Umschlag:

Ettore Tolomei, Silvius Magnago,

Luis Durnwalder und Michael Gamper (von links)

2017 · Sechste, überarbeitete und erweiterte Auflage

Alle Rechte vorbehalten

© by Athesia AG, Bozen (2000)

Design & Layout: Athesia-Tappeiner Verlag

Druck: Athesia Druck, Bozen

ISBN 978-8-8826-6886-0

www.athesia-tappeiner.com

buchverlag@athesia.it

Ein Volk, das um nichts anderes kämpft als um sein natürliches und verbrieftes Recht, wird den Herrgott zum Bundesgenossen haben.

Michael Gamper

Inhalt

Zum Geleit

Es gibt viele willkürlich gezogene Grenzen auf der Welt. Zu den willkürlichsten gehört wohl jene am Brenner, die das Land Tirol teilt, auch wenn sie in den vergangenen Jahren immer durchlässiger geworden ist: Seit Anfang 1998 gibt es dort keine Kontrollen mehr. Diese Grenze, nur 38 Kilometer südlich von Innsbruck, wurde 1919 im Friedensvertrag von Saint-Germain festgelegt, als Italien der Preis für seinen Kriegseintritt 1915 an der Seite der Entente ausgezahlt wurde. Trotz des vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson verkündeten Rechts auf Selbstbestimmung der Völker wurde Italien ein Gebiet zugesprochen, das seit mehr als fünf Jahrhunderten zu Österreich gehört hatte und zu 99 Prozent von einer deutschsprachigen Bevölkerung bewohnt war.

Von nun an gab es eine »Südtirol-Frage«. Es folgten leidvolle Kapitel: die Italianisierungspolitik der Faschisten, dann die »Option«, der Zweite Weltkrieg, am Ende des Krieges kein Zurück zu Österreich, statt Selbstbestimmung eine Autonomie, die zur Scheinautonomie wurde, immer wieder Demonstrationen, dann Bomben, Attentate, Tote. Am Ende siegte die Diplomatie: Mit dem »Paket« des Jahres 1969 wurde der Weg zu einer lebenswerten Autonomie beschritten. Alfons Gruber, selbst Südtiroler, hat diese wichtigen Stationen der Geschichte Südtirols in 13 Kapiteln anschaulich und kenntnisreich erstmals 2000 beschrieben. Seine »Streifzüge« erscheinen nunmehr in der 6. Auflage, erweitert um einen Beitrag über Luis Durnwalder, Südtirols Landeshauptmann von 1989 bis 2014.

Alfons Gruber ist ein begnadeter Chronist seiner Heimat. Wer mehr über die Geschichte Südtirols erfahren möchte, sollte sein Buch lesen. Lesevergnügen ist garantiert.

Rolf Steininger

Innsbruck, im Sommer 2017

Vorwort

Die Zeit ist eine sanftmütige Göttin, sagte der griechische Dramatiker Sophokles einmal. Aber gelegentlich knallt sie auch ganz gehörig mit der Peitsche. Das kann dann für die Zeitgenossen zur argen Heimsuchung werden.

Von ihrer sanftmütigen Seite haben die Südtiroler die »Göttin Zeit« in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht zu spüren bekommen. Ganz im Gegenteil: Es war ein Golgota, ein Kreuzweg, der schon an den Fronten des Ersten Weltkrieges begann. Dann die Abtrennung vom Vaterland Österreich und die faschistischen Peitschenhiebe, denen viele Südtiroler in den 1920er und 1930er Jahren ausgesetzt waren. Nicht minder schmerzhaft war die Drangsal zur Zeit der »Option«, als die Menschen im Lande zwischen »faschistischer Skylla» und »nationalsozialistischer Charybdis« entscheiden mussten. Ungeheuer waren sie beide.

Obwohl nach dem Zweiten Weltkrieg den Südtirolern – genauso wie nach dem Ersten – das Selbstbestimmungsrecht verweigert wurde, war mit dem Pariser Vertrag (1946) ein international gültiges Dokument geschaffen, das Italien insofern in die Schranken wies, als Österreich nun offiziell als Schutzmacht der Südtiroler auftreten konnte.

Kanonikus Michael Gamper hat diesen Vertrag einmal als »Magna Charta« der Südtiroler bezeichnet. Freilich: Bis diese »Charta« mit politischem, kulturellem, wirtschaftlichem und sozialem Leben erfüllt wurde, mussten Österreich und die Südtiroler Volkspartei noch hart mit verschiedenen italienischen Regierungen ringen.

Die Wende kam mit der Genehmigung des sogenannten »Südtirol-Pakets« in Meran (1969) und der daraus resultierenden Verabschiedung des Zweiten Autonomiestatutes im Jahr 1972. Nun war das Fundament gezimmert, auf dem die Südtiroler ihr »autonomes Haus« bauen konnten.

Sie taten es in den vergangenen 45 Jahren mit Eifer und Geschick. Der Erfolg ist weithin sichtbar. Südtirol ist heute eine blühende Landschaft, viele Menschen sind wie auf der Sonnenseite des Lebens gebettet. Die »Göttin Zeit« zeigt sich von ihrer sanftmütigen und mildtätigen Seite.

Dieser Wetterumschwung spiegelt sich in den vorliegenden Streifzügen durch die Geschichte Südtirols im 20. Jahrhundert. Turbulenzen beherrschen die ersten siebzig Jahre des Jahrhunderts. Dann beginnt sich der Himmel zu lichten. Heute herrscht in Südtirol vielerorts eitel Sonnenschein, auch wenn gewisse »Eintrübungen« unübersehbar sind. Bei Weitem nicht alle Menschen im Lande haben einen Platz an der Sonne.

Die Streifzüge sind in der vorliegenden sechsten Auflage mit dem Kapitel über »Durnwalder – der Macher« erweitert worden. Auf 14 Seiten werden die Verdienste und Leistungen von Luis Durnwalder, der von 1989 bis 2014 Landeshauptmann von Südtirol war, dargestellt. Durnwalder konnte auf den Grundlagen auf- und weiterbauen, welche Silvius Magnago zuvor geschaffen hatte. Heute hat Südtirol eine in wesentlichen Teilen hervorragende Autonomie, die dem Land in vielen Bereichen kulturelle, soziale und wirtschaftliche Sicherheit garantiert. Das ist in hohem Maße Luis Durnwalder zu verdanken. Die vorliegenden Streifzüge, die nun auch als E-Book in deutscher und italienischer Sprache erscheinen, beanspruchen keine Vollständigkeit, vielmehr wollen sie als Marksteine aufgrund von geschichtlichen Fakten mit bisweilen eingeblendeten Geschichten verstanden werden.

Ich danke dem Verlagshaus Athesia für die Drucklegung der sechsten Auflage (incl. E-Book), insbesondere Verlagsleiterin Ingrid Marmsoler und Programmleiter Stephan Leitner für die aufmerksame Begleitung. Professor Rolf Steiniger, em. Ordinarius für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck, danke ich für das Geleitwort.

Alfons Gruber

Bozen, im Herbst 2017

Am 23. Mai 1915 übergab der italienische Botschafter Avarna dem österreichischen Außenminister Burian die Kriegserklärung. Der folgenschwere Schritt Italiens, das zuvor mit Österreich-Ungarn im Dreibund vereint war, fand in der Presse ein großes Echo.

Italiens Schwenk im Jahr 1915

Südtirol ist ein über ein Jahrtausend altes deutsches Siedlungsgebiet – Grenzland zwar schon seit fast urdenklichen Zeiten, aber dennoch tief im deutschen Kulturraum verankert. Seit dem Jahr 1363 gehörte Tirol zu Habsburg. Nur in jenen Jahren zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Napoleon die Peitsche über weite Teile Europas schwang, war Tirol zerrissen. Nach der Niederlage der Tiroler am Bergisel (1809) wurde das Land geteilt. Der nördliche Teil bis Meran und Klausen kam zu dem mit Napoleon verbündeten Bayern, der Teil südlich davon wurde von Napoleon dem Regno d’Italia einverleibt. Nach Napoleons Waterloo wurde Tirol wieder mit Österreich vereinigt und blieb es bis zum Friedensvertrag von Saint-Germain im Jahr 1919.

Die entscheidenden Weichen für die Abtrennung Südtirols und die Einverleibung an Italien wurden im Jahr 1915 gestellt. Am 26. April jenes Jahres wurde in London ein Geheimabkommen unterzeichnet, in dem sich Italien verpflichtete, den Dreierbund mit Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich zu kündigen und an der Seite der Entente in den Krieg gegen Österreich einzutreten. Als Preis für diesen Schwenk wurden Italien von der Entente Kolonien, Erwerbungen an der Adria, das Trentino und Tirol von Salurn bis zum Brenner in Aussicht gestellt.

Italien konnte sich am Ende des Ersten Weltkrieges mit Frankreich, England und den USA zu den Siegermächten gesellen. Im Friedensvertrag von Saint-Germain verlangte Rom die Auszahlung des Preises, der 1915 versprochen worden war. Aber die Rechnung ging nur zum Teil auf. Von den erhofften Gebieten an der Adria erhielt es nur den östlichen Teil von Friaul–Julisch-Venetien mit Triest und Istrien; die dalmatinischen Küstenstreifen hingegen kamen zum neuen Staat Jugoslawien, und bei der Aufteilung der deutschen Kolonien ging Italien völlig leer aus. Umso mehr pochte es auf die Einhaltung des Londoner Versprechens, was das Trentino und Südtirol betraf.

Mit Südtirol annektierte Italien rein deutsches Siedlungsgebiet. Damit verstießen die Siegermächte nicht nur gegen die »Vierzehn Punkte« des amerikanischen Präsidenten Wilson, der das Selbstbestimmungsrecht der Völker zur Grundlage einer künftigen dauerhaften Friedensordnung erklärt hatte. In Punkt 9 der Vierzehn Punkte wurde zudem ausdrücklich festgehalten, dass die zukünftige Grenze Italiens nach einer klar erkennbaren Linie der Nationalität verlaufen solle. Das konnte nur die Sprachgrenze an der Salurner Klause sein. Italien verleugnete mit der Annexion auch die Prinzipien seines Kampfes um die Einheit. Zu den »heiligen Gesetzen« des Risorgimento gehörte es, dass Volkstumsgrenzen und Staatsgrenzen zusammenfallen sollten. Kein Volksstamm dürfe gegen seinen Willen diesem Staate angehören.

Aber eines war die Theorie und ein anderes die staatspolitische Praxis. Tatsache war, dass am Ende des Ersten Weltkrieges nicht Grundsätze der politischen Moral die Politik der Siegermächte beherrschten, sondern die kaltschnäuzigen Praktiken eiskalter Machtpolitik. In Paris wurde 1919 nicht über den Frieden in Europa verhandelt, sondern von den Siegern wurde der sogenannte Friede diktiert. In dieser Perspektive war es nur logisch, dass den Südtirolern 1919 das Recht auf Selbstbestimmung verweigert und Italien nicht einmal zur Gewährung einer Autonomie verpflichtet wurde.

Die Habsburgermonarchie war mit dem Ende des Weltkrieges in sich zusammengebrochen, der neue Staat Österreich, der aus den Trümmern erstand, war wie ein politisches Findelkind, ohnmächtig und hilflos und in dieser Torso-Konstellation auch von vielen eigenen Bürgern nicht gewollt. In Saint-Germain hatte Italien seine machtpolitischen Karten voll ins Spiel gebracht. Österreich konnte dem nichts entgegensetzen und musste einen Frieden unterzeichnen, der diesen Namen nicht verdient hat. Bereits bei den Verhandlungen um den Waffenstillstand zwischen Österreich und Italien in den ersten Novembertagen des Jahres 1918 in der Villa Giusti in der Nähe von Padua kündigte sich die Götterdämmerung an.

Zeitenwende

Die dramatischen Tage in der Villa Giusti

Die Szene wirkt gespenstisch. Die Nacht hat ihre langen Schatten auf Berg und Tal gelegt. Ein kalter Wind fegt über die brachliegenden Felder. Im Windschatten eines Bahndammes findet die Begegnung statt. Eine Taschenlampe wirft ein dünnes Licht auf ein Blatt Papier. Dieses Papier ist ein amtliches Dokument – historisch vielleicht von großer Wirkung. Im Hintergrund – kilometerweit entfernt – dröhnt immer wieder das Donnern von Kanonen: tödliche Signale von feindlichen Gefechten zwischen österreichischen und italienischen Soldaten.

Die Villa Giusti in der Nähe von Padua (Aufnahme aus dem Jahre 1918)

General Weber von Webenau leitete die österreichisch-ungarische Delegation bei den Waffenstillstandsverhandlungen in der Villa Giusti.

Es ist der 30. Oktober des Jahres 1918. In Europa tobt seit vier Jahren ein mörderischer Krieg. Unzählige Tote und Verletzte liegen auf den Schlachtfeldern, und Dutzende von Frontlinien trennen als feindliche Barrieren die Völker. Eine Front liegt im Trentino, sie zieht sich im Süden von Rovereto gegen Serravalle an der Etsch. Dort stehen sich österreichische und italienische Truppen als Feinde gegenüber, Alpini auf der italienischen Seite und Kaiserjäger auf der österreichischen.

Es ist 19.20 Uhr …

Die österreichische Frontlinie liegt direkt am Etschdamm. Es ist 19.20 Uhr. Zwei hohe österreichische Militärangehörige gehen zu Fuß den Damm entlang: General Weber von Webenau und Oberst Karl Schneller, voraus schreitet ein Hornist, der die weiße Fahne trägt und unablässig den Generalmarsch bläst. Die Italiener auf der Südseite des Dammes beantworten diese Hornsignale mit dem italienischen Signal Feuer einstellen. Die Österreicher werden von mehreren starken Scheinwerfern angestrahlt. Sie marschieren gewissermaßen in den Lichtkegeln der italienischen Scheinwerfer. Plötzlich fallen Schüsse. Die Kugeln schlagen nur wenige Meter von den Österreichern entfernt ein. Es hätte eine Katastrophe werden können, aber zum Glück graben sich die Geschosse in die Erde.

Aus der italienischen Stellung nähert sich ein Offizier. Augusto Bergonzi salutiert mit pathetischer Geste und erklärt forsch: Ich habe den Auftrag, niemanden über unsere Linien zu lassen. Ich kann nur eines tun: Euer Schreiben an unsere oberste Heeresleitung, das Comando Supremo, weiterleiten. Darauf die Österreicher: Wir sind keine gewöhnlichen Unterhändler, wir sind Abgesandte des österreichisch-ungarischen Oberkommandos und haben den Auftrag, Verhandlungen über den Abschluß eines Waffenstillstandes zu führen.

Die Österreicher zeigen ihre Vollmachtschreiben. Der Alpinimajor, der deutsch versteht, zieht die Taschenlampe heraus und liest im dünnen Lichtkegel der Lampe die Vollmachten. Dann ersucht er zu warten. Ich werde meinem vorgesetzten Kommando Meldung erstatten und weitere Weisungen werden folgen, erklärt er.

Sehnsucht nach Frieden

General Weber von Webenau, Oberst Schneller und der Hornist müssen sich mit Geduld wappnen. Inzwischen ist es schon finstere Nacht geworden. Hinter den Bergen liegen irgendwo der Pasubio und der Col di Lana, wo in den vergangenen Wochen und Monaten erbittert und für beide Seiten verlustreich gekämpft worden ist. Und noch viel weiter entfernt – im Osten – fließen der Piave und der Isonzo, zwei Flüsse, die zum Schicksal für das Kriegsglück der österreichisch-ungarischen Truppen geworden sind. Nach anfänglichen Erfolgen mussten sie das Feld vor den Italienern räumen und ihre Truppen zurückziehen. Am Piave sah es in den vergangenen Wochen nicht mehr gut aus für die Soldaten der K.-u.-k.-Monarchie. Tausende verbluteten in der Schlacht, in einem Krieg, der lange schon sinnlos geworden war. Ein ehrenvoller Waffenstillstand und dann ein ehrenvoller Friede – das ist die Sehnsucht von Tausenden und Abertausenden von Soldaten.

Über eine Stunde warten sie nun bereits, die drei k. u. k. Unterhändler, die Zeit kommt ihnen wie eine Ewigkeit vor. Da endlich bewegt sich etwas in der finsteren Nacht, der Schatten des italienischen Majors taucht aus der Dunkelheit auf. Ich habe für Euch einen Passierschein, mit dem Ihr die Linien überschreiten dürft. Bitte folgt mir!

Der Weg führt hinunter in tiefe Schützengräben, wo aufgeregte italienische Infanteristen lautstark durcheinanderschnattern, es werden Drahthindernisse überquert, und dann verbindet ein Leutnant den drei Österreichern die Augen. Das scheint bei der stockfinsteren Nacht zwar überflüssig, ist jedoch bei Unterhändlern eine übliche Vorsichtsmaßnahme. Nach einer guten halben Stunde – immer wieder müssen Laufgräben durchquert werden, die sich endlos hinzuziehen scheinen – wird den Österreichern im Lichtkegel greller Scheinwerfer die Binde von den Augen genommen. Bitte einsteigen, lautet jetzt die Order der Italiener. Einige Autos fahren vor und bringen die drei Unterhändler in das nahe gelegene Avio, wo in der Villa eines Grafen das Hauptquartier der 26. italienischen Infanteriedivision untergebracht ist.

»Wir wollen weiteres Blutvergießen vermeiden!«

Inzwischen ist es schon tiefe Nacht. Die Italiener kredenzen ein für Kriegszeiten fürstliches Abendessen, und danach beginnen die Gespräche. General Weber von Webenau formuliert den Antrag der K.-u.-k.-Monarchie: Wir wollen weiteres Blutvergießen vermeiden und wünschen so rasch wie möglich zu einem Waffenstillstand zu kommen und dann zu einem ehrenhaften Frieden. Unser Wunsch ist es, lieber noch heute als morgen mit den Verhandlungen zur Einstellung aller Kampfhandlungen zu beginnen.

Die Italiener scheinen es weniger eilig zu haben. Die Zeit arbeitet offensichtlich für sie. Mit jedem Tag können sie ihre Frontlinien weiter nach Norden vorschieben. Der italienische Generaloberst unterbricht immer wieder die Gespräche, entfernt sich aus dem Sitzungssaal und eilt zum Telefon. Er berät mit der obersten italienischen Heeresleitung, dem Comando Supremo. Die Gespräche ziehen sich bis weit über Mitternacht hin. Die Delegierten sind der Erschöpfung nahe. Endlich kommt die erlösende Botschaft. Um vier Uhr morgens trifft ein Telegramm des Comando Supremo ein. Die Österreicher erhalten die offizielle Erlaubnis, die italienischen Linien bei Serravalle zu überschreiten. Damit ist das Signal für den Beginn der Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Italien und Österreich gegeben. Was werden die kommenden Tage bringen?

Oberstleutnant Victor von Seiller war Mitglied und Dolmetscher der Kommission.

Es ist der 31. Oktober des Jahres 1918. Die Mitglieder der österreichisch-ungarischen Waffenstillstandskommission werden unter größter Geheimhaltung von Serravalle im Trentino in die Villa Giusti befördert. Die Limousine, in der sie reisen, ist verschlossen, keiner der italienischen Soldaten soll erfahren, dass die Verhandlungen über den Waffenstillstand unmittelbar bevorstehen. Die Villa Giusti liegt auf halbem Wege zwischen Padua und dem Kurort Abano. In diesem Gebäude, das einem italienischen Senator gehört, fallen in den Tagen zwischen dem 1. und 4. November die Würfel, welche die mitteleuropäische Landkarte verändern. Die politischen Weichen für die Zukunft Österreichs und Italiens werden neu gestellt.

Die k. u. k. Kommission trifft gegen 19 Uhr in der Villa Giusti ein. Die Herren der Delegation werden in dem altehrwürdigen Gebäude vortrefflich untergebracht. Vom Fenster aus blickt General Weber von Webenau, der die Kommission leitet, hinaus in den Park, in dem herbstlich vergilbte Blätter immer wieder leise von den Bäumen fallen. Die Jahreszeit erfüllt ihn mit Traurigkeit und Schmerz, noch dazu, wenn er an sein Vaterland denkt. Die vielen Völkerschaften der Habsburgermonarchie, die Italiener, die Tschechen, die Ungarn, slawische Völker, sie alle streben auseinander. Ein Riesenreich, das viele Jahrhunderte hindurch Weltgeschichte gestaltet hat, zerfällt. Hier in der Villa Giusti wird vermutlich der Schlussstrich unter eine lange geschichtliche Epoche gezogen werden. Ein schmerzlicher Schlussstrich, dann wird es noch den Friedensvertrag geben, der in Paris abgeschlossen wird.

Gespräche am runden Tisch

Die Österreicher möchten unverzüglich mit den Verhandlungen beginnen, aber die Italiener lassen sich Zeit, denn sie sitzen am längeren Hebel. Erst für den 1. November um 9 Uhr ist die erste Sitzung anberaumt. Die Italiener erklären, sie müssten erst ein Fernschreiben aus Paris abwarten. In der französischen Hauptstadt hat der Interalliierte Militärrat seinen Sitz. Das ist die oberste Militärbehörde der Alliierten, der Franzosen, Engländer, Amerikaner und ihrer Verbündeten. Dieser Rat diktiert die Bedingungen auch für den Waffenstillstand zwischen Italien und der Habsburgermonarchie.

Am 1. November, knapp vor 9 Uhr, ertönen Hornsignale vor der Villa Giusti. Eine Kavallerieeskorte hält wenige Meter vor dem Eingangsportal. Mehr als ein halbes Dutzend italienischer Generäle salutiert. Die italienische Delegation trifft zur ersten Verhandlungssitzung in der Villa ein. In ihrem Gefolge ein Tross von Sekretären und Protokollbeamten. Es herrscht eine aufgeregt-feierliche Stimmung unter den Italienern.

Vierzehn Unterschriften, die das Ende des Ersten Weltkrieges signalisieren: Am 3. November 1918 um 18 Uhr wurde in der Villa Giusti das Waffenstillstandsabkommen von den jeweils sieben Vertretern der österreichisch-ungarischen und der italienischen Delegation unterschrieben.

Im Sitzungssaal nehmen Italiener und Österreicher an einem runden Tisch aus Mahagoniholz Platz. Generalleutnant Pietro Badoglio ist der Vorsitzende der italienischen Kommission. Ihm gegenüber sitzt General Weber von Webenau, der Chef der österreichisch-ungarischen Abordnung. Die beiden Herren tauschen kurze Grußbotschaften aus, dann setzt General Badoglio zu einer pathetischen Geste an und erklärt: In der vergangenen Nacht ist der Text des interalliierten Militärrates aus Paris bei uns eingetroffen. Das Schriftstück, das in französischer Sprache abgefaßt ist, enthält die Bedingungen für den Waffenstillstand. Da der Text jedoch infolge technischer Störungen bei der Übermittlung in mehreren Teilen unklar ist, müssen wir das offizielle Dokument aus Paris abwarten. Es soll morgen nachmittag in Abano eintreffen. Ich will jedoch keine Zeit ungenutzt verstreichen lassen und stelle Ihnen den vorhandenen fehlerhaften Text für eine erste Durchsicht zur Verfügung.

General Badoglio reicht den Text General Weber von Webenau über den Tisch. Die Sitzung wird daraufhin unterbrochen.

Eiskalte Dusche

Hoffen und Bangen prägt die Gesichter der österreichischen Kommissionsmitglieder. Sie ziehen sich in einen Nebenraum zurück und beginnen mit dem Studium des Dokumentes. Der erste Eindruck ist niederschmetternd. Das ist eine eiskalte Dusche, erklärt General Weber von Webenau, viel ärger als wir es uns vorgestellt haben, ein regelrechter Hammer. Und der General, der die französische Sprache gut beherrscht, beginnt zu lesen und zu übersetzen: Räumung nicht nur der von den österreichischen Truppen damals besetzten italienischen Gebiete, sondern auch Räumung von Südtirol bis zum Brenner, dazu Görz, Triest, Istrien, Dalmatien und dazu noch eine Reihe weiterer Forderungen. Die Österreicher sind wie gelähmt. Und das soll die Grundlage für einen ehrenhaften Frieden sein, fragt Oberst Victor von Seiller.