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HEIMO SCHWILK

Ernst Jünger

EIN JAHRHUNDERTLEBEN
DIE BIOGRAPHIE

Mit 44 Abbildungen auf Tafeln

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Impressum

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Klett‐Cotta

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Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe

© 2014 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © ullstein bild – D. M. Marcoviz

Datenkonvertierung: le‐tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978‐3‐608‐93954‐5

E‐Book: ISBN 978‐3‐608‐10663‐3

PDF‐E‐Book‐ISBN 978‐3‐608‐20232‐8

Dieses E‐Book entspricht der 1. Auflage 2014 der Printausgabe

Meinem Vater
in Dankbarkeit

INHALT

VORWORTE

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

DREIZEHNTES KAPITEL

VIERZEHNTES KAPITEL

FÜNFZEHNTES KAPITEL

SECHZEHNTES KAPITEL

SIEBZEHNTES KAPITEL

ACHTZEHNTES KAPITEL

NEUNZEHNTES KAPITEL

ZWANZIGSTES KAPITEL

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL

ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

ANMERKUNGEN

REGISTER

BILDTEIL

INFORMATIONEN ZUM AUTOR

VORWORT ZUR NEUAUSGABE

Wer Ernst Jünger liest, ist im Getümmel. Nicht nur mitten in den großen militärischen, politischen, philosophischen und, ja, auch ideologischen Schlachten der Epoche. Der Jünger-Leser muss sich immer auch die Frage gefallen lassen: Warum gerade dieser Autor? Mit seiner Antwort stößt er dann unvermittelt in eine Debatte, die seit Jahrzehnten andauert. Das gilt natürlich auch für den Biographen. Als meine im Herbst 1988 bei Klett-Cotta erschienene Bildbiographie zu Ernst Jünger auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt wurde, fragte mich Marcel Reich-Ranicki: »Warum schreiben Sie eigentlich über diesen schrecklichen Alten? Sie sind doch ein junger, hoffnungsfroher Mensch!« Er habe seine Lektüre eingestellt, nachdem er 1960 die Erzählung »Gläserne Bienen« gelesen habe. Manche Menschen lesen Bücher nur, um sich zu ärgern, spottete Ernst Jünger einmal. Die nicht selten polemische, oft auch diffamierende Auseinandersetzung mit seiner Person und seinem Werk nahm er sportlich. Beim festlichen Empfang anlässlich seines hundertsten Geburtstages am 29. März 1995 sagte er: »Dank an meine Freunde und meine Gegner auch. Beide gehören zum Karma – ohne sie kein Profil.« Über kritische Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften zeigte Jünger sich gut informiert; er bekam sie von Freunden oder Lesern zugesandt und heftete sie in seinem Archiv ab. Bei meinen Besuchen in seinem Haus in Wilflingen begrüßte er mich bisweilen mit dem Ausruf: »Haben Sie das schon gelesen?« und schwenkte lachend einen Zeitungsausschnitt. Eine von Altersmilde bestimmte Haltung, aber auch ein Stoizismus, mit dem Jünger, der sich wie kaum ein anderer deutscher Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts physisch und geistig exponiert hatte, immer gut gefahren ist. Dass er zu seiner Umstrittenheit, die im Werk angelegt ist, bisweilen aus Lust an der Provokation selbst beigetragen hat, wusste er natürlich. So antwortete er auf die Frage eines französischen Journalisten, was das Schlimmste am Ersten Weltkrieg für ihn gewesen sei, lapidar: »Dass wir ihn verloren haben.« Mit dem Etikett des »Umstrittenen« hatte er sich am Ende seines Lebens in der ihm gemäßen Weise arrangiert: Umstritten zu sein schließe doch immerhin ein, schrieb er im letzten Band seines Tagebuch-Zyklus’ »Siebzig verweht«, dass man auch Freunde habe. Damit verwandelte er das negativ gemeinte Urteil souverän in einen Vorteil.

Einen Schriftsteller zu seinem Leben und Werk zu befragen, dessen berühmteste Maxime lautet: »Wer sich selbst kommentiert, geht unter sein Niveau«, ist nicht leicht. In den fünfzehn Jahren meiner Beziehung zu Ernst Jünger, von der ersten Begegnung 1983 bis zu seinem Tod im Jahr 1998, bin ich ihm so nahe gekommen, dass sich ein freundschaftliches Verhältnis herausbilden konnte. Jünger vertraute mir Korrespondenzen und Autographen an, ließ mich in sein Archiv und seine Bibliothek, nahm mich mit auf Reisen und legte Wert darauf, dass ich bei allen Familienfesten und Ehrungen dabei war. Ich gehörte dazu, wurde aber auch als Herausforderung empfunden. Denn jeder Biograph hat für den Porträtierten etwas Anmaßendes, ja Bedrohliches. Er verfügt über Deutungsmacht. Ihm dann und wann das Abgeleitete, Zeitbedingte, Subjektive seines Anliegens zu verdeutlichen, auch das mögliche Scheitern, schien angebracht. Gleich zu Beginn meiner biographischen Arbeiten sagte mir Jüngers zweite Frau Liselotte scherzhaft, ich wisse doch, dass ihr Mann schon viele Biographen überlebt habe? Ich nahm das ernst, denn als Redakteur bei der Wochenzeitung »Rheinischer Merkur/Christ und Welt« in Bonn hatte ich erlebt, dass der Publizist Curt Hohoff, der schon 1986 einen Nachruf auf den damals Einundneunzigjährigen verfasst hatte, lange vor Jünger verstarb. Dieses Schicksal ist mir erspart geblieben; ich war der letzte Besucher in Wilflingen, konnte den Dichter so wenige Wochen vor seinem Tod noch zu einigen Details seines Lebens befragen. Ich habe auch das letzte Buch zusammen mit ihm ediert, das Drogen-Buch »Weiße Nächte«, das im Herbst 1997 in einem Ost-Berliner Szeneverlag erschienen ist. Als es im legendären Brecht-Haus an der Berliner Chausseestraße von dem Schauspieler Ben Becker vorgestellt wurde, war das ein vielbeachtetes Ereignis in der deutschen Hauptstadt. Jünger, der Brecht in den Zwanzigerjahren, übrigens auch in Berlin, persönlich begegnet war und »pyrotechnische Mischungen« liebte, freute sich darüber. Ben Becker, er ging später mit »Weiße Nächte« auf Lesetournee, sagte zu Beginn seines Vortrages, er lese jetzt einen Autor, »vor dem mich mein Vater immer gewarnt hat«.

Wer sich wie der Verfasser dieses Buches seit Jahrzehnten mit dem Phänomen Jünger beschäftigt, erfährt nachhaltig, wie volatil, um es in der Sprache der Börse zu sagen, der Zeitgeist ist, wenn es um Fragen der Qualität von Literatur oder – noch irritierender – um moralische Maßstäbe geht, die an sie herangetragen werden. Ernst Jünger stand von Anfang an im Kreuzfeuer polarisierender Einschätzungen und Wertungen. Thomas Mann nannte ihn einen »eiskalten Genüssling des Barbarismus«, und sein Sohn Klaus räumte ein, dass es sich im Fall Jüngers um »mißleitete Reinheit« handle, die den Mann aber umso gefährlicher mache. Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki, ein großer Mann-Bewunderer, schloss sich dieser Einschätzung an und bekannte, Jünger sei ihm »zuwider«. Allerdings fügte er hinzu: »Ein Schriftsteller von Rang ist der Jünger, aber ein barbarischer Schriftsteller.« Dieses Hin und Her zwischen ästhetischer Zustimmung und moralischer Ablehnung, zwischen Bewunderung und Erschrecken war lange das bestimmende Merkmal der Jünger-Rezeption in Deutschland, mit signifikanten Unterschieden zu Ländern wie Frankreich, Italien, Spanien oder Polen, wo Jünger weniger moralisch als ästhetisch und historisch betrachtet wird. Bezeichnend für Jüngers Skepsis gegenüber der Sekundärliteratur ist eine Anekdote, die Mitarbeiter des Deutschen Literaturarchivs in Marbach überlieferten: Als Ernst Jünger einmal das Archiv besuchte, um unter anderem auch den Raum zu besichtigen, in dem die umfangreiche Forschungsliteratur zu seinem Werk verwahrt wird, soll er zum Direktor des Schiller-Nationalmuseums gesagt haben: »Ein Meer des Irrtums vielleicht.«

Als ich vor mehr als dreißig Jahren in Tübingen Germanistik, Philosophie und Geschichte studierte, galt Jünger schriftstellerisch als Manierist, politisch als Antidemokrat und historisch als Wegbereiter des Nationalsozialismus. Lange vorbei die Zeit, als Jüngers Texte, wie noch anfangs der Fünfzigerjahre, Gegenstand von Abituraufsätzen waren. In germanistischen Seminaren wurde er allenfalls als Figur der »Inneren Emigration« behandelt. Erste Hinweise, in Jüngers Werk sei die ökologische Frage sehr früh schon thematisiert worden und seine Erzählungen der Nachkriegszeit könnten auch als postmoderne gelesen werden, fanden kaum ein Echo. Beherrscht wurde die Jünger-Philologie von Klaus Theweleits Soziologie des »soldatischen Mannes«, wie er sie in seiner 1978 erschienenen Studie »Männerphantasien« entwickelte. Darin wird der Kriegsfreiwillige Jünger zum präfaschistischen Vorläufer des SS-Täters – ein Vorwurf, den eine Reihe jüngerer Autoren bereits 1968 in einer polemischen »Streit-Zeit-Schrift« erhoben hatte. Immerhin veröffentlichte Karl Heinz Bohrer fast zeitgleich mit Theweleit seine »Ästhetik des Schreckens«, mit der er Jünger einen Platz in der europäischen ästhetischen Avantgarde sicherte. Die Debatte um Jünger flackerte erneut auf, als die Grünen am 4. August 1982 einen Antrag in das Frankfurter Stadtparlament einbrachten, um die Verleihung des Goethepreises an Jünger zu verhindern. Der Siebenundachtizgjährige wurde darin als »ideologischer Wegbereiter des Faschismus«, als »Kriegsverherrlicher und erklärter Feind der Demokratie« bezeichnet. Fritz J. Raddatz sekundierte mit einem »Zeit«-Essay unter dem Titel »Kälte und Kitsch« und klassifizierte Jüngers Stil als »Herrenreiterprosa«.

Die Neunzigerjahre brachten die Trendwende. So setzte der Schweizer Publizist Martin Meyer 1990 die von Karl Heinz Bohrer begonnene europäische Kontextualisierung Jüngers in einer breit angelegten Werkbiographie fort. Zur Verblüffung seiner Fachkollegen und mit positiven Folgen für Ernst Jüngers Image bis heute betonte Helmuth Lethen in seiner 1994 bei Suhrkamp veröffentlichten kulturwissenschaftlichen Arbeit »Verhaltenslehren der Kälte« Jüngers Nähe zu Bert Brecht und Walter Benjamin. Jüngers Destruktivität der Zwanzigerjahre wurde nun nicht mehr als Ausdruck eines individuellen Charakterdefekts gedeutet, sondern als epochale Fehlhaltung, wie sie auch bei marxistisch inspirierten Autoren und Intellektuellen der Zwischenkriegszeit sichtbar geworden ist. Die von Günter Figal und dem Verfasser 1995 herausgegebene Festschrift »Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten« versammelte prominente Autoren wie Heiner Müller, Rüdiger Safranski, Peter Sloterdijk, Robert Spaemann und Botho Strauß und belegte die vielfältige Deutbarkeit seines Werkes. Es begann, wie Helmuth Kiesel feststellte, die Re-Integration des Jüngerschen Werkes in den Kanon der Literatur der klassischen Moderne.

Statt Entlarvung und Kritik dominieren heute Respekt und Neugier. Wichtige Studien erschienen im Ausland, beispielsweise in Polen, wo der Jünger-Übersetzer Wojciech Kunicki Pionierarbeit leistete. In Frankreich präsentierte Danièle Beltran-Vidal aufschlussreiche Essays und Dokumente in ihren »Carnets Ernst Jünger«. Seit 2001 gibt es mit den von Günter Figal und Georg Knapp herausgegebenen »Jünger-Studien«, die inzwischen in sechs Bänden vorliegen, auch ein vergleichbares deutsches Periodikum. Ständig wächst die Anzahl der Forschungsarbeiten. Nicolai Riedel, Herausgeber einer umfassenden Bibliographie der Jünger-Forschung, konstatierte, dass zwischen 1991 und dem Jahr 2000 mehr selbständige Veröffentlichungen zu Jünger erschienen sind als in dem halben Jahrhundert davor. Diese Entwicklung hat sich in den letzten Jahren weiter verstärkt. Die Forscher, die sich mit Ernst Jünger befassen, werden jünger und weiblicher, und obwohl noch immer die Auseinandersetzung mit dem Frühwerk dominiert, wächst das Interesse an Themen wie Sprache, Drogen, Natur und an den theologischen Aspekten des Werkes. Besonders die einzigartigen Reisetagebücher stehen im Mittelpunkt des neuen Forscherinteresses; Jan Robert Weber hat dazu mit seiner 2010 bei Matthes & Seitz erschienenen Studie »Ästhetik der Entschleunigung. Ernst Jüngers Reisetagebücher« einen wichtigen Grundstein gelegt.

Was sind die Gründe dafür? Neben dem wachsenden Überdruss an der Ideologisierung von Wissenschaft dürfte die politische Aufbruchstimmung Mitte der Achtzigerjahre im Osten Europas, das damit verbundene Gefühl, in einer Zeitenwende zu leben und schließlich der Fall der Mauer die Faszination für eine Jahrhundertgestalt wie Ernst Jünger gefördert haben. Plötzlich erschien Geschichte wieder sehr lebendig – lag es da nicht nahe, sich auf einen Zeitzeugen zu besinnen, der die Brüche und Wendungen der deutschen Geschichte wie kaum ein anderer verkörperte? Es sei erlaubt, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass auch der hier jetzt neu edierte Band im Verbund mit Helmuth Kiesels Biographie – beide erschienen im Herbst 2007 – die Aufnahme von Ernst Jüngers Werk weiter gefördert hat. Die Psychologisierung, ein genuines Kennzeichen biographischer Darstellung, mag wesentlich dazu beigetragen haben, die ins Epochale entrückte Gestalt Ernst Jüngers zu vermenschlichen, ohne die Wirkungen seines Denkens und Schreibens zu verharmlosen. Helmuth Kiesel kommt das Verdienst zu, mit der Herausgabe von Jüngers »Kriegstagebuch« (2010) und der historisch-kritischen Ausgabe der »Stahlgewitter« (2013) Jüngers Rolle als wichtiger Zeitzeuge und unermüdlich an der Ausdrucksgenauigkeit seiner Texte feilender Autor noch stärker sichtbar gemacht zu haben. Die originalen Aufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg zeigen einen jungen Kriegsfreiwilligen, der nicht durchweg im Zerrbild des »Bellizisten« aufgeht. Todes(über)mut und Heroismus wechseln mit Trauer, Schmerz und einer bis ins Depressive reichenden Kriegsmüdigkeit. »Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?« notierte Jünger am 24. Mai 1917 in sein Tagebuch. Auch Martin Walser feierte in seiner Eröffnungsrede zur Ernst-Jünger-Ausstellung in Marbach (2010) nicht den in Stahlgewittern gehärteten Stoßtruppführer, sondern den empfindsamen, immer wieder vom Zusammenbruch bedrohten jungen Mann, der sich im Schützengraben der Lektüre hingibt und Käfer fängt. Jünger bislang nicht gelesen zu haben, gestand Walser, sei sein größtes Versäumnis.

Die im »Kriegstagebuch« neu sichtbar gewordenen Ambivalenzen sind in der vorliegenden Biographie reichlich dokumentiert. Ernst Jünger hatte mir schon seit Mitte der Achtzigerjahre seine Archive geöffnet, um bis dahin unveröffentlichte Briefwechsel, Tagebücher, Dokumente und Fotos für meine entstehende Bildbiographie1 verwenden zu können. Für die Neuausgabe der Biographie habe ich einige Zitate aus dem damals noch nicht zugänglichen, brisanten Briefwechsel Jüngers mit seiner ersten Frau Gretha wie auch aus den Feldpostbriefen in den Text eingefügt, die Jünger im Ersten Weltkrieg an seine Eltern und seinen Bruder Friedrich Georg Jünger schrieb2. Zu den Dokumenten, die neu aufgenommen wurden, gehört auch der bewegende Abschiedsbrief einer französischen Geisel. Der kommunistische Arbeiter Pierrot Timbaud war am 22. Oktober 1941 als Vergeltung für Anschläge der Resistance gegen deutsche Soldaten in Paris hingerichtet worden. Jünger hat 36 Briefe der Geiseln übersetzt und in sein Dossier »Zur Geiselfrage« aufgenommen, das er im Auftrag des Militärbefehlshabers Otto von Stülpnagel anlegte, um die von Hitler persönlich befehligten Racheaktionen für die Nachwelt zu dokumentieren und den Militärbefehlshaber zu entlasten. Die Schrift liegt seit 2011, herausgegeben von Sven Olaf Berggötz und mit einem Vorwort von Volker Schlöndorff, bei Klett-Cotta vor.3

Diese Biographie ist auch ein Geschichtsbuch. Ernst Jünger hat fast das ganze zwanzigste Jahrhundert durchlebt, vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und die NS-Diktatur bis in die Bonner und schließlich auch noch Berliner Republik. Er empfing den höchsten Tapferkeitsorden, den von Friedrich dem Großen gestifteten Pour le Mérite, aus den Händen von Kaiser Wilhelm II., er begegnete Ludendorff und wurde von Goebbels und Hitler umworben. Theodor Heuss, der erste Präsident der Bundesrepublik Deutschland, gab ihm im Oktober 1955 die Ehre seines Besuches in Wilflingen. 1987 erhielt Jünger in Rom den Internationalen Tevere-Preis für sein Lebenswerk und wurde von Staatspräsident Francesco Cossiga im Quirinal-Palast empfangen. Bundeskanzler Helmut Kohl kam mehrmals nach Wilflingen und brachte 1985 den französischen Präsidenten François Mitterrand mit – ein Sozialist wie Spaniens Ministerpräsident Felipe González, der Jünger 1990 besuchte. Schließlich ehrte Bundespräsident Roman Herzog den 100-jährigen Ernst Jünger durch seine Teilnahme an dessen Geburtstagsfeier. Jünger war über alle politischen Systeme, Zeiten und Parteien hinweg eine Zelebrität, der begegnet zu sein sich viele als Ehre anrechneten.

Die Abschnitte über Ernst Jüngers Zeit als Offizier im besetzten Paris sind mir besonders wichtig, weil sie die Tragik des Versuchs, mitten in einem verbrecherischen Umfeld die persönliche Untadeligkeit zu bewahren, aufzeigen. »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« schrieb Adorno, und die Wahrheit dieses Diktums musste auch ein so auf seine innere und äußere Unabhängigkeit achtender Mensch wie Jünger schmerzhaft erfahren. Wenn etwas den Stoiker Jünger überhaupt traumatisierte, dann der Tod seines ihm so ähnlichen Sohnes Ernstel, der für seine Bemerkung, man müsse Hitler aufhängen, zur »Frontbewährung« verurteilt wurde. Die Gespräche, die wir darüber führten, waren delikat und bisweilen antwortete Jünger mit Schweigen, wenn ich eine Grenze überschritt, die ihn gegen den Schmerz abschirmte. Schon bei einer unserer ersten Begegnungen erklärte er mir, dass er sich im Zweiten Weltkrieg trotz Uniform als musischer Mensch, nicht als Täter gefühlt habe. In seinem Selbstverständnis war er Zeuge, nicht Okkupant. In Frankreich wird dies weitgehend akzeptiert, immerhin sind 2008 Jüngers Schriften über die beiden Weltkriege in die berühmte »Bibliothèque de la Pléiade« aufgenommen worden, in einen Kanon der Weltliteratur, dem neben Jünger als deutsche Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts bislang nur Brecht, Kafka und Rilke angehören. Dem Attentat auf Hitler habe er, so Ernst Jünger, anders als einige seiner Kameraden, keine Chance gegeben. Er habe auch immer gewusst, dass ihn, der in Paris Kontakt zu den Verschwörern hatte, nur sein Nimbus als hochdekorierter Soldat schützte. Die Frage der Schuld müsse jeder mit sich selbst abmachen, das sei, besonders im Falle des Autors, keine Sache für Gerichtshöfe. Die Moral des Dichters sei seine Sorgfalt gegenüber der Sprache.

Dieses Buch enthält keine moralischen Urteile, sondern zeichnet Jüngers Lebensweg mit Hilfe möglichst vieler Quellen nach, damit sich der Leser ein eigenes, am Ende vielleicht auch moralisches Urteil bilden kann. Auch wenn die »Fiktion des Faktischen« (Pierre Bourdieu) kaum von der Hand zu weisen ist und der Biograph sich einzugestehen hat, Erfinder eines fremden Lebens, nicht sein Protokollant zu sein, so bleibt dennoch der Anspruch, die Annäherung an dieses fremde Leben so nachvollziehbar und transparent wie möglich zu machen, frei von Heldenverehrung, aber auch von Häme und Hass. Noch immer gilt, was Eugen Gottlob Winkler bereits 1936 schrieb, nicht im Sinne einer Verurteilung, sondern als Aufgabe gegenüber den Herausforderungen und Abgründigkeiten der Wirklichkeit: »Ernst Jünger kann nicht widerlegt, sondern nur überwunden werden.«

Heimo Schwilk

Berlin, im Januar 2014

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

Am 17. Februar 1998 starb Ernst Jünger im Alter von fast 103 Jahren. Für seine Bewunderer, aber auch für viele seiner Kritiker war er längst zum Mythos geworden. Sein Überleben im Jahrhundert der Kriege und Bürgerkriege, der ideologischen und charakterlichen Anfechtungen erschien wunderbar, vielen provozierend. Er war ein Deutscher, wie ihn sich vor allem die Franzosen vorstellen: preußisch-diszipliniert, soldatisch, metaphysisch-grübelnd, spekulativ. Aber Ernst Jünger war ebenso ein über alle Maßen produktiver Autor, der Diarist des Jahrhunderts, der auf rund 5000 Tagebuchseiten die Fieberkurve des Säkulums nachzeichnete. Seine 1939 veröffentlichte Erzählung »Auf den Marmorklippen« wurde im In- und Ausland als Frontalangriff auf Hitlers Schreckensherrschaft gedeutet, und als Essayist prägte er einen unverwechselbaren, funkelnd-aggressiven Stil, der gleichsam den Weltgeist ex cathedra sprechen lässt.

Für die Generation nach 1968 stellt Jünger so etwas wie einen Prüfstein der Gesinnung dar. Wer ihn schätzt, gilt als verdächtig, wer ihn mit antifaschistischem Pathos ablehnt, gehört dazu – denn der Zeitgeist ist liberalistisch, pazifistisch, sozial, kommunikativ. Der Wilflinger Eremit erschien vielen jedoch als das genaue Gegenteil, als antidemokratisch, bellizistisch, sozial desinteressiert, elitär. Die Götter des Jahrhunderts – Marx, Freud, Darwin – spielten in seinem Denken kaum eine Rolle, dafür Nietzsche, Spengler, Schopenhauer oder so abgelegene Geister wie Bloy, Boëthius und Stirner. Zum »demokratischen Diskurs« hatte Jünger wenig beizutragen, viel dagegen zu dem, was Heidegger die Existentialien genannt hat: Zeitlichkeit, Geworfenheit, Sterblichkeit. Seine Gewissheit, dass das Leben ein Geheimniszustand sei und der Mensch ein wunderbares Wesen in einer durchaus wunderbaren Welt, dieser romantische Grundzug seines Denkens schloss ihn weitgehend von einer Gegenwart aus, die an der Banalisierung unserer Existenz tagaus tagein geschäftig arbeitet. Dass ihn am Ende seines Lebens Staatsmänner wie Mitterrand, Kohl und González in seinem Haus in Wilflingen aufsuchten, widerspricht dem nicht. Der vitale Greis mochte ihnen wie eine letzte Brücke in eine Epoche erschienen sein, zu der schon ihre Generation kaum mehr einen Zugang hatte. Er verkörperte das Rätsel der deutschen Seele, von der sich eine Madame de Staël bezaubern ließ, deren faszinierende Eigenwilligkeit aber durch die deutsche Katastrophe von 1945 für immer ausgelöscht scheint.

Als mystischer Dichter versuchte Ernst Jünger die Gegenwart des Mysteriums sichtbar zu machen durch Naturbilder, Gleichnisse, Verweise. Sein ganzes Werk kreist um die Frage nach dem »élan vital«, nach jener Kraft, die das Lebendige in immer neuen Formen schafft. Jünger begriff Leben und Tod nicht als unversöhnliche Gegensätze. In seiner für viele skandalösen Todesmetaphysik sind beide unauflöslich miteinander verflochten. Dieses entschiedene, auf Entscheidung drängende Metaphysikverlangen macht Ernst Jünger so gegenwärtig, dass man ihm eine große Zukunft voraussagen möchte, die der ähnlich sein könnte, die Hermann Hesse in den Sechzigern und Siebzigern des vorigen Jahrhunderts erlebt hat. Jüngers Heilsgewissheit, seine Mystik der profanen Erleuchtung beim Anblick von Flora und Fauna, die Stereoskopie als blitzartig aufscheinende Gleichzeitigkeit von Immanenz und Transzendenz, das Erscheinen des Urbilds im Abbild: Wo könnte eine gleichermaßen ökologisch wie ontologisch interessierte Jugend fündiger werden als bei einem Autor, der das Wunderbare in Waldgängen und auf Reisen rund um die Welt dingfest zu machen suchte?

Doch neben dieser unermüdlichen, in ihrer Intensität an Goethe erinnernden Hinwendung zu Insekten, Steinen und Pflanzen gibt es auch den Theoretiker und Propagandisten des Krieges, den ungerührten Prognostiker des Untergangs, dessen Lust an der Sensation der Gefahr unverständlich sein muss für eine Zeit, in der Terrorismus und drohende Massenvernichtung alles Kriegerische stigmatisieren. Die Biographie Ernst Jüngers zu schreiben ist so gesehen leicht und schwer zugleich. Leicht, weil sie so reich ist an erlebter Zeitgeschichte und abenteuerlichen Ereignissen; schwierig, weil es sich bei Jünger um einen Autor handelt, der nicht nur farbig zu erzählen weiß, sondern in geradezu exzessiver Manier das Erlebte auch reflektiert, deutet, umdeutet, um es schließlich mit einem hochstilisierten Sprachgestus in eine Ferne zu rücken, durch die sich der Leser auf Distanz gehalten fühlt. So faszinierend diese entrückte, gleichsam von einem archimedischen Punkt der Weltbetrachtung aus operierende Perspektive auch sein mag – ein Biograph darf sich mit solchen Generalisierungen, die auf fast zauberische Weise das Persönliche im Allgemeinen zum Verschwinden bringen, nicht begnügen. Denn auch ein Ernst Jünger ist Kind seiner Zeit, und auch bei größtmöglicher Selbststilisierung bleiben die Prägungen durch die familiäre Herkunft, das persönliche Temperament, die deutsche und europäische Existenz immer erkennbar. Diese Lebensbeschreibung ist deshalb auch ein Versuch, die innere Entwicklung Jüngers nachzuzeichnen, wie sie sich aus Briefen und Dokumenten rekonstruieren lässt. Dass die persönliche Bekanntschaft mit dem Porträtierten hierbei hilfreich war, versteht sich von selbst. Sie eröffnete nicht nur den uneingeschränkten Zugang zu Jüngers umfangreichem Archiv, das sich seit 1995 im Literaturarchiv beim Schiller-Nationalmuseum in Marbach am Neckar befindet, sondern gab auch Gelegenheit zu Nachfrage und vertrautem Gespräch. So konnten erstmals Jüngers Kindheit und Jugend und vor allem auch seine Erfahrungen als Soldat aus den authentischen Quellen heraus dargestellt werden.

Mein besonderer Dank gilt deshalb Frau Dr. Liselotte Jünger; in unzähligen Begegnungen hat sie mir Auskünfte zur Biographie gegeben sowie Hinweise auf Zusammenhänge eröffnet, die aus ihrer großen Vertrautheit mit dem Werk Ernst Jüngers erwachsen sind. Das gilt auch für die beim Stuttgarter Verlag Klett-Cotta für Jünger zuständige Lektorin Hede Schirmer, die mir unermüdlich mit Rat und Tat zur Seite stand. Zu Dank verpflichtet bin ich auch Herrn Professor Hans Dieter Zimmermann, Institut für Deutsche Philologie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der TU Berlin, der das biographische Projekt wissenschaftlich begleitet und den Abschnitt 1895  1925 als Dissertation angenommen hat. Joachim Jessen und Thomas Karlauf danke ich herzlich dafür, dass sie den Piper Verlag für dieses ambitionierte Buchprojekt gewinnen konnten; dem Unternehmer Peter Dussmann für die zeitweilige Zurverfügungstellung eines Schreibdomizils in seinem Gästehaus am Zeuthener See. Herrn Michael Klett danke ich für die Erlaubnis, aus dem Briefwechsel seines Vaters Ernst Klett mit Ernst Jünger zitieren zu dürfen. Meinem Freund, dem Pädagogen und Autor Uwe Wolff, danke ich für die große Hilfe bei der Rekonstruktion von Jüngers Kindheit und Jugend, den Freunden Serge Mangin, Ralf Georg Reuth und Ulrich Schacht für die kritische Durchsicht des Manuskripts. Thomas Bantle verdanke ich wichtige Korrekturen und Ergänzungen bei der Darstellung von Jüngers Zeit im Ersten Weltkrieg; er half auch bei der Beschaffung schwer auffindbarer Quellen und der Durchsicht des Manuskripts. John King und Felix Johannes Krömer unterstützten mich bei der Transkription von Jüngers Originaltagebüchern der beiden Weltkriege. Ohne die Hilfe der Mitarbeiter der Handschriftenabteilung des Literaturarchivs in Marbach schließlich wäre diese Arbeit kaum möglich gewesen. Ich danke auch ihnen sehr herzlich an dieser Stelle, wie den Lektoren des Piper Verlages Renate Dörner, Kristin Rotter und Ulrich Wank, die mir mit großer Geduld zur Seite standen. Nicht zuletzt möchte ich meinen Töchtern Laura und Clarissa Dank sagen für die Liebe und das Verständnis, mit der sie die nicht unerheblichen Einschränkungen unseres Zusammenseins hingenommen haben, die mit dieser Arbeit verbunden waren.

Heimo Schwilk

Berlin, im Juli 2007

ERSTES KAPITEL

Vor dem Hauptaltar der katholischen Kirche St. Johannes Nepomuk in Wilflingen steht ein mit weißen Lilien geschmückter Sarg unter Weihrauchwolken. In ihm liegt der letzte Ritter des Ordens Pour le Mérite. Über ihm das Bild der Mutter: Regina Coelorum, Maria, die Himmelskönigin. Ihr zu Füßen konzelebriert Pfarrer Roland Niebel mit dem Rottenburger Domkapitular Werner Groß das Requiem. Niemand aus der Trauergemeinde ahnt, dass der Autor und Krieger, der Käferforscher und Drogenexperte Ernst Jünger ein Geheimnis mit in sein Grab nehmen wird.

Am 17. Februar 1998 um 11 Uhr und 49 Minuten war eine Eilmeldung in den Redaktionen eingetroffen. »Der Schriftsteller Ernst Jünger ist tot. Er starb im Alter von 102 Jahren am frühen Dienstagmorgen, wie die Kreisverwaltung Biberach mitteilte.« Vier Tage später findet die Beisetzung des Jahrhundertmannes in seinem Heimatort Wilflingen statt. Der Kirchenchor stimmt das »Deutsche Requiem« von Franz Höß an, anschließend singt Jüngers Enkeltochter Irina zwei Marienlieder: »Ach neige, du Schmerzensreiche« von Carl Loewe und »Ave Maria« von Charles Gounod. Dann folgt ein gemeinsam gesungenes Lied mit dem Bekenntnis zu Christus:

»Christus, der ist mein Leben,
Sterben mein Gewinn.
Ihm will ich mich ergeben;
mit Fried’ fahr ich dahin.
Mit Freud’ fahr ich von dannen
zu Christ, dem Bruder mein,
auf dass ich zu ihm komme
und ewig bei ihm sei.
Ich hab nun überwunden
Kreuz, Leiden, Angst und Not;
durch seine heilgen Wunden
bin ich versöhnt mit Gott.«

Auf dem Wilflinger Friedhof wird Jünger in der Familiengrablege beigesetzt. Hier stehen in einer Reihe drei Grabsteine aus weißem Carrara-Marmor, zwei für die Söhne Ernst und Alexander. In ihrer Mitte leicht erhöht der Grabstein für Jüngers erste Frau Gretha, geborene von Jeinsen. Ernst Jüngers Grab eröffnet eine zweite Reihe – zur Familie Nähe und Distanz zugleich signalisierend. Den »blauen Stern« des Ordens Pour le Mérite hat ihm seine zweite Frau Liselotte mit ins Grab gegeben.

»War Jünger nicht ein Heide?«, fragen sich einige Gäste nach der Beerdigung beim Empfang in der ehemaligen Oberförsterei, Jüngers Haus. Obwohl viel Weihrauch in der Luft lag, wurde Ernst Jüngers Begräbnis nach katholischem Ritus lediglich als Anpassung an lokale Gebräuche und Ausdruck seiner Verbundenheit mit den Wilflingern gewertet. Inzwischen kennen wir die Wahrheit. Nach einem langen Prozess der Annäherung trat der Chronist des 20. Jahrhunderts am 26. September 1996 zur römisch-katholischen Kirche über.

Ernst Jünger hat mit seiner Konversion, die lange als Geheimnis gehütet wurde, ein Zeichen gesetzt. Geboren im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter Schopenhauers, Darwins, Haeckels, Nietzsches und Freuds, dem Zeitalter des Atheismus, des Positivismus, der Naturwissenschaft und der Psychoanalyse, blickte der Greis am Ende seines Lebens hinüber ins 21. Jahrhundert. Hier in der Zukunft erwartete er eine Erneuerung des Glaubens. Jünger war Optimist. Er betrachtete das 20. Jahrhundert, dessen Geschichte er in seinem Werk dokumentiert und kommentiert hat, als eine Zeit des Übergangs. Wir leben in einem Interregnum, in einer Höhle namens Zeit mit einem Schimmer von Licht. Vorher war es besser, nachher wirds besser sein.1 Er verglich sich mit dem Patriarchen Jakob, der nach dem Bericht der Bibel mit einem Engel kämpfte. Dieser Ringkampf in der Nacht des Glaubens dauerte bis zur Morgendämmerung, in der Jakob von Gottes Engel gesegnet wird. Ernst Jünger notierte in sein Tagebuch: Wir müssen uns in unserer Eigenschaft als Rationalisten überwinden lassen, und dieser Ringkampf findet heute statt. Gott tritt den Gegenbeweis gegen uns an.2

So merkwürdig es klingen mag: Trotz seines hohen Alters hatte eigentlich niemand mit Jüngers Tod vor der Jahrtausendwende gerechnet. Nachdem er die Grabenkämpfe des Ersten Weltkriegs und die Hitler-Barbarei, seine Freunde und seine zahllosen Gegner überlebt hatte, umgab ihn die mythische Aura eines Methusalems und jener Helden der biblischen Urgeschichte, die den Tod nicht schmeckten. Ungezählte Nachrufe wurden zu seinen Lebzeiten geschrieben und lagen in den Redaktionen für den Fall von Jüngers Tod bereit. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte veralteten sie, und diejenigen, die sie verfasst hatten, waren längst selbst gestorben. So glaubten alle am Ende nicht nur, dass Ernst Jünger rüstig die Schwelle zum 21. Jahrhundert überschreiten werde, ja man erwartete es gleichsam von ihm. Wäre er doch der einzige Autor gewesen, der in drei Jahrhunderten und zwei Jahrtausenden gelebt haben würde.

Bereits im Jahre 1950, in der Jahrhundertmitte, hatte der damals 55-jährige Jünger einen optimistischen Blick ins 21. Jahrhundert gewagt: Wie das Nachkriegsdeutschland befinde sich die gesamte Welt in einer Zeit des gewaltigen Aufbruchs. Länder und Kontinente würden zu künftigen Imperien zusammenschmelzen. In fünfzig Jahren werde es den Menschen gut gehen. Deshalb möchte er das Jahr 2000 erleben, bekennt Jünger gegenüber seinem Sekretär Armin Mohler.3 Das ist ein kühner Wunsch für einen Autor, der sich im sechsten Lebensjahrzehnt befindet. Immerhin geht er nicht so weit zu behaupten, er werde das 21. Jahrhundert erleben. Obwohl Jünger mit dem Tod noch nicht rechnet, spricht er dennoch am 19. Februar 1950 über ein mögliches letztes Wort. Er, der Sammler von letzten Worten Sterbender, weiß, dass diese oft von Witwen oder Eckermännern gemacht werden. Wer ein authentisches letztes Wort von sich überliefert wissen will, muss es folglich im Vorgriff auf das Lebensende zu formulieren wagen. Der Sekretär schlägt für Ernst Jünger einen militärischen Gruß vor: »Melde mich zur Stelle!« Jünger ist damit nicht einverstanden. Sein kühnes letztes Wort lautet: »Bitte vorbeitreten zu dürfen«!4

Letzte Worte gelten als Schlüssel zur Persönlichkeit. Dieses wirft zugleich eine Grundfrage gegenüber Ernst Jünger auf: Wie ernst darf man ihn nehmen? Das Gespräch über die letzten Worte findet inmitten eines Trinkgelages im Ravensburger Hotel »Hildenbrand« statt. Anwesend sind die Freunde Gerhard Nebel, Erhart Kästner und Ernst Klett. Um sie herum lärmt das heitere Maskentreiben eines Ingenieur-Vereins. Es ist sechs Uhr früh. Wie ernst will Jünger selbst genommen werden? Wer Jünger gerecht werden will, muss ihn wie Erhart Kästner in jener Nacht des Exzesses mit doppelter Optik wahrnehmen, also stereoskopisch sehen. Kästner durchschaut Jünger, wenn ihm auch zugleich sein »Leidensgesicht« nicht entgeht.

Jünger hat sich im Laufe seines langen Lebens mehrfach stilisiert. Erste Versuche der Überwindung der eigenen ängstlichen Natur beginnen in der frühen Kindheit. Er wollte nicht mehr der leidende Clamor sein und begann deshalb mit der Pubertät die Rolle Teos, eines eiskalten Strategen der Macht, zu spielen. Im Schülerroman »Die Zwille« (1973) hat der fast achtzigjährige Autor die eigene Ambivalenz offenbart. Wer wissen will, wer Jünger unter allen Masken und Metamorphosen wirklich war, muss in die Kindheit zurückgehen, denn unter allen Verwandlungen ist er stets Kind geblieben. Das empfindsame, verwundbare Kind, der Einzelgänger, der einsame Sammler von Steinen, Wurzeln, Muscheln und Käfern. Er selbst hat das berühmte Goethe-Wort immer wieder zur Selbstdeutung zitiert, weniger als trotzige Apologie des eigenen Wesens denn als Trost und Zuspruch in Zeiten des Haderns und Leidens an sich selbst: So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen.5

Das Kind im Greis wird augenfällig beim Betreten des kleinen Schlafzimmers in der Wilflinger Oberförsterei. Die Verbindungstür vom Schlaf- zum Badezimmer hat der Hundertjährige in kindlicher Sammelleidenschaft mit zahlreichen Aufklebern bepflastert. In der Mitte »Ich bin Energiesparer«, darüber ein vierblättriges Kleeblatt, »Ocupado«, »Do not disturb«, »Je suis un tendre!«, »Türe ab 21 Uhr abschließen«, »Reserviert«, »Zimmer kann gereinigt werden«, »No molestar«, »Moi j’aime«, »Bitte nicht stören«, »Besetzt«.

Der Tod aber ließ sich nicht einschüchtern. Als er unüberhörbar an die Tür klopfte, wollte Jünger in diesem Zimmer sterben. Alle medizinischen und pflegerischen Vorbereitungen waren getroffen worden, doch ließ der Gesundheitszustand des Greises eine häusliche Pflege nicht mehr zu. Wegen eines Magenverschlusses magerte Jünger immer mehr ab und musste künstlich ernährt werden. Seine Frau zog mit ihm ins Riedlinger Krankenhaus, wo er am 17. Februar 1998 sanft und schmerzfrei starb. Ein letztes Wort hat es nicht gegeben. Doch im Tod verwandelte sich das Gesicht des Uralten und leuchtete jünglingshaft.

»Ich hab von ferne, Herr, Deinen Thron erblickt
und hätte gerne mein Herz vorausgeschickt
und hätte gerne mein müdes Leben,
Schöpfer der Geister, dir hingegeben.«

Dieses eschatologische Ausblicke bezeugende Lied des Johannes Timotheus Hermes zieht sich wie eine Leitmelodie durch Jüngers Leben. Es gehört zu Jüngers Lieblingsliedern aus dem Evangelischen Gesangbuch. An anderer Stelle heißt es: Ich blicke ins Innerste und Unverletzliche der alten Heimat und glaube, daß wir so im Tode die Flügel des Vaterhauses weit offen sehen und die Tenne glänzen im feierlichen Licht.6

Jünger war überzeugt davon, dass der Tod nur eine Durchgangspforte sei und hinter der Zeitmauer eine Wiederbegegnung mit den Verstorbenen stattfinden werde. Je älter er wurde, desto intensiver tauchte er in die Welt der Toten ein. Der Traum ist ihm dabei Ort der Begegnung mit den Verstorbenen. Da wird plötzlich die Tür zu seinem Schlafzimmer aufgestoßen. Zwei kräftige Burschen treten ein und bieten ihm mit rotem Kaviar belegte Brote an. Dann betritt Jünger das Badezimmer und sieht mit Entsetzen seine vor Jahrzehnten verstorbene Frau Gretha in einem Badezuber liegen. Das Wasser reicht ihr bis zum Mund. Jünger reißt sie aus dem Wasser und beginnt sie wie eine Ertrunkene zu beatmen. Bald schlägt sie zu seiner Freude die Augen auf. Er sagt: »Ich will dich wärmen, komm ins Bett.« Sie aber lockt ihn wie die Nixe in Goethes Ballade vom Fischer in ihr Reich und verheißt dort eine Wiederbegegnung mit dem im Krieg gefallenen Sohn Ernstel: »Komm du zu mir. Dort ist auch der Sohn.«7

Je älter Jünger wurde, desto wichtiger wurde ihm das Gespräch mit den Toten. Es führte ihn in die frühe Kindheit zurück, in das München der Jahrhundertwende. Der Greis suchte hier das Geheimnis seines Ursprungs; er ging den Weg zur Mutter zurück, flanierte über die Straßen in der Nähe der Türkenkaserne und wiederholte die Brautgänge, die sein Vater gegangen war. Der Sohn besuchte die Alte Pinakothek und betrachtete die Lieblingsbilder seiner Mutter; er stand vor den Häusern, in denen sein Vater während der Münchner Studienzeit gewohnt hatte; er besuchte die Tanzlokale und Bierschwemmen, in denen sich sein Vater und seine Mutter heimlich getroffen hatten. Wie Laurence Sterne in seinem Roman »Tristram Shandy«, der nicht zufällig zu Jüngers Lieblingsbüchern zählte, umkreiste der alt gewordene Autor den Ort seiner Zeugung. Biographische Abschweifungen ins Vorgeburtliche bestimmen den heiteren Duktus von Sternes Roman. Das Sternzeichen, so glaubten Jünger wie Sterne, werde nicht nach der Stunde der Geburt, sondern der Beiwohnung bestimmt.

Ernst Jünger wird im Juni 1894 unter dem Sternzeichen des Krebses in München gezeugt. Seine Mutter ist gerade 21 Jahre alt geworden, sein Vater hat noch keine feste Anstellung. Die Schwangerschaft wird in der bäuerlichen, streng katholischen Familie der Mutter als Skandal empfunden. Nicht nur, dass Ernst Georg Jünger keine soziale Sicherheit zu bieten hat, er ist zudem norddeutscher Abstammung und Atheist. Der Chemiker aus »Väter und Söhne« von Turgenjew ist ihm sehr ähnlich, wird Ernst Jünger später über seinen Vater urteilen. Ein Mann der Aufklärung, der auf rigoros wissenschaftliche Weise vorgeht und sich über seine Vorfahren mokiert – mein Vater machte sich auch über seine Eltern lustig. Er hatte in Heidelberg Chemie studiert und war Assistent von Victor Meyer gewesen. Man konnte tatsächlich sagen, dass er als Anarch lebte. Ein Beispiel von hundert: Eines Tages nahm mein Großvater meine Großmutter mit in ein Café außerhalb der Stadt Hannover, damit sie hier keine Szene machen könnte, und sagte zu ihr: »Ich muß Dir eine sehr unangenehme Mitteilung machen, Hermine: Unser Ernst – das war mein Vater – hat geheiratet, und er hat schon einen kleinen Jungen von vier Jahren.« Das war die Art seines Verhaltens.8

Ernst Georg Jünger, wie sein Sohn Ernst im Sternzeichen des Widders geboren, hatte in der Grünstraße 2 in Hannover als erstes Kind eines Lehrers das Licht der Welt erblickt. Der Vater unterrichtete Mathematik und Naturwissenschaften am Lyzeum II, dem heutigen Goethegymnasium. Der zweite Sohn Hermann starb bereits im Jahre 1909. Wie sein Vater war Ernst Georg naturwissenschaftlich interessiert und wusste schon als Schüler mit der ihm eigenen Entschiedenheit und Bestimmtheit, dass er Chemie studieren würde. 1872, als sein Vater in der Hannoverschen Weinstraße 16 a ein Schülerpensionat eröffnete, eroberte sich Ernst Georg unter dem Dach ein Refugium, wo er ersten chemischen Experimenten nachging und nachts heimlich in seinem kleinen Laboratorium arbeitete. Doch verlangte sein Vater, dass er neben der Chemie, die als brotlose Kunst galt, auch Pharmazie studierte. Wegen eines Beinbruchs, den er sich als Primaner zugezogen hatte, konnte er kein Abitur ablegen, wurde jedoch wegen seiner sehr guten Noten auch ohne die Reifeprüfung zur pharmazeutischen Lehre zugelassen. Er begann seine Ausbildung im Fürstentum Waldeck bei dem Apotheker Storch in der Hofapotheke von Bad Pyrmont.

Ernst Georg Jünger genoss die drei Jahre im Weserbergland: Er konnte in der Umgebung seinen botanischen Neigungen nachgehen und war aufgrund seines rhythmischen Gefühls ein begehrter Tanzpartner – im Sommer auf den Bällen, im Winter beim Schlittschuhlaufen zur Musik auf dem Eis.

Bald fiel er dem Kurdirektor Kammerherr von Gersdorf positiv auf. Bekanntschaft schloss er mit dem Schriftsteller Peter Hille. Die drei Jahre in Bad Pyrmont führten jedoch auch zu einer Entfremdung mit den alten Hannoveraner Freunden. Nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt fand Ernst Georg Jünger keinen Anschluss mehr. Die Freunde von einst lebten ihr eigenes Leben. Misstrauen und Kälte werden künftig sein Verhältnis zu anderen Menschen prägen. Nicht Freundschaft und Vertrauen bildeten seiner Ansicht nach das Band zwischen den Menschen, sondern das nackte pekuniäre Interesse und der Wille zur Macht, wird er später seinen Kindern erklären. Der Vater wurde zum Einzelgänger, zum Anarchen. Ohne eine Rührung zu zeigen, konnte er Menschen links liegen lassen oder so behandeln, als seien sie Luft. »Dieses Nicht-Notiznehmen, diese Fähigkeit, durch Menschen hindurchzusehen, als ob sie aus Glas, als ob sie gar nicht vorhanden wären, war ihm eigentümlich«, schrieb Ernst Jüngers Bruder Friedrich Georg in seinen Erinnerungen an das Elternhaus.9

Wenn andere feierten, blieb der Vater nüchtern. Wenn er doch einmal Wein trank, trat eine heitere und gelöste Seite seines Wesens hervor. Zum Bedauern der Kinder sind diese Momente rar. Dem Vater war der Rausch unangenehm. Wie konnte die Passion für Mozarts Musik mit der rationalen Auffassung der Umwelt und ihrer Probleme unter einen Hut kommen? Wie mit dem scharfen, ja schneidenden Intellekt? Das habe ich mich oft gefragt. Jedenfalls mußte der Nenner tiefer liegen. Das sprach für Mozart, und für den Vater auch. Ich hatte ihn zwei- oder dreimal angeheitert gesehen, unmerklich fast. Er zündete sich dann eine Zigarette an und rauchte einige Züge davon. Er liebte schwierige Probleme, doch mußten sie wie beim Schachspiel lösbar sein. Das Eindringen irrationaler Elemente und Ideen war ihm unheimlich, Exzesse waren ihm zuwider wie das Unberechenbare überhaupt.10

Doch bevor der Vater zu dem Menschen wurde, als den ihn seine Kinder erlebten, wird ihm noch eine zweite menschliche Enttäuschung widerfahren. Das Jahr 1888 ist als Dreikaiserjahr in die deutsche Geschichte eingegangen. Kaiser Wilhelm I. starb. Sein Nachfolger wurde der schwer krebskranke Friedrich III., der nach nur 99 Tagen im Amt seinem Leiden erlag. Ihm folgte Wilhelm II. als letzter deutscher Kaiser. 30 Jahre später wird er Ernst Jünger den Orden Pour le Mérite verleihen. Im Dreikaiserjahr 1888 ging der zwanzigjährige Ernst Georg Jünger nach Berlin. Unter den Linden arbeitete er in der Lucaeschen Apotheke. Kurz vor dem Zusammenbruch stehend, veröffentlichte Friedrich Nietzsche in diesem Jahr seinen Abgesang auf das Christentum: »Der Antichrist«. Der 99-Tage-Kaiser setzte dagegen die Vision vom Neubau des Berliner Doms. Auch in der Kunstgeschichte markierte das Jahr 1888 eine Epoche: Paul Gauguin malte während seines zweiten Aufenthaltes in Pont-Aven die »Vision nach der Predigt oder Jakobs Kampf mit dem Engel«. Am 23. Oktober traf er in Arles Vincent van Gogh. Hier sollte es zu einer gefährlichen Begegnung kommen. Vincent van Gogh ging am 23. Dezember 1888 mit dem Rasiermesser auf Gauguin los, weil dieser ihm die Anerkennung als Künstler und die Unterstützung des eigenen Weges verweigert hatte. Gauguin floh, van Gogh schnitt sich ein Ohr ab. In Paris wurde die Weltausstellung 1889 vorbereitet. Der Turm des französischen Ingenieurs Alexandre Gustave Eiffel stand kurz vor der Vollendung.

Zu Ernst Georg Jüngers Aufgaben in der Lucaeschen Apotheke gehörte die Anfertigung von Rezepten für den todkranken Kaiser. Die Beschäftigung mit der Krankheit Friedrichs III., einem Kehlkopfkrebs, sollte bei Ernst Georg Jünger ein Leben lang anhalten. Er sammelte und studierte die Literatur der englischen und deutschen Ärzte über die Krankheit, bis er glaubte, jedes Detail der Krankengeschichte rekonstruieren zu können. Sein Interesse bleibt den Naturwissenschaften zugewendet. Kunst, Literatur und Philosophie, überhaupt Kultur berührten den Vater kaum, mit Ausnahme der Musik Mozarts. Oft hatte er eine Mozartmelodie auf den Lippen und pfiff sie unbekümmert vor sich hin. Die Neigung zum Pfeifen und Singen sowie zu Selbstgesprächen wird auch der Sohn Ernst teilen. Von Berlin kehrte Ernst Georg Jünger noch einmal wegen der positiven Erinnerungen an seine Lehrjahre und die Tanzvergnügungen im Kursaal und auf dem Eis nach Bad Pyrmont zurück. Er arbeitete als Rezeptar. Dann verliebte er sich unsterblich und erlebte erneut eine menschliche Enttäuschung. Sie hinterließ noch tiefere Spuren in seiner Seele als die Entfremdung von den Hannoveraner Freunden während des ersten Bad Pyrmonter Aufenthaltes.

Die biographische Spurensuche des Sohnes führte weit zurück ins Vorgeburtliche, bis in die Gesellenjahre des Vaters in Bad Pyrmont. Im Familienarchiv findet sich der einst versiegelte, undatierte Liebesbrief Ernst Georg Jüngers an ein Fräulein Else von Benghem.

»Gnädiges Fräulein!

Ich muß Ihnen gestehen, daß Sie, seitdem ich die Ehre Ihrer Bekanntschaft habe, schon vorher einen tiefen Eindruck auf mich gemacht haben. Wenn ich hoffen dürfte, Ihnen nicht ganz gleichgültig zu sein, so würde mich dies unsagbar glücklich machen. Mein Herz treibt mich, Ihnen zu gestehen, daß ich Sie unaussprechlich liebe, und wenn ich bei Ihnen auf Gegenliebe hoffen darf, so bitte ich Sie, entweder Donnerstag Nachmittag mit einer Blume im Knopfloch hier vorbeizugehen, oder Freitag Nachmittag aufs Eis zu kommen, wo ich Sie erwarten werde. Bis dahin seien Sie tausendmal gegrüßt von Ihrem Ernst Georg Jünger.«11

Der Stil des Liebesbriefes will so gar nicht zu dem Bild passen, das die Söhne später von ihrem Vater zeichnen werden. Ernst Georg Jünger öffnete hier sein Innerstes, den Raum, wo ihn die Liebe und die Musik Mozarts berührten. Doch Else von Benghem flanierte weder am Donnertag mit einer Blume im Knopfloch an der Apotheke vorbei, noch erschien sie am Freitag zur Tanzpartie auf dem Eis. Nicht nur die Schranken zwischen Adel und Bürgertum waren unüberwindlich, auch das geringe finanzielle Auskommen des Zwanzigjährigen ließ keine Familiengründung zu. Demgegenüber zählte die unsterbliche Liebe eines jungen Rezeptars zu einem adeligen Fräulein nichts. Diese Erfahrung prägte Ernst Georg Jünger. Zunächst aber floh er aus Bad Pyrmont möglichst weit weg über den Ärmelkanal nach England, wo er in einer deutschen Apotheke Arbeit fand. Sein Bruder Hermann war nach New York ausgewandert. Der erste Liebesbrief des Vaters ist von der Geliebten nicht beantwortet worden. Dass sie ihn dennoch zu gutem Andenken bewahrte, durfte erst der Sohn erfahren, als ihm die Tochter Else von Benghems den Brief zum 70. Geburtstag überließ.

Auch schenkte mir eine andere Dame einen Brief des Vaters, ein Relikt aus jener Pyrmonter Zeit. Sie hatte ihn von ihrer Mutter geerbt, die ihn bis ins hohe Alter unter ihren Papieren verwahrt hatte. Es war der klassische erste Liebesbrief an eine Unbekannte, die man aus der Ferne verehrt. Er wurde nie beantwortet und doch ein Leben lang bewahrt.12