2020

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© by Athesia Buch GmbH, Bozen

Korrektorat: Michael Supanz

Umschlag: Nele Schütz Design, München

Autorenfoto: Foto-Meyerhenke, Haan

Design & Layout: Athesia-Tappeiner Verlag

Druck: Athesia Druck, Bozen

ISBN 978-8-8683-9504-9

www.athesia-tappeiner.com

buchverlag@athesia.it

Inhaltsverzeichnis

Dienstag

Im Fallen fliehen die Gedanken. Sie kommen nicht mit. Sie bleiben dort, wo man stand, bevor man fiel.

Sonia dachte nicht mehr. Sie fiel. Es war unwirklich. Bevor ihre Gedanken sie einholen konnten, krachte ihr Kopf auf einen Felsvorsprung. Es war nur ein kleiner Felsvorsprung, der ihren weiteren Sturz nicht aufhalten konnte. Dieser Zusammenstoß brach ihr Genick und das sorgte dafür, dass sie nicht mehr spüren konnte, wie ihr Körper aufprallte, abprallte, gestoßen, zerstoßen wurde, bis er leblos zwischen den Stämmen zweier Bäume hängen blieb, die sich mit ihren Wurzeln einen festen Stand in der steil abfallenden Wand gesichert hatten.

»Hermine«, Paul rief und rief, »Hermine!«

Emma schaute ihren Bruder an. Sie musste lächeln, weil sie wusste, dass sich Hermine versteckt hatte. Emma ahnte, wo. »Komm«, sagte sie und nahm Paul an die Hand.

Paul wusste, dass sich Hermine gerne von hinten anschlich, um ihm einen kleinen Stoß zu geben. Warum sie das machte, konnte sich niemand erklären. »Sie hat halt ihren eigenen Kopf«, dachten alle.

Laurin beobachte die Szene mit wachsendem Interesse. Er kannte Emma und Paul. Als die Geschwister an ihm vorbeigingen, fragte er: »Was ist mit Hermine?«

Emma schaute Laurin an. Er war kleiner als Paul, guckte aber ebenso pfiffig, wie sie es von ihrem Bruder kannte. »Du kannst mitkommen und helfen, Hermine zu suchen. Das ist eine Ziege. Sie hat ein krummes Bein. Daran erkennst du sie.«

Laurin schaute neugierig. »Eine Ziege?«, fragte er und blickte sich um. Er sah Ziegen, Schweine, Esel und viele Hühner.

Die Tierwelt Rainguthof war ein Paradies für Tiere und Menschen. Laurin war mit seinen Schwestern Frieda und Paula hier. Die Zwillinge schliefen in ihrem Kinderwagen, und ihre Mutter Elisabeth war nicht alleine. Lydia, Pauls und Emmas Mutter, saß mit ihr zusammen auf einer der Bänke vor dem Kiosk. Außerdem – oh Wunder – war ihr Mann Fabio dabei. An einem Werktag.

»Überstundenfrei«, hatte er am Frühstückstisch verkündet. Elisabeth hatte daraufhin vorgeschlagen, mit den Kindern die Gampenpassstraße hoch zum Rainguthof zu fahren.

»Au ja, ein Ausflug«, hatte Laurin gejubelt. Er hatte Schulferien. Die ersten Schulferien seines jungen Schülerlebens. Er freute sich darüber, dass er endlich in der Schule war, und beneidete die älteren Schüler, weil sie fließend lesen konnten. Laurin strengte sich mächtig an, es ihnen gleichzutun und versuchte, jedes Schild zu lesen. Das konnte dauern. »Rrrr … aaa … ii … nnn … gee … u … t … h …of«, hatte er nach Ankunft beim Hof das Holzschild langsam buchstabiert.

Fabio hatte den Kinderwagen mit den Zwillingen zum Kiosk geschoben, Tierfutter in Tüten gekauft, Lydia begrüßt und sich zu den Frauen gesetzt. Lydias Mann, Martin, hatte die Tierwelt gegründet. Das Projekt hatte sich zu einem Publikumsmagneten für Familien entwickelt. Emma und Paul hatten daher viele Haustiere. Ihr Lieblingstier war Hermine, die Ziege mit dem krummen Bein. Diese gewitzte Ziege hatte sich versteckt, wie sie es gerne tat. Sie freute sich, wenn sie die Kinder sah, neckte Paul, indem sie sich von hinten »anschlich«, um ihm mit ihren kleinen Hörnern einen leichten Stupser zu verpassen. Dann meckerte sie munter. Man sah ihr direkt an, dass sie sich über ihre gelungene Aktion freute.

Laurin ließ seinen Blick schweifen und entdeckte ein Ziegengesicht, das aus einem der kleinen Holzhäuschen schaute. »Ist das Hermine?«, fragte er und zeigte auf die Ziege.

»Ja«, rief Paul aus, »das ist sie.«

Hermine, die sich entdeckt fühlte, verschwand blitzschnell in das Innere des Häuschens, nur, um aus der Hintertür zu entwischen. Als Paul zur Vordertür hineinging, kam sie von hinten »angeschlichen« und stupste ihn. Die Ziege meckerte fröhlich, Paul grinste und streichelte ihren Hals, während Emma sie umarmte.

Laurin freute sich. Jedenfalls so lange, bis Hermine die kleine Papiertüte mit Tierfutter entdeckte, die er in der Hand hielt. Sein Vater hatte sie ihm gegeben. Laurin hatte beabsichtigt, das Futter gerecht unter allen Tieren aufzuteilen. Dieser Plan ging nicht mehr auf. Hermine, bestens vertraut mit dem Inhalt dieser Tütchen, biss herzhaft in einen der Zipfel, die Tüte platzte auf, der Inhalt ergoss sich auf den Boden. Hermine setzte noch nach, als Laurin zurückwich, und sprang geschickt mit ihren Vorderläufen an Laurin hoch, sodass er der Ziege direkt ins Auge sah. Die hatte nur die Tüte im Blick und angelte mit ihrer Zunge geschickt danach. Laurin war überrascht und ein wenig geschockt, rührte sich nicht und Hermine hatte leichtes Spiel.

Paul nahm Laurin in den Arm, nachdem Hermine von ihm abgelassen hatte und die heruntergefallenen Futterstücke verspeiste. »Weißt du«, sagte er, »Hermine ist stürmisch.« Nach einer kleinen Pause fügte er an: »Vielleicht liegt es daran, dass sie ein Mädchen ist.« Dabei machte er ein kluges Gesicht.

Laurin nickte. »Ich habe zwei Mädchen als Schwestern. Die sind stürmisch – neuerdings.«

Paul blickte auf Emma. »Ja, das kenne ich«, sagte er.

Emma hörte sich den Dialog der kleinen Jungs an und dachte: Jungs. Sie nahm ihren Bruder an die Hand und bot ihre andere Laurin an. Der griff zu und schaute an Emma hoch. »Kommt«, sagte sie, »lasst uns mal sehen, was die Hirsche machen. Dann müssen wir noch zu den Ponys, Eseln, Enten, Gänsen und den Pfauen.«

Fabio, Elisabeth und Lydia konnten die Szene von ihrer Bank aus gut beobachten. »Es ist hier oben wirklich wunderschön«, sagte Fabio zu Lydia. »Ihr habt hier einen tollen Platz geschaffen.« Er blickte im milden und warmen Licht des Septembers auf ein bezauberndes Stück Land. Das Laub hatte begonnen, sich zu verfärben. Bald würden die Herbstfarben überall zu sehen sein. Er genoss diesen Moment.

Quiekende Töne kamen aus dem Kinderwagen. Paula war aufgewacht und hatte sich aufgesetzt. Sie brauchte etwas Zeit, bis sie im Hier und Jetzt angekommen war, dann gab es kein Halten mehr. Sie wollte die Welt erkunden. Kaum war sie aus dem Wagen, tat Frieda es ihr nach. Keine Minute später sah man Elisabeth und Fabio mit krummen Rücken, die kleinen Mädchen an den Händen haltend, umherspazieren, wobei der Wille der Zwillinge die Richtung vorgab.

Das Frühstück war üppig und abwechslungsreich. Der Vierertisch aus Münster, Dirk und Dorothee sowie Michael und Astrid, genossen den Morgen dieses schönen Herbsttages auf der Terrasse des MARINIs giardino Hotel in Dorf Tirol.

Die Ehepaare waren seit vielen Jahren befreundet, hatten ihre Kinder aufwachsen sehen, hatten ähnliche Sorgen und Freuden geteilt. Urlaub in einem Hotel war nicht das, was sich Dirk und Dorothee unter Urlaub vorstellten. Sie wären lieber von Hütte zu Hütte gewandert, den Fernwanderweg E5 zum Beispiel, mit dem Gepäck auf dem Rücken. Aber Meyers hatten sie überredet. Sie empfanden es gar nicht schlimm, denn Isabel, eine der zwei Töchter des Hotels, war ausgebildete Wanderführerin und bot regelmäßig Touren für Gäste an. Gestern waren die Münsteraner bei einer Begehung des Laugen dabei. Es war einer der Lieblingsberge von Isabel. Gut zu erreichen und nicht so anstrengend zu gehen wie andere Berge.

»Jetzt ist ja gerade keiner in der Nähe, da können wir ja nochmals ganz offen über den Tag gestern sprechen«, sagte Dorothee. »Ich glaube, das mache ich nicht noch einmal mit – jedenfalls nicht, wenn dieser alte Knötterpitter wieder dabei ist.«

Alle wussten, wer gemeint war. Ein Mann von 75 Jahren war bei der Tour dabei gewesen. Er sah jünger aus und war Witwer. Dieser Einzelreisende hatte spontan beschlossen, sich der Wandergruppe anzuschließen. Jedoch war die Tour für den Urlaubsanfang nicht so gut geeignet, insbesondere, wenn man aus dem Flachland kam. Dieser Herr kam aus Bielefeld und wollte unbedingt mit. Isabels Frage, ob er sich 900 Höhenmeter zutraue, hatte er falsch verstanden. Er hatte wahrscheinlich gehört: »Sie schaffen das in ihrem Alter nicht, machen Sie lieber eine leichtere Tour.« Jedenfalls war er sehr ärgerlich gewesen und hatte Isabel eine Szene gemacht. Er hätte schließlich wie jeder andere Gast bezahlt und wüsste schon, was er sich zutrauen könne, und 900 Höhenmeter wären für ihn kein Problem.

Seine Kondition reichte nicht. In seinem mitgeführten Plastikbeutel hatte er nur ein Fernglas dabei und nichts zu trinken. Gestern waren es knapp 35 Grad gewesen und als ihm Dirk Wasser angeboten hatte, meinte er bloß: »Flüssigkeit brauche ich erst ab 1000 Höhenmetern.«

»Ich fand das der Gruppe gegenüber eine Zumutung. Klar, eine Gruppe orientiert sich am Schwächsten. Aber er passte einfach nicht dazu.« Dorothee machte eine Pause. Alle am Tisch ahnten, was sie sagen wollte. Sie dachten alle dasselbe.

Isabel hatte sichtbar Mühe mit diesem Gast gehabt. Erst der steile Anstieg ohne Flüssigkeit. Oben hatte er ganz ordentlich gewackelt und die Wanderführerin war ihm nicht mehr von der Seite gewichen. Nach dem Abstieg auf die Laugenalm hatte sie ihm mit sehr klaren Worten überzeugt, sich von dort mit einem Auto bis zum Parkplatz fahren zu lassen. Er hatte das zwar zunächst abgelehnt, weil er partout alles bis zum Ende durchziehen wollte, schließlich aber eingesehen, dass Isabels Rat klug war. Für die Gruppe wurde es dadurch spät. Dass er die Gruppe aufhielt, schien ihn in keiner Weise zu stören. Vielleicht hatte er es genossen, dass sich alle nach ihm richten mussten.

Michael hatte das miterlebt, aber es war ihm egal, wenn es langsam voranging. Er fand den älteren Mann zwar nervig, aber er war der Meinung, dass man jedem seinen Willen lassen musste, solange er sich nicht selbst oder andere gefährdete. Dieser Typ hatte es mit seinen 75 Jahren immerhin geschafft. Michael hatte sich angeregt mit einem anderen Gast unterhalten, den sie seit einigen Tagen kannten. Wie man sich im Hotel eben »kennt«. Arno Steinbrecher hieß der Mann. »Am Berg duzt man sich«, hatte Isabel gleich zu Anfang angekündigt, und so war Dr. Ing. Arno Steinbrecher ab da »der Arno«. Michael war »der Michael«. Der alte Mann hieß übrigens »Guntram«. Guntram aus Bielefeld.

Arno, fand Michael, war interessant. Nicht nur wegen seiner Frau Sonia. Die Frauen hatten sich im Spa des Hotels kennengelernt. Sonia war eine außergewöhnliche Erscheinung, das fanden nicht nur die Frauen.

Geht man im gleichmäßigem Schritt nebeneinander oder hintereinander, fließen nicht nur die Gedanken, sondern man kommt ins Gespräch. Michael wusste daher viel über das Problem von Arno, der gestern alleine mitgegangen war. Sonia hatte sich einen Bergführer genommen und war mit Pickel, Seil und Steigeisen noch bei Dunkelheit aufgebrochen, »um irgendwo einen Berg zu besteigen«, wie Arno erzählt hatte. Er hatte ihm die »ganze Geschichte« erzählt: Wie sie sich kennengelernt hatten, wie sie geheiratet hatten … Das Gehen löst die Zunge. Michael hatte zugehört und nur selten nachgefragt.

»Ich hatte eine Fabrik für Autoteile«, hatte Arno erzählt. »Alle Autos, die heute auf den Straßen fahren, fahren mit meinen Bauteilen. Ich habe viele Patente, war sehr erfolgreich. Ich habe natürlich Benzin im Blut«, beschrieb er sich. »Über die Jahre habe ich eine Sammlung von seltenen, exklusiven und sehr teuren Autos aufgebaut.« Als er das sagte, machte Arno ein zerknirschtes Gesicht, so als sei er schlecht gelaunt. »Leider konnte mir das Hotel keine gesicherte Einzelgarage zur Verfügung stellen. Ich wäre lieber mit meinem Ferrari F50 gekommen. Dieses Auto ist nur 350-mal gebaut worden. Eine Rarität. Zwölf Zylinder, verstehst du? Eine Rakete.«

Arno geriet ins Schwärmen. Er erzählte, wie schwierig es gewesen war, an dieses Auto zu gelangen. Was er alles angestellt hatte, um den Wagen zu bekommen. Er ratterte alle technischen Details runter, mit denen ein Fachmann etwas anfangen konnte. »So ein Auto braucht einen gesicherten Stellplatz. Der Wert geht in die Millionen. So einen Wagen lasse ich nicht in einer einfachen Tiefgarage stehen. Das Hotel konnte mir nicht helfen.«

Arno hatte wieder diesen leicht beleidigten Ausdruck um die Mundwinkel, den Michael bei ihm beobachtet hatte. Einige Tage zuvor, als sie noch nicht per Du waren, saßen Arno und Sonia beim Abendessen im Hotel in Michaels Blickachse, und er hatte beobachten können, wie Arno am Essen herummäkelte und Daniela, eine der beiden Hoteltöchter, herbeizitierte. Wahrscheinlich, weil ihm etwas nicht gepasst hatte, denn Daniela nahm den unberührten Teller wieder mit und beeilte sich, für Ersatz zu sorgen. In diesem Moment, als Daniela den Teller aushob und sich entfernte, hatte Michael diesen beleidigten Ausdruck bei Arno wahrgenommen. Genauso sah er jetzt aus, als er die Garagengeschichte erzählte.

»Und wie bist du angereist, wenn dein F50 zu Hause geblieben ist?«, fragte Michael.

»Ich musste wählen. Es ist nicht einfach, alle Fahrzeuge der Sammlung ausreichend zu bewegen. So viel Zeit habe ich nicht. Ich habe den Wagen genommen, den ich im Alltag nehme. Auch ein Ferrari, aber einen nicht so aufregenden wie den F50. Du hast vielleicht den blauen Ferrari in der Tiefgarage gesehen? Das ist ein F12 Berlinetta, und zwar die 70th Anniversary Edition. Ein seltenes Auto. Es hat noch nicht den Wert eines F50. Der F12 Berlinetta ist von 2017. Sein Wert wird sich in den nächsten Jahren vervielfachen. Eine echte Wertanlage. Besser als Aktien, alte Weine, Kunstwerke. Mein Rat: Investiere in Modelle von kleiner Stückzahl, zu denen es eine Geschichte gibt.«

»Mmmhh.« Michael überlegte, ob und was er erwidern sollte. Arno tanzte auf der großen Bühne. Als Gastronom musste und wollte Michael hart arbeiten. Themen wie »Geldanlage in Luxusautos« waren nicht seine Themen. Er nahm das Spiel auf: »Also, wenn ich meine nächste freie Million anlegen will«, sagte er und musste innerlich grinsen, »welchen Wagen würdest du mir empfehlen?«

Arno griff die Frage dankbar auf. Das war sein Metier – als »Petrolkopf«, wie er sich gerne nannte. »Eine Million, nun, da würde ich auf den Gebrauchtwagenmarkt gehen und versuchen, einen kaum gefahrenen Supersportwagen zu kaufen. Weißt du, ich habe im letzten Jahr einen 1979er Porsche 930 gekauft, für schlanke 350.000 Euro. Dieser Wagen ist noch nie gefahren worden. Er hat originale 36 Kilometer auf der Uhr. Ein reines Sammlerstück. Sein Vorbesitzer hat ihn nur wegen der Wertsteigerung gekauft. Der Wagen war top gepflegt. Darauf musst du achten. Ich habe ihn eingelagert und in zehn Jahren kann ich ihn für das Doppelte verkaufen. Irgendein Scheich, der diese Art Autos sammelt, wird ihn bestimmt nehmen.«

Und da war er wieder, dieser leicht beleidigte Zug um Arnos Mund.

Michael wunderte sich.

Arno fuhr fort: »Diese Scheiche …«, zischte er aus zusammengepressten Zähnen. »Diese Scheiche kaufen alles. Vor allem kaufen sie ab Werk. Du bekommst heutzutage kaum noch einen Supersportwagen, weil diese Öl-Multimilliardäre scheinbar Exklusivrechte haben. Die kaufen alles, was superteuer ist, und dann stehen die Schlitten in den Tiefgaragen ihrer Glaspaläste in der Wüste.« Arnos Gesicht war fast fratzenhaft. »Die können diese Autos kaum fahren.«

Jetzt wusste Michael, was den bitteren Zug um Arnos Mund ausgelöst hatte. Entweder ich muss kotzen oder ich spiele das Spiel, überlegte er. Der hat vielleicht Sorgen. Michael entschied sich für das Spiel. Wenn Arno von seiner Leidenschaft erzählen wollte, sollte er das tun. »Wie groß ist deine Sammlung?«, fragte er und für die nächsten 15 Minuten erhielt er eine detaillierte Aufzählung mit etlichen technischen Details, die Michael sofort vergaß, weil die Fülle der Daten, die Arno abspulte, niemand behalten konnte.

Michael staunte über den Umfang der Sammlung an alten und neuen Autos. Es war klar, dass Arno über ein großes Vermögen verfügen musste, wenn der Unterhalt und die Pflege dieser Autosammlung bezahlt werden sollte. Er wurde neugierig und fragte den Autosammler nach seiner Firma.

Seine Firma, erzählte Arno, habe er in Stuttgart gehabt. Er wäre viel rumgekommen. Seine erste Ehe war daran gescheitert.

Ah, dachte Michael, jetzt wird es spannend.

Arno erzählte, dass er seine Kinder kaum kenne. Sie wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. »Ich habe nur gearbeitet und geglaubt, meine Frau hält mir den Rücken frei und kümmert sich um die Kinder. Ich habe das genauso delegiert, wie ich es in der Firma gemacht habe. Wichtig ist es, die Kontrolle zu behalten, die Arbeit sollen die machen, die ich dafür bezahle. Nun, für eine Familie ist das Konzept nicht richtig. Das habe ich erst gemerkt, als es zu spät war.«

Arno, so kam es Michael vor, schien betrübt über das Scheitern seiner Ehe und dass sich seine Familie von ihm abgewandt hatte.

Auf Michaels Nachfrage, ob seine Kinder keinen Kontakt pflegen, sagte Arno sehr betrübt: »Nein, gar keinen Kontakt. Es ist so, als ob ich für sie nicht existieren würde.«

Michael wollte nicht in der offensichtlich schmerzlichen Wunde bohren. »Und deine Frau hast du später kennengelernt?«

Arno nickte. »Ich war häufig in München und hatte Gespräche bei dort ansässigen Autokonzernen. Kannst dir ja vorstellen, wen ich meine. Nur das Topmanagement. Die Abschlüsse haben wir in einer der besten Adressen von München gefeiert. Im Atelier im Bayerischen Hof – drei Michelin-Sterne –, toll. Dort gab es eine talentierte Restaurantleiterin, eben Sonia. Sie hat mich von Anfang an fasziniert. Nicht nur, dass sie fließend vier Sprachen spricht und vertieftes Wissen über Weine hat. Sie war einfach perfekt in allem, was sie tat. Wie sie die Empfehlungen vortrug, die Menüs erklärte und wie sie alle am Tisch in ihren Bann schlagen konnte. Das hättest du sehen sollen, wie die Augen dieser Managertypen an ihr hängen blieben.«

Michael verstand, was Arno meinte. Sonia war eine außergewöhnlich schöne Frau. Schlank, durchtrainiert, tolle Figur, als wäre sie nach Idealmaß entworfen worden, dicke blonde Haare, dabei natürlich und keineswegs affektiert. Sie hatte ein charmantes Lächeln und war offen, unterhielt sich mit jedermann, schien keinen Dünkel zu kennen. Ihre Garderobe war sehenswert. Bisher hatte sie jeden Abend ein anderes superschickes Kleid gezeigt. Kam sie sportlich daher, war es so, als wäre sie einem Modekatalog für Sportbekleidung entsprungen.

Arno fuhr fort: »Mir ging es nicht anders. Du musst dir vorstellen, dass ich gerade geschieden war, eine Riesensumme für meine Ex und die Kinder aus dem Betrieb freischaufeln musste. Da begegnet mir diese Frau. Sie kam mir wie ein Engel vor. Mit ihr könnte es vielleicht besser laufen, habe ich mir gedacht. Ich könnte versuchen, die alten Fehler zu vermeiden. Ich könnte die Firma verkaufen und mein Leben mit ihr zusammen verbringen.«

An dieser Stelle machte Arno eine Pause. Ob das an dem steilen Anstieg lag und ihm die Luft ausging oder ob er überlegte, was er noch alles von sich preisgeben wollte, konnte Michael nicht ahnen. Arno blicke jedenfalls nach unten, wo sich Isabel mit dem älteren Mitwanderer abmühte. »Der Mann überschätzt sich«, meinte Arno. Nachdenklich und in sich gekehrt erzählte er weiter. »Ich habe mich um Sonia bemüht. Ich bin noch einen Tag länger in München geblieben, bin alleine ins Atelier gegangen. Sonia war zauberhaft. Später hat sie mir erzählt, dass ihr das dauernd passiert sei, dass ihr Gäste Avancen machten, und einige seien wegen ihr wieder gekommen. Viele wollten sie gerne ins Bett bekommen. Eine bestimmte Sorte Männer, die glauben, sich mit Geld einfach alles erlauben zu können.« Arno blickte Michael an. »Ich habe es irgendwie geschafft, sie zu erobern. Ich war der glücklichste Mensch auf der Welt.«

Michael wunderte sich darüber, dass Arno nicht glücklich aussah, als er diesen Satz aussprach. Dann ging es weiter – mit dem Anstieg und dem Monolog.

»Wir haben geheiratet und ich habe die Firma verkauft. Das ist fünf Jahre her.« Er lachte auf. »Es war nicht einfach, Sonia zu erobern. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich im Atelier essen war, nur um sie zu sehen. Irgendwann habe ich mir ein Herz gefasst und sie gefragt, ob sie mit mir essen gehen würde. Wir waren in einem typischen Biergarten, wo es gebratene Hähnchen und Leberkäse gibt, das Glas Bier riesig groß ist. Sie hat mir von ihrer Heimat Braşov erzählt. Schon als Kind sei sie in den Bergen der Karpaten herumgeklettert. Ihr Vater sei Bergführer. Sie hat Sprachen und Literatur studiert, und da sie keine passende Arbeit in Rumänien gefunden hat, wanderte sie nach Deutschland aus. Sie machte eine Lehre in einem Hotel und ist im Atelier als Restaurantleiterin angestellt worden.«

Arno machte eine längere Pause und erhöhte leicht das Tempo an einer steilen Stelle. Michael kam kaum mit.

Arno blickte nach unten, wo sich Isabel mit dem Mann aus Bielefeld abmühte. »Lass uns warten, bis sie aufgeschlossen haben«, meinte er. Plötzlich blickte er Michael intensiv an. Unvermittelt sagte er: »Sonia ist halt viel jünger als ich. Ich bin 64 und sie ist 38 Jahre alt. Das sind 26 Jahre Unterschied. Vor fünf Jahren habe ich das Alter noch nicht gespürt. Aber ich hatte einen Unfall und traue mir seither richtige Bergtouren nicht mehr zu. So was wie heute, das geht noch. Sicher nicht ewig, wenn ich mir Guntram ansehe. Noch zehn Jahre und ich bin so wie der.« Arno lachte. Es klang leicht bitter. »Darum laufe ich mit euch und Sonia muss kraxeln. Es ist ein Kompromiss.«

Michael fragte: »Stimmt dich das traurig?«

»Traurig? Ja, nein, ach, ich weiß nicht. Vielleicht trauere ich den Zeiten nach, zu denen ich noch alles konnte. Wir müssen halt Kompromisse finden. Sie geht auf den Berg und ich, na, ich klettere Wanderwege hoch – mit einer Wanderführerin.« Er blickte zu Isabel und Guntram, die zu ihnen aufgeschlossen hatten. Sein Mund zeigte einen bitteren Zug.

Hagen Bös genoss die Morgensonne, die er sich ins Gesicht scheinen ließ. Der frühe Morgen im beginnenden Herbst bot angenehme Temperaturen. Er war guter Dinge: Ein Kribbeln im Bauch, wie er es lange nicht mehr verspürt hatte. Die Tageszeitung in der Hand, mit den Gedanken ganz woanders, blickte er den steilen Hang hinauf. Hagen saß auf der Bank neben dem Eingang zum Oberötzbauerhof. Hoch über Meran in St. Peter bei Schloss Tirol. Der Hof lag abgelegen. Von Hagens Bank aus blickte man auf den langen steilen Hang der Mutspitze, der das Etschtal nach Norden abschloss.

Hagen hing seinen Gedanken nach. Was war passiert? Er konnte es noch nicht einordnen. Dass etwas passiert war, zeigte ihm das Kribbeln im Bauch. Du wirst dich nicht etwa verliebt haben, alter Knabe?, dachte er. Gleichzeitig wusste er, dass das die wahrscheinliche Erklärung war. Claudia Trebo war eine Staatsanwältin nach seinem Geschmack. Als Kollegin und als Frau. Wie sah es bei ihr aus? Sie hatte ihm diesen Bauernhof als Quartier empfohlen – mit dem Versprechen, ihn zu besuchen, gemeinsam zu wandern, die Natur zu genießen. Das hatte sie gesagt. Gestern. Heute war ein frischer Morgen und Hagen blickte auf sein Smartphone. Noch gab es keine Nachricht von Claudia.

Eigentlich wäre er heute Morgen abgereist. Er hatte seinen Auftrag erfüllt. Er ermittelte in Düsseldorf Fälle von speziellen Umweltdelikten, die juristisch kniffelig waren. Beim Betreiben von Chemiebetrieben fallen bei der Produktion Ruße an, für deren umweltgerechte Entsorgung Spezialfirmen beauftragt werden. Ein möglicherweise strafrechtlich relevanter Weg ist die Pressung dieser Ruße zu Briketts, die – ohne Hinweise auf die Schadstoffbelastung – exportiert werden. Es gab Hinweise, dass die Firmen sich dieser Briketts über ausgeklügelte An- und Verkaufsgeschäfte sowie über ein verschachteltes Transport- und Logistiknetzwerk zu entledigen versuchten. Einer dieser Transportwege führte über den Brenner. Weiter ging es über italienische Häfen in Länder des Ostblocks und Afrikas. Was dort mit den giftigen Abfällen geschah, konnte man sich vorstellen. Dass es illegale Deponien in Italien gab, war nicht auszuschließen.

Juristisch war das schwer zu fassen und die Nachweise waren nicht leicht zu bekommen. Hagen hatte wegen dieser Ermittlungen in der Staatsanwaltschaft Bozen eine Dienstbesprechung gehabt, um Erkenntnisse auszutauschen. Bei dieser Besprechung hatte er Claudia kennengelernt. Was für eine Frau, hatte er gedacht. Sie war gar nicht zuständig für Umweltdelikte, sondern für Kapitaldelikte, also Mord und Totschlag, aber sie vertrat einen erkrankten Kollegen. Nach der Konferenz hatte man sich zu einem Essen getroffen, und Hagen saß neben Claudia. Sie hatten sich prächtig unterhalten und Claudia schlug ihm vor, noch einige Tage zu bleiben, um sich die Gegend anzusehen. Es war wohl ihr Blick und die Betonung, die ihn vermuten ließen, dass bei ihr vielleicht ein kleines Interesse an seiner Person bestand, das über das Fachliche hinausging. Sie schlug ihm dieses Quartier vor und würde ihn dort besuchen, um »mit ihm zu wandern«.

Hagen zählte eins und eins zusammen. Jedenfalls stimmte er freudig zu, Claudia telefonierte, und er hatte ein Quartier. Der Oberötzbauer hieß Sepp Thaler und war ganz nach Hagens Geschmack. Gestern Abend hatte Sepp ihn in seinen Weinkeller eingeladen. Ein rustikales Gewölbe mit Weinfässern, urig eingerichtet. Und Sepp hatte Wein, der schmeckte. Es war spät geworden und die beiden verstanden sich, als würden sie sich ewig kennen.

Hagen blickte versonnen und mit vielerlei Gedanken im Kopf den steilen Hang empor, als er etwas Magentafarbenes den Hang hinunterfallen sah. Er konnte nicht ausmachen, was es war, aber ihm schoss sofort der Gedanke durch den Kopf: Da stürzt jemand ab.

Er alarmierte Sepp, zeigte ihm aufgeregt die Richtung, wo er den vermuteten Absturz gesehen hatte. Der lief ins Haus, holte ein Fernglas, suchte den Hang ab. Er wusste, dass oben im Hang der Vellauer Felsenweg verlief und es hier gelegentlich zu Unfällen kam. Der Weg war schmal und für Menschen mit Höhenangst nicht einfach zu gehen, denn er fällt zur Talseite steil über viele hundert Meter ab. Wer dort oben das Gleichgewicht verliert, hat wenig Chancen, den Sturz in die Tiefe zu überleben.

»Wo genau, sagst du, war es?«, fragte Sepp. Hagen zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf die Stelle, an der er den Sturz des magentafarbenen Etwas gesehen hatte. Sepp versuchte mit dem Fernglas diese Achse aufzunehmen.

»Ja, da sehe ich was«, sagte Sepp. »Da oben läuft einer rum. Scheint sehr aufgeregt zu sein. Er läuft hin und her.« Er suchte den Bereich unterhalb der Stelle mit dem Fernglas ab. »Welche Farbe war es?«

»Magenta, ein krasses Rot, eine Leuchtfarbe.«

Sepp suchte den Bereich ab. Dann ließ er das Glas sinken. »Es hat keinen Zweck. Ich kann nichts sehen. Wir müssen die Bergrettung alarmieren.« Mit diesen Worten gab er Hagen das Fernglas und ging ins Haus.

Peter Gampers Pager brummte. Er blickte seinen Kunden freundlich an und sagte: »Entschuldigung«, stand auf, griff den Pager und las die Meldung.

Von der Raiffeisenkasse, wo er arbeitete, bis zum Hubschrauber, der ihn am Landeplatz in Dorf Tirol abholen würde, hatte er es nicht weit. Er hatte nur fünf Minuten Zeit, um sich für die Bergrettung vorzubereiten. Seine Bergsteigerausrüstung war immer griffbereit. Diese Situation hatte er oft trainiert. Sein Kunde verstand, was soeben vor sich ging. Wenn der Pager brummte, wusste jeder im Dorf, dass Peter heute Dienst hatte. Von den rund 50 Leuten der Bergrettung haben immer zwei Dienst und sind über ihre Pager erreichbar. Einer geht in den Hubschrauber und leitet den Einsatz, der andere leitet die Bodentruppe, die terrestrische Angriffstruppe, wie sie es nennen.

Im Hubschrauber grüßten einander der Pilot, der Flughelfer, der Techniker, der Arzt und Peter Gamper. Man kannte sich.

»Wo geht’s hin?«, fragte der Pilot.

»Vellauer Felsenweg …«, antwortete Peter, »… auf etwa 1.200 Höhenmeter«.

Der Pilot ließ den Hubschrauber abheben. Jedem von ihnen war klar, was das bedeutete. Sie hatten im vergangenen Jahr einen jungen Mann tot aus der Wand geborgen. Ein blöder Unfall. Er hatte mit seinen Kumpels auf dem schmalen Weg rumgealbert, irgendwie das Gleichgewicht verloren. Es gab kein Halten. Tragisch.

»Wisst ihr, ob wir mit der Winde runterkommen?«, fragte der Pilot.

»Noch gibt es keine Erkenntnisse, wo genau der Absturz war«, antwortete Peter. »Es gibt einen Augenzeugen, unten bei St. Peter. Er wird uns zugeschaltet. Vielleicht kann der uns mehr sagen. Es hat geheißen, die Person soll Kleidung in einer auffallenden Farbe getragen haben. Magentarot, eine Leuchtfarbe. Das könnte uns helfen.«

Der Hubschrauber schwebte auf die Wand zu. Der Techniker stellte die Verbindung zu Sepp auf dem Oberötzbauerhof her.

»Siehst du uns?«

»Ja.«

»Wo war die Stelle?«

»Ihr müsst weiter nach rechts«. Das war Sepp. »Ja, ungefähr dort war die Absturzstelle.«

Alle Hubschrauberinsassen suchten das Gelände ab. Sie sahen einen Mann auf dem Vellauer Felsenweg aufgeregt winken. Er stand nicht an der Stelle, wohin Sepp sie dirigiert hatte. Der Mann deutete nach unten, wollte wohl andeuten, dass an dieser Stelle der Unfall passiert sei.

Der Pilot flog die Wand an und suchte sie in Querbewegungen ab. Alle spähten nach unten, um die Unglücksstelle zu finden. Die Steinwand war an dieser Stelle karg bewachsen. Hie und da krallten sich Nadelbäume in den Grund. Die Belegschaft des Hubschraubers kannte diesen Teil des Vellauer Felsenweges leider nur zu gut.

»Sepp«, sagte der Techniker, »der Mann oben auf dem Felsenweg weist uns an eine Stelle weiter rechts. Bist du dir sicher, dass es weiter links war?«

»Hier ist Hagen Bös«, meldete sich eine andere Stimme. »Ich war es, der den Absturz mit eigenen Augen gesehen hat. Nach meiner Meinung ist es weiter links passiert. Es ist schwer, die genaue Stelle zu benennen. Ich meine, es wäre dort gewesen, wo genau nur ein Baum steht. Es tut mir leid, wenn ich das nicht besser beschreiben kann.«

Die Mannschaft sah, was der Mann am Boden ihnen erzählte. Es gab eine Stelle an dem ansonsten steilen und steinigen Hang, an der genau ein Baum stand.

»Lass uns den Bereich unterhalb des Baumes abfliegen«, sagte Peter. »Wenn wir da nichts finden, gehen wir wieder hoch und lassen uns von dem Mann oben auf dem Felsenweg einweisen.«

Kurz darauf sahen sie einen magentafarbenen Flecken in der Wand, eingeklemmt zwischen zwei Bäumen.

*

Die Bergretter, die zu Fuß kamen, waren mit der Seilbahn von Dorf Tirol aus zur Bergstation Hochmuth gefahren und hatten sich im schnellen Schritt auf den Weg gemacht. Sie konnten den Hubschrauber sehen und meldeten Peter, dass sie in geschätzt zehn Minuten den Einsatzort erreichen würden.

*

Arno Steinbrecher war verzweifelt. Er lief hin und her, suchte, aber konnte sie nicht mehr sehen. Wie konnte das nur passieren? Plötzlich war sie verschwunden. Einfach so. Seine Sinne verwirrten sich. Er sah den Hubschrauber und winkte aufgeregt. Dann drehte der Hubschrauber ab und flog weiter nach links. Warum? Immerhin waren sie schnell da gewesen, nachdem er im Hotel angerufen hatte. Er wusste nicht, wen er sonst hätte anrufen sollen. Daniela war dran, machte nicht viele Worte. Sie hatte, kurz nachdem er aufgelegt hatte, zurückgerufen und ihm gesagt, dass sie die Bergrettung alarmiert habe, und ihn gefragt, was sie für ihn tun könne. Sie hatte ihm geraten, ganz ruhig zu bleiben und auf die Bergrettung zu warten. Keinesfalls sollte er alleine versuchen, Sonia zu finden. Mit dem Vellauer Felsenweg sei nicht zu spaßen. Das war wohl die bittere Wahrheit.

Niemals würde er diesen verdammten Weg vergessen können. Kurz überlegte er, ob er hinterherspringen sollte.

*

»Können wir mit der Winde da ran?« Peter und der Arzt hatten sich das Geschirr angezogen, um sich in die Winde einzuhängen, mit der sie der Pilot bis zu 80 Meter hinablassen konnte.

Der Techniker instruierte die Bodentruppe. »Wir haben die Person gefunden. Da, wo der Hubschrauber steht, müsst ihr hin.«

»Verstanden«, kam es zurück. Sie erhöhten ihr Tempo.

»Da ist ein Mann, rechts von uns. Der scheint sehr aufgeregt. Um den müsst ihr euch kümmern.«

»Verstanden«, kam es atemlos zurück.

»Person liegt im Hang. Wir gehen jetzt mit der Winde runter.«

Der Pilot ging tiefer und mit den Rotorblättern nah an die Wand ran. »Mehr geht nicht. Ich lasse euch jetzt runter.«

Die Seitenwand des Helikopters war bereits geöffnet. Der Wind blies hinein. Der Arzt und Peter hakten sich in die Winde ein und hingen über dem Abgrund. Die Winde ließ das Stahlseil langsam hinunter. Peter sah den magentaroten Flecken näherkommen. Er konnte sehen, dass die Person blondes Haar hatte. Der Flecken war die Jacke, die die Person trug. Sie rührte sich nicht.

*

Wieso dort, warum nicht hier? Arno Steinbrecher war verwirrt. Hier, wo er stand, war sie abgestürzt, nicht da hinten. Warum kamen sie nicht hier hin? Er lief zu der Stelle, an der der Hubschrauber soeben zwei Männer an einer Seilwinde hinabließ. Sollte er sich so getäuscht haben?

*

Die Bergretter sahen den Mann, wie er in Richtung des Hubschraubers lief. Fast gleichzeitig erreichten sie die Stelle, über der der Hubschrauber schwebte.

Arno Steinbrecher rief: »Kommen Sie, kommen Sie, meine Frau ist da hinten abgestürzt, nicht hier.« Er wedelte mit den Armen, zeigte auf eine Stelle hinter sich.

Christian, der Leiter der Bodentruppe, nahm sich seiner an. »Was ist passiert?«, fragte er, um den Mann dazu zu bewegen, sich zu konzentrieren. Seine Leute machten sich bereit, von oben anzugreifen und sich den Hang herabzulassen, sollte Peter, der Leiter der Aktion, das befehlen.

*

Peter und der Arzt erkannten sofort, dass die Frau tot war. Sie schwebten neben ihr, hielten sich an den dünnen Stämmen der Bäume fest, die den Fall der Frau gestoppt hatten. Der Kopf der Frau lag verdreht. »Genickbruch«, hatte der Arzt gesagt und anschließend den leblosen Körper auf Lebenszeichen untersucht. »Da kann ich nicht mehr helfen.« Sie machten Fotos von der Leiche und dem Auffindeort. Dann gab Peter das Kommando an den Piloten, sie nach oben zu ziehen.

*

Wieder im Hubschrauber meldete er der Bodentruppe, dass nur noch eine Leiche zu bergen war.

Christian wusste, was das bedeutete. Ab jetzt waren zunächst die Carabinieri und das Gericht zuständig. Eine Leiche durfte erst bewegt werden, nachdem ein Gericht die Leiche freigegeben hatte.

Im Helikopter sendete Peter die Fotos an die Carabinieri und telefonierte mit dem Diensthabenden. Danach setzte er den Funkspruch an die wartenden Bergretter ab: »Ein Carabiniere ist unterwegs zu euch. Wir geben die Fotos und den mündlichen Bericht an das Gericht. Sobald der Richter die Leiche freigegeben hat, melde ich mich bei euch.«

»Jetzt heißt es warten.« Damit sprach Peter aus, was alle im Hubschrauber wussten. »Lass mich bitte runter auf den Weg. Ihr könnt im Dorf auf die Freigabe durch das Gericht warten. Das kann dauern.«

Die Männer nickten. Nicht immer war ein Bereitschaftsrichter sofort zur Stelle. Sie hatten Sitzungen, und wenn es »nur« um die Freigabe einer Leiche ging, hatte die Sitzung Vorrang. Peter wurde mit der Winde auf dem Felsenweg abgesetzt. Die anderen flogen zurück nach Dorf Tirol.

*

»Ich weiß nicht, wie es passiert ist. Plötzlich ist sie da hinuntergefallen. Einfach so. Ohne ein Geräusch, ohne einen Laut!« Arno schrie es hinaus. Er war stark erregt. Christian hatte ihn genötigt, sich hinzusetzen. Einer der Männer hatte ihm Tee zu trinken gegeben und ihm eine Decke umgelegt. Man hatte den Notfallseelsorger informiert. Der würde binnen einer Stunde hier sein.

Peter kam hinzu. Er fragte: »Wir haben da unten eine Frau gefunden. Blond, magentafarbene Jacke.«

»Das ist sie, ja, das ist sie! Was ist mit ihr?«

Peter sah in die weit aufgerissenen Augen von Arno Steinbrecher. Er fragte: »Ist das Ihre Frau?«

»Ja, ja, was ist denn nun?«

Peter nickte leicht, blickte kurz zu Boden. »Es tut mir leid. Wir konnten nichts mehr für Ihre Frau tun.«

Da brach Arno Steinbrecher zusammen.

Tommaso saß in der Leitstelle der Carabinierikaserne in Bozen, als die Meldung reinkam, dass man eine Leiche unterhalb des Vellauer Felsenweges gefunden habe. Es handele sich um eine Frau, die abgestürzt war. Es gebe einen Zeugen, der den Absturz beobachtet habe. Ein Tourist, der beim Oberötzbauern nächtige. Name: »Hagen Bös«. Fotos von der Leiche waren der Meldung beigefügt, mit der Bitte, die Freigabe der Leiche durch das Gericht zu beantragen. Es folgten die Telefonnummern, unter denen man den Arzt und den Leiter der Rettungsaktion, Peter Gamper, erreichen konnte.

Tommaso veranlasste, dass alles an das Gericht weitergegeben wurde. Dann griff er zum Telefonhörer.

*

Sepp und Hagen hatten die ganze Rettungsaktion mit dem Fernglas verfolgen können. Sie sahen, dass der Helikopter zwei Männer hinuntergelassen hatte. Sie konnten von ihrem Standpunkt aus nicht erkennen, wo genau die Männer am Boden landeten.

»Sie werden was gefunden haben«, meinte Sepp. Nach einer Weile konnten sie mitansehen, dass zwei Männer nach oben gezogen wurden. »Das sieht nicht gut aus. Wenn sie jemanden lebendig gefunden hätten, wäre die Trage mit hochgezogen worden.«

»Du meinst, der Sturz hat tödlich geendet?«

Sepp nickte leicht. »Ziemlich wahrscheinlich. Wir werden es erfahren.« Er ging ins Haus und kam mit einer Flasche Grappa und zwei Gläsern wieder raus und schenkte ein. »Wir können hier nichts machen. Es passiert, dass Menschen von dort oben abstürzen.« Er erzählte Hagen von den Fällen, die er kannte. Bergunfälle kämen vor, weil es unglückliche Konstellationen gebe: Wettereinbrüche, Sturm, Lawinen im Winter. Es passierten auch »komische« Unfälle, bei denen Touristen ums Leben kämen. »Meist sind es Frauen, die verunfallen. Selten sind es ihre Männer«, erzählte er und deutete an, dass die Bergretter sich manchmal fragten, ob die Männer nicht ihre Frauen »entsorgt« hatten.

»Du meinst, dass es hier Touristenmorde gibt, Morde, die von Touristen begangen werden?«

»Es gab Fälle, da kraxeln Frauen, die ansonsten gewohnt sind, sich im Urlaub ausschließlich in der Sonne am Strand zu rekeln, mit unzureichendem Schuhwerk und bar jeder Ausrüstung in den Bergen rum. Da fragen wir uns, was die Damen dazu getrieben hat. Der begleitende Ehemann steht am Absturzort sprachlos daneben. Vielleicht deshalb, weil es ihm die Sprache verschlagen hat, vielleicht, weil er sich nicht belasten will – mit einem falschen Wort. So wird es hin und wieder erzählt.«

»Und die Polizei? Ermittelt die nicht?«

»Doch. Aber nur, wenn es etwas zu ermitteln gibt. Gibt es keine Zeugen, bleibt die Aussage des Ehemannes. Der sagt, die Gattin sei abgestürzt, er habe es nicht bemerkt. Wahrscheinlich habe sie das Gleichgewicht verloren, sei gestolpert. Dann kann die Polizei die Akte gleich wieder zumachen.«

»Aber die Leiche wird untersucht?«

»Wenn ein Mensch einen Berg runterfällt, so wie hier oben«, er deutete auf den Steilhang, »kannst du dir vielleicht vorstellen, was von einem Körper übrig bleibt. Da kann man die Einzelteile zusammenklauben. Bleibt der Mensch an einem Stück, ist alles zerschlagen, was der Mensch an Skelett hat. Ich glaube nicht, dass man noch etwas findet, was auf einen Schubser hindeutet.«

»Weißt du, wie viele Fälle es im Jahr gibt?«

»Nein, nein. Zahlen kenne ich keine. Es wird halt gemunkelt. Da kratzt sowieso niemand dran. Stell dir vor, wie das ausgeschlachtet würde. Kannst dir die Überschriften vorstellen. Das ist für ein Land, das auch vom Tourismus lebt, keine schöne Geschichte«, er blickte in sein Glas, »die volle Wahrheit kennt sowieso niemand. Nicht einmal die Polizei.«

Da ging das Telefon.

Sepp kam mit dem Hörer in der Hand nach draußen. »Für dich. Die Carabinieri aus Bozen.«

»Ja, sag mal, was machst du bei uns? Ohne dich zu melden? Muss ich mir Gedanken machen?« Tommasos Bass dröhnte durch den Telefonhörer.

Hagen musste schmunzeln. Einmal, weil er sich ertappt fühlte. Er hätte seine Südtiroler Freunde, Tommaso und Fabio, darüber informieren können, dass er einen Termin in Bozen hatte. Das hatte er unterlassen, weil er nicht vorhatte, länger zu bleiben. Zum anderen musste er darüber schmunzeln, dass man in Südtirol nicht inkognito bleiben konnte.

Er frotzelte zurück: »Ja, sag mal, hat euer Geheimdienst so fleißig gearbeitet, dass ich mich hier nirgends verstecken kann? Ich habe mir den einsamsten Ort ausgesucht, den ich mir vorstellen konnte, und du weißt, wo ich bin. Dabei wohne ich hier erst seit gestern Abend.«

Sepp bekam lange Ohren. Wie redete der Gast mit dem Carabiniere?

»Du entkommst hier nicht. Ich weiß alles. Ich weiß, wo du bist, ich weiß, was du machst, und ich weiß, welchen Wein du getrunken hast.« Tommaso kannte den Oberötzbauern. Flüchtig zwar, aber in grauer Vorzeit hatte er ein Glas Eigenbauwein bei ihm gekostet.

Hagen war in der Tat erstaunt. Er realisierte, dass der Anruf damit zu tun hatte, dass er den Unfall gemeldet hatte. Tommaso saß an einer Schaltstelle in Bozen, wie Hagen wusste. Er erinnerte sich an köstliche kulinarische Zusammenkünfte, in denen er zusammen mit Tommasos Frau Anna gekocht hatte. Und an den Kochwein, dem sie während des Kochens intensiv zugesprochen hatten. Ja, das war toll, damals. Wie lange war das her? Einige Jahre. Wie die Zeit rast.

»Ich bin nicht sprachlos, aber ich wundere mich, wie gut die Informationen hier fließen. Weißt du von mir wegen des Unfalls?«

»Ganz richtig. Die Frau ist leider tot. Wir haben das Gesuch um die Freigabe der Leiche an das Gericht weitergeleitet. Da die Todesursache unklar ist, geben wir das auch der Staatsanwaltschaft zur Kenntnis. Wenn die Freigabe kommt, kann die Leiche geborgen werden.«

»Oje, das tut mir leid. Das ist ja schrecklich. Wisst ihr schon, wie es passiert ist?«

»Nein. Das wissen wir noch nicht. Ein Kollege ist oben und wird jeden befragen, der etwas gesehen hat. Ich schicke ihn noch zu dir, damit wir deine Beobachtung festhalten können. Du bist heute noch beim Oberötzbauern? Oder musst du weiter? Bei dir könnten wir die Aussage schriftlich einholen.«

»Ich bin vorerst noch hier. Vielleicht mache ich sogar einige Tage Urlaub. Ich weiß das noch nicht. Das hängt davon ab.« Das war ihm rausgerutscht. Er wollte Tommaso nicht sagen, wovon es abhing, ob er unter Umständen noch einige Tage hierbleiben würde. Deshalb sprach er schnell weiter. »Wir können uns vielleicht sehen, wenn es bei euch passt. Ich gebe dir schnell meine neue Mobiltelefonnummer.« Er diktierte die Nummer. Tommaso war beschäftigt, die Nummer zu notieren und zu wiederholen. So kam er hoffentlich nicht zu der Frage, die Hagen nicht beantworten wollte.

Tommaso hatte ohnehin bemerkt, dass es hier einen Punkt gab, der interessant war, aber noch nicht mitteilungsreif. Es war die Stimmlage, die Hagen verraten hatte. »Das hängt davon ab.« Diesen Satz kann man so oder so aussprechen. Tommaso spürte, dass Hagen ein kleines Geheimnis hatte. »Danke für die Nummer. Ich melde mich. Vielleicht lässt sich ein Treffen arrangieren. Anna wird sich freuen, dich wiederzusehen. Fabio bestimmt auch. Bei ihm hat sich viel verändert. Er ist stolzer Vater von einem Jungen und Zwillingsmädchen. Prächtige Kinder. Sie haben den Ansitz Esser gekauft. Ein Riesending, sage ich dir.«

»Ja, das habe ich aus der Ferne verfolgt.« Kleine Pause. »Ich würde mich freuen, euch wiederzusehen. Fabio habe ich bereits gesagt, dass ich mir gerne sein neues Heim anschauen würde. Er hat uns damals mächtig geholfen.«

Tommaso wusste, wovon Hagen sprach. Er und Fabio hatten vor zwei Jahren eine Mörderin überführt, die auf eine spezielle Weise ihre Opfer zu Tode brachte. Als Fabio sie zum Sprechen bekommen hatte, hatte sie weitere Morde gestanden, die sie in Deutschland begannen hatte. Wie sich bei den Verhandlungen in Italien und später in Deutschland herausgestellt hatte, war sie psychisch krank. Sie hatte eine gespaltene Persönlichkeit. In bestimmten Phasen von Wut war sie nicht zurechnungsfähig. »Schuldunfähig«, hatten die Gerichte aufgrund von Gutachten festgestellt. Sie war jetzt in einer psychiatrischen Klinik für Straftäter.

»Zu deiner Frage, ob ich heute noch beim Oberötzbauerhof anzutreffen bin: Ich denke, ja. Dein Mann kann mich anrufen, um festzustellen, wo ich gerade stecke.« In Hagen brodelte noch eine Frage. »Sag mal, ich war gestern bei einer Konferenz in der Staatsanwaltschaft Bozen und habe dort verschieden Kollegen kennengelernt. Wer ist der zuständige Kollege für diese Art von Fällen, von tödlich Verunglückten?«

»Das ist eine Kollegin. Claudia Trebo heißt sie.«

Kurzes Schweigen. Tiefes Atmen.

»Bist du noch da?«

»Ja, ja, natürlich. Das ist ein Zufall. Die Kollegin habe ich gestern kennengelernt.«

Tommaso kannte Claudia Trebo gut. Sie war die Staatsanwältin, die die Ermittlungsarbeiten der Carabinieri und der Polizia di Stato aufeinander abstimmte, damit die Polizeieinheiten nicht doppelt arbeiteten.

Der Groschen fiel gleich. »Das hängt davon ab.« Der Satz von Hagen mit der besonderen Stimmlage. Tommaso musste schmunzeln. Hagen hatte gestern noch nicht gewusst, dass er länger bleiben würde. Das war es! Deshalb hatte er sich nicht gemeldet. Zufällig lernte er Claudia Trebo kennenDie würden gut zueinander passen, resümierte Tommaso in Gedanken.

»Claudia Trebo bearbeitet bei uns alle Todesfälle. Sie ist unsere Koordinatorin. Du kennst ja unser System. Ist ein bisschen anders als in Deutschland.«

»Ja, ich weiß. Und … habt ihr gerade einen spannenden Fall in Arbeit?«

Tommaso musste schmunzeln. Er lenkt ab, dachte er.

»Nein, im Moment ist alles ruhig. Der Unfall ist wahrscheinlich nur ein Unfall. Also keine Arbeit für uns.«

»Ja, aber der Sepp hat mir erzählt, dass es Fälle gibt, bei denen vermutet wird, dass Ehemänner ihre Frauen in den Bergen entsorgen, also die Felsen runterschubsen. Wie siehst du das?«

Tommaso runzelte die Stirn. Dieser Sepp. Verbreitet Gerüchte. Es gab diese Gerüchte und es gab echte Fälle. »Ach, weißt du, das wird schnell gesagt. Ich glaube das nicht ohne Weiteres. Bei Verunfallten suchen wir nach Spuren für ein Verbrechen. Wir befragen alle Zeugen. Natürlich kannst du in den Bergen nachhelfen. Bedenke, es gibt überall Augen, die sehen, Ohren, die hören. Es besteht immer das Risiko, bei einer solcher Tat entdeckt zu werden. Ich würde vorsichtig sein mit solchen Andeutungen. Kannst du gerne dem Sepp sagen, dass ich das so sehe.«

Tommaso wusste, dass es genau solche Fälle gegeben hatte. Nur selten konnte der Verdacht erhärtet werden. Selten gab es Indizien oder gar Beweise für eine solche Tat. Tommaso wollte nicht, dass Hagen die Berge mit diesen Augen sah. Berge sollten in erster Linie beeindruckende Landschaften bleiben.

Das Essen war köstlich. »Eigentlich ist das alles viel zu viel«, meinte Dorothee.

Michael schaute sie belustigt an. Er hatte mit seiner Portion keine Probleme, wusste aber, dass Dorothee nie viel aß. Michael kochte seit mehr als 30 Jahren in seiner Fischbrathalle Münster, die er in vierter Generation zusammen mit seiner Frau Astrid führte. Seine Freunde Dirk und Dorothee waren oft zu Gast.

»Ach, das schaffst du schon. Bis zum Abendessen ist das alles verbrannt. Wir haben noch ein ordentliches Stück Weg vor uns.« Michael studierte die Wanderkarte. Er war es gewesen, der diese »kleine Wanderung« vorgeschlagen hatte. Ihn interessierte vor allem ein Ort, an dem bereits gegen Ende der Jungsteinzeit, also etwa 2000 vor Christi Geburt, Menschen gelebt haben sollen. »Die waren später hier als der Ötzi«, hatte er gemeint und scherzhaft hinzugefügt, »da oben finden wir vielleicht einen von diesen alten Urzeitmenschen und werden weltberühmt.« »›Münsteraner finden Enkel von Ötzi‹, so wird die Überschrift lauten und darunter ein Foto von uns vier«, hatte er lachend ausgerufen und aus einem Wanderführer1 zitiert. »Hier, hört zu!« Er las vor: »Von einer tatsächlichen Besiedlung im Sinne einer längeren wohnlichen Niederlassung an einem bestimmten Ort können wir in Südtirol erst gegen Ende der Jungsteinzeit sprechen. Die ersten dauerhaften Siedlungen wurden an Plätzen errichtet, welche die Vorzüge der Wohnlichkeit und einer sichtbeherrschenden, leicht zu verteidigenden Lage mit den Annehmlichkeiten eines ausgedehnten, fruchtbaren Hinterlandes recht treffend zu vereinen wussten. Wie bei uns zu Hause in Münster, würde ich sagen.« Er lachte laut. »Ja, und genau da gehen wir heute hin. Wir besuchen den Kirchenhügel von St. Hippolyt. Da haben, lange bevor Münster erbaut wurde, unsere Vorfahren gelebt und ein Kirchlein erbaut. Da können wir eine Kerze anstecken.«

In Völlan hatten sie ihr Auto zurückgelassen und waren bequem bis zum Völlaner Badl gegangen. Nach der Tour gestern auf den Laugen war der Weg heute eher eine Unterforderung.

Dorothee legte ihr Besteck zur Seite und ließ den Blick über den schönen Platz streifen, den das Völlaner Badl seinen Besuchern zur Einkehr bot. Da war eine alte Holzkegelbahn, wie es sie nicht mehr oft gab. Schaukeln, Turngeräte für die Kinder und die alten Gartenstühle im Schatten der Bäume und Schirme ließen eine Biergartenatmosphäre aufkommen.