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armin nassehi

das große
nein

Eigendynamik und Tragik des gesellschaftlichen Protests

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Das Protestpotenzial von Kommunikation

Die Institutionalisierung von Nein-Stellungnahmen und ihre Grenzen

Das symmetrische Nein

Die Unmöglichkeit des Vetospielers als Protestgenerator

Die Funktion des Protests

Protest als Themengenerator

Charisma und das Zeitproblem des Protests

Die Steigerungslogik des Protests und die Attraktivität von Gewalt

Protest im Netz

Protest als Demokratiegenerator

Über den Autor

Impressum

Vorwort

Dieses Buch ist keine Gesamtdarstellung von Protestformen und Protestkultur, auch keine historische Rekonstruktion solcher Protestformen. Was dieses Buch leisten soll, gleicht eher einer Phänomenologie von Protest und nähert sich den Fragen, welche Funktion Protest in einer modernen Gesellschaft hat und unter welchen Bedingungen Protest wahrscheinlicher wird. Im Fokus habe ich dabei den Protest als Form, nicht bestimmte Proteste, denn diese unterscheiden sich empirisch, politisch und normativ enorm, aber lassen sich tatsächlich unter einer gemeinsamen Form des Protests subsumieren. So erscheinen dann so ungleiche Dinge wie etwa rechte Demonstrationen gegen die ethnische Pluralisierung der Bevölkerung und die aktuellen Klimaproteste im selben Fokus der Untersuchung. Grundintuition ist dabei nicht die Annahme, rechten und linken Protest identisch zu setzen, zumal es derzeit keinen Zweifel geben kann, dass in der Bundesrepublik der rechte Protest das höhere Gewalt- und Terrorpotenzial hat als linker Protest. Überhaupt wird eine der Hauptthesen dieses Buches sein, dass die Steigerungslogik von Protest durchaus einen inneren Zusammenhang zu gewaltsamen Formen hat – und dies lässt sich auf der rechten Seite derzeit ziemlich deutlich beobachten.

Diese Sparsamkeitsregel, also das bewusste Absehen von den konkreten Inhalten freilich dient dazu, Protest als Protest zu verstehen – auch um dann ein Kriterium an der Hand zu haben, worin sich strukturell ähnliche Protestformen unterscheiden und wo sie doch Ähnlichkeiten aufweisen. Ziel ist ein Vademecum für all jene, die sich einen Überblick darüber verschaffen wollen, wie Proteste funktionieren, wie sie zustande kommen, was sie vermögen und wozu sie nicht in der Lage sind. Vielleicht hilft es bei der Diagnose, dass der Text selbst einen ziemlich weiten Sicherheitsabstand zu Protestkommunikation hält. Er wird an keiner Stelle selbst unter Protestverdacht geraten, sondern nur über den Protest handeln.

Zu danken habe ich Irmhild Saake, die die Genese des Hauptarguments kritisch begleitet hat, Magdalena Göbl für das Mitlesen, Peter Felixberger für sehr hilfreiche Anregungen zu verschiedenen Stellen des Buches sowie Luise Ritter für das sensible Lektorat des Textes. Alle etwaigen Dussligkeiten des Textes sind freilich allein mir zuzurechnen.

München, im Februar 2020

Einleitung

Der Protest kehrt wieder – weltweit. Gelbwesten in Frankreich, die Sardinenbewegung in Italien, Widerstand in Chile, Demokratiebewegung in Hongkong, Proteste in der arabischen Welt, rechtspopulistische Protestmärsche, weltweite Klimaproteste, Netz-Proteste gegen sexuelle Belästigung/Übergriffe, Proteste gegen Bauvorhaben oder Infrastrukturmaßnahmen – der Beispiele wären in ihrer Vielfalt viele. Protest ist ohne Zweifel ein demokratischer Vorgang, in rechtsstaatlichen Demokratien sogar ein verbrieftes Recht der Bürgerinnen und Bürger. Protest macht auf Missstände aufmerksam, auch auf Interessen, er zeigt Konflikte an oder erzeugt sie, er kann universalistische hehre Ziele verfolgen, er kann auch für partikulare Belange stehen. Oft ist er nicht mehr als der Ausdruck von Unbehagen oder sogar Ressentiments, oft auch ein mehr oder minder auffälliger Hinweis auf die Notwendigkeit, bestimmte Probleme zu lösen, manchmal auch nur popkulturelles Event. Protest ist nicht per se etwas Gutes oder Schlechtes – Protest ist eine soziale Tatsache, die empirisch vorkommt. Deshalb ist sie – wiewohl Protest durchaus emotional vorgetragen wird, bisweilen mit Regelverletzungen aufwartet, mit eklatanter Verkürzung von Problemlagen arbeitet und vom Beobachter stets eine Stellungnahme verlangt – hier sine ira et studio zu analysieren.

Es wird im Folgenden nicht um die Inhalte unterschiedlicher Proteste gehen, nicht darum, worum Protest ringt und welche Themen protestförmig und -fähig waren oder sind. Der Fokus liegt auf der Form des Protests, also auf Protest als einer Sozialform, die offensichtlich ein bestimmtes Problem löst. Es mag fast einer Provokation gleichkommen, von Protest zu handeln, ohne zu Inhalten und Zielen, zur Legitimität oder gar Notwendigkeit Stellung zu nehmen. Es ist aber nötig, eine solche Perspektive einzunehmen, denn ganz offensichtlich ist Protest nicht der Normalfall der Konfliktbearbeitung und Handlungskoordination in modernen Gesellschaften, die stärker als alle früheren Sozialformen daran gewöhnt sind, mit unterschiedlichen Perspektiven und Interessen umzugehen und diese Unterschiedlichkeit als wenigstens prinzipiell legitim anzusehen. Es gehört zur Grundausstattung aktueller gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen, in Rechnung zu stellen, dass Äußerungen von Akteuren, Positionen, semantische Formen und Interessen sich aus den jeweiligen Perspektiven und sozialen Lagen ergeben, aus denen sie stammen. Das Institutionenarrangement moderner Vergesellschaftung ist davon geprägt, gerade diese Gegensätze zu integrieren, indem sie als Differenzen abgebildet werden, indem also die Unterschiedlichkeit dieser Lagen institutionell abgebildet wird – man denke an Parlamente, an Tarifverhandlungen, an Gerichtsverfahren, an Betriebsräte, an Lobbyismus oder auch an die Beteiligung von Interessengruppen an Entscheidungen in Organisationen unterschiedlicher Provenienz. Auch der Repräsentationsgedanke, das heißt die Abbildung unterschiedlicher Milieus und Gruppen der Gesellschaft in entsprechenden Gremien gehört dazu, vielleicht sogar der Streit der Fakultäten in Universitäten.

Protest dagegen ist eine besondere Form der Bearbeitung solcher Differenzen. Protest hat stets mindestens einen Adressaten, und er nimmt Formen in Anspruch, die gerade nicht zu den genannten Formen der Konfliktbearbeitung und damit -minderung gehören. Protest verweist offensichtlich darauf, dass die sonstigen gesellschaftlichen Formen der eher leisen beziehungsweise erwartbaren Konfliktbearbeitungsroutinen gestört sind. Wer protestiert, macht auf eine Perspektive aufmerksam, die offensichtlich aus solchen Routinen herausfällt – was übrigens nicht bedeutet, dass Protest nicht auch zur Routine werden kann.

Proteste sind womöglich die sichtbarste Form von Kritik. Nicht jede Kritik ist Protest, aber Kritik wird dann zum Protest, wenn sie sichtbar wird, eben weil sie Routinen unterbricht und dadurch einen hohen Informationswert bekommt. Protest hebelt Erwartbarkeiten aus und zwingt das Gegenüber, sich zu ihm zu verhalten. Deshalb sind die meisten Protestformen nicht nur an den Gegenstand der Kritik gewandt, sondern ebenso an Dritte, womit die Demonstration nicht der einzige, aber der vielleicht sinnfälligste Ausdruck von Protest ist. Die Demonstration ist die klassische Form der Visibilisierung von Konflikten. Denkt man an die klassischen öffentlichen Konflikte der letzten Jahrzehnte, dann sind es oftmals Bilder von Demonstrationen, an denen sich Protestformen ablesen lassen. Nur auf den deutschen Fall bezogen: Die Protestklassiker der frühen Bundesrepublik sind – neben eher institutionalisierten Arbeitskämpfen – die Ostermärsche in den Zeiten der Wiederbewaffnung in den 1950er-Jahren, die vor allem studentischen Proteste in den späten 1960er-Jahren hin zu den Alternativbewegungen der 1970er-Jahre und der Anti-AKW-Bewegung. Dann die Friedensbewegung der 1980er-Jahre mit dem Höhepunkt der großen Kundgebung 1983 in Bonn, die zu einer der größten Demonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik gehört, zugleich rechtsradikale Protestformen in den 1990er-Jahren. Protest ist also keineswegs ein Privileg der klassischen sozialen Bewegungen, wie Friedens-, Frauen-, Ökologiebewegung etc., sondern kommt auch auf der ganz anderen Seite des politischen Spektrums vor. Die DDR ist aus vielen Gründen zugrunde gegangen, aber der sinnfälligste Ausdruck der Umwälzung waren die Montagsdemonstrationen in Leipzig und anderen Städten, an denen niemand vorbeisehen konnte. In den Nullerjahren waren es antikapitalistische Proteste aus Anlass von G-7- oder G-8-Treffen, aber auch die Proteste gegen die Banken während der Finanzkrise. PEGIDA und seine Derivate gehören auch zur Protestgeschichte der Bundesrepublik, genauso wie die großen Gegenproteste. Und derzeit schicken sich die Klimaproteste an, die Dimension der 68er-Proteste zu übersteigen.

Man kann die Geschichte der Bundesrepublik (und natürlich auch anderer Länder) als Protestgeschichte erzählen, weil sich in den Protesten die wesentlichen Konflikte öffentlicher Debatten materialisieren.1 Protest ist ein Seismograf für Grundkonflikte, die sich nicht von selbst auflösen und nicht mit den üblichen Routinen bearbeiten lassen. Man denke an die Arabellion, die vor zehn Jahren begann, oder an die Proteste in Hongkong oder in Lateinamerika, um nur wenige zu nennen. Man kann daran eine der Funktionen von Protesten ablesen: Es geht nicht nur um die Adressierung eines Gegners oder um die Bearbeitung eines empfundenen Missstands, sondern auch darum, eine Form der Sichtbarkeit herzustellen, die vor allem politische Öffentlichkeiten adressiert.

Der protestantische Klassiker schlechthin ist der Protestantismus der Reformation.2 Protestant zu sein, war eine Fremdzurechnung. Diejenigen, die evangelisch sein wollten, also die Praxis der Kirche an der Auslegung der Heiligen Schrift orientieren wollten, erschienen aus der Perspektive der katholischen Kirche als Protestanten, also als solche, die gegen die Praktiken der Kurie opponierten. Protestanten waren die Evangelischen zunächst tatsächlich aus der Perspektive des Adressaten von Kritik. Es geht hier nun nicht um den Protestantismus, sondern darum, die Form des Protests zu verstehen. Zunächst fällt an diesem historischen Beispiel auf, wie sehr Protest sich über den kritisierten Gegenstand definiert. Die Evangelischen sind eben nicht nur jene, die das Evangelium und seine Auslegung zur Richtschnur des eigenen Glaubenslebens machen wollten – sola scriptura –, sondern vor allem jene, die gegen die Praktiken der mächtigen Kirche angingen. Deutlich wird daran: Protest hängt stärker an seinem Gegenstand, als es zunächst den Anschein hat. Die definierende Größe ist das Gegenüber, gegen das der Protest sich richtet.

Dabei ist der Wortsinn ganz anders. Es ist nicht von Contratest die Rede. Das Verb protestari hat eine positive Konnotation. Es bedeutet bezeugen, Zeugnis ablegen, für etwas stehen. Der Protestanlass freilich ist eine Opposition, lebt von einem Gegenüber, das offensichtlich dazu zwingt, Zeugnis abzulegen, für etwas zu stehen, weil die Strukturen des kritisierten Gegenstandes nicht ausreichen, um die eigenen Ziele zu erreichen. Protest wird immer dann wahrscheinlich, wenn der Protestierende seine Ziele nicht mit den Mitteln, die der kritisierte Gegenstand bereithält, erreichen kann. Wenn sich ein politisches Ziel nicht mit den Bordmitteln des parlamentarischen Verfahrens erreichen lässt, wenn eine Tarifverhandlung nicht innerhalb der Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu einem Ergebnis kommen kann, wenn ein Jugendlicher bei Eltern oder Lehrerinnen und Lehrern nicht mit Argumenten durchkommt, steigt die Wahrscheinlichkeit für Protest. Protest ist zwar im Wortsinne ein positives Zeugnis, aber Protestanlässe sind zunächst Negationen, Nein-Stellungnahmen, in diesem Sinne Formen, die sich gegen etwas wenden, was sich nicht aus sich selbst heraus ändert. Um der Form des Protests auf die Spur zu kommen, ist es sinnvoll, zunächst diese Bedeutung von Nein-Stellungnahmen in der Kommunikation genauer zu untersuchen. Darin wird nämlich deutlich, dass Protestpotenziale schon in der Struktur von Kommunikation angelegt sind.

1 Vgl. dazu für die frühe Bundesrepublik Wolfgang Kraushaar: Die Protestchronik, 4 Bände. Hamburg 1996.

2 Vgl. Friedrich-Wilhelm Graf: Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart. 3. Aufl., München 2017.