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Sonar 29

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Die Entstehung dieses Werks wurde durch ein Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen ermöglicht.

Originaltitel: Siódemka, erschienen bei Korporacja Ha!art, Kraków 2014 © Ziemowit Szczerek

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

1. Auflage 2019

Verlag Voland & Quist, Berlin, Dresden, Leipzig, 2019

© der deutschen Ausgabe by Verlag Voland & Quist GmbH

Korrektorat: Annegret Schenkel

Umschlaggestaltung: HawaiiF3

Satz: Fred Uhde

www.voland-quist.de

eISBN: 978-3-86391-260-4

Ziemowit Szczerek, geboren 1978, streitbarer Intellektueller und Journalist, publiziert unter anderem in Nowa Europa Wschodnia und Tygodnik Powszechny. Er ist fasziniert vom Osten Europas, vom Gonzo-Journalismus sowie von »geopolitischen, geschichtlichen und kulturellen Kuriositäten«, wie er selbst sagt. Für Mordor kommt und frisst uns auf wurde er mit dem Paszport-Preis der Polityka ausgezeichnet sowie für den Nike-Literaturpreis, die wichtigste literarische Auszeichnung Polens, und den Internationalen Literaturpreis des HKW nominiert.

Thomas Weiler wurde 1978 im Schwarzwald geboren. Seit seinem Übersetzerstudium in Leipzig, Berlin und St. Petersburg übersetzt und vermittelt er Belletristik und Kinderliteratur aus dem Polnischen, Russischen und Belarussischen. 2017 erhielt er den Deutschen Jugendliteraturpreis, 2019 wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis geehrt. Er lebt mit seiner Familie in Markkleeberg bei Leipzig. Bei Voland & Quist erschienen seine Übersetzungen von Viktor Martinowitsch, Ziemowit Szczerek und Oleg Senzow.

Ziemowit Szczerek
Sieben. Das Buch der polnischen Dämonen

Seven deadly sins,

seven ways to win,

seven holy paths to hell,

and your trip begins.

Seven downward slopes,

seven bloodied hopes,

seven are your burning fires,

seven your desires …

Iron Maiden
Moonchild

Inhalt

1. Asmodäus

2. Mammon

3. Luzifer

4. Beelzebub

5. Satan

6. Leviathan

7. Belphegor

Anmerkungen des Übersetzers

1. Asmodäus

Da sitzt du also in deinem Vectra, Paweł, sitzt und fährst durch das verkaterte, kaputte Krakau, du selber genauso verkatert und kaputt, fährst aus Krakau hinaus, fährst nach Warschau und steckst im Stau Richtung Landesstraße Nr. 7, der Sieben, der Königin unter Polens Straßen, morgen früh hast du in Warschau ein wichtiges Treffen, also musst du da hin, nichts zu machen.

Schon kommst du am Rakowicer Friedhof vorbei, ach, du liebst den Rakowicer Friedhof, diese Quintessenz Krakaus, auf jedem Grabstein, vor jedem Namen ein Titel: hier ein Magister, dort ein Ratsherr, hier ein Doktor, dort ein Advokat, und wenn es so gar nichts gab, dann haben sie ein »Bürger der Stadt Krakau« eingraviert, und alles war gut. Du ziehst die Nase hoch und riechst Stearin, siehst den Schein der Grablichter über dem Friedhof und atmest genüsslich ein, Paweł, denn du magst den Geruch von Stearin über dem Friedhof, magst Allerheiligen insgesamt, und heute ist Allerheiligen.

Geister und verblichene Ahnen kriechen aus ihren Höhlen, kommen aus ihren Sphären und nehmen Polen für ein halbes Jahr in Besitz.

Uuuuu-huuuu.

Dir ganz persönlich, Paweł, gefällt diese Dunkelheit und dieses geisterhafte Schlammgeschmatze, die Zeit, in der die zerlumpten slawischen Gottheiten und die verlotterten slawischen Dämonen der Erde am nächsten sind, während Polen, dein Heimatland, außerstande ist, das dunkle Geschmatze in den Griff zu bekommen, das wirst du zugeben. »Das Assipack schmatzt sich durchs Dauerdunkel«, um mit einem Quasi-Klassiker zu sprechen. Polen hat sich ja selbst noch nie in den Griff bekommen. Noch nie, denkst du dir, hat es sich selbst eine Form geben können, ein Erscheinungsbild.

Und deshalb magst du das polnische Allerheiligen, Paweł, weil es sich als eine der wenigen Errungenschaften der polnischen Kultur ästhetisch wunderbar einfügt in die halbjährige Zeit der Dunkelheit, die eben in Polen wieder anbricht. Weil es der schönste polnische Feiertag ist.

Inzwischen hast du das Fenster geöffnet, um mehr von diesem Stearinduft einzuatmen, und im Radio laufen die Nachrichten. Der Sprecher meldet erregt, Russland ziehe seine Truppen an der polnischen Grenze zusammen, im Kaliningrader Gebiet, und du betrachtest dein Bild im Spiegel, siehst deine verkaterten Augen, denn wenn heute Allerheiligen ist, war gestern Halloween, und ganz Krakau – in dem du wohnst, weil du dich hier vor Polen versteckst, denn Krakau ist einer der wenigen Orte in Polen, an denen man sich vor Polen verstecken kann – hat sich die Kante gegeben. Ist ja auch ein Anlass: Halloween. Kürbisse, Horrorschocker im Fernsehen, in jeder Kneipe läuft Soul Dracula, in den Theatern die Dziady in immer neuen Inszenierungen. Aber hauptsächlich wird gesoffen. Nicht, dass Krakau einen besonderen Anlass bräuchte, sich die Kante zu geben, aber gut.

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Du sitzt also am Steuer, trommelst mit den Fingern aufs Lenkrad, trommel-trommel, dein Vectra steht im Stau, und du rufst dir ins Gedächtnis, was denn da gestern so los war, wegen dieses ganzen Halloween, denn du warst auch mit deinen Kollegen unterwegs, den Leuten vom Online-Informationsportal Światpol.pl, wo du als Redakteur arbeitest, die Startseite redigierst und dir klickfähige Titel einfallen lässt. Damit der unique user klickt, dass es reinhaut. Alles für die Klickung (lat. clicalitas). Wenn es zum Beispiel polnisch-deutsche NATO-Manöver bei Stettin gibt und die Soldaten eine Flussüberquerung trainieren, titelt ihr in der Redaktion: Deutsche Armee überschreitet auf Pontonbrücken die Oder. Eins a. Haut rein. Oder wenn es heißt, ein gänzlich unbekannter Abgeordneter irgendeiner Splitterpartei hätte im Suff vor dem Mickiewicz-Denkmal sein Wasser abgeschlagen, bringt ihr händereibend ein Prominenter Politiker pinkelt auf großen Polen. Und wie das reinhaut! Klicks ohne Ende! Die Clicalitas explodiert! Übrigens, wenn in irgendeiner Schlagzeile die Fügung »prominenter Politiker«, »berühmter Schauspieler« oder »bekannter Musiker« vorkommt, dann kennt diesen Politiker, Musiker oder Schauspieler kein Schwein, weil wenn er wirklich so bekannt wäre, würde er im Aufmacher mit Namen erscheinen, mit vollem Namen. Grzegorz, sagen wir mal, Schetyna, wird dabei gefilmt, wie er beim Abendessen im Élysée-Palast ein kostbares Tafelservice in seiner Tasche verschwinden lässt, Jarosław, zum Beispiel, Kaczyński, springt im Suff in der Ulica Nowowiejska in Warschau wie ein Berggorilla von einem Autodach zum nächsten. So was. Oder, sagen wir, in Tschechien ist Nationalfeiertag und Militärparade, und jetzt, hopp, mach daraus den Eyecatcher. Tschechien: Militärparade am Nationalfeiertag? Um Gottes willen, da kriegst du vielleicht zwei Klicks für, zwei lumpige Klicks, aber du so, zack: Bewaffnete Soldaten in den Straßen von Praga. Das haut so was von rein, geht ab durch die Decke. Und der Witz ist auch, dass keiner kapiert, ob es um Tschechien oder um das Warschauer Praga geht, oder wenn in der Slowakei die Regierung stürzt, dann schreibst du nicht, dass in der Slowakei die Regierung gestürzt ist, sondern du schreibst Nachbarland Polens am Abgrund, weil wenn du schreibst, dass dieses Nachbarland Polens die Slowakei ist, dann interessiert sich kein toter Hund dafür, weil das, was in der Slowakei passiert, nur Studenten der Slowakistik und ein paar Tschechophile interessiert, die ihre Tschechophilie slowakisch erweitert haben. Aber so: »Nachbarland Polens«, da fragt sich der unique user doch gleich: etwa Deutschland? – na bitte, hat er endlich ausgeschissen, der Szkop, so ein schönes Land, he, he, sauber asphaltiert, hübsch angemalt, schade drum … Oder etwa Russland?, denkt der unique user – na also, ist es aus mit dem Kazap, tja, wer andern Gruben gräbt … Oder etwa Tschechien?, grübelt der User weiter – auch nicht übel, die eingebildeten Pepíčeks, gebt uns das Teschener Schlesien zurück, statt in der Hospoda zu sitzen und Bier mit zwei Fingerbreit Schaum zu trinken.

Jaja, das ist diffizile Feinarbeit, dieses Schlagzeilendrechseln.

Am besten gehen natürlich Apokalypse, Holocaust, Weltuntergang mit Schwerpunkt Polen, ja, der Untergang Polens ist ein Clicalitas-Paradies, klar, alle Asteroiden hauen rein, wenn sie auf Polen zurasen, alle Epidemien, Godzillas, Marsattacken, Viren, Putins – haut alles rein.

Putin haut rein, aber wie, vor allem in letzter Zeit. Da muss man nicht mal den Titel besonders anspitzen. Na ja, ein bisschen Spitze ist immer gut.

Russland droht Polen: Tretet den Korridor ab, sonst …

Gefährliche Russische Raketen an der polnischen Grenze

Putin wettert: Polen soll sich zurückhalten, sonst …

Überraschende Manöver der Russen direkt an der polnischen Grenze

Schockierende Nachricht der NATO-Dienste: Russland nimmt Polen ins Visier …

Das waren so die Titel der vergangenen Tage.

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Na ja, und gestern Abend dann Halloween.

Freaks mit geschminkten Totenschädeln hirschten durch die Stadt, verkleidet als Vampire, als irgendwie dämonische Hexen, und die Gothics und Emos konnten endlich in voller Montur vor die Tür gehen, ohne sich zu kompletten Idioten zu machen. Jede Menge Blackmetaller mit Evil-Make-up auf ihren Schwarz-Weiß-Gesichtern waren unterwegs. Auch jede Menge Normalometaller: Matte, Kutte, Patch. Zum Beispiel vor dem Asmodeusz in der Starowiślna, standen im Kreis und ließen die Matten wirbeln wie Windmühlenflügel, und auf dem Boden, mittendrin, lag ein kleiner MP3-Player mit eingebautem Lautsprecher und brüllte wie ein Bär.

»Wor-sou sitti ät wor«, brüllte er.

»Woises fromm andergrand«, brüllten die Metaller. »Vispers of friedem!«

»Nein-tien-forti-for…«

»Hełp det näver käm!«

Dann vereinigten sie sich zu einem hysterischen, fast am Falsett kratzenden Schrei:

»Warszawo, waaaalcz!«

Sie trugen Nietenarmbänder. Iron-Maiden- und Sepultura-Aufnäher wechselten mit Aufnähern der Untergrundkämpfer und der Kotwica ab.

Mehrere Abarten der Addams Family waren unterwegs, und an der Ecke Planty/Szewska stand ein Verrückter mit Kreuz und Fiat-Multipla-Gesicht – soll vorkommen –, er trug einen durchgestrichenen, gekreuzigten Halloweenkürbis und brüllte, wir sollten nicht Kürbisse und die amerikanische Kultur anbeten, der Kürbis sei des Teufels, Harry Potter sei auch des Teufels, aber der Kürbis noch mehr, und wir sollten unverzüglich davon ablassen, weil wir die eigenen Traditionen kultivieren müssten, anstatt fremde zu kopieren. Auf der Szewska hatte sich ein Typ als Werwolf verkleidet: mit Wolfsmaske über der oberen Gesichtshälfte, den Pelzmantel offenbar von Oma, als Schwanz hinten einen Fuchskragen angebunden (inklusive Kopf, Pfoten und so weiter). An den Füßen trug er Puschen im Hundepfoten-Look. Er war ziemlich dicht. Der Typ ging auf den Verrückten mit dem Kreuz zu, sah ihm ins Gesicht und sagte:

»Du hast eine Fresse wie ein Fiat Multipla.«

»Und du einen Schwanz wie ein Daewoo Tico«, konterte der Verrückte. »Mach doch woanders einen auf Werwolf.«

Der Werwolf war eingeschnappt, hickste und ging seiner Wege.

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Du warst also mit zwei, na ja, Arbeitskollegen in der Stadt unterwegs. Der eine, Radosław, ging als Marschall-Piłsudski-Zombie, mit Schirmmütze, langem Klebeschnurrbart und Gammelfleischbatzen im Gesicht, die es im Empik in der Abteilung Geschenkartikel gibt, der andere, Spitzname Rumburak, war irgendwie komisch verkleidet: auch mit Schnurrbart, aber einem anderen als Radosław, kürzer, Typ Bürste, dazu trug er einen grauen Pullover, Cordjackett und eine Hose mit hochgekrempelten Beinen.

»Als was gehst du?«, fragtet ihr Rumburak.

»Wie jetzt?«, erwiderte er und hielt euch die Hosenbeine vor die Nase. »Das erkennt ihr nicht?«

»Nein«, sagtet ihr, »du siehst aus wie ein Busfahrer, dem der Keller vollgelaufen ist.«

»Busfahrer!« Rumburak war beleidigt. »Ich bin verkleidet als Václav Havel, Vášek Havel, mit dem ich mal in Hradčany eine geraucht hab, der ist nämlich ganz normal geblieben und manchmal nach Hradčany raus, eine rauchen, ganz normal, und ich bin auch grad da gewesen, und da haben wir zusammen eine geschmökert, ich bin doch tschechophil, wisst ihr doch, dass ich tschechophil bin, da hättet ihr auch draufkommen können.«

»Aber wieso«, musstest du nachfragen, »ausgerechnet Václav Havel? Was ist denn daran Halloween?«

»Na«, meinte Rumburak, »Vášek Havel ist tot, das ist mein persönlicher Tribut, versteht ihr? Was denn, sich als Toter verkleiden soll nicht Halloween sein? Du«, dabei nahm er dich mit seinem Zeigefinger anklagend aufs Korn, »du kannst ganz still sein, hast dich hier konformistisch gar nicht verkleidet und denkst jetzt, du könntest Leute blöd anmachen, die eine Wahl getroffen haben, verstehst du, EINE WAHL GETROFFEN!«

»Genau«, sprang ihm Radosław-Zombie-Piłsudski bei, obwohl er selber Vášek Havel blöd angemacht hatte. »Scheiß unkostümierter Konformist.«

Zuerst gingt ihr in den Pies, was eine Schnapsidee war. In den Pies kannst du erst gehen, wenn du schon gut dabei bist, jedenfalls nicht nüchtern, nüchtern ist es da nämlich nicht auszuhalten. Ein Besoffener im Jakub-Szela-Kostüm verlangte nach Aquavit, ein anderer hing als Stadtpräsident Majchrowski besoffen am Tresen und wollte in der »Pchäsidentenkchypta im Silberglockenturm« beerdigt werden. Ein anderer hing am Telefon und erzählte, er sei im magischen Kazimierz und es sei so magisch und besonders hier, dass er nach den nächsten zwei, drei Gläsern abdrehen und sich auf die Suche nach den Schatten und dem verklingenden Nachhall der einstigen Bewohner dieses Stadtteils machen werde. Ihr musstet euch also ranhalten und kipptet euch an der Bar einen, zwei, drei, vier Kurze hinter die Binde. Der Barmann war schon voll und empfahl eine neue Version des Wilden Hundes, die er, wie er behauptete, eben erst erfunden hatte, »für Hardcoreler«, wie er es ausdrückte. Scheinbar nichts Besonderes, der Klassiker, unten Himbeersirup, also Rot, oben Weiß, aber kein Wodka, sondern reiner Spiritus mit einem Tropfen Tabasco für den Geschmack. Das könnte man anzünden, meinte er, wie die Drinks in Asche und Diamant, weil Spiritus brennt, im Gegensatz zu Wodka. Er stellte die Kurzen nebeneinander auf den Tresen und zückte ein Feuerzeug.

»Zum Gedenken an …«, er sah zu Radosław, »aha, Józef Piłsudski.« Der erste Drink brannte. »An«, er sah sich um, erblickte Rumburak, »aha, an Václav Havel.« Die zweite Flamme.

»Seht ihr, der hat gleich erkannt, dass ich Vášek Havel bin, mit dem ich mal in Hradčany eine geraucht hab«, sagte Rumburak zu euch.

»Das hab ich«, erwiderte der betrunkene Barmann, »weil ich tschechophil bin. Ich hab sämtliche Zelenka-Filme zu Hause und die gesammelten Dramen von Vášek Havel und als Klingelton auf meinem Handy ein Lied aus Limonaden-Joe. Sou far tu ju ai mäi. Deshalb arbeite ich auch in der Kneipe, die Kneipe ist nämlich das Allerheiligste für einen echten Tschechophilen, Wohlsein!« Er hob ein Glas, wollte es ungelöscht austrinken, verbrannte sich dabei Bart und Unterhemd, brüllte los, dass sich die halbe Bar auf ihn stürzte und ihn zu löschen versuchte, wobei die restlichen brennenden Drinks auf dem Tresen verschüttet wurden.

Als ihr kurz darauf angekokelt mit einer Beruhigungszigarette draußen vor dem Pies standet, entdeckte der tschechophile Rumburak noch mehr Tschechophilen-Kumpels, und schon ging die tschechophile Begrüßerei los mit »ahoj«, »jak se máte«, »moc dobře«, »díky«, und anschließend das obligatorische Gemecker darüber, dass man hier nirgends ein Bier trinken kann, weil es in der ganzen Stadt keine richtige, anständige, egalitäre, tschechische Hospoda gibt, in der Professor und Wachmann gemeinsam am Tisch sitzen, und dass sie sich deshalb mit diesen nervigen Marcins und Januszs das Lokal teilen mussten, woraufhin die ganzen Tschechophilen inklusive Rumburak wieder in den Pies gingen, sich jeder ein Bier von einer kleinen lokalen Brauerei kauften, nach traditioneller Rezeptur gebraut, sich aber vor allem mit Kartoffelschnaps abfüllten, den sie soffen, bis sie unterm Tisch lagen.

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Du bliebst allein zurück mit Józef Piłsudski und seinen angesengten Schnurrhaaren, und ihr saht euch, eine Kippe im Mund, die Show vor dem Piękny Pies an und redetet aus Langeweile irgendwann über Russland, denn wenn es nichts zu reden gibt, kann man immer gut über Russland reden.

»In Russland ändert sich nichts und wird sich auch nie was ändern«, behauptete der Untote Piłsudski, der Russistik an der Jagiellonen-Uni studiert hatte. Schon der Marquis de Custine hat geschrieben, wie es ist, und so ist es immer noch.«

»Das Russische ist die irdische Verkörperung des Satans«, sagte der Typ im Werwolfkostüm, der jetzt hier rumlungerte, Krakau ist eben ein Dorf, und früher oder später landen alle in derselben Gosse, »weil es alle Hauptsünden verkörpert.« Schon klappte er den Daumen aus. »Hochmut – sind die Russen etwa nicht hochmütig, sind sie nicht dreist, der Putas und sein Lawrow-Fuckoff, dann kommen Geiz und Habgier, ja, sind sie etwa nicht geizig und habgierig, schnappen sie nicht jedem weg, was sie sich schnappen wollen? Mal den Georgiern, dann den Ukrainern, dann den Balten, die kriegen ihren eigenen Mist nicht auf die Reihe, dann greifen sie halt woanders zu und lassen nicht mehr locker! So gierig sind die! Die Tschetschenen wollten ihr eigenes Ding machen, das kleine Tschetschenien, aber von wegen, Scheiße war’s, die haben sie abgeschlachtet und sie nicht gelassen. Als Nächstes: Unmoral. Kann mir doch keiner erzählen, die Russen hätten Moral, Korruption, dass es kracht, Pussy Riot im Knast, dann weiter: Zorn, ja, Himmelarsch, das hört man ja sofort, wie die reden mit ihrem ›suka‹, ›bljaaa‹, da fällst du bald in Ohnmacht, wenn du das hörst …«

»… oder wenn sie ›pidaras‹ sagen, furchtbar«, pflichtete Piłsudski ihm eifrig nickend bei und ließ betrübt seine Schnurrhaare hängen. »Stimmt schon.«

»… dann die Unmäßigkeit, ja, Heilandsack, habt ihr mal diese Oligarchen gesehen, diese Villen von denen, wie die in Champagner baden, und am Wochenende fahren sie zum Spaß mit dem Panzer Bären schießen, und der Durchschnittsrusse schmatzt sich durch die Scheiße mit einer Plastiktüte gegen den Regen auf dem Kopf. Dann der Neid, brauch ich euch ja nicht zu erzählen, das mit dem Neid … und Dings hier, die letzte, Trägheit des Herzens …«

»Tja«, Piłsudski kratzte sich am Kopf, »mit dem Geistigen, das ist bei ihnen so … na ja.«

»Aber die letzte Sünde kann man auch schlicht als Faulheit interpretieren«, sagte der Werwolf, »und jetzt guck dir mal den Saustall bei denen an, nichts wird angepackt, kein Mensch will …«

Vor dem Pies waren inzwischen die Balkanophilen aufgelaufen, sie riefen »Eppa«, sangen Lieder, zogen statt der Vokale die Konsonanten in die Länge, schimpften, man könne in diesem spaßfeindlichen Land nirgends ordentlich die Nächte durchfeiern, so richtig ausgelassen, mit Wein und Gesang, immer nur das finster-schwere Wodkagesaufe, und danach gibt es auf die Fresse. Dann gingen sie ins Pies, füllten sich innerhalb kürzester Zeit mit Wodka ab und prügelten sich mit den Tschechophilen.

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Du warst auf dem Heimweg, in Richtung Ulica Dietla, als dir aus unerfindlichen Gründen, wie aus heiterem Himmel, dein Freund aus Kindertagen in den Sinn kam, Belphegor, so hattest du ihn genannt. Nein, Belphegor war keine reine Fantasiegestalt, er hatte einen Körper, den Körper einer ausgestopften Puppe, die schon immer da gewesen war, du wusstest gar nicht mehr genau, woher sie eigentlich gekommen war. Ihr Name, Belphegor, war von Beginn an untrennbar mit ihr verbunden. Belphegor war komplett schwarz und trug eine Ledermaske. Sie war so befestigt, dass man sie unmöglich abnehmen konnte, ohne die Puppe kaputt zu machen.

Aber Belphegor war mehr als ein Spielzeug für dich.

Belphegor war wie ein Zwilling, eigentlich ein zweites Du. Wenn du jetzt über ihn nachdachtest, kam es dir vor, als hättest du ihn dir nur ausgedacht, um ihm all deine kindlichen Niederlagen aufhalsen zu können. Belphegor war für alles verantwortlich, Paweł, er bekam nämlich all jene Eigenarten aufgeladen, die du an dir nicht leiden konntest, und wenn du dann etwas verbockt hattest, machtest du dir vor, nicht du wärst es gewesen, sondern Belphegor hätte dich dazu überredet, Belphegor hätte dich angestachelt, Belphegor sei an allem schuld, immer steckte er dahinter, dein kleiner persönlicher Doctor Evil, das Miese in dir.

Belphegor, Jesus Maria, dachtest du mit schwerem Kopf.

Und doch hattest du Belphegor gemocht. Ihr hattet euch unterhalten. Ja, Belphegor sprach auch mit dir. Du hörtest ihm zu und machtest manchmal tatsächlich, wozu er dich überreden wollte. Manchmal konntet ihr ganze Nächte durchquatschen. Deine Eltern hörten diese Gespräche aus deinem Kinderzimmer und machten sich Sorgen um dich, sie schickten dich zu Psychiatern, aber denen, diesen Psychiatern, antwortetest du artig, ohne Belphegor je preiszugeben, und ihn wegzuwerfen hätten sich deine Eltern nie getraut. Vielleicht aus Angst, dass du sonst, wer weiß, mit der Nachttischlampe redest – dann lieber mit Belphegor. Das war doch irgendwie normaler. Zurück zu Hause erzähltest du Belphegor dann von deinen Psychiaterbesuchen, und ihr konntet gemeinsam darüber lachen.

Er verschwand erst, als du im Alter von vierzehn Jahren mit deinen Eltern von Radom nach Krakau gezogen bist. In Krakau hast du Belphegor nicht mehr gesehen. Er war einfach weg. Existierte nicht mehr. Das bekamst du jetzt überhaupt erst mit, es war dir gar nicht aufgefallen.

Du hattest keine Ahnung, wieso dir Belphegor ausgerechnet jetzt wieder in den Sinn gekommen war, in Kazimierz, auf dem Weg in Richtung Dietla, schließlich hattest du in den vergangenen fünfzehn Jahren nicht ein einziges Mal an ihn gedacht.

Du verspürtest sogar eine leise Sehnsucht, aber als du über die Dietla rüber warst, hattest du das auch schon wieder vergessen.

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Die ganze Altstadt sah aus wie ein riesiger Supermarkt, in dem man Alk in allen Preis- und Güteklassen bekam: eine Discoparty mit Ausländern (free rooms, Zimmer frei, szálloda), die um betrunkene polnische Mädels herumschlichen, und ausgerasteten polnischen Marcins mit Macheten im Anschlag, eine Party à la Künstlerliteratenstyle, eine Party à la Berliner Hipster, eine Party à la Magisches Kazimierz, à la Magischer Kleinkunstkeller Pod Baranami, à la Studentcore, à la Shanty, à la Volksrepublik, am Stehtisch, am Büfett, mit Schnaps und Sülze, à la Aufsichtsratsvorsitzender After Work, in der eigenen Lounge, auf Kunstledersofas, mit eisgekühltem Absolut, der aber eigentlich polnischer war, stinknormaler Wyborowa, weil die Barmänner da rumtricksten, weil ja eh keiner kapierte, welcher Wodka welcher war, wenn sie ihn dermaßen eiskühlten.

Da ergossen sich also im Großen und Ganzen Ströme betrunkener, grölender Tanzwütiger aus den Kneipen auf die Straße, dass die Taxis in dieser schwarzen Wodkafiesta stecken blieben. Krakau bei Nacht sah aus, als wäre der Gipfel der Menschheitsgeschichte ein einziges großes Pub, ein Alko-Disneyland, als fiele den Menschen, die in dieser Stadt lebten oder die sie besuchten, nichts anderes ein, als sich maximal die Kante zu geben und den schwarzen Krakauer Asphalt abzulecken, das dunkle, pseudohistorische Pflaster aus den Neunzigern.

Eigentlich hätte man Krakau dazu gar nicht gebraucht, es war sowieso nicht mehr zu sehen in diesem Menschengewühl aus besoffenen Mädels mit leuchtenden Teufelshörnern im Haar, besoffenen Jungs, die einander an den Hals gingen wie die Gockel oder sich trinkenderweise verbrüderten. Man hätte genauso gut auch ein Stück weiter, irgendwo in, na ja, hinter Batowice oder zum Beispiel draußen in der Błędów-Wüste eine Attrappe von Krakau aufstellen können, oder nicht mal unbedingt von Krakau, Hauptsache Stadt, ein paar sich kreuzende Straßen, dicht bebaut und jede mit zwanzig verschiedenen Kneipen.

Odin chui, wie der Russe zu sagen pflegt.

Ja, Krakau war immer noch eine Hauptstadtleiche, wie schon im neunzehnten Jahrhundert, als Reisende sich bei ihren Besuchen der Stadt entsetzten. Nur sah sie damals noch wie ein echter, anständiger Untoter aus, eine Ansammlung von Ruinen ehemals schöner Paläste und Häuser, zwischen denen die abgerissenen Zombies der Bewohner umherstreiften. Die Stadtmauern umfassten ein Gebiet, das um ein Vielfaches größer war als die tatsächliche, auf ein paar kümmerliche gewundene Straßen um Marienplatz und Tuchhallen zusammengeschnurrte Stadt. Die Festungsanlagen zerbröselten zwischen Sumpf und Holzhütten, Leere und Erschöpfung hatten sich breitgemacht, und der mit letzter Kraft aufrechterhaltene Handel beschränkte sich weitgehend auf Talg und Borsten.

Eine Leiche war Krakau immer noch, eine mumifizierte Hauptstadtleiche, aber geschminkt, im Karnevalskostüm, mit Elektroschocks zum Tanzen gezwungen. Mittendrin lag der Wawelhügel mit der Wawelkathedrale, die sich hier ausnahm wie ein verlorenes Heiligtum bei Indiana Jones, in dem wie in einer Zip-Datei die gesamte polnische Geschichte zusammengepackt war. Man konnte dort zwischen den Krypten von Kasimir dem Großen, Władysław Ellenlang und Jagiello herumspazieren und staunend mitansehen, wie diese mythischen Gestalten reale Dimensionen annahmen, wie klein, wie normal, verletzlich und unvollkommen sie gewesen sein mussten. Und das alles, die königlichen Gebeine, die Votivgaben und Artefakte, der ganze nationale Hokuspokus, des Wawel hohe Zinnen, die Adler, Standarten, Kreuze, die Mammutknochen beim Portal zur Kathedrale, diese an einem Punkt versammelten Zutaten Polens, die zusammengerührt eine Wirkung hätten entfalten müssen, irgendeine beschissene Wirkung, lagen nur kraftlos in dieser Waweldatei herum, wawel.rar, polska. zip, Staubfänger, die höchstens einmal die müden Blicke eines Klassenausflugs oder das unterdrückte Gähnen der Huberts und Halinas abbekamen, die sich aus Langeweile an einem freien Wochenende in die Königsstadt Krakau aufgemacht hatten, man konnte ja nicht immer nur vor dem Fernseher sitzen, immer nur Würstchen grillen, und ringsherum tobte die eine große Party der einstigen polnischen Bauern, die sich (nach dem kurzen und schmerzlosen Rauswurf der Adligen, der Väter dieses unglückseligen Volkes, und was weiter aus den Adligen geworden war, wusste eigentlich niemand so richtig bis ins Letzte zu sagen, irgendwie hatte die Party sich breitgemacht, tausend Jahre Geschichte, schwups, irgendwo im Sande verlaufen), die sich nun also selber mit polnischen Federn schmückten, die in die herrschaftlich polnischen Gewänder geschlüpft waren und jetzt auf dem Leichnam der früheren Hauptstadt einen Ländler hinlegten, was früher niemandem im Traum eingefallen wäre, und sie so auf ein Wirtshaus reduziert haben.

Das stand den Bauern auch zu nach all den Jahren, ist schon so. Es stand ihnen zu, auf dem Leichnam der Herrenlegenden zu tanzen. Nur nimmt sich so ein Tanz auf Leichen immer unvorteilhaft aus.

Auch aus dem Ausland kamen sie in dieses Polen, Deutsche, Schweden, Briten, starrten mit offenen Mündern auf diesen irren Reigen, der wohl nur in die Hölle führen konnte, und reihten sich ein, ließen sich mitreißen in diesen Vollekantetrubel, grölten mit in ihren Mundarten, kotzten den Mageninhalt aus, wenn nicht Magen, Leber und Zwölffingerdarm gleich mit, kotzten auf die Straße, krochen durch die eigenen Innereien, schwammen in den Innereien durch Straßen, die die Namen von Heiligen trugen, stießen gegen Bürgerhäuser, in denen es keine Bürger mehr gab, und das alles auf dem historischen Nineties-Pflaster. Die magische Stadt Krakau dröhnte von elektronischer Musik, glitzerte von Glitzer, und nur selten, man musste wissen wo, ließ sich ein friedlicher Ruhewinkel finden, in dem man sich verkriechen konnte, um womöglich das Ende dieses ganzen Wahnsinns doch noch zu erleben. Trinkend, versteht sich. Wie alle anderen. Feuer wird mit Gegenfeuer bekämpft.

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Da hast du also einen Kater und stehst im Stau Richtung Sieben, Richtung Warschau, am Rakowicer Friedhof, du fährst zu einem Treffen, das dein Leben verändern soll, und du öffnest das Fenster, um diesen Stearingeruch zu inhalieren, und im Radio laufen die Nachrichten: Russland dreht durch, Krieg in der Ostukraine, Lawrow brummelt etwas von wegen Korridor nach Kaliningrad, ist ihm völlig egal, sagt er, ob durch Polen oder Litauen, die NATO, sagt Lawrow, soll selber gucken, ist ihm egal, und das Baltikum ist verängstigt, weil die russischen Flieger ihnen durch den Luftraum fliegen, wie sie lustig sind. Du siehst dein Bild im Spiegel, siehst deine verkaterten Augen und zwinkerst dir zu, um dich ein bisschen aufzumuntern.

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Die Sieben, die Sieben, denkst du, Königin unter Polens Straßen, Rückgrat des polnischen Staates, Weichselpolens, das Oderpolen ist ja eine ganz andere Nummer.

Das dort ist eine polnische Kolonie. Aber hier, an der Sieben, an der guten alten Sieben, hat Polen seinen Leib hingebreitet, Polska, the Polska, das Projekt, prodschekt Polska, das schon ein paar Mal in die Hose gegangen war, jetzt aber neu gestartet ist und vor sich hin tuckert, irgendwie läuft, tuk-tuk-tuk, irgendwie aus der Kacke kommt, sich neu definieren will, und die Sieben ist seine Achse von Danzig über Warschau nach Krakau und in die Berge, mitten hindurch, durchschneidet die Erde, aus der dieses Polen hervorgegangen ist, ist seine Essenz, die gestaltende Kraft, der Tonangeber, denn die Wirklichkeit an der Sieben gibt den Ton an für den Rest des Landes, denn die Sieben ist das polnische Zentrum, der Rest ist Peripherie, dabei ist die Sieben selbst die Peripherie im Quadrat, ach die Sieben, die Sieben.

Sieben wie der siebte Sohn eines siebten Sohns, die sieben Wochentage, die sieben sumerischen Dämonen, die sieben Farben des Regenbogens, die sieben Hügel Roms und des zweiten Roms, die sieben Weltmeere der Antike, die sieben Himmel, sieben Berge und sieben Flüsse, die sieben Tore der Hölle, die sieben Siegel, die sieben Häupter des Tieres und die sieben Hörner des Lamms, die sieben Weltwunder und die sieben Hauptsünden.

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Die Ampel schaltet irgendwie um, rot-gelb-grün, aber es fährt sich, als schalte sie nur zum Spaß, zur Abwechslung. Klar, es wird schon grün, aber du kommst bloß zwei oder drei Autolängen voran, also kannst du die Schilder und Werbetafeln am linken Straßenrand bewundern. Hier zum Beispiel, das ist doch was: KONDITOR SOLARIUM, einfach so, kriegst du ohne Erklärung an den Kopf geknallt und hast keinen blassen Schimmer, ob hier Konditorei und Solarium im Dienstleistungssektor mit vereinten Kräften in ganz neue Dimensionen vorstoßen oder ob die Konditorei »Solarium« heißt oder am Ende vielleicht das Solarium, wir wollen es nicht ausschließen, »Konditor«.

Auf KONDITOR SOLARIUM hat ein patriotischer Geist eine Polenflagge aufgepflanzt, obwohl Allerheiligen gar kein staatlicher Feiertag ist. Aber der Geist hat gepflanzt, sogar die Flagge mit Adler, daher weht die Polenflagge nun stolz über dem Schriftzug KONDITOR SOLARIUM, grelles Pink auf orangefarbenem Grund.

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Ist ja im Grunde auch gut, dass sie da weht, wo sollte sie sonst wehen, schließlich hält das polnische small business das BIP und die Wirtschaft dieses Staates am Laufen, ihm verdankt die Republik ihre gegenwärtige Verfassung, die kleinen und mittleren Betriebe sind es, die Polen ausmachen, sie, die von den so geschmähten Kleinkrautern und Neureichen in den Nineties aufgezogenen Firmen, sorgen dafür, dass Polen überhaupt funktioniert, denkst du dir, sie, die Jungs, die auf Feldbetten mit Socken, Zigaretten und deutschen Chemikalien handeln, sind die wahren Gründungsväter dieses Landes, nicht Mieszko I. oder Bolesław der Tapfere.

Ihre Namen, nicht die von Königen, Kościuszkos und Generälen, über die sowieso niemand etwas weiß, sollten wir an die ramponierten Hauswände unserer Straßen schrauben. Das würde auch besser passen. Wie sieht denn das aus, so ein »ul. Bolesława Chrobrego«-Schild auf dem pastellfarbenen Rauputz einer Doppelhaushälfte mit pseudobarock geschwungenem Betonzaun aus Serienfertigung, dazu ein Schild mit Schäferhund und der Aufschrift »Scharfer Hund, noch schärfere Schwiegermutter«? Oder ein »ul. Jagiellońska«-Schild an einem muchtigen Mietshaus, dessen Bewohner immer noch gemeinsam das eine Scheißhaus auf der Zwischenetage bescheißen, mit Kohlen aus dem Keller heizen und zum Herrn Jesus beten, dass das Dach nicht schon diesen Winter zusammenbricht. Vor dem Haus auf der nackten Erde zwei undefinierbare Blechbuden, darin zwei aus Deutschland entführte Autos, die noch auf Nummernschilder warten. Und der Golf 3 und 4? Hm? Oder der riesenhafte Schriftzug »WOHNSIEDLUNG 1000 JAHRE TAUFE POLENS«, in farbigen Großbuchstaben auf einen viergeschossigen, in frischem Lindgrün getünchten Wohnblock mit warmen bräunlichen Einsprengseln gepinselt, vor dem im dürren Gras ein Cocktail aus Matschpfützen, gesprungenen Gehwegplatten und Pennerbank angerichtet ist, auf der warmes Dosenbier aus dem Żabka-Laden im unverputzten Backsteinanbau konsumiert wird, den sie in den wilden Neunzigern an den Wohnblock gepappt haben? Das sieht doch aus wie ein schlechter Scherz, wie die totale Verarsche.

Andere Straßennamen wären da viel passender, etwa »Bahnhof-Zoo-Dealer-Platz« oder »Verteidiger der Wellblechhütten am Kulturpalast«. Oder »Kleinkrauterstraße«, »Straße der Pioniere der polnischen Privatwirtschaft«. Eventuell auch »Platz der Wechselstubeninhaber« oder »Allee der Hollywood-Videotheken«. Das sind die wahren Vaterlandsväter. Darüber sollten die Nationalflaggen wehen. Doch, so müsste das sein.

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Du suchst dir den nächsten Sender, eine Talkshow, der Moderator analysiert Radiowerbung und kommt auf den Trichter, dass in Polen vor allem Mittel gegen Verdauungsstörungen, Sodbrennen und Blähungen beworben werden. Als Beleg bittet er den Regisseur, den er mit »Teddy« anspricht, eine Beispielwerbung einzuspielen, und Teddy spielt: »Bist du aufgebläht wie Hölle, spielt im Bauch die Blaskapelle.« Du kannst dir ein Grinsen nicht verkneifen, Paweł, und du zündest dir eine Zigarette an, ja, du rauchst im Auto, was denn, was soll dieses neumodische Nichtrauchen im Auto, dafür gibt es doch die Duftbäumchen, dass sie gegen die Zigaretten anstinken können, und derweil lässt Regisseur Teddy wie beflügelt den nächsten Spot vom Stapel: »Lassen Winde die Därme erbeben«, singt ein Bariton, »kannst du schwerlich den Don Juan geben«, und gleich noch einen: »Heut’ ist mein letzter Sodbrand« (auf die Tangomelodie von Der letzte Sonntag), »ich will dich nicht mehr leiden, morgen werden wir scheiden für alle Zeit. Fräß’ ich auch hundert Broiler, hätt’ ich doch keinen Sodbrand – das ist gewiss.« Nach einer dramatischen Pause setzt der Sänger mit noch dramatischerer Gänsehautstimme wieder ein: »Denn ich hab mein Sodigast, es ist für mich geschaffen, Sodbrand strecke die Waffen, für alle Zeit.«

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Trinken willst du, Paweł, den Kater ersäufen, und du malst dir schon aus, wie du gleich zur Tanke fährst und dir einen Ice Tea holst, Ice Tea ist eine feine Sache gegen Kater, mit das Beste, was Amerika der Welt geschenkt hat, der Nektar der Südstaaten, der Rednecks, getrunken im Schaukelstuhl auf der Veranda, die Winchester im Schoß, ein Glas eiskalten Ice Tea in der Hand. Oder Mineralwasser mit medium Kohlensäure, ja, Mineralwasser mit medium Kohlensäure ist sogar noch besser, aber in diesem Augenblick bemerkst du die Plastikflasche, die unter dem Beifahrersitz herumrollt. Auf der Plastikflasche steht Dr Pepper, und sie ist auch noch halb voll. Oder leer, natürlich, aber in der Situation, in der sie dir ins Auge fällt, durstig, vom Leben gebeutelt, dann doch eher voll. Dr Pepper ist nämlich noch so eine feine Sache, die Amerika der Welt geschenkt hatte, ja, vor allem kalt, und wenn die jetzt ein paar Tage lang auf dem Boden rumgelegen hat, muss sie wohl kalt sein, schließlich geht es auf den Winter zu.

Du schraubst den Deckel ab und siehst zu, dass du keinem hintendrauf fährst. Du nimmst einen kräftigen Schluck. Und staunst nicht schlecht.

Es dauert einen Moment, bis bei deinen verkaterten Synapsen ankommt, dass du dir eben einen ordentlichen Schluck Dr Pepper gemixt mit Wodka verpasst hast.

»Ach du Scheiße«, stöhnst du. »Ach du Scheiße.«

Irgendwer hat dir diesen Pepper nach irgendeiner letzten Runde dagelassen, die du als der gerade mal Nichttrinkende nach Hause chauffiert hast, sicher so ein übler Säufer, ein Alkomonster.

Und jetzt sitzt du betrunken am Steuer.

Prächtig.

Zur Bekräftigung deines Bedauerns nimmst du gleich noch einen Schluck. Ist ja eh schon zu spät, der Alkohol ist sowieso gleich im Blut, und fahren musst du, weil du morgen früh dieses wichtige Treffen in Warschau hast, das Sehr Wichtige Treffen in Warschau, ja, gleich viel besser, großgeschrieben, und der Kater hat sich irgendwie auch schon verzogen.

Du legst Dr Pepper aufs Armaturenbrett.

Du schaltest um, landest bei Radio Maryja, wo der Sprecher die Kontonummer durchgibt, langsam, deutlich, in Großbuchstaben: »ZWEI, VIER, ACHT, VIERMAL NULL, ACHT, ACHT, ich wiederhole …«, schaltest wieder um, landest im zweiten Programm des Polnischen Rundfunks bei einem Gespräch mit dem letzten volkstümlichen Geiger aus dem Örtchen Wołów bei Kielce. Die Interviewerin weiß nicht so recht, was sie fragen soll, also fragt sie:

»Und, wie geht es so?«

»Ha ja, es geht schon«, antwortet der Geiger und geigt drauflos. Fiedel-fiedel, tralala, dann setzt er wieder ab. »Vor dem Krieg ging’s schlechter«, sagt er. »Unter den Deutschen ging’s schlecht, dann, nach dem Krieg, war’s gut, danach dann wieder schlecht, und jetzt ist es … ja, Heiland, ich weiß auch nicht, ich hab keinen Bezugspunkt mehr.« Und er spielt wieder los. Schwimmt sich frei, sägt, gibt auf die Ohren. »Von Jędrzejów kam ich her«, singt er, »meine Kuh, die wollt’ nicht mehr, fing sie an zu mir zu sprechen, dass die Welt sollte zerbrechen, aber Polen sollte bleiben, sollte groß Geschichte schreiben …«

Fiedel-fiedel, tralala.

»Polen war dereinst was Großes, Einfluss in der Welt genoss es, und so soll es wieder werden, ewiglicher Ruhm auf Erden.«

Fiedel-fiedel, tralala.

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Weil so sieht es nämlich aus.

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Du bist schon raus aus der Stadt, die ganze Sieben steht dir offen, ach, die Straße nach Warschau, durch das adrette Słomniki, das unvergessliche Miechów, Jędrzejów (das mit dem Sehen und Sterben), die zentralpolnische Metropole Kielce, das dynamische Skarżysko-Kamienna, das schwungvolle Radom, die stolzen Whitebanks, das ehrwürdige Grójec.

Und du siehst das erste der sieben Sieben-Wunder. Das erste Wunder der Sieben.

Du fährst eben unter eine Eisenbahnbrücke, auf der Sprayer ein Bild von König Jan Sobieski und der siegreichen Schlacht am Kahlenberg hinterlassen haben. Das gefällt dir: Die Schlacht bei Wien auf einem scheußlichen Trumm von Betonviadukt, behängt mit Werbung für HOCKI-KLOCKI BREMSKLÖTZE GmbH, für eine SECURITY-AGENTUR TEMÜDSCHIN, für EICHENPARKETT BARTEK THE OAK (beworben aus unerfindlichen Gründen mit einer barbusigen Lady, deren Brüste jeweils mit einem Bild der Eiche Bartek in Photoshop überklebt worden sind) und Werbebannern mit der dramatischen Aufschrift: NEHME SCHUTT AB UND SCHWEISSE ALLES.