätte, gibt und weiter geben würde. Im intersubjektiven Erleben sind wir einmalig, bedeutsam, unverzichtbar.

Andererseits: Im naturwissenschaftlichen Sinne sind wir weniger als ein Sandkorn in diesem Universum, und spätestens hundert Jahre nach unserem Tod weiß kaum noch wer, dass wir überhaupt existiert haben, falls wir nicht zufällig eine spezifische Berühmtheit erlangt haben. In diesem Fall verzögert sich die Tatsache unserer Bedeutungslosigkeit um eine gewisse Zeit, aber was heißt das schon angesichts der Abermilliarden Jahre unseres Universums.

Diese beiden Pole – bedeutend sein und zugleich unbedeutend sein – sollten wir integrieren können. Wenn das nicht gelingt, wenn man sich also dauerhaft entweder zu wichtig oder zu wenig wichtig nimmt, spricht man in der Psychologie und Psychotherapie von einer narzisstischen Störung oder sogar von einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Auszunehmen von einer solchen Diagnose sind hier die Schwierigkeiten, die in bestimmten Lebensphasen zeitweilig auftreten können oder entwicklungsbedingt verständlich sind, wie etwa in der Pubertät, in der dieses Spannungsfeld besonders zerrt. Kulturelle Traditionen oder auch der Zeitgeist beeinflussen, in welchem Maß sich Menschen jeweils mehr oder weniger wichtig nehmen. Menschen, die sich nicht wichtig nehmen, sind für jede Art von autoritären Herrschaftssystemen zweifellos von Vorteil. Menschen, die sich nicht wichtig nehmen, lassen sich mehr gefallen. Eine Überbetonung des Sich-wichtig-Nehmens ist andererseits für das Konsumverhalten in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung von Vorteil. KonsumentInnen werden sehr wichtig genommen: »Der Kunde ist König.« Auf diese Weise werden die meisten Menschen in eine gewisse Einseitigkeit in diesem Spannungsfeld hineinsozialisiert. Sie lernen, sich möglichst wichtig oder möglichst unwichtig zu nehmen.

Man könnte daher von einem Aspekt der Lebenskunst sprechen, wenn sich jemand in diesem Spannungsfeld gut bewegen und immer wieder eine Balance herstellen kann, indem er oder sie sich situationsbezogen in den Mittelpunkt stellen und sich angemessen wieder zurückziehen bzw. im Hintergrund halten kann. Ein besonderes Modell für diese existenzielle Polarität stellen die Eltern oder andere Bezugspersonen von Kindern dar. Für die wichtigsten Bezugspersonen ist es immer wieder herausfordernd, ihre existenzielle Bedeutung für ein Kind zu erkennen und zu leben; ebenso herausfordernd ist es, ein Kind nicht zu behindern, seine eigene Bedeutung zu entwickeln. Es ist auch unter den Erwachsenen eine viel zu wenig geschätzte Aufgabe, sich für das Kind immer wieder bedeutsam und immer wieder unbedeutend zu machen.

Beim Vergleich von Geburt und Sterben zeigt sich hier ein Unterschied: Während bei der Geburt ein Mensch in der Regel für zumindest einen Menschen – die Gebärende – eine existenzielle Bedeutung hat, ist dies beim Sterben nicht so genau absehbar. Bei zahllosen Schlachtfeldern, in Konzentrationslagern, bei Bombenangriffen und dort, wo Menschen völlig vereinsamt oder elendig sterben, ist die Bedeutung des einzelnen Sterbenden fraglich. Ähnlich der Frage »Wer hat sich über meine Geburt gefreut?« begleitet uns vielleicht eine unbewusste Sorge: »Wem werde ich fehlen?« und »Wird jemand um mich trauern, mir ›nachweinen‹?«

Dazu schreibt Norbert Elias (2002, S. 60):

Auch bei Sterbenden kann man diese Tendenzen spüren. Sie mögen sich ihr resigniert ergeben oder gerade im Sterben noch einmal danach trachten, die Mauer zu durchbrechen. Wie es auch ist, sie bedürfen mehr als je des Empfindens, dass sie ihre Bedeutung für andere Menschen noch nicht verloren haben […].

Damit wird hier zum Ausdruck gebracht, dass unsere Bedeutsamkeit letztlich nicht die eines individuellen Menschen ist, sondern die eines Mitmenschen. Wir sind bedeutsam, weil wir für andere und andere für uns bedeutsam sind.

1.3 Über Integration

Das Leben vollzieht sich in vielfältigen Widersprüchen, in mehrfachen Spannungen, in bedeutsamen Unterschiedlichkeiten, in vielseitigen Gegensätzen. Das macht dieses Leben lebendig. Es gibt drei verschiedene – zunächst gleichwertige – Möglichkeiten, mit diesen Gegensätzen, Spannungen, Widersprüchen umzugehen:

A. Die eine Seite des Widerspruchs ist richtig, alle anderen sind falsch. Die eine Seite ist gut, alle anderen sind böse oder schlecht. Die eine Seite ist mehr wert als die anderen. Die eine Seite ist wünschenswert, die andere ist abzulehnen. Diese Möglichkeit nennen wir Spaltung.

B. Beide oder besser alle Seiten des Widerspruchs sind in gleicher Weise bedeutsam, sie bedingen einander und brauchen einander, und sei es durch ihre Spannungen. Auf jeden Fall sind alle Seiten zu respektieren. Diese Möglichkeit nennen wir Integration im engeren Sinn.

C. Auch die beiden Möglichkeiten A und B müssen nicht gespalten werden. In manchen Lebenssituationen ist es unverzichtbar, Falsch als Falsch und Böse als Böse zu benennen. In vielen anderen Situationen ist das nicht notwendig, sondern es verengt die Vielfalt der Wirklichkeiten und Wirklichkeitskonstruktionen in dieser Welt. Ob Spaltung oder Integration angemessen ist, entscheidet jeweils ein Diskurs, manchmal ein spontaner Reflex. Diese Möglichkeit nennen wir Integration im weiteren Sinn, eine Synthese von A und B.1

Beispiele

Beim Thema Rauchen tendierten die Kritiker des Rauchens in Europa in den letzten zwanzig Jahren zur Perspektive A, die Vertreter der RaucherInnen zur Perspektive B. Der Diskurs entschied letztlich für A.

Ein zweites Beispiel: Viele spirituelle Konzepte gehen davon aus, dass Dunkelheit für das Gefährliche, das Böse steht, und das Licht für das Gute, ja Göttliche. Wenn wir aber an den Kerzenschein denken, dann wird uns bewusst, dass die besondere Qualität des Kerzenlichts von der uns umgebenden Dunkelheit lebt. Im Tageslicht verliert eine brennende Kerze ihre Wirkung. Die Bedeutung des Lichts lebt von der Bedeutung der Dunkelheit. Hier ist also eine Integration von Licht und Dunkelheit – Möglichkeit B – plausibler.

Ein drittes Beispiel finden wir bei der Trennung von Eheleuten. Der »Rosenkrieg« entspricht der konsequenten Perspektive A – Spaltung, eine Mediation entspricht der Perspektive B – Integration.

Symbole für Integration sind weltweit anerkannt und vielfach verwendet: das Kreuzzeichen als Verbindung des Horizontalen mit dem Vertikalen, der Davidstern mit zwei ineinander verschränkten Dreiecken, weiters das Zeichen für Yin und Yang oder in den meisten Kulturen die Handhaltung bei Gebeten. Sie alle sind eine ständige Mahnung an uns, dass wesentliche Gegensätze und Widersprüche zusammengehören. Dass mit solchen Symbolen – wie etwa mit dem Kreuz – in den Krieg gezogen wurde (und fallweise noch wird), macht deutlich, dass rationales Verstehen allein wenig bedeutet, »wenn es ernst wird«. Integration ist mit Vernunft allein nicht fassbar.

Die für dieses Buch relevante Integrationsaufgabe liegt natürlich im Sterben. Wir wissen zwar, dass wir das Leben nur schätzen und manchmal genießen können, weil es eben endlich ist, hadern aber in der Regel doch mit dem Sterben. Es ist daher eine Lebensaufgabe, das Sterben als integralen Bestandteil unserer Lebensqualität zu erkennen und daher damit immer wieder neu leben zu lernen. »Beginnen wir end-lich zu leben, damit wir endlich leben können!« (Längle, 2007, S. 89)

Wenn man das Sterben versteckt,

wird das Leben am Ende unbegreiflich.

(Henning Mankell, 2014, S. 277)

Sogar das Wort »Integration« selbst ist Opfer der alltäglich vorherrschenden Tendenz zur Spaltung. Vom Wortursprung her steht Integration für die (Wieder-)Herstellung von Einheit. Dabei verlieren alle Teile etwas und gewinnen etwas oder es entsteht dabei etwas Drittes, Neues. Wie wir in seiner politischen Bedeutung sehen können, wird Integration nur manchmal mit wechselseitiger Verschmelzung oder jedenfalls schrittweise zunehmender Verknüpfung gesehen. Am Beispiel der Bedeutung von der »Integration Europas« ist das so gemeint. Manchmal – und vor allem in den letzten Jahren – wird »Integration« allerdings bei Geflüchteten und Migranten überwiegend im Sinne der Anpassung einer Minderheit an die Mehrheit verstanden. Von Wechselseitigkeit und Verknüpfung ist da nur noch im Bereich der Ernährung etwas zu erkennen: Unsere Essgewohnheiten sind Ergebnis eines gelungenen Integrationsprozesses. In den meisten Lebensbereichen tendiert der Mainstream jedoch zur Möglichkeit A, zur Spaltung. Wir sehen also, dass mit den Möglichkeiten »Spaltung« oder »Integration« sehr vielfältig und oft wenig durchdacht umgegangen wird. Das ist insofern problematisch, als gerade bei der Nichtintegration, also der Abspaltung von Fremdem, eine Selbstschädigung droht. Das ist nicht nur beim Umgang mit – zunächst – fremden Menschen der Fall, sondern eben auch bei der Abspaltung von der Tatsache des Sterbens.

Sterben bedarf also auf jeden Fall einer Integration im engeren Sinne. Das betrifft nicht nur das Sterben selbst, sondern auch die Umstände des Sterbens. Auch hier erleben wir überall die Tendenz des Spaltens: Das Leiden im Sterben und auch am Sterben wird grundsätzlich abgewehrt, es soll alles möglichst problemlos ablaufen und verarbeitet werden. Wenn das nicht gelingt, dann ist irgendwer oder irgendetwas schuld. Natürlich ist es unverzichtbar, alles Mögliche aufzuwenden, um Leid zu verringern, aber manchmal, sogar oft, gelingt das nicht. Dann gilt es, auch diese Möglichkeit anzuerkennen. Ähnlich wie nicht jede Geburt nur mit Freude verknüpft ist, kommt das Sterben meist nicht ohne Leid aus. Die Erde ist kein Jammertal, aber auch kein Ort, an dem nur Genuss und Freude möglich sind.

Es ist aber nochmals auf die Möglichkeit C hinzuweisen, also die Aufhebung des Widerspruchs zwischen Spaltung und Integration (im engeren Sinne): Die Tatsache, Sterben als integralen Bestandteil des Lebens zu sehen, ist hilfreich für das Leben. Das heißt aber nicht, dass wir jedes Sterben akzeptieren müssen, dass wir daher etwa Mord oder Krieg als integrale Bestandteile des Lebens anerkennen müssen. Mit der Feststellung »Kriege hat es immer gegeben« drückt man sich vor der Möglichkeit A, die uns auffordert, eindeutig Stellung zu beziehen.

Die besondere Schwierigkeit bei diesen Perspektiven liegt darin, dass sich weder Spaltung noch Integration als Zustand verstehen lässt, sondern nur als Prozess. Es gibt keine abgeschlossene Spaltung und keine abgeschlossene Integration: »There is no end to integration« (Fritz Perls) … »and no end to creation« (Hilarion Petzold). Die Verlockung, eine harmonische Einheit mit dem Kosmos, mit der Natur, mit Gott, mit dem »Volk«, mit dem eigenen Körper herzustellen, ist eine Illusion, an der schon Goethes Faust mit Recht zweifelte.

Werd ich zum Augenblicke sagen:

Verweile doch! du bist so schön!

Dann magst du mich in Fesseln schlagen,

Dann will ich gern zugrunde gehn!

(Johann Wolfgang Goethe, Faust I, Kapitel 7)

Mehrere Denker haben das Rhizom, ein sich ständig veränderndes Wurzelgeflecht wie z. B. die Ingwerwurzel, als Metapher verwendet, um gegen die Vorstellung zu argumentieren, es gäbe so etwas wie eine umfassende harmonische Einheit, die der Mensch anstreben müsse und erreichen könne, um glücklich zu werden, vor allem am Ende des Lebens. Das ist eine naive Illusion, die außerdem viele unglückliche und unabgerundete Lebensschicksale abwertet, als hätte hier jemand etwas falsch gemacht. Darin liegt eine besonders große Gefahr mancher »esoterischer« Konzepte. »Eben der Verlockung widerstehen, ein Großes und ein Ganzes herzustellen! Nichts abrunden, nichts abschließen.« (Seidel, 2014, S. 6) Eine besonders gelungene Kritik an dieser gefährlichen Illusion finden wir im Artikel »Gestalt und Rhizom« von Hilarion Petzold (2003b).

In diesem Sinne muss auch eine Formel wie »gutes Sterben« infrage gestellt werden. Auch wenn die Suche nach wünschenswerten Rahmenbedingungen wichtig ist, so muss doch bezweifelt werden, dass der Titel eines großen österreichischen Forschungsprojekts »Sterbewelten in Österreich – die Perspektive der Betroffenen auf gutes Sterben« gut gewählt ist.2 Auch der Theologe Ulrich Körtner widerspricht einer solchen Formel: »Ein gutes Sterben ist in meinen Augen ein solches, das der Erfahrung von Passivität, der Erfahrung auch des Fragmenthaften, also nicht nur dem Gelingen, sondern auch dem Scheitern Raum gibt. Aus christlicher Sicht bin ich davon überzeugt, dass das Bemühen, den Tod mit dem Glück zu versöhnen, zum Scheitern verurteilt ist.« (Körtner, 2017, S. 3)

Welches Verständnis von »Integration« liegt zugrunde, wenn wir von einer Integration des Sterbens in unser Leben sprechen? Nehmen wir die Definitionen von Petzold zu Hilfe: »Integration (von lat. integer = ganz, vollständig, unverletzt) bedeutet die Zusammenfassung differenzierter oder disparater Teile zu einem übergeordneten Ganzen bzw. das Lösen von Problemen und Aufgaben auf höherer Strukturebene.« In diesem Sinne ist Integration ein »Prozeß, dessen Folge eine Ganzheit (nicht das Ganze) ist, in der Differentes nicht eingeschmolzen, eingeebnet wird, sondern erkennbar bleibt. Es geht um Verbindungen von Zerstreutem, Unterschiedlichem durch Vernetzungen, Synopsen, Synergieeffekte, so daß durch die kokreative Wirkung der Teilaspekte Sinnbezüge hergestellt werden und Innovationen geschehen, ein Novum auftauchen kann« (Petzold, 2003a, S. 701).

In poetischen Worten könnte das so klingen:

Denn was bedeutet Sterben anderes

als nackt im Winde stehen und in der Sonne zerfließen?

Und was bedeutet das Stocken des Atems anderes

als dessen Befreiung aus den rastlosen Fluten,

auf dass er sich erhebe und entfalte und Gott suche, unbeschwert?

Erst so ihr trinket aus dem Flusse des Schweigens,

werdet ihr wahrhaft singen.

Und erst so ihr den Gipfel des Berges erklommen,

werdet ihr anfangen zu steigen.

Und erst so die Erde ihren Anspruch erhoben auf eure Gliedmaßen,

werdet ihr wahrhaft tanzen.

(Kahlil Gilbran, 1975, S. 60)

Um also Sterben in unser Leben integrieren zu können, muss es in seiner Besonderheit erkennbar sein bzw. immer wieder neu erkennbar werden, denn der Blick auf das Sterben bringt stets Neues in uns hervor. Zugleich bleibt es ein Umkreisen von etwas letztlich nicht Fassbarem. Es bleibt ein Rätsel.

Dabei müssen wir aber nicht stehen bleiben, denn es kommt noch etwas hinzu: die Mitmenschen. Unser Erkennen war und ist immer gegründet auf dem Erkennen von anderen und darauf, dass sie uns erkennen. Die untrennbare Gebundenheit unserer Existenz an andere, eben als »Ko-Existenz«, war den meisten großen Philosophen immer schon bewusst, auch wenn diese Haltung nicht immer »modern« war. Die Vorstellung, allein mit etwas fertig werden zu müssen, ist ebenso verbreitet wie letztlich unhaltbar, wenn wir die Entwicklung der Persönlichkeit wissenschaftlich betrachten. Jede Vereinsamung eines Menschen ist daher ein soziales Thema, ein soziales Problem, selbst dann, wenn diese Vereinsamung freiwillig gewählt scheint. Die zentrale Integrationsaufgabe ist also, dass einem das existenzielle Miteinander immer wieder bewusst wird (Orth, 2005). Integrieren in diesem Sinne heißt Mitdenken, Mitfühlen, Mitsprechen, Mithandeln.